Wir wollen unsere Rechte \u2013 kollektive Regularisierung jetzt!
\nW\u00e4hrend sich die Gesundheitskrise aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus immer mehr in eine tiefe soziale Krise verwandelt, wird uns klar, dass \u2013 sobald diese Notlage vorbei ist \u2013 viele Dinge nicht mehr so funktionieren k\u00f6nnen wie bisher.
Der Abbau des Gesundheitssystems \u2013 vorangetrieben durch die in den letzten zwei Jahrzehnte durchgeboxten Spar- und Privatisierungma\u00dfnahmen \u2013 hat dazu gef\u00fchrt, dass die \u00f6ffentlichen Gesundheitseinrichtungen heute ohne Spenden von Privatpersonen und ohne den freiwilligen Einsatz von Tausenden von Gesundheitsarbeiter*innen nicht funktionieren und die Notlage, in der wir uns befinden, nicht bew\u00e4ltigen k\u00f6nnen.
Aufgrund des Angriffs auf die Rechte und die Gesundheit der Arbeiter*innen und aufgrund des Primats der Unternehmen, unter allen Umst\u00e4nden produzieren zu m\u00fcssen, sind es die Arbeiter*innen, die den Preis dieser Krise bezahlen \u2013 und das ist nicht selten ihr Leben. In dieser Notsituation hat der Mangel an individuellen Schutzdispositiven (dispositivi di protezione individuale) und Sicherheitsma\u00dfnahmen die Ausbreitung des Virus an den Arbeitspl\u00e4tzen beschleunigt und zu Toten gef\u00fchrt (Brieftr\u00e4ger*innen, \u00c4rzt*innen, Mitarbeiter*innen des \u00f6ffentlichen Verkehrs, Supermarktkassierer*innen, Logistikarbeiter*innen, Arbeiter*innen in Call Center) \u2013 Tote, die zu den mehr als 1.200 Arbeitstoten hinzukommen, die Italien jedes Jahr auch in Zeiten der \u201eNormalit\u00e4t\u201c z\u00e4hlt.
Dass nichts so sein kann, wie es bisher war, zeigen auch die Hunderttausenden von Migrant*innen und Gefl\u00fcchteten, deren Rechte in den letzten Jahrzehnten zu Kr\u00fcmeln reduziert wurden; die Migrationspolitik hat B\u00fcrger*innen zweiter und gar dritter Klasse hervorgebracht. Die offiziellen Daten sprechen eine klare Sprache: In Italien leben heute sch\u00e4tzungsweise 611.000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung; eine Zahl, die seit der Einf\u00fchrung der Sicherheitsverordnungen des ehemaligen Innenministers und Lega-Chefs Matteo Salvini stark gestiegen ist. Heute treten diese Probleme mehr denn je an die Oberfl\u00e4che, es ist Zeit zu handeln.
Die Lebensmittelversorgung: Ohne migrantische Arbeiter*innen wird nicht gegessen
Nach Angaben der Zeitung des Unternehmensverbandes Confindustria, Il Sole 24 Ore, erleben die Superm\u00e4rkte derzeit einen Anstieg der Inlandsnachfrage von 20 Prozent, wobei auch die Nachfrage aus dem Ausland im selben Ausma\u00df zunimmt. Doch w\u00e4hrend die gro\u00dfen Einzelhandelsunternehmen inmitten der gesundheitlichen Notlage und der \u00f6konomischen Krise ihre Gewinne steigern, zahlen die rund 350.000 Landarbeiter*innen den Preis daf\u00fcr; nach Angaben von \u00c4rzt*innen f\u00fcr Menschenrechte arbeitet weniger als die H\u00e4lfte der Landarbeiter*innen mit einem regul\u00e4ren Arbeitsvertrag.
Die migrantischen Landarbeiter*innen \u2013 die sogenannten braccianti \u2013 lebten und arbeiteten schon vor der aktuellen Corona-Krise unter prek\u00e4ren Verh\u00e4ltnissen. Ihre Lage ist determiniert von einer Gesetzgebung, die den arbeitenden Migrant*innen keinen automatischen Zugang zur Aufenthaltsbewilligung und somit zu den nationalen Sozial- und Gesundheitsdiensten gew\u00e4hrt. Ihre papierlose Existenz hat sich nun jedoch aus mindestens zwei Gr\u00fcnden weiter prekarisiert:
- Die Einschr\u00e4nkung der Bewegungsfreiheit verunm\u00f6glicht es ihnen, in die Regionen Italiens zu reisen, in denen die fr\u00fchj\u00e4hrliche Obst- und Gem\u00fcseernte beginnt (in Apulien f\u00fcr Tomaten, im Piemont f\u00fcr \u00c4pfel usw.);
- In den verschiedenen Zeltlagern entlang der Felder (Arbeitsorte) herrschen Unterbringungsbedingungen, die es ihnen nicht erlaubt, sich vor einer Covid-Ansteckung zu sch\u00fctzen: kein flie\u00dfendes Wasser, infrastrukturelle Unm\u00f6glichkeit, sichere Abst\u00e4nde einzuhalten, und so weiter.
Care-Arbeiter*innen: Von einem Tag auf den anderen arbeits- und obdachlos
\u00c4hnliche Probleme haben die Care-Arbeiter*innen, die sich t\u00e4glich um die Hausarbeiten und um die \u00e4lteren Menschen unserer Gesellschaft k\u00fcmmern. Die Alterung der Gesellschaft und die Entscheidung des Staates, die Last der Pflege, die die \u00e4lteren Menschen ben\u00f6tigen, nach dem Diktat der liberalen Ideologie auf die Familien und nicht auf den \u00f6ffentlichen Wohlfahrtsstaat zu verlagern, haben zur Bildung einer Armee von Care-Arbeiter*innen gef\u00fchrt: Nach den j\u00fcngsten Daten gibt es etwa rund zwei Millionen Care-Arbeiter*innen, von denen weniger als die H\u00e4lfte (etwa 865.000) einen regul\u00e4ren Arbeitsvertrag besitzen und die gro\u00dfe Mehrheit Frauen aus Osteuropa sind.
Die Blockade des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und die Angst vor der Verbreitung des Virus unter den \u00e4lteren Menschen hat zur sofortigen Entlassung der Care-Arbeiter*innen gef\u00fchrt. W\u00e4hrend die letzte Verordnung der Regierung einen sozialen Mindestschutz f\u00fcr einige regul\u00e4re Care-Arbeiter*innen vorsieht, wurden irregul\u00e4re Arbeiter*innen nicht nur von der Ma\u00dfnahme ausgeschlossen, sie verloren auch von einem Tag auf den anderen Job und Unterkunftsm\u00f6glichkeiten.
Eine globalisierte Wirtschaft: die Bedeutung der finanziellen Unterst\u00fctzung ins Heimatland
Die Auswirkungen dieser sozialen Krise beschr\u00e4nken sich nicht nur auf das t\u00e4gliche Leben der Arbeiter*innen in Italien, sondern betreffen auch die Herkunftsl\u00e4nder der Migrant*innen. Nach Angaben der italienischen Nationalbank Banca d'Italia belaufen sich die Geld\u00fcberweisungen der in Italien lebenden Migrant*innen an ihre Familien im Herkunftsland auf \u00fcber sechs Milliarden Euro j\u00e4hrlich; in einigen F\u00e4llen k\u00f6nnen diese Betr\u00e4ge bis zu 35 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts der L\u00e4nder ausmachen.
Es ist kein Zufall, dass die ersten Ziell\u00e4nder dieser \u00dcberweisungen die Herkunftsl\u00e4nder derjenigen Migrant*innen sind, die Obst und Gem\u00fcse auf den Feldern sammeln und sich um die Hausarbeit und um die \u00e4lteren Menschen k\u00fcmmern: China, Bangladesch, Rum\u00e4nien, Philippinen, Pakistan, Senegal, Marokko, Sri Lanka.
Die Schwierigkeiten, die die Wirtschaften und Familien in den L\u00e4ndern des S\u00fcdens bereits heute haben, werden sich somit versch\u00e4rfen. Die Verlangsamung und sogar die v\u00f6llige Schlie\u00dfung ganzer Wirtschaftszweige, in denen Migrant*innen einen wichtigen Teil der Arbeitskr\u00e4fte ausmachen, wird direkte Auswirkungen auf die andere Seite der Welt haben. Dies beweist uns einerseits die unvermeidliche Vernetzung der globalisierten Wirtschaft, f\u00fchrt jedoch andererseits auch zu mehr Hunger und Armut im globalen S\u00fcden.
Leben in den Asylcamps und R\u00fcckf\u00fchrungen
Ebenso problematisch ist die gesundheitliche und soziale Situation der offiziellen Asylsuchenden. Heute befinden sich etwa 95.000 Gefl\u00fcchtete in den Asylcamps und 50.000 warten auf den Asylentscheid. Die kollektiven Unterbringungsbedingungen in den Asylcamps entsprechen in den meisten F\u00e4llen nicht den Vorgaben der Regierung, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen: Kollektive Schlafr\u00e4ume von bis zu zehn Personen, infrastrukturelle Unm\u00f6glichkeit, positiv getestete Personen zu isolieren, unzureichende Wasser- und Sanit\u00e4ranlagen.
Und obwohl die Europ\u00e4ische Union den freien Personenverkehr mit der Schlie\u00dfung der jeweiligen Landesgrenzen vor\u00fcbergehend ausgesetzt hat, bleibt das System der R\u00fcckf\u00fchrungen in die L\u00e4nder des S\u00fcdens vorerst unber\u00fchrt. Unter der aktuellen Regierung von Premierminister Giuseppe Conte werden monatlich 600 R\u00fcckf\u00fchrungen durchf\u00fchrt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, warnte die Mitgliedstaaten, R\u00fcckf\u00fchrungen zu stoppen und f\u00fcr die betroffenen Migrant*innen wegen des fehlenden Gesundheitsschutzes in den Abschiebungscamps eine L\u00f6sung zu finden. Bisher hat sich die italienische Regierung jedoch nicht um diese Problematik gek\u00fcmmert.
Kollektive Regularisierung jetzt!
Die gesundheitliche und soziale Notlage, in der wir heute leben, erfordert wichtige politische Ma\u00dfnahmen f\u00fcr Migrant*innen und Gefl\u00fcchtete. Bisher wurden sie ihrem eigenen Schicksal \u00fcberlassen. Hierbei geht es nicht ausschlie\u00dflich um die Sicherung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, sondern auch um den Schutz der kollektiven Gesundheit. Deshalb fordern wir von der Politik:
1. Die kollektive Regularisierung aller Migrant*innen und Gefl\u00fcchteten, die heute ohne Aufenthaltsbewilligung auf italienischem Territorium leben und arbeiten; diese soll durch ein vereinfachtes und au\u00dferordentliches Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltspapiere auf kommunaler Ebene erfolgen;
2. Au\u00dferordentliche sozialstaatliche Geldleistungen f\u00fcr alle migrantischen Arbeiter*innen (unabh\u00e4ngig vom rechtlichen Status), die aufgrund des Covid-19-Notstands ihre Arbeit verloren haben;
3. Die Gew\u00e4hrleistung des Rechts auf Gesundheit (freier Zugang zu \u00e4rztlichen Untersuchungen, Covid-Tests und medizinischen Behandlung) und Schutzma\u00dfnahmen f\u00fcr migrantische Arbeiter*innen und Gefl\u00fcchtete, die bei der Arbeit und in den Asylcamps am st\u00e4rksten der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind;
4. Die Gew\u00e4hrleistung des Rechts auf Wohnung durch die Bereitstellung von Unterk\u00fcnften, die aufgrund des R\u00fcckgangs des Tourismus leer stehen, von staatseigenem Eigentum und von leeren H\u00e4usern f\u00fcr Obdachlose und Migrant*innen, die bisher dazu verdammt sind, in \u00fcberf\u00fcllten Zeltlagern und Asylcamps zu leben.
Die Regularisierung aller Migrant*innen und Gefl\u00fcchteten ist die einzige M\u00f6glichkeit, heute die kollektive Gesundheit und morgen die Grundrechte aller Menschen zu garantieren.
Anmerkungen
Dieser Text ist auf italienisch hier erschienen. \u00dcbersetzung von der re:volt Redaktion.