Doikayt: J\u00fcdische Selbstbestimmung ohne Nationalismus
\nEuer Name provoziert, warum nennt ihr euch Judeobolschewiener*innen?
Beryl: Wir haben diesen Namen bewusst mit einem Augenzwinkern auf den antisemitischen und antikommunistischen Verschw\u00f6rungs-Mythos des Judeo-Bolschewismus gew\u00e4hlt.
Ruth Moshkovitz: Letztlich steckt da alles drin, was uns als Gruppe ausmacht: Wir sind j\u00fcdisch, wir sind links und wir sind in Wien.
Die Wiener Linke ist gepr\u00e4gt von Menschen, die aus dem Holocaust die Lehre gezogen haben, bedingungslos solidarisch mit Israel zu sein. Wie ist es, in einer solchen Stadt Israel zu kritisieren, noch dazu als J\u00fcd*innen?
Ruth Moshkovitz: Es ist einsam, wenn man eine anti-hegemoniale Position einnimmt. Als antizionistische Juden und J\u00fcdinnen sind wir sowohl im \u00f6sterreichischen und Wiener Spektrum als auch in j\u00fcdischen und in vielen linken R\u00e4umen eine Anomalit\u00e4t, vor allem in wei\u00dfen linken R\u00e4umen.
Welche Erfahrungen habt ihr in den letzten Jahren innerhalb der j\u00fcdischen Gemeinde in Wien gemacht?
Ruth Moshkovitz: Die j\u00fcdische Gemeinde in Wien ist durchaus divers. Was die Hintergr\u00fcnde angeht, kommt die Gemeinde aus ganz vielen verschiedenen L\u00e4ndern und spricht viele verschiedene Sprachen. Doch die politische Diversit\u00e4t h\u00f6rt oft beim Zionismus auf. Es gibt dann vielleicht linke, liberale und rechte Zionist*innen und die strammen Fascho-Zionist*innen, aber den Zionismus als Teil der j\u00fcdischen Identit\u00e4t infrage zu stellen, das passiert sehr selten und das zieht sich leider oft durch j\u00fcdische Institutionen und R\u00e4ume. Deswegen war f\u00fcr uns die Notwendigkeit da, unsere eigenen nicht-zionistischen R\u00e4ume zu schaffen.
Was ist euer Verst\u00e4ndnis von Zionismus und wie sieht eure Kritik an diesem aus?
Beryl: Zionismus ist j\u00fcdischer Nationalismus und in seiner dominantesten Auspr\u00e4gung ein europ\u00e4isches und siedlerkoloniales Projekt. Es geht darum, einen j\u00fcdischen Nationalstaat, also einen Staat, in dem Juden und J\u00fcdinnen zwingend die Mehrheitsbev\u00f6lkerung sein m\u00fcssen, auf dem Gebiet des historischen Pal\u00e4stinas zu etablieren und mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.
Ruth Moshkovitz: Pal\u00e4stina war zudem kein leeres Land. Der Staat Israel wurde errichtet durch die Nakba, also die Vertreibung, Ermordung und Enteignung von Pal\u00e4stinenser*innen. Bis heute sind das Mittel, mit denen dieser Staat aufrechterhalten wird. Und das ist f\u00fcr mich, f\u00fcr uns nicht akzeptierbar, unsere Sicherheit als J\u00fcd*innen durch Unterdr\u00fcckung anderer zu gew\u00e4hrleisten.
Auch nach dem Holocaust und dem politischen Ende des Faschismus gab es Pogrome an J\u00fcd*innen. Weil zudem die Gefahr eines globalen Antisemitismus besteht, gibt es die Position, dass ein Staat Israel als Schutzraum f\u00fcr J\u00fcd*innen notwendig sei.
Ruth Moshkovitz: Ich w\u00fcrde gerne unterscheiden zwischen dem legitimen und nachvollziehbaren Bed\u00fcrfnis nach j\u00fcdischer Selbstbestimmung und Schutz, sowohl direkt nach 1945 als auch jetzt \u2013 und dem Zionismus. In meiner Familie gibt es eine Verfolgungsgeschichte. Emotional kann ich das sehr gut nachvollziehen, dass Juden und J\u00fcdinnen nicht mehr der Umgebung einer nicht-j\u00fcdischen Mehrheitsgesellschaft ausgeliefert sein wollen. Aber es ist ein Fehler zu glauben, dass der Staat Israel ein Garant f\u00fcr j\u00fcdische Sicherheit sei.
Beryl: Es ist nicht nur ein Fehler, sondern es ist antisemitisch und rassistisch. Diese Position beinhaltet einerseits oft die Annahmen einer grunds\u00e4tzlichen j\u00fcdischen Fremdartigkeit. Und gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass Mehrheitsgesellschaften den eigenen (potenziell genozidalen) Rassismus nicht \u00fcberwinden k\u00f6nnen oder wollen.
Ruth Moshkovitz: Es ist besonders verst\u00f6rend, wenn Nachkommen von NS-T\u00e4ter*innen uns in \u00d6sterreich sagen, wir sind als J\u00fcd*innen nur sicher, wenn wir woanders hingehen. Politiker*innen von Parteien wie der \u00d6VP, SP\u00d6 und den Gr\u00fcnen sagen nicht-zionistischen und anti-zionistischen J\u00fcd*innen, dass sie sich sch\u00e4men sollen. Das ist emp\u00f6rend und heuchlerisch. Denn es sind genau ihre Parteien, die seit Jahren Rechte und Faschist*innen hofieren und rassistisches Gedankengut verbreiten. Statt Israel politisch und milit\u00e4risch zu unterst\u00fctzen, sollten all jene, die um die Sicherheit von uns J\u00fcd*innen besorgt sind, sich zuallererst um die braunen Flecken in unserer Gesellschaft k\u00fcmmern und Rechtsextremismus bek\u00e4mpfen.
Beryl: An dieser Stelle m\u00f6chte ich eine intersektionale Perspektive betonen, also beispielsweise die Schnittpunkte des Kampfes gegen Antisemitismus und des Kampfes der Arbeiterbewegung zu erkennen und dass das eine nicht selbstverst\u00e4ndlich mit dem anderen einhergeht. Ich habe einmal eine alte Zeitung einer anarcho-syndikalistischen Taxifahrer-Gewerkschaft aus \u00d6sterreich aus der Zeit der Ersten Republik gefunden und da waren reichlich antisemitische Artikel drin. Das zeigt mir, dass wir unsere Wirklichkeit von Situation zu Situation neu bewerten und dazulernen m\u00fcssen.
Ihr sprecht in Israel von Unterdr\u00fcckung. K\u00f6nnt ihr die unterschiedlichen Rechte ausf\u00fchren, die Pal\u00e4stinenser*innen und die J\u00fcd*innen dort haben?
Beryl: Es gibt Organisationen wie zum Beispiel \u201eAdalah\u201c, bei denen man sehr detailliert nachlesen kann, inwiefern pal\u00e4stinensische Staatsb\u00fcrger*innen in Israel strukturell benachteiligt sind. Man muss nur pal\u00e4stinensischen Israelis zuh\u00f6ren, wenn sie dar\u00fcber sprechen, wie sie B\u00fcrger*innen zweiter Klasse sind. Nicht zu sprechen von den Millionen Pal\u00e4stinenser*innen in der Westbank, die unter israelischer Milit\u00e4rbesatzung leben und denen, die jetzt in Gaza bombardiert und ermordet werden.
Ruth Moshkovitz: In der Westbank gibt es zwei verschiedene Rechtssysteme f\u00fcr zwei verschiedene Bev\u00f6lkerungsgruppen. F\u00fcr Pal\u00e4stinenser*innen gilt das israelische Milit\u00e4rrecht. F\u00fcr j\u00fcdische Siedler*innen in der Westbank gilt das israelische Zivilrecht. Es gibt Stra\u00dfen nur f\u00fcr j\u00fcdische Siedler*innen.
Beryl: Pal\u00e4stina ist kein Staat, kein eigenes Land. Die israelischen Soldat*innen dringen \u00fcberall in der Westbank ein, es gibt illegale Siedlungen \u00fcberall. Sie versuchen gerade, das armenische Viertel in Jerusalem niederzuschmettern. Wenn man die f\u00fcnf Millionen Pal\u00e4stinenser*innen miteinbezieht, die in Israel keine gleichen Rechte haben und die in Gaza jetzt einen Genozid erleben, wie kann man da Israel als eine Demokratie beschreiben?! Es ist ganz klar ein Apartheidstaat, NGOs wie Amnesty International und B\u2019Tselem bezeugen das.
Wie kann j\u00fcdische Sicherheit jenseits von Unterdr\u00fcckung und Nationalstaatlichkeit gedacht werden?
Ruth Moshkovitz: Statt \u00fcber einen j\u00fcdischen Staat zu sprechen, finde ich es wichtiger, dar\u00fcber zu sprechen, wie wir uns als Minderheiten in den jeweiligen L\u00e4ndern, in denen wir heute leben, organisieren k\u00f6nnen. Ich rede nicht von der Zeit direkt nach 1945, sondern ich m\u00f6chte mich auf das Heute konzentrieren. F\u00fcr unsere Gruppe ist das Prinzip der Doikayt sehr wichtig: dass wir uns in der Gegenwart \u00fcberlegen, wie sieht j\u00fcdische Selbstbestimmung aus an Orten, in denen wir nicht die Mehrheit sind und auch nicht sein werden. Doikayt ist ein Gegenentwurf zum Zionismus. Wir wollen Selbstbestimmung, die nicht auf Assimilation oder Nationalismus beruht.
Beryl: Dieses Konzept ist f\u00fcr uns deshalb so wichtig, weil es bezeugt, dass antizionistische J\u00fcd*innen, oder auch zumindest nicht-zionistische J\u00fcd*innen, dass wir keine Ausnahme waren und auch heute keine Ausnahme sind. Doikayt ist zudem ein linker Begriff. Er kommt aus dem J\u00fcdischen Bund, das war eine sozialistische Gruppe, Teil der j\u00fcdischen Arbeiter*innenbewegung. Es geht um die Frage, wie wir politisch aktiv sein wollen und es geht auch ganz klar um materielle Verteilungsk\u00e4mpfe. Das ist auch noch mal so ein Grund, warum wir uns da gerne auf diese Tradition beziehen und versuchen, immer wieder zu schauen, wie k\u00f6nnen wir heute unsere Doikayt leben und umsetzen? Das ist nichts, was fix feststeht, sondern das m\u00fcssen wir uns immer wieder von Situation zu Situation anschauen. Es ist etwas, das nicht nur f\u00fcr uns J\u00fcd*innen wichtig ist. Denn viele Leute denken, dass sie, um ihr Leben zu verbessern, irgendwo hingehen m\u00fcssten, zum Beispiel auch andere Minderheiten, die sich in einem Land bedroht f\u00fchlen und woanders hinwollen. Ich finde, du musst dort, wo du bist, f\u00fcr eine bessere Welt k\u00e4mpfen \u2013 f\u00fcr den Kommunismus, den Anarchismus. Gleichzeitig: Ja klar, manchmal geht es auch nicht anders und man muss gehen, man muss fl\u00fcchten. Und anderswo weiterk\u00e4mpfen.
Wie k\u00f6nnte eine solche bessere Welt in Israel-Pal\u00e4stina aussehen?
Ruth Moshkovitz: Alle Personen, die dort leben, m\u00fcssen die gleichen Rechte und die gleichen Mittel haben. Wir wollen Pal\u00e4stinenser*innen nicht vorschreiben, wie sie sich zu organisieren haben. Ich finde, alle Personen, die dort leben, m\u00fcssen ihr Zusammenleben letztlich selbst miteinander aushandeln. Aber gegenw\u00e4rtig k\u00f6nnen sie das nicht, weil einfach ein extremes Machtgef\u00e4lle herrscht: Politisch, milit\u00e4risch, rechtlich und auch sozio\u00f6konomisch.
Beryl: Wenn wir von Entsch\u00e4digung sprechen, dann geht es auch um Gerechtigkeit. Das hei\u00dft f\u00fcr uns, dass es f\u00fcr die vertriebenen Pal\u00e4stinenser*innen genauso ein R\u00fcckkehrrecht geben muss. Ich denke diese Menschen haben ein gr\u00f6\u00dferes R\u00fcckkehrrecht als ich. Ja, ich bin Jude, aber wenn ich meine Wurzeln zur\u00fcckverfolge, dann lande ich irgendwo in der Ukraine, weiter reicht mein Familienstammbaum nicht. Vielleicht habe ich ja gar keine Wurzeln im historischen Pal\u00e4stina. Bevor man wirklich miteinander Friedensverhandlungen f\u00fchren kann, die zu einem langfristigen Frieden f\u00fchren k\u00f6nnen, m\u00fcssen unbedingt der Genozid, die Besatzung und die Apartheid beendet werden.
Das Gespr\u00e4ch wurde von Alieren Renkli\u00f6z gef\u00fchrt und bearbeitet.
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