K\u0131ymetli karde\u015flerim, k\u0131ymetli dostlar\u0131m; tekrardan burday\u0131z. S\u00f6z verdi\u011fimiz \u00fczere, her zaman dedi\u011fimiz gibi, s\u00f6z namus.
\u201eVerehrte Br\u00fcder, gesch\u00e4tzte Freunde; hier sind wir wieder. Wie wir versprochen haben, wie wir immer gesagt haben: Die Treue zum Wort ist Ehre.\u201c Mit diesen oder \u00e4hnlichen Worten und erhobener rechter Hand mit Faustring auf der Handinnenfl\u00e4che leitete der verurteilte ultranationalistische Mafiapate und Sto\u00dftruppler des tiefen Staates in der T\u00fcrkei, Sedat Peker, fast alle seine seit Mai diesen Jahres aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) aufgenommenen und per Youtube in alle Welt verbreiteten Videos ein. Nicht nur enth\u00fcllte Peker darin viele angeblich neue Details aus dem ekelerregenden, stinkenden Morast von Staat, Gl\u00fccksrittern, selbstverliebten und tiefkorrupten Pseudo-Journalisten, Auftragsm\u00f6rdern und der staatlich organisierten Menschenverachtung, die landl\u00e4ufig als Tiefer Staat bezeichnet wird. Nein, m\u00f6glich war der nur auf den ersten Blick individuelle Rachefeldzug Pekers einzig aufgrund der Versumpfung des Staates insgesamt, das hei\u00dft, der in alle Richtungen ausufernden wechselseitigen Verflechtung von Dezisionismus, Faschisierung und Polykratie im Politischen und des Klientelkapitalismus im \u00d6konomischen (auf diese Begriffe werde ich sp\u00e4ter noch ausf\u00fchrlicher Bezug nehmen). Peker und seine \u201eEnth\u00fcllungen\u201c sind selbst nur platzende Blasen auf der Oberfl\u00e4che dieses Sumpfes, der die gesamte T\u00fcrkei zu ersticken droht. So weit schritt die im Sinne der Regimeerhaltung betriebene Zerst\u00f6rung des sowieso schon recht \u00fcberschaubaren Mindestma\u00dfes an b\u00fcrgerlichem Konstitutionalismus in der T\u00fcrkei und seine Ersetzung durch den Sumpf voran, dass eine Kamera, ein Tripod und ein Faschist-jetzt-M\u00f6chtegern-Volksheld ausreichten, den Machtblock und das ganze Land erneut in Aufruhr zu versetzen. Beachtlich auch die enorme relative Autonomie dieses Sumpfes, der sich ja \u2013 wie oft vergessen wird \u2013 \u00fcber dem \u201eNormalbetrieb\u201c des neoliberalen Kapitalismus in der T\u00fcrkei erhebt und diesen \u2013 je nach Situation \u2013 so sehr bedroht, wie er ihn aufrechterh\u00e4lt.
Derzeit befindet sich die T\u00fcrkei in einer sich immer weiter versch\u00e4rfenden Spirale an Instabilit\u00e4t, \u00f6konomischen Verwerfungen, sozialer Depravation, Legitimationskrise, Gewalt, Militarismus und, seit j\u00fcngst, den vermutlich verheerendsten Waldbr\u00e4nden der Republiksgeschichte. Mitten in diesem Inferno t\u00f6nen die Stimmen der wichtigen Akteure des Regimes immer schriller: Wir waren die meisterhaftesten in der Pandemiebek\u00e4mpfung, unsere Wirtschaft ist am besten durch die Corona-Krise gekommen, es gibt keine Verarmung der Menschen, wir haben unendliche Gasvorkommen entdeckt, die T\u00fcrkei wird zum Zentrum der Vierten Industriellen Revolution, wir werden es der ganzen Welt zeigen, wir werden auf den Mond steigen, es gibt kaum irgendwo eine so gute Brandbek\u00e4mpfung wie in unserem Land und so weiter und so fort. Es ist eine Grundlehre der Psychoanalyse, dass die Rationalisierung einer bedr\u00fcckenden Situation, eines Traumas, umso \u00fcberbordender, schriller, zwanghafter wird, umso schwieriger die Aufrechterhaltung jener Rationalisierung angesichts der Realit\u00e4t ist.
Dies ist die kafkaeske \u201eleere fr\u00f6hliche Fahrt\u201c des Regimes, das sich um nichts anderes mehr wirklich schert als um sich selbst \u2013 und dessen Akteuren im Ringen miteinander und mit der Hegemoniekrise die Kontrolle des Fahrwerks immer mehr entgleitet.
Es gibt aber auch mehr als genug Potenzial in der T\u00fcrkei, um die wilde Fahrt aufzuhalten, bevor das gesamte Land mit der Kutsche in den Abgrund st\u00fcrzt. Das allerdings h\u00e4ngt davon ab, ob sich die politischen Akteure einfinden, jenes Potenzial auch zu entfesseln. [1]
Die Coronakrise in der T\u00fcrkei, oder: Stell Dir vor, Du l\u00fcgst auf Weltma\u00dfstab, und niemanden interessiert es
Was sich schon im fr\u00fchen Herbst letzten Jahres abzeichnete, wurde im November dann ganz offiziell best\u00e4tigt: Die t\u00fcrkische Regierung hatte in Bezug auf die Coronakrise die vermutlich gr\u00f6\u00dfte bewusste und aktiv vorangetriebene Zahlenmanipulation weltweit betrieben. Der eigentliche Skandal daran ist allerdings, dass es kein Skandal wurde.
Man muss sich das vergegenw\u00e4rtigen: \u00dcber Monate hinweg zweifelten alle noch nicht vollst\u00e4ndig regimetreuen Institutionen in der T\u00fcrkei, allen voran die wahrhaft heroisch um Aufkl\u00e4rung und Volkswohl k\u00e4mpfende \u00c4rztekammer (T\u00fcrk Tabipler Birli\u011fi, TTB), die vom Gesundheitsminister durchgegebenen Zahlen zu Neuinfektionen und Todesf\u00e4llen in Bezug zu Covid an. Dabei waren schon diese schlimm genug. Aber durch Hochrechnung von beispielsweise durch die TTB selbst kompilierten Daten konnte gesch\u00e4tzt werden, dass sich Anfang November 2020 die Zahl der Neuinfektionen zwischen 20.000 und 50.000 Personen t\u00e4glich bewegte \u2013 um ein vielfaches h\u00f6her als offiziell vom Gesundheitsministerium durchgegeben. F\u00fcr die durchgehend kritische und aufkl\u00e4rerische Haltung des TTB gegen\u00fcber den Regierungsma\u00dfnahmen wurde dieselbe \u00fcbrigens vom \u201ekleinen Partner\u201c der regierenden Partei f\u00fcr Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalk\u0131nma Partisi, AKP), dem Chef der nationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyet\u00e7i Hareket Partisi, MHP) Devlet Bah\u00e7eli des Vaterlandverrates bezichtigt und mit Schlie\u00dfung und juristischer Verfolgung bedroht. Aber dann kam eins nach dem anderen: Zuerst gab der Gesundheitsminister zu, dass die vom Ministerium gemeldeten Neuinfektionen nur diejenigen beinhalteten, die gleich mehrere (!) Symptome aufwiesen \u2013 sprich, eine Minderheit der Corona-Infektionsf\u00e4lle. Kurze Zeit sp\u00e4ter sah sich der Gesundheitsminister von Erdo\u011fans Gnadentum dazu bem\u00fc\u00dfigt, auch \u201ealle anderen\u201c F\u00e4lle zu erw\u00e4hnen, sprich die wahren \u2013 oder zumindest der Wahrheit n\u00e4heren \u2013 Zahlen rauszur\u00fccken. Am 25. November 2020, von einem Tag auf den anderen, gingen daher die Neuinfektionen von grob 5.000 pro Tag auf fast 29.000 Neuinfektionen pro Tag hinauf (was im \u00dcbrigen die Reputation und Professionalit\u00e4t der \u00c4rztekammer bewies, die durch unendlich m\u00fchevolle Kleinstarbeit und unter gro\u00dfem politischen Druck sehr nahe an diese Wahrheit rankam). Anfang Dezember \u201ekorrigierte\u201c der Gesundheitsminister dann dementsprechend auch die Gesamtinfektionszahlen nach oben: Waren im November 2020 vor der Bekanntgabe der nachjustierten Zahlen noch etwas weniger als 30.000 in der T\u00fcrkei lebende Menschen offiziell als infiziert gemeldet, so lag die Zahl am 10. Dezember ganz pl\u00f6tzlich bei fast 1,75 Millionen Personen. Schaut man sich im Corona-Dashboard der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die T\u00fcrkeiseite an, erkennt man sofort die K\u00fcnstlichkeit der Daten, insbesondere die Spr\u00fcnge bei den Neuinfektionen Ende Juli und Ende November 2020. Laut der Investigativplattform Total Analysis befindet sich die T\u00fcrkei auf Platz 97 von 100 der auf Transparenz der Corona-Daten untersuchten L\u00e4nder. \u201eAber was sind denn schon eine Million mehr oder weniger Infektionsf\u00e4lle angesichts der schieren Unendlichkeit des Weltraums?\u201c, ist wohl die Logik, die hinter dieser nonchalanten Herangehensweise steht.
\u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich mit den Angaben zu Verstorbenen w\u00e4hrend und wegen der Corona-Pandemie. Zwar hat das Statistische Institut der T\u00fcrkei (T\u00fcrkiye \u0130statistik Kurumu, T\u00dcIK) die t\u00fcrkeiweiten Todeszahlen und -ursachen f\u00fcr das Jahr 2020 immer noch nicht ver\u00f6ffentlicht, ja sogar die Ver\u00f6ffentlichung der Daten explizit ohne genaue Terminangabe im Juni 2021 exakt einen Tag vor dem regul\u00e4ren Ver\u00f6ffentlichungstermin verschoben. Aber unabh\u00e4ngige Forscher und Zeitungen konnten aussagekr\u00e4ftige Berechnungen zur Exzessmortalit\u00e4t vorlegen (das hei\u00dft Anzahl oder Rate der Todesf\u00e4lle, die \u00fcber dem Durchschnitt der Todesf\u00e4lle eines Vergleichszeitraumes liegt). Die New York Times wie auch der Epidemiologe Mesut Erzurumo\u011flu kommen zum Beispiel zu \u00e4hnlichen Ergebnissen bez\u00fcglich der Mortalit\u00e4t in Istanbul: Beide gehen f\u00fcr die Millionenstadt von einer Exzessmortalit\u00e4t im Jahre 2020 (im Vergleich zum j\u00e4hrlichen Durchschnitt der Jahre 2015-19) von 25% oder etwa 18.000 zus\u00e4tzlichen Toten aus \u2013 fast so vielen, wie offiziell t\u00fcrkeiweit als Corona-Tote des Jahres gemeldet waren. Der Medieninformatiker G\u00fc\u00e7l\u00fc Yaman extrapoliert regelm\u00e4\u00dfig aus den Mortalit\u00e4tsdaten von St\u00e4dten in der T\u00fcrkei, in denen etwa die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung lebt beziehungsweise in denen etwa die H\u00e4lfte aller Todesf\u00e4lle der T\u00fcrkei stattfanden, (Exzess-)Mortalit\u00e4tszahlen und -raten f\u00fcr die gesamte T\u00fcrkei. F\u00fcr den Zeitraum vom 11. M\u00e4rz bis zum 10. November 2020 errechnete er so eine Exzessmortalit\u00e4t von 23% oder etwa 30.000 Exzess-Tote (im Vergleich zu den Jahren 2015-19) f\u00fcr das gesamte Land, was in etwa der doppelten Zahl der offiziellen Corona-Toten f\u00fcr den genannten Zeitraum im gesamten Land entspricht. Obzwar es nicht gesichertes Wissen ist, liegt es doch nahe, anzunehmen, dass die gesamte Exzessmortalit\u00e4t als die \u201eechte\u201c Zahl der Corona-Toten zu betrachten ist, zumal Todesf\u00e4lle durch eine Reihe anderer Gr\u00fcnde (Unf\u00e4lle, andere Infektionskrankheiten, usw.) durch die Pandemiebek\u00e4mpfungsma\u00dfnahmen \u00fcblicherweise zur\u00fcckgingen. Dass die Zahl der \u201ewirklichen\u201c Corona-Toten im weltweiten Durchschnitt etwa doppelt so hoch ist wie die offiziell gemeldeten Zahlen, wird mittlerweile als wahrscheinlich angesehen. Schaut man sich jedoch Yamans neuere Berechnungen an, die bis in den Juni 2021 hinein reichen, ergeben sich 146.000 Exzesstote im Verh\u00e4ltnis zu 48.000 offiziell gemeldeten Covid-Toten, also ein Verh\u00e4ltnis von etwas mehr als 3:1. Das liegt haupts\u00e4chlich daran, dass in einigen Dezemberwochen, in denen die Pandemie in der T\u00fcrkei bisher am schlimmsten w\u00fctete, Exzessmortalit\u00e4tsraten von laut Yaman unglaublichen 122% erzielt wurden.
Social statistics are frozen tears \u2013 einer der ersten S\u00e4tze, die man im Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lernt. Statistiken zu manipulieren und nach Gutd\u00fcnken zu verdrehen, um das von Herrschaft geschaffene oder gef\u00f6rderte Leid der Menschen sch\u00f6nzureden, geh\u00f6rt hingegen zum Alltagsgesch\u00e4ft b\u00fcrgerlicher Politik im Kapitalismus.
Nur ist es so, dass es mancherorts besonders schamlos, besonders menschenverachtend, besonders gleichg\u00fcltig gegen Wohl und Leid der Bev\u00f6lkerung betrieben wird. Die Zahlen zu Corona-Infektionen in der T\u00fcrkei sind indes nicht die einzigen wichtigen Zahlen, die \u201enach oben\u201c korrigiert wurden im Zeitraum, den diese Analyse abdeckt. Auch die Arbeitslosigkeitszahlen wurden, wie ich noch zeigen werde, nach oben korrigiert. Umgekehrt wurde, was die Inflationszahlen angeht, weiterhin staatlicherseits versucht per Repression realit\u00e4tsgerechtere Repr\u00e4sentationen zu unterbinden.
Der derzeitige Gesundheitsminister der T\u00fcrkei, Fahrettin Koca, ist indes nur ein \u2013 nat\u00fcrlich nicht unwichtiges und zur Verantwortung zu ziehendes, aber dennoch \u201enur\u201c ein \u2013 Rad im Getriebe einer (Pandemie-)Politik, deren einziges Anliegen politischer Machterhalt inklusive Fortsetzung kapitalistischer Profitakkumulation und so weit m\u00f6glich die Reproduktion der Minimalbedingungen einer sozialen Restlegitimit\u00e4t f\u00fcr jenen Machterhalt ist. Nicht mehr, nicht weniger. Und dass die Opposition in der T\u00fcrkischen Republik wie aber auch die gro\u00dfen, sch\u00f6nen, Werte-und-Normen geleiteten europ\u00e4ischen und transatlantischen Hauptverb\u00fcndeten der T\u00fcrkei die Corona-bezogene Zahlenmanipulation und die darin zum Ausdruck kommende, gezielt gegen menschliches Leid indifferente Pandemiepolitik kaum (Opposition) oder gar nicht (Europa und Co) skandalisierten, zeigt erneut in aller Deutlichkeit, dass b\u00fcrgerlicher \u201eAnti-Autoritarismus\u201c entsprechend der von ihm verfolgten Interessen recht bescheiden ist, wenn es um Wohlstand, Gesundheit und Lebensfreude der \u00fcbergro\u00dfen Mehrheit der Bev\u00f6lkerung geht. Au\u00dfer nat\u00fcrlich, es geht um Belarus, Russland oder China, also um geopolitische Antagonisten des euro-transatlantischen Kapitalismus. Da spielen dann jene Werte und Normen pl\u00f6tzlich eine ganz gro\u00dfe Rolle. Auch diese Bescheidenheit wird uns den restlichen Artikel \u00fcber als Konstante begleiten.
Der Pandemie ausgeliefert
Ich bin mir nicht sicher, ob man sagen kann, dass der Hochmut der Regierenden in den letzten Monaten in der T\u00fcrkei zugenommen hat. Ich meine jene Art von ma\u00dflosem selbstverherrlichendem Hochmut, der alle sogar vom Regime selbst gesetzten Regeln und Gesetze mit F\u00fc\u00dfen tritt und sich eines Besseren d\u00fcnkt, dies auch noch jeder und jedem ganz ohne Scham und \u00f6ffentlich unter die Nase reibt und damit das ganze Land verh\u00f6hnt, das unter Pandemie und Wirtschaftskrise \u00e4chzt und kr\u00e4chzt. Dieser Hochmut und die sich darin ausdr\u00fcckende schreiende Ungerechtigkeit sind aber jedenfalls viel sichtbarer und greifbarer geworden, da sie in mittlerweile krassester Diskrepanz zur Lebensrealit\u00e4t des Gro\u00dfteils der Menschen in der T\u00fcrkei inmitten der Pandemie stehen.
Der Hochmut speist sich aus der Machtrunkenheit einer fast 20-j\u00e4hrigen Regierung, die zudem in den letzten zehn Jahren sukzessive konstitutionelle und b\u00fcrokratische Mechanismen in Politik und teilweise Wirtschaft ersetzt hat durch unmittelbarere Machtbeziehungen \u2013 also dezisionistischen Praktiken \u2013 und Klientelverh\u00e4ltnisse.
Diese Politik sp\u00fclte damit Tausende kleine Erdo\u011fans, Neureiche, Gl\u00fccksritter, schmierige Gestalten, Menschheitsverbrecher und Opportunisten (erneut) an die Oberfl\u00e4che der \u00d6ffentlichkeit. Sinnbildlich f\u00fcr diesen Hochmut steht Erdo\u011fan h\u00f6chstpers\u00f6nlich, der auf die Frage eines Journalisten, ob er w\u00e4hrend der l\u00e4ngsten Periode der fast totalen Ausgangssperre im gesamten Lande (Mai 2021) in Istanbul bleiben werde, s\u00fcffisant und mit einem L\u00e4cheln auf den Lippen antwortete: \u201eIch habe mich noch nicht endg\u00fcltig entschlossen, ich werde jedenfalls hier in der Gegend sein. Im schlimmsten Fall bin ich in der T\u00fcrkei.\u201c Im schlimmsten Fall dazu verdammt, in der krisengebeutelten T\u00fcrkei inmitten einer rasenden Pandemie zwischen Not und Tod eingesperrt und ohne jegliche Perspektive zu sein \u2013 eine Realit\u00e4t f\u00fcr Viele, einen Witz wert f\u00fcr den Pr\u00e4sidenten des Landes. Aber gehen wir vom Gro\u00dfen ins Kleine. Das Ausma\u00df und die Ungerechtigkeit des Totentanzes der Macht auf das Land zeigt sich nur auf dem Hintergrund der Lebensrealit\u00e4t, zu dem der Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung verdammt wurde.
Wie ich schon in \u201eVirus als Katalysator\u201c hervorgehoben habe, reagierte der Staat sehr sp\u00e4t und sehr inkonsequent auf die Pandemie. Er begn\u00fcgte sich mit ideologischer Hybris, wohlgemeinten Ratschl\u00e4gen und der Abw\u00e4lzung der Verantwortung auf Individuen aus Angst vor wirtschaftlichem Schaden einerseits, weiteren Legitimationseinbr\u00fcchen durch nat\u00fcrlich kaum staatlich aufgefangene Schlie\u00dfungen und andere Ma\u00dfnahmen andererseits. Wie \u00fcberall sonst auch auf der Welt, wo dieses inkonsequente Vorgehen zwecks sehr kurzfristiger Interessen statt einer konsequenten Eind\u00e4mmungsstrategie pr\u00e4feriert wurde, hatte dies katastrophale Folgen f\u00fcr die Bev\u00f6lkerungsmehrheit: Sie f\u00fchrte zu teils extrem hohen Reproduktionszahlen des Virus (bis zu 16 in Istanbul im April 2020; sprich, eine infizierte Person steckte rechnerisch 16 weitere Personen an), 2021 auch zu extrem hohen Inzidenzzahlen von \u00fcber 900 auf 100.000 Personen (beispielsweise in Istanbul und \u00c7anakkale, 10.-16. April 2021), zu t\u00fcrkeiweiten PCR-Testpositivraten von 10-20% und zu den zuvor angef\u00fchrten Zahlen betreffs Gesamtinfektionen und Todesf\u00e4llen. Weitergehende Ausgangssperren erfolgten nicht pr\u00e4ventiv, sondern wortw\u00f6rtlich in letzter Sekunde, um das vollst\u00e4ndige Entgleiten der Pandemie zu verhindern, etwa in Situationen, in denen die Krankenh\u00e4user in Gro\u00dfst\u00e4dten wie Izmir, Istanbul und Ankara fast vollst\u00e4ndig ausgelastet waren und zu kollabieren drohten (so im April und November 2020 und dann nochmal im April/Mai 2021).
Die erdr\u00fcckende Last einer au\u00dfer Rand und Band geratenen Pandemie machte sich auch in den Reaktionen des Regimes bemerkbar: Erdo\u011fan klang fast panisch, als er im April 2021 feststellte, dass Europa schon zu \u00d6ffnungen \u00fcbergehe \u2013 w\u00e4hrend sich die Infektionslage in der T\u00fcrkei immer weiter zuspitze. Er erwarte heftige Folgen, wenn nichts unternommen w\u00fcrde (er dachte dabei nat\u00fcrlich ausschlie\u00dflich an den Tourismus). Auch der Gesundheitsminister wusste entgegen seiner durchgehend relativierenden Herangehensweise sehr wohl um die prek\u00e4re Situation in den Krankenh\u00e4usern. Er verh\u00e4ngte daher schon Ende Oktober 2020 ein K\u00fcndigungsverbot f\u00fcr Werkt\u00e4tige im Gesundheitssektor. Auch zum Zeitpunkt, als es zu Ausgangssperren kam, lag die Priorit\u00e4t auf der Wahrung kapitalistischer Profite vor dem gesundheitlichen Interesse der Bev\u00f6lkerung und insbesondere der Arbeiter*innen: W\u00e4hrend dem \u201etotalen Lockdown\u201c im Mai 2021 \u2013 \u00fcber Wochen galt eine absolute Ausgangssperre im gesamten Land mit wenigen Ausnahmen \u2013 mussten immer noch 61% aller Arbeiter*innen normal weiter arbeiten, das hei\u00dft sich dem Infektionsrisiko aussetzen. Nur 17% aller Arbeiter*innen profitierten vollumf\u00e4nglich von den Ausgangssperren, sprich ersparten sich den Arbeitsweg und den Aufenthalt am Arbeitsort \u2013 und damit die Infektionsgefahr. Was es hei\u00dft, inmitten einer Pandemie weiter arbeiten zu m\u00fcssen, das zeigt ein Bericht der linken Metallarbeiter*innengewerkschaft Birle\u015fik Metal-\u0130\u015f: Allein im Zeitraum zwischen M\u00e4rz und November 2020 infizierten sich 7,3% der Arbeiter*innen in Betrieben, in denen Birle\u015fik Metal-\u0130\u015f organisiert ist, offiziell mit dem Coronavirus. Einem Bericht der Gewerkschaft zufolge gab es zum Ver\u00f6ffentlichungszeitpunkt desselben in 86,75% der Betriebe, in denen Birle\u015fik Metal-\u0130\u015f organisiert ist, aktive Coronavirus-Infektionsf\u00e4lle.
Wie anderorts auch intervenierte der t\u00fcrkische Staat gegen die von Corona ausgel\u00f6ste Wirtschaftskrise. Ein Gro\u00dfteil der wirtschaftlichen St\u00fctzungshilfen gingen dabei an das Gro\u00dfkapital (Steuererleichterungen, Lohnnebenkostenhilfen, billige Kredite, Devisenverk\u00e4ufe der Zentralbank zur Stabilisierung der Lira), so gut wie nichts an den restlichen Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung. Die Ausma\u00dfe lassen sich mittlerweile etwas besser quantifizierend vergleichen. Nach Zahlen des Internationalen W\u00e4hrungsfonds (IMF) vergab die T\u00fcrkei w\u00e4hrend der Pandemie (bzw. im Zeitraum M\u00e4rz 2020 bis M\u00e4rz 2021) Hilfen in Form von zus\u00e4tzlichen unmittelbaren Ausgaben, Einkommensst\u00fctzen und Steuernachl\u00e4ssen und \u00c4hnlichem in H\u00f6he von nur 1,9%/BIP. Sie hat damit vor Mexiko und einigen wenigen armen L\u00e4ndern wie Nigeria, Myanmar und Bangladesch fast am wenigsten unter den vom IMF untersuchten L\u00e4ndern f\u00fcr die Breite der Bev\u00f6lkerung in der Pandemie getan (relativ zum BIP betrachtet). [2] Zum Vergleich: Die durchschnittlichen zus\u00e4tzlichen unmittelbaren Ausgaben der reichen L\u00e4nder betrug 16,42% ihres jeweiligen BIP, die der L\u00e4nder mit mittlerem Einkommen (worunter auch die T\u00fcrkei f\u00e4llt) 4,0% und die der armen L\u00e4nder 1,6%. Demgegen\u00fcber erreichten die indirekten Ausgaben (Kredite, Schulden und Garantien) der T\u00fcrkei mit 9,4%/BIP fast das Niveau der reichen L\u00e4nder (durchschnittlich 11,3%). Und auch nur deshalb lagen die gesamten Ausgaben (direkte + indirekte) der T\u00fcrkei im Rahmen der Pandemie mit etwa 11,3%/BIP bedeutend h\u00f6her als der Durchschnitt der L\u00e4nder mit mittlerem Einkommen (durchschnittlich 6,5%). In keinem anderen der vom IMF untersuchten L\u00e4nder machten daher die direkten Ausgaben und Einkommensst\u00fctzen mit nur 11% aller Hilfen w\u00e4hrend der Pandemie 2020 einen so kleinen Anteil aus wie in der T\u00fcrkei. Daher hatte der Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung und darin insbesondere die Werkt\u00e4tigen in der T\u00fcrkei nicht nur unter dem katastrophalen Pandemiemanagement des Regimes zu leiden, sondern wurde zugleich heftig gebeutelt von der durch die Pandemie versch\u00e4rften Wirtschaftskrise.
Und die Wirtschaftskrise war und ist f\u00fcr die unteren und mittleren Klassen ziemlich heftig. Wer der Skylla der Infektion entkam, den verschlang die Charybdis der Arbeitslosigkeit und der Armut.
Zwar verzeichneten die Daten des T\u00dcIK durchgehend eine immer weiter sinkende (!) Arbeitslosigkeitsrate. Das lag aber haupts\u00e4chlich daran, dass Hunderttausende Menschen aus Besch\u00e4ftigungsverh\u00e4ltnissen flogen und als dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verf\u00fcgung stehend klassifiziert oder auf \u201eunbezahlten Urlaub\u201c gesetzt wurden, so dass parallel zur \u201esinkenden\u201c Arbeitslosenquote die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbspersonen und der Arbeitslosen, die prinzipiell dem Arbeitsmarkt zur Verf\u00fcgung stehen) laufend sank. So flogen beispielsweise \u00fcber 1,5 Millionen Menschen bis Februar 2021 aus der Erwerbst\u00e4tigenbev\u00f6lkerung heraus. Oder es wurden w\u00e4hrend der Pandemie trotz Entlassungsverbotes \u00fcber 175.000 Arbeiter*innen mittels einer als Ausnahme vom Entlassungsverbot weiterhin g\u00fcltigen und prompt weitfl\u00e4chig missbrauchten Bestimmung des Arbeitsgesetzes namens Kod 29 (wegen \u201emoralischen Fehlverhaltens\u201c oder \u00e4hnlichem) entlassen, was einer Zunahme der Entlassungen wegen jener Bestimmung um 70% entsprach. Schon l\u00e4nger besteht breite Einigkeit dar\u00fcber, dass die Arbeitslosigkeitszahlen des T\u00dcIK nicht die Realit\u00e4t abbilden, auch unter Mainstream-\u00d6konom*innen. W\u00e4hrend beispielsweise das T\u00dcIK im Januar 2021 die Arbeitslosenquote mit 12,7% angab, berechnete die linke Gewerkschaftskonf\u00f6deration DISK die realit\u00e4tsgerechtere breitere Arbeitslosigkeitsquote auf etwa 27%. In diesem Fall wurde dem T\u00dcIK die Diskrepanz zwischen ihren Zahlen und der Realit\u00e4t zu gro\u00df: Sie passte ihre Zahlen im M\u00e4rz 2021 an und ver\u00f6ffentlicht seitdem auch eine sogenannte \u201eInaktivenquote\u201c (Arbeitslose + vor\u00fcbergehend Unterbesch\u00e4ftigte + potenziell Arbeitsf\u00e4hige). Diese entspricht in etwa den Angaben der DISK zur breiteren Arbeitslosigkeitsquote und ist dementsprechend viel h\u00f6her (bisher durchgehend zwischen 20-30% im Jahr 2021) als die offizielle Arbeitslosigkeitsquote. Noch schlimmer ist die Situation der Jugendlichen (bzw. der etwa 18-25/30-J\u00e4hrigen): Liegt die offizielle Jugendarbeitslosigkeitsquote schon bei 25%, geht sogar eine Untersuchung der Universit\u00e4t der Union der Kammern und B\u00f6rsen der T\u00fcrkei (T\u00fcrkiye Odalar ve Borsalar Birli\u011fi, TOBB) in Ankara davon aus, dass sie real bei 38,5% anzusetzen ist. Fast Dreiviertel aller arbeitslosen 18-22-J\u00e4hrigen stimmen zu, dass sie einen Job annehmen w\u00fcrden, auch wenn die Entlohnung nur aus Bezahlung des Fahrtweges und Verpflegung best\u00fcnde, so das Ergebnis einer Untersuchung, an der auch der Arbeitgeberverband (T\u00fcrkiye \u0130\u015fveren Sendikalar\u0131 Konfederasyonu, T\u0130SK) mitarbeitete. Fast alle (86%) Jugendlichen sind verschuldet und wollen ins Ausland (76%). Laut einer OECD-Untersuchung von 2021 f\u00fcrchten 70% aller Jugendlichen in der T\u00fcrkei um die eigene finanzielle Situation und die ihrer Familien, 78% sind der Meinung, dass die Regierung h\u00e4tte mehr tun k\u00f6nnen w\u00e4hrend der Pandemie. Trotz dieser also massiven, teils sogar nach geltendem Recht semi-/illegalen Zunahme von Unterbesch\u00e4ftigung und Erwerbslosigkeit und, wie gleich gezeigt wird, der damit einhergehenden weitfl\u00e4chigen Verarmung, hatte der Staat den Werkt\u00e4tigen mit 39 TL Kurzarbeitsgeld pro Tag (derzeit umgerechnet etwas weniger als 4 \u20ac) kaum etwas zu bieten. Im Gegenteil: Er f\u00f6rderte sogar eine sehr kurzfristige und rechtlose Besch\u00e4ftigung von Jugendlichen und Menschen im Alter von 50 Jahren aufw\u00e4rts.
Als geradezu notwendige Konsequenz aus dem Herunterfahren der Wirtschaft, einer erneut induzierten Wirtschaftskrise und fehlender Unterst\u00fctzung folgte eine grassierende Armut.
Je nach Umfrage zwischen 27% und 38% der Bev\u00f6lkerung haben mittlerweile Schwierigkeiten damit, f\u00fcr Grundbed\u00fcrfnisse wie Wohnung und Lebensmittel aufzukommen. Mindestens 30% (fr\u00fchere Umfragen: 50%) haben Einkommenseinbu\u00dfen zu verzeichnen und die Einkommensungleichheit erreicht mittlerweile fast das Niveau von Brasilien, Mexiko und S\u00fcdafrika. Schon die offiziellen Inflationszahlen f\u00fcr Lebensmittel zeigen, dass deren Preiserh\u00f6hung betr\u00e4chtlich \u00fcber der durchschnittlichen Inflationsrate liegt (im Durchschnitt 20% vs. 12,28% im Jahr 2020); alternative Berechnungen gehen sogar von bis zu 30-50% Teuerung der Grundnahrungsg\u00fcter aus. Arbeitslosigkeit und Teuerung sind so grassierend und heftig geworden, dass sogar das Gro\u00dfkapital davor mahnt, dass sie \u201eunsere Zukunft gef\u00e4hrden\u201c \u2013 sprich, die stabile Zustimmung zur kapitalistischen Produktionsweise in Frage stellen k\u00f6nnen. Der ehemalige Chef des T\u00dcIK, der mittlerweile in einer kleinen Oppositionspartei ehemaliger AKP\u2019ler organisiert ist, berichtet von kreativen Methoden in den Inflationsberechnungen des T\u00dcIK, um die Zahlen so niedrig wie m\u00f6glich zu halten. Aber selbst nach Zahlen des T\u00dcIK litten 27,4% der Bev\u00f6lkerung 2020 unter \u201eernstem materiellen Mangel\u201c. Nach Definition der Weltbank (WB) galten 12,2% der Bev\u00f6lkerung als arm \u2013 im Gegensatz zum Jahre 2018, dem diesbez\u00fcglich bisher besten Jahr der T\u00fcrkei, in dem die Rate bei 8,5% lag. Als arm in einem Land wie der T\u00fcrkei gelten den Berechnungen der WB zufolge Personen, die mit weniger als 5,5 $ (38 TL, auf das Jahr 2020 gerechnet) pro Tag \u00fcber die Runden kommen. Ein Schelm, wer den Grund der Festsetzung des Kurzarbeitsgeldes bei extrem niedrigen 39 TL darin sucht, den Anstieg der von der WB sowieso schon sehr niedrig angesetzten Schwelle zur \u201eArmut\u201c gerade noch so etwas zu umgehen. \u00dcber 40% der Bev\u00f6lkerung ist \u2013 zumeist in Form von privaten Konsumkrediten \u2013 an Banken verschuldet; ihre Schuldlast stieg 2020 um 36%. Und das sind nur die \u201eoffiziellen\u201c Schulden, also solche, die institutionell stattfinden und daher objektiviert erfasst werden. Laut einer Analyse der Stadtverwaltung Istanbuls f\u00fchren mittlerweile 71% der Sp\u00e4tis/Kioske Schuldenhefte, wobei die Gesamtschuldlast der Kund*innen w\u00e4hrend der Pandemie um 54,8% und die Zahl der Kund*innen, die auf Pump beim Kiosk kaufen, um 32,2% gestiegen ist. Die drei Hauptg\u00fcter, die auf Pump gekauft wurden, sind in absteigender Reihenfolge Brot, Eier und Zigaretten. Die Kleinladenbesitzer*innen sind aber mittlerweile selbst zu 65% verschuldet und verlangen immer mehr Kreditkartenk\u00e4ufe statt K\u00e4ufe auf Pump. Zudem k\u00f6nnen viele nicht von den Coronahilfen profitieren und halten sie f\u00fcr ungen\u00fcgend.
Die Selbstverg\u00f6ttlichung der Macht
Der Hunger und die Armut brechen sich mittlerweile teils mit Gewalt und gegen das Bewusstsein Bahn. Der Vorsitzende des Minibusfahrervereins in Malatya [3] und eine arme \u00e4ltere Frau in Elaz\u0131\u011f, beide AKP-Anh\u00e4nger*innen beziehungsweise Mitglieder der AKP, flehten unabh\u00e4ngig voneinander ganz impulsiv Erdo\u011fan bei dessen Besuch in ihrer jeweiligen Stadt an: Wir hungern, wir haben kein Brot mehr im Haus! Und ruderten sp\u00e4ter \u2013 da setzte das politische Bewusstsein wieder ein \u2013 zur\u00fcck und bezeugten mehrmals dem\u00fctig ihren Respekt vor Erdo\u011fan. Aber die Hybris, der Hohn auf alle zur Armut willentlich und wissentlich Verdonnerten des Landes, ist dort grenzenlos, wo die Apotheose der Macht regiert. Erdo\u011fan reagierte auf das Flehen des Minibusfahrers mit einem lapidaren: \u201eDas erscheint mir jetzt ein bisschen \u00fcbertrieben. Hier, g\u00f6nn dir einen Schwarztee zur Vergn\u00fcgung!\u201c \u2013 und reichte ihm ein Paket Schwarztee. Einige Monate sp\u00e4ter, im Juni 2021, kam Erdo\u011fan nochmals auf den Hunger zur\u00fcck und meinte ganz ohne Schamesr\u00f6te zur Opposition: \u201eWie bitte, das Volk ist hungrig? Bitte, dann s\u00e4ttigt es doch.\u201c \u00c4hnlich Emine Erdo\u011fan, die Ehefrau des Pr\u00e4sidenten, die allen Ernstes in einem Werbevideo l\u00e4chelnd und wohlmeinend die Bev\u00f6lkerung dazu aufrief \u201edie Portionen kleiner\u201c zu halten (um Abf\u00e4lle zu reduzieren) \u2013 wobei sie nat\u00fcrlich selber bekannt ist f\u00fcr ihnen ostentativen Luxuskonsum. Und nicht zuletzt: Als fast die H\u00e4lfte der Provinzen der T\u00fcrkei Ende Juli-Anfang August 2021 mit den verheerendsten Waldbr\u00e4nden der letzten Jahrzehnte zu k\u00e4mpfen hatten (dazu sp\u00e4ter mehr), lie\u00df es sich Erdo\u011fan nicht nehmen, mit einem riesigen Konvoi durch die Provinzhauptstadt einer der am heftigsten betroffenen Provinzen, Marmaris, zu fahren, dabei den gesamten Verkehr inklusive der Feuerwehr lahmzulegen und Tee vom Bus aus mit herrschaftlichen Gr\u00fc\u00dfen an Umstehende zu verteilen. Suetons Kaiser Nero sang wenigstens nur Ges\u00e4nge auf das brennende Rom, Erdo\u011fan hingegen verh\u00f6hnt noch zus\u00e4tzlich das Land, die Natur und die Bev\u00f6lkerung.
Ein Kleinladenbesitzer in Denizli, der vom Gouverneur w\u00e4hrend einer PR-m\u00e4\u00dfig inszenierten Inspektionstour zur Umsetzung der Corona-Ma\u00dfnahmen gefragt wurde, warum er keine Maske trage, antwortete: \u201eDie Maske ist mein allerletztes Problem. Ich mache keine 15 Lira am Tag, kann Mieten und Strafen nicht mehr zahlen. Ich m\u00f6chte verrecken.\u201c Der Hohn der Macht: Derselbe Gouverneur lie\u00df w\u00e4hrend derselben Inspektionstour einen D\u00f6nerimbiss schlie\u00dfen, weil die Arbeiter*innen ohne Handschuhe arbeiteten (was im \u00dcbrigen keine Corona-Auflage war) und die Maske unter der Nase trugen. Erst nachdem sein Vorgehen \u00f6ffentlich skandalisiert wurde, ruderte er zur\u00fcck. Dabei schl\u00e4gt sich die Materialit\u00e4t der um sich greifenden Armut und Depravation mitunter auch wider Willen im Handeln des Regimes nieder: Devlet Bah\u00e7eli, Chef der MHP und Hauptb\u00fcndnispartner der AKP, rief eine Kampagne ins Leben, wonach Brote an Gabenz\u00e4une f\u00fcr Arme aufgeh\u00e4ngt werden sollten f\u00fcr Bed\u00fcrftige \u2013 wenige Tage sp\u00e4ter meinte Erdo\u011fan, Brotlosigkeit g\u00e4be es in der T\u00fcrkei nicht. Wie eine Furie w\u00fctete Bah\u00e7eli dann allerdings, als seine Aktion ganz zurecht als unwillk\u00fcrliches Eingest\u00e4ndnis der Existenz weitfl\u00e4chiger Armut seitens eines der wichtigsten Akteure des Regimes interpretiert und skandalisiert wurde.
Hohn und Verachtung f\u00fcr das Volk h\u00f6ren hier nicht auf. W\u00e4hrend fast das gesamte Land im Mai 2021 au\u00dfer f\u00fcr Arbeit und das Notwendigste in die eigenen vier W\u00e4nde eingesperrt war, galt Narrenfreiheit f\u00fcr Tourist*innen. Geradezu auf Knien erbettelte sich das Regime von den unterschiedlichen L\u00e4ndern Tourist*innenstr\u00f6me, um die eigenen einbrechenden Devisenreserven noch zu retten. Sogar die Impfkampagne sollte f\u00fcr den Tourismus passend zugeschnitten sein: Der Au\u00dfenminister Mevl\u00fct \u00c7avu\u015fo\u011flu gab Anfang Mai durch, dass sie jede Person bis Ende Mai impfen w\u00fcrden, mit der ein Tourist in Kontakt treten k\u00f6nnte, also Werkt\u00e4tige der Tourismusbranche. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Impfkampagne im Land noch nicht einmal wirklich angefangen. Ein dazugeh\u00f6riges staatliches Werbevideo verbreitete eine Aura von Sommer, Sonne, guter Laune und lauter wuseligen werkt\u00e4tigen T\u00fcrk*innen voller Lebensfreude und Gastfreundschaft, die Masken mit der Aufschrift \u201eEnjoy, I\u2019m vaccinated\u201c trugen. Ein eindr\u00fcckliches Foto des AFP-Korrespondenten B\u00fclent K\u0131l\u0131\u00e7, der wenig sp\u00e4ter am 26. Juni 2021 beim Istanbul Pride von durchdrehenden Polizisten fast umgebracht wurde, brachte hingegen das reale Grauen zum Ausdruck: Eine finster und ungl\u00fccklich in die Ferne blickende t\u00fcrkische Putzkraft, neben ihr lachende Tourist*innen in Saus und Braus, inmitten des ansonsten verlassenen historischen Altstadtteils Istanbuls, Fatih. \u201eTurkey Unlimited. Now available without Turks\u201c, brachte es einer der zynischen Kommentare auf Social Media auf den Punkt.
Aber die wahre Apotheose der Macht auf dem R\u00fccken und in Erniedrigung des Volkes, die absolute Indifferenz gegen alles Recht und alle Norm, sogar der vom Regime selbst gesetzten, das reine Regime des Dezisionismus, stellt alles andere in den Schatten.
Denn f\u00fcr das Regime galten keine Ausgangsbeschr\u00e4nkungen und keine Corona-Ma\u00dfnahmen. Seit Oktober 2020 \u2013 w\u00e4hrend die T\u00fcrkei dabei war, einen der bis dahin schlimmsten Gipfel der Pandemie zu durchleben \u2013 hielt die AKP unter F\u00fchrung von Erdo\u011fan dutzende kleinere und gr\u00f6\u00dfere Provinzkongresse in geschlossenen R\u00e4umen ab und zwar mit Tausenden (!) von Teilnehmenden, gegen alles Recht und gegen alle Ma\u00dfnahmen und in totaler Ignoranz der grassierenden Pandemie. Dabei wurde der Hochmut noch schamlos zur Schau gestellt. Erdo\u011fan hob etwa voller Freude (!) auf dem Kongress seiner Partei in der am Schwarzmeer gelegenen Stadt Rize am 15. Februar 2021 hervor: \u201eWir halten Kongresse ab w\u00e4hrend einer Pandemie und der Kongresssalon in Rize ist zum Bersten voll!\u201c Und alle klatschen und johlen. Nat\u00fcrlich sprechen einige Indizien und der gesunde Menschenverstand daf\u00fcr, dass diese Kongresse die Pandemie beschleunigt haben; abschlie\u00dfend l\u00e4sst sich das jedoch nicht feststellen, da nicht einmal die Mitglieder des wissenschaftlichen Pandemiebeirats des Gesundheitsministers genauere Kenntnis \u00fcber Ort und Grund von Infektionen besitzen. Das Einzige, was der Gesundheitsminister zur Gleichg\u00fcltigkeit gegen\u00fcber allen Corona-Regeln seitens seiner Partei zu sagen hatte, war: \u201eIch finde es jetzt nicht richtig, deshalb [wegen den Kongressen, A.K.] eine Geschichte \u00fcber Privilegien zu spinnen.\u201c Der Chef der Rundfunk- und Fernsehbeh\u00f6rde (RT\u00dcK) gab eine Memo an alle Fernsehsender durch, dass sie nicht die Kongresse zeigen sollen, sondern leere Stra\u00dfen.
Damit nicht genug. So wurden inmitten des \u201etotalen\u201c Lockdowns mehrere \u00f6ffentliche Begr\u00e4bniszeremonien von prominenten AKP-Mitgliedern oder Staatsb\u00fcrokraten abgehalten, obwohl diese verboten waren, erneut mit Hunderten bis Tausenden Teilnehmenden, darunter auch Ministern, dem Pr\u00e4sidenten selber, hohen B\u00fcrokrat*innen und so weiter. Die Kr\u00f6nung in der Missachtung der Corona-Ma\u00dfnahmen leistete sich erneut Erdo\u011fan: Am selben Tag, an dem Erdo\u011fan weitgehende Beschr\u00e4nkungen des Lebens wegen der Pandemie verk\u00fcndete (dem 13. April 2021, zu Beginn des Fastenmonats Ramadan), darunter ein Verbot gemeinschaftlichen Fastenbrechens, hielt er selbst ein gr\u00f6\u00dferes gemeinschaftliches Fastenbrechen in seinem Pr\u00e4sidentenpalast ab. Deutlicher h\u00e4tte man nicht vorf\u00fchren k\u00f6nnen, dass Gesetze nur f\u00fcr das zertretene Volk, nicht aber f\u00fcr die Damen und Herren der Macht gelten. Vom Regime organisierte Massenveranstaltungen und Demonstrationen wie beispielsweise ein Gebet mit tausenden Teilnehmenden vor der Hagia Sophia zum Zuckerfest oder pro-Jerusalem Demonstrationen und Autokonvois waren inmitten des \u201etotalen\u201c Lockdowns im Mai 2021 erlaubt. Die Demos der HDP oder von Feminist*innen etwa anl\u00e4sslich des Austritts aus der Istanbul Konvention oder der Istanbul Pride waren es indes nicht. Verhaftungen auf der Istanbul Pride wurden mit dem Verweis auf Corona-Schutzma\u00dfnahmen vollzogen \u2013 selbstverst\u00e4ndlich von einem Polizeioffizier veranlasst, der selbst ohne Maske durch die Gegend schrie und verhaften lie\u00df ganz nach seinem pers\u00f6nlichen gusto. W\u00e4hrend Gastronomie und Kleinhandel wegen den Auflagen und mangelnder Unterst\u00fctzung regelrecht abstarben \u2013 laut Sch\u00e4tzungen sind 20-25% der Gastronomiebetriebe Bankrott gegangen \u2013, feierten AKP\u2019ler ausgelassen in geschlossenen R\u00e4umen, mit Musik und Tanz; das tat auch und erneut Erdo\u011fan in seinem Palast (ohne Tanz, daf\u00fcr mit vielen G\u00e4sten und Musik). Auf Ger\u00fcchte im Dezember 2020, wonach AKP-Mitglieder unter der Hand priorisiert geimpft wurden, wusste der Gesundheitsminister nur zu sagen: \u201eSowas w\u00fcrden wir nicht begr\u00fc\u00dfen\u201c, was die Sache nicht besser machte. Genau so wenig wie der Umstand, dass Erdo\u011fan Anfang Juni 2021 ganz unverbl\u00fcmt im Fernsehen herausplapperte, dass er schon die 3. Impfung und zwar vermutlich mit dem sehr effizienten BioNTech/Pfizer-Vakzin bekommen hatte, w\u00e4hrend damals t\u00fcrkeiweit erst etwa 20% der Bev\u00f6lkerung eine Erstimpfung erhalten und davon nur etwa 15% vollst\u00e4ndig geimpft waren, dazu noch weitestgehend mit dem weitaus weniger effektiven Sinovac-Vakzin.
Nicht zuletzt noch die Zurschaustellung ma\u00dflosen Reichtums und der Verschwendung, deren Urspr\u00fcnge wie Ausw\u00fcchse niemandem mehr als legitim erscheinen, dazu noch inmitten der Pandemie. So wurde bekannt, dass zahlreiche wichtige staatliche Funktionstr\u00e4ger sowie Berater von Erdo\u011fan gleich mehrere Geh\u00e4lter beziehen und Unsummen an Geld verdienen. Der Skandal um K\u00fcr\u015fat Ayvato\u011flu, einem aufstrebenden J\u00fcngling im Hauptquartier der AKP, zeigt nur die Spitze des Eisbergs: Ayvato\u011flu war beim Koksen in einer Luxuskarosserie erwischt worden und wurde urspr\u00fcnglich laufengelassen, nachdem er sich auf der Polizeiwache mit: \u201edas war nur Puderzucker, wir haben das als Witz aufgezogen\u201c verteidigte. Im weiteren Verlauf des Skandals tauchten zahlreiche Bilder von ihm auf, in denen er mit unendlich viel Luxus und einflussreichen Leuten an seiner Seite posiert. Er ist nur einer von vielen zutiefst opportunistischen Gl\u00fccksrittern, die durch Anbiederung an die Macht zu Neureichen wurden, sich gerne mit M\u00e4chtigen ablichten lassen und im Abglanz der Macht baden, sowie ihren verschwenderischen Luxus ganz offen in Social Media-Profilen zur Schau stellen. Pers\u00f6nlichkeiten wie Ayvato\u011flu, der sich laut Eigenaussage aus purem Machtkalk\u00fcl bis ins AKP-Hauptquartier hocharbeitete, und die geldverschlingenden B\u00fcrokraten stehen nicht nur im extremen Widerspruch zum nach Au\u00dfen kommunizierten konservativ-islamischen Ethikverst\u00e4ndnis der AKP; die ostentative Verschwendungssucht, die darin schamlos expliziert wird, ist ein Hohn auf Alle, die unter Pandemie und Pandemiemanagement erdr\u00fcckt werden.
Hochmut kommt vor dem Fall. Die haupts\u00e4chlich im Sinne von Herrschaft und Kapital betriebene Pandemiepolitik sowie die \u00f6ffentlich dargestellte Selbstapotheose der Macht hat zusammen mit der sozialen Depravation ganz wesentlich zu einem massiven Legitimationseinbruch gef\u00fchrt.
Eine Mehrheit der Befragten in Meinungsumfragen bevorzugt mittlerweile das Parlamentssystem gegen\u00fcber dem \u201ePr\u00e4sidialsystem\u201c von Erdo\u011fans Gnaden; glaubt, dass sich die Wirtschaft wegen schlechtem Management in einer Krise/in einem miserablen Zustand befindet; glaubt zu 80% nicht mehr den offiziellen Inflationszahlen; vertraut laut einer von der AKP selbst aufgegebenen Umfrage nicht mehr in das Pandemiemanagement der Regierung; hat das Vertrauen in das Justizsystem fast vollst\u00e4ndig verloren; verurteilt sehr eindeutig die AKP-Kongresse w\u00e4hrend der Pandemie (zu 79%) sowie das Beziehen mehrerer Geh\u00e4lter von B\u00fcrokrat*innen und Berater*innen (zu 70%); befindet, dass sich das Land und die Wirtschaft in eine schlechte Richtung entwickeln und klagt haupts\u00e4chlich \u00fcber wirtschaftliche Probleme und die Coronakrise. Immer mehr W\u00e4hler*innen von AKP und MHP springen entweder direkt ab oder sind sich unsicher \u00fcber ihre Parteipr\u00e4ferenz; der Anteil der Befragten, die keine klaren Wahlpr\u00e4ferenzen artikulieren (Protestw\u00e4hler*innen, Unsichere, keine Antwort), liegt mittlerweile regelm\u00e4\u00dfig bei kr\u00e4ftigen 20%. Nicht zuletzt sinkt die Zustimmung zu Erdo\u011fan als Pr\u00e4sident und befindet sich auf einem historischen Tief und fast alle Wahlumfrageinstitute berichten von Ergebnissen, wonach die Regierungskoalition bei einer anstehenden Wahl nicht mehr als Siegerin hervorgehen w\u00fcrde \u2013 darunter sogar AKP-nahe Wahlumfrageinstitute. AKP-intern werden mittlerweile \u00c4ngste ge\u00e4u\u00dfert, dass bei den n\u00e4chsten Wahlen Schluss sein k\u00f6nnte. Nur: Ein Legitimationseinbruch allein gen\u00fcgt nicht, wenn nicht eine \u00fcberzeugende Alternative da ist. Solange verbleibt der Dissens atomisiert und perspektivlos, jederzeit bereit dazu, zu verk\u00fcmmern oder doch beim Bestehenden zu bleiben. Ich greife dieses Thema und das Problem der Opposition am Ende des Artikels noch einmal auf. Jetzt erst mal zur Wirtschaftskrise.
Die ewige Wiederkunft der gleichen Wirtschaftskrise
Sp\u00e4testens seit 2013 hat sich ein Muster wirtschaftlicher Krisenanf\u00e4lligkeit in der T\u00fcrkei eingestellt, das sich alle paar Monate oder Jahre wiederholt und seit 2018 besonders versch\u00e4rft. Zeitgleich entwickelten sich die Debatten \u00fcber prim\u00e4re und sekund\u00e4re Ursachen dieser Krise weiter und die Fragen danach, was sich daraus f\u00fcr die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse und Entwicklungsperspektiven innerhalb der t\u00fcrkischen Gesellschaftsformation ableiten l\u00e4sst.
Prinzipiell befindet sich der semi-periphere Neoliberalismus in der T\u00fcrkei wegen seiner Au\u00dfenabh\u00e4ngigkeit seit 2013 in einer strukturellen Krise. Das hei\u00dft, dass die t\u00fcrkische Wirtschaft sehr wesentlich auf den Import von Zwischen- und Kapitalg\u00fctern f\u00fcr die (Export-)Produktion sowie von finanziellem Kapital f\u00fcr die Finanzierung von Investitionen im Land sowie der Tilgung des Au\u00dfenhandelsdefizits angewiesen ist. Ihr fehlt dagegen weitestgehend eine eigenst\u00e4ndige Kapitalg\u00fcter- beziehungsweise technologieintensive Produktion, die ihre Au\u00dfenabh\u00e4ngigkeit reduzieren beziehungsweise das Au\u00dfenhandelsdefizit mindern k\u00f6nnte. Die derzeitige Lage begr\u00fcndet sich schlicht darauf, dass die AKP das schon vor ihr entstandene semi-periphere Modell des Neoliberalismus geerbt und vollst\u00e4ndig verankert hat. Und es liegt zugleich daran, dass die AKP den sich ihr bietenden Spielraum in der Wirtschaftspolitik nicht im Sinne eines produktiven Updates der t\u00fcrkischen Wirtschaft, sondern klientelkapitalistisch und politisch motiviert durch die Vergabe von Unmengen an Bauauftr\u00e4gen in den Beton gesetzt hat (das hei\u00dft, in Sektoren gelenkt hat, die kein produktives Upgrade der Industrie m\u00f6glich machen und wenig bis keine Devisen generieren). Quantitative Easing und Anleihek\u00e4ufe der US-amerikanischen Zentralbank (Fed) sorgten zwar nach 2007-08 weiterhin daf\u00fcr, dass der Zufluss von ausl\u00e4ndischem finanziellen Kapital in die T\u00fcrkei nicht abnahm. Als die Fed 2013 jedoch ank\u00fcndigte, diese Programme zur\u00fcckzufahren, wurden die Kapitalfl\u00fcsse volatiler und der Wert der Lira gegen dem US-Dollar und dem Euro fing seitdem immer an zu fallen, wenn nicht besonders g\u00fcnstige internationale Umst\u00e4nde den Kapitalzufluss wieder ankurbelten. Da die seinerzeit zu sehr g\u00fcnstigen Konditionen aufgenommenen Auslandsschulden insbesondere des Privatsektors teils erheblich waren, nahm damit die Auslandsverschuldung und wegen der Importabh\u00e4ngigkeit der t\u00fcrkischen Industrie auch die Inflation permanent zu. Erdo\u011fans zunehmend unorthodox neoliberales und re-politisiertes Wirtschaftsmanagement, das eigenwillige au\u00dfenpolitische Agieren der t\u00fcrkischen Regierung sowie das Ersetzen konstitutioneller und institutioneller Mechanismen durch willk\u00fcrliche, kamen erschwerend hinzu. So f\u00fchrte ein diplomatischer Konflikt mit den USA im Sommer 2018 zu einem schweren W\u00e4hrungsschock. Auslandsschulden und Importkosten explodierten, R\u00fcckzahlungsprobleme, Schuldenumstrukturierungen und Einbruch des Konsums waren die Folgen. Es folgten massive Zinserh\u00f6hungen der t\u00fcrkischen Zentralbank (TCMB) bis zum Peak des Leitzinses von 25,50% im September 2018, die zwar die Attraktivit\u00e4t der t\u00fcrkischen Wirtschaft f\u00fcr ausl\u00e4ndisches Kapital und den Wert der TL aufrechterhalten sollten, aber wegen der H\u00f6he der Zinsen zus\u00e4tzlich kontraktiv auf den Kredit- wie allgemein den Binnenmarkt wirkten. Die W\u00e4hrungskrise entwickelte sich zu einer schweren Wirtschaftskrise.
In Folge intervenierte Erdo\u011fan noch direkter in die Wirtschaftspolitik. Zum einen setzte er schon kurz vor jener W\u00e4hrungskrise seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanz- und Wirtschaftsminister ein, der eine st\u00e4rker binnenmarktorientierte Politik verfolgen sollte und hierf\u00fcr vor leichten Kapitalverkehrskontrollen, Handelsbeschr\u00e4nkungen und \u2013 im Gegensatz zum damaligen Zentralbankchef \u2013 einer von staatlichen Banken angef\u00fchrten Kreditexpansion nicht zur\u00fcckschreckte. Zum anderen ersetzte Erdo\u011fan prompt den unter hohem politischem Druck dennoch mehr oder minder nach orthodox-neoliberalen Regeln vorgehenden Zentralbankchef Murat \u00c7etinkaya durch Murat Uysal, der seinem Namen volle Ehre angedeihen lie\u00df (Uysal hei\u00dft f\u00fcgsam, willf\u00e4hrig auf T\u00fcrkisch). Er senkte die Zinsen wider die orthodoxen-neoliberalen Lehren schrittweise bis auf etwa 9% im Sommer 2020, das hei\u00dft weit unter die durchschnittliche Inflationsrate von 15,18% (2019) beziehungsweise 12,28% (2020) und somit auf ein reales Negativzinsniveau. [4] Beides und beide f\u00fchrten zu einer stetigen Erosion des Wertes der TL und zum Versiegen insbesondere der kurzfristigen Kapitalzufl\u00fcsse, sodass mitten in der Corona-Pandemie erneut eine schwere W\u00e4hrungskrise einsetzte und die TL am meisten unter den W\u00e4hrungen der Schwellenl\u00e4nder abwertete. Milliarden an Dollar-Reserven der TCMB wurden verschleudert, um den Wert der TL ohne Zinshebungen zu verteidigen: Laut Aussagen von Erdo\u011fan selbst insgesamt immense 165 Milliarden $ zwischen 2019 und 2020, laut Kritiker*innen allein grob 128 Milliarden $ davon w\u00e4hrend der Coronakrise 2020 und dem erneuten W\u00e4hrungsschock im Sommer 2020. Umsonst alle Bem\u00fchungen der Sterblichen: Die Nettonegativreserven der TCMB abz\u00fcglich der Swaps machten die Situation noch prek\u00e4rer (F\u00fcr alle, die es genauer wissen wollen: Die Devisenreserven der TCMB minus Schulden und Swaps in ausl\u00e4ndischer W\u00e4hrung: -54,1 Mrd. $, Ende November 2020; immer noch -45,57 Mrd. $ Ende Juni 2021). [5] Hinzu kamen erneut au\u00dfenpolitische Spannungen insbesondere mit den USA. Zus\u00e4tzlich wurden eine Kreditschwemme staatlicherseits haupts\u00e4chlich \u00fcber staatliche Banken forciert \u2013 das gesamte Kreditvolumen wuchs um 40%! \u2013 und die schon erw\u00e4hnten Konjunkturpakete verk\u00fcndet, um die Wirtschaft zu st\u00fctzen. Die Kredite gingen haupts\u00e4chlich an Privathaushalte, was nat\u00fcrlich die Binnennachfrage ankurbelte. Insgesamt 7 Millionen Individuen bezogen Bedarfskredite (max. 10.000 TL, also etwas weniger als 1.000 \u20ac), \u00f6ffentliche Banken reichten Kredite an 180.000 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie an 1,1 Millionen Ladenbesitzer*innen. Nach -9,9%/BIP im 2. Quartal 2021 gegen\u00fcber dem Vorjahreszeitraum wuchs die t\u00fcrkische Wirtschaft kr\u00e4ftige 6,7%/BIP im 3. Quartal gegen\u00fcber dem Vorjahreszeitraum. Die Komposition des Wirtschaftswachstums indes war bezeichnend f\u00fcr den Charakter desselben und relativierte dessen Tragf\u00e4higkeit: der inl\u00e4ndische Konsum wuchs um 9%, die Industrie immerhin um 8%, aber das Finanz- und Versicherungswesen um ganze 41,1%. Von den niedrigen Zinsen hatten ja nicht nur die KMU und die privaten Konsument*innen profitiert, sondern nat\u00fcrlich auch die gro\u00dfen Privatbanken, die billig an TL rankamen, um diese teurer weiter zu geben oder zu handeln (wor\u00fcber sich wiederum die KMU, die weiterhin auch auf Privatbanken angewiesen blieben, lautstark beschwerten).
Schrille T\u00f6ne folgten: So sprach Erdo\u011fan von einem \u201ewirtschaftlichen Befreiungskrieg\u201c wie im sp\u00e4ten Osmanischen Reich; der Finanz- und Wirtschaftsminister Albayrak deklarierte \u00f6ffentlich, dass ihm der Wert des Dollars egal sei. Der willf\u00e4hrige Zentralbankchef erkl\u00e4rte Ende Oktober 2020 ebenfalls, dass die TCMB kein Ziel bez\u00fcglich des Werts der TL verfolge \u2013 was zwar strenggenommen dem Mandat der Zentralbank entspricht (keine Devisenfokussierung, sondern Preis- und ergo Inflationsfokussierung), aber mit den Zus\u00e4tzen des Zentralbankchefs: \u201eder Wert der Lira ist extrem niedrig\u201c und \u201edie Wertlosigkeit der TL ist ein Risiko f\u00fcr die Preisstabilit\u00e4t\u201c, ein sehr offen kommuniziertes Eingest\u00e4ndnis der prek\u00e4ren Situation und der Handlungsohnmacht der TCMB darstellte. Verst\u00e4ndlicherweise kollabierte der Wert der TL daraufhin nat\u00fcrlich nochmals. [6] Allein in jener Woche verschleuderte die TCMB angeblich an die eine Milliarde Dollar an Devisenreserven, um den Wert der TL zu halten \u2013 v\u00f6llig umsonst. Von etwa 6 TL pro Dollar Anfang 2020 fiel der Wert der TL auf bis zu 8,5 TL pro Dollar Anfang November 2020. Aber schon im August/September 2020 hatte sich wegen der prek\u00e4ren Situation wieder eine 180\u00b0-Kehrtwende angek\u00fcndigt, die dann sukzessive vollzogen wurde: Auf die massive Kreditexpansion folgte eine massive Kreditkontraktion der \u00d6ffentlichen und die Zinsen der TCMB wurden zuerst durch die Hintert\u00fcr und dann zaghaft auch explizit erh\u00f6ht, obzwar der Leitzins immer noch unter der Inflationsrate blieb. Gekr\u00f6nt wurde diese Kehrtwende erneut durch eine Ersetzung des Zentralbankchefs seitens Erdo\u011fans in einer spontanen Aktion vom 6. November 2020. Finanz- und Wirtschaftsminister Berat Albayrak reichte daraufhin seinen R\u00fccktritt ein \u2013 per Instagram, wohlgemerkt (und widerlegte damit \u00fcbrigens linksliberale Fehlvorstellungen, wonach Erdo\u011fans Politik nur mehr \u201eklientelistische Familienpolitik\u201c sei). Und das Pendel der mittlerweile bekannten wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden schlug erneut in die entgegengesetzte, orthodox-neoliberale Richtung aus: Der neue Finanzminister L\u00fctfi Elvan wie auch der neue Zentralbankchef Naci A\u011fbal k\u00fcndigten in sehr klaren Worten eine neoliberale Geld- und Fiskalpolitik an (hohe Zinsen, Kreditkontraktion, Ausgabenk\u00fcrzungen). Erdo\u011fan sprach davon, dass \u201edie bittere Pille geschluckt\u201c werden m\u00fcsse. Und erneut fand, diesmal schon als Farce der Farce, der x-te zweite Fr\u00fchling in der Beziehung zwischen AKP und Gro\u00dfkapital statt: Innerhalb k\u00fcrzester Zeit stieg der TCMB-Leitzins um mehr als 400 Basispunkte gerade noch so ein bisschen \u00fcber das Inflationsniveau auf 15% an (die Inflation lag im November 2020 bei 14%, daher wurde der Leitzins bis Ende des Jahres auch auf bis zu 17% gehoben, um einen positiven Realzins zu garantieren). Eine Welle an Kapital kam ins Land geflossen, die Lira gewann stetig an Wert, der Hauptverband des Gro\u00dfkapitals, die Vereinigung t\u00fcrkischer Industrieller und Gesch\u00e4ftsleute (T\u00fcrk Sanayicileri ve \u0130\u015f \u0130nsanlar\u0131 Derne\u011fi, T\u00dcSIAD), und gro\u00dfe internationale Player wie die Soci\u00e9t\u00e9 G\u00e9n\u00e9rale gratulierten gleich mehrmals euphorisch zur \u201eneuen\u201c Wirtschaftspolitik. Mehrere Treffen mit Verb\u00e4nden der KMU wie auch des Gro\u00dfkapitals wurden gehalten und erneut Einigkeit erzielt; ja sogar ein Gremium f\u00fcr die Kontrolle der stark umstrittenen Inflationsberechnungen des T\u00dcIK gegr\u00fcndet, in dem Vertreter des Gro\u00dfkapitals sa\u00dfen, um das Vertrauen kapitalistischer Akteure in die regulativen Institutionen des Staates weiter zu festigen.
Eigentlich ist das Muster dieser wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden, \u201eErdo\u011fans Zigzag\u2019s\u201c, altbekannt und wird seit Jahren praktiziert.
Ist der Druck wegen Kapitalabfluss und W\u00e4hrungsverfall auf Inflation und Zinsen so gro\u00df, dass sie binnenmarktorientierte KMU zu stark gef\u00e4hrdet, schl\u00e4gt das Regime um Erdo\u011fan eine aus der Perspektive neoliberaler Orthodoxie heterodoxe Wirtschaftspolitik der Kreditexpansion, Niedrigzinsen, teils staatlich gest\u00fctzter Billigdevisen und \u00e4hnlicher Ma\u00dfnahmen ein.
Diese Kehrwende wird dann mit reichlich nationalistisch-antiimperialistischer Rhetorik ideologisch verkleidet, zieht regelm\u00e4\u00dfig die Kritik des Gro\u00dfkapitals und der linksliberalen Antiautorit\u00e4ren auf sich und f\u00fchrt letztlich oft zu einer Versch\u00e4rfung der Krisenelemente: Fall der Lira, noch h\u00f6here Inflation, daher noch h\u00f6herer Druck auf die Zinsen, Versiegen der Kapitalfl\u00fcsse und Versch\u00e4rfung der innerkapitalistischen Antagonismen. Sobald genug Zeit erkauft wurde, um die binnenmarktorientierten Kapitale und KMU kurzfristig zu retten, und der Druck der internationalen Finanzm\u00e4rkte, in die die T\u00fcrkei ja organisch eingebettet ist, zu hoch wird, wird dann erneut eine 180\u00b0-Kehrtwende hin zu einer augenscheinlich orthodoxen neoliberalen Wirtschaftspolitik eingeschlagen. Es werden Reformen und Bekenntnisse zum freien Markt, zu makro\u00f6konomischer Stabilit\u00e4t, Berechenbarkeit, Transparenz etc. verk\u00fcndet \u2013 bis zur n\u00e4chsten Krise, in der dann wieder um 180\u00b0 gewendet wird, und so weiter bis zum J\u00fcngsten Gericht. Dass nicht nur die Gro\u00dfbourgeoisie der T\u00fcrkei, sondern auch die \u201einternationalen Finanzm\u00e4rkte\u201c jedes Mal wieder die eine Seite der 180\u00b0-Wende, n\u00e4mlich die orthodox-neoliberale, voller Gl\u00fcck empfangen wie Kinder ein frisch lackiertes Schaukelpferd, und wider besseren Wissens ignorieren, dass die n\u00e4chste Kehrtwende wieder kommt, l\u00e4sst sich vielleicht auch als Symptom des Zustands des globalen Kapitalismus lesen: Hauptsache es funktioniert jetzt, egal was sp\u00e4ter kommt, denn es gibt ja doch nichts besseres.
Auch dieses Mal zeichnete sich eigentlich recht fr\u00fch die Verg\u00e4nglichkeit der orthodox-neoliberalen Kehrtwende ab. Noch wenige Tage nach dem Wechsel in der Wirtschaftspolitik und den verantwortlichen B\u00fcrokraten sprach Erdo\u011fan schon davon, dass er am liebsten wieder sehr fr\u00fch niedrigere Zinsen sehen w\u00fcrde. Hardcoreberater von Erdo\u011fan wie der Ex-Marxist-jetzt-Stiefellecker Cemil Ertem oder die Speerspitzen der Revolverpresse schossen eine Salve nach der anderen auf den neuen Zentralbankchef ab. Was kam, war also schon l\u00e4ngst gewusst und zudem mit Fanfaren angek\u00fcndigt. Amor fati aber lautete das Lebensmotto; und allzu erwartbar war also auch die Wiederkunft der ewig selben Wirtschaftskrise. Konkretes zeichnete sich im M\u00e4rz 2021 ab: Keine zwei Monate nach Ank\u00fcndigung der Errichtung des Kontrollgremiums f\u00fcr die Inflationszahlen wurde dieses sang- und klanglos begraben. Hinter den Kulissen munkelte man, der neue Finanzminister und der neue Zentralbankchef h\u00e4tten kaum Entscheidungsmacht innerhalb ihrer jeweiligen Bereiche; und ein Reformpaket f\u00fcr die Wirtschaft kam \u00fcber wohlklingende Worth\u00fclsen nicht hinaus. Als sich dann der Zentralbankchef angesichts der hohen Inflationsrate in den USA [7] trotzdem traute, die Zinsen nochmal um 2% auf 19% zu heben und \u2013 so hei\u00dft es \u2013 Untersuchungen anstellte, wie und warum so viele Devisenreserven der TCMB verschleudert wurden, da war dann Schluss mit lustig. Wenige Tage nach dieser Zinsentscheidung, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom 19. auf den 20. M\u00e4rz 2021, wurde der Zentralbankchef erneut per pr\u00e4sidialem Dekret ausgewechselt. Anstatt seiner wurde erneut ein ehemaliger AKP-Parlamentarier eingewechselt, \u015eahap Kavc\u0131o\u011flu, der noch einen Monat zuvor im Flaggschiff der Revolverpresse, Yeni \u015eafak, ganz aggressiv die Meinung vertreten hatte, dass die Zinsen zu senken seien. Und so kam dann, was kommen musste: Kaum \u00f6ffnete die Istanbuler B\u00f6rse wieder am 21. M\u00e4rz, musste sie gleich zweimal im Laufe des Tages wegen zu gro\u00dfen Kurseinbr\u00fcchen schlie\u00dfen. Erneut kam es mit 1400% Zinsen auf TL-Swaps zu einer TL-Klemme im Londoner Devisenmarkt und innerhalb einer einzigen Woche waren fast alle die m\u00fchsamen Gewinne der TL gegen\u00fcber dem $ von \u00fcber f\u00fcnf Monaten zunichte gemacht geworden. Absurderweise senkte der neue Zentralbankchef \u2013 vermutlich \u00fcberrannt von den heftigen Reaktionen der Finanzm\u00e4rkte \u2013 noch nicht einmal die Zinsen und gab sogar mehrmals durch, dass er sich an die orthodox-neoliberalen Spielregeln halten w\u00fcrde. Der Zentralbank-Leitzins steht daher immer noch bei 19%, wobei die Inflationsrate mittlerweile fast ebenso hoch ist und daher starken Druck auf den Leitzins nach oben aus\u00fcbt, anstatt wie erhofft einen kleinen Spielraum f\u00fcr die Senkung der Zinsen zu liefern. Auch der Finanzminister \u2013 der nicht entlassen wurde \u2013 beteuerte hilflos die freien M\u00e4rkte, das liberale Devisenregime und dergleichen. Es nutzte aber alles nichts. Tiefe Entt\u00e4uschung sodann, erneut, beim Gro\u00dfkapital: eineinhalb Jahre \u00f6konomischer Reformpakete seien ergebnislos geblieben, ohne Berechenbarkeit sei nichts zu machen, die T\u00fcrkei verpasse den Anschluss an die Welt wie schon zu Ende der 1970er, so der T\u00dcSIAD.
Zwar ist die T\u00fcrkei wegen der massiven Kreditexpansion und den niedrigen Zinsen nach China das einzige Land innerhalb der G20, das das Jahr 2020 mit einem wirtschaftlichen Plus abschloss (1,8% BIP-Wachstum in der T\u00fcrkei f\u00fcr das ganze Jahr). Auch im neuen Jahr w\u00e4chst die t\u00fcrkische Wirtschaft bislang kr\u00e4ftig weiter (7%/BIP-Wachstum im 1. Quartal 2021 gegen\u00fcber dem Vorjahreszeitraum). Aber nicht nur blieben die strukturellen Defizite des t\u00fcrkischen Neoliberalismus wie die finanzielle Au\u00dfenabh\u00e4ngigkeit und das gro\u00dfe Leistungsbilanzdefizit (-5,1%/BIP, 2020) bestehen, welches weiterhin mit ausl\u00e4ndischem Kapital finanziert werden muss. Es gesellte sich auch noch ein gr\u00f6\u00dferes staatliches Defizit (-3,7%/BIP, 2020) hinzu, das logischerweise zu einer betr\u00e4chtlichen Erh\u00f6hung der einst eigentlich recht niedrigen Staatsverschuldung auf 40%/BIP (2018: 29%, 2019: 31%) f\u00fchrte \u2013 wovon mehr als die H\u00e4lfte in ausl\u00e4ndischer W\u00e4hrung besteht. Das hei\u00dft: Auf den Wertverlust der Lira folgt nicht nur Zunahme der Verschuldung der Privaten, sondern auch des Staates. Mittlerweile hat Erdo\u011fan ein umfassendes Sparpaket f\u00fcr alle staatlichen Institutionen und Ministerien ver\u00f6ffentlicht \u2013 ausgenommen nat\u00fcrlich des Pr\u00e4sidialamtes. Ebenfalls nahm wegen der Kreditschwemme und dem W\u00e4hrungsverfall die (Privat-)Verschuldung enorm zu (75%/BIP Inlandsverschuldung der Privaten, insgesamt 60%/BIP Auslandsverschuldung privat und \u00f6ffentlich), wobei alleine 200 Milliarden $ an Schulden (etwa 25%/BIP) in ausl\u00e4ndischer W\u00e4hrung haupts\u00e4chlich des Privatsektors kurzfristig, das hei\u00dft innerhalb von 12 Monaten umzuw\u00e4lzen sind.
Die zu erwartende Explosion der Rate notleidender Kredite (non-performing loans, NPL) konnte nur mittels tempor\u00e4rer Ma\u00dfnahmen verdeckt werden: Wurden fr\u00fcher 90 Tage \u00dcberziehung von Kreditratenr\u00fcckzahlungen als notleidende Kredite klassifiziert, so erlaubte die Regierung w\u00e4hrend der Pandemie eine Ausweitung auf 180 Tage. Daher betr\u00e4gt derzeit der Anteil der NPL an allen Krediten offiziell 3,79%; nach fr\u00fcherer Darstellung berechnet jedoch 4,43%. Rechnet man alle Kredite hinzu, die in irgendeiner Weise R\u00fcckzahlungsschwierigkeiten aufweisen, kommt man auf einen Anteil problematischer Darlehen von 15% an allen Krediten. Zudem wurden Darlehen in Milliardenh\u00f6he umstrukturiert; das hei\u00dft, es wurden R\u00fcckzahlungskonditionen von bestehenden Krediten im Sinne der Schuldner ver\u00e4ndert (beispielsweise mittels Ratenaufschub, oder blo\u00dfer Zinszahlung f\u00fcr eine bestimmte Zeit). So wurden beispielsweise zwischen Oktober 2019 und M\u00e4rz 2021 Kredite von 178 Unternehmen in H\u00f6he von 38 Milliarden TL umstrukturiert. Anfang Juli dieses Jahres kam es zur bislang gr\u00f6\u00dften Refinanzierungsaktion der t\u00fcrkischen Geschichte: Bezeichnenderweise war es die den dritten Istanbuler Flughafen bedienende Operateurin IGA, die ganze 6,9 Milliarden $ Schulden refinanzieren lie\u00df. Schon 2018 betrug die H\u00f6he der Kreditrestrukturierungen f\u00fcr Unternehmen 30 Milliarden $. Aber darauf zu spekulieren, dass Unternehmen, die heute Kredite nicht mehr zur\u00fcckzahlen k\u00f6nnen, morgen pl\u00f6tzlich wieder in der Lage hierzu sind, stellt eine sehr riskante Flucht in die Zukunft dar. Man denke an das an sich unbedeutende Unternehmen Diriteks Tekstil, dessen B\u00f6rsenwert im Jahr 2020 um ganze 246% zulegte. Diriteks Tekstil musste Anfang des Jahres schon Schulden von \u00fcber einer Million TL restrukturieren, konnte die erste R\u00fcckzahlungsrate trotz g\u00fcnstiger Konditionen dennoch nicht zahlen und sah sich folgerecht einem Vollstreckungsverfahren seitens des Gl\u00e4ubigers, der \u00f6ffentlichen Halk Bank, ausgesetzt. Ein \u00d6konom der Europ\u00e4ischen Bank f\u00fcr Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) spricht mit Bezug auf die notleidenden Kredite in der T\u00fcrkei treffend vom \u201eelefant-in-the-room\u201c. Und nicht ohne Grund sind die Profite der \u00f6ffentlichen Banken \u2013 die ja zu jener Kreditschwemme zu realen Negativzinsen politisch forciert wurden \u2013 ins Bodenlose gefallen und gehen mittlerweile ins Minus.
Der Wert der Lira f\u00e4llt indes weiter. Die Dollarisierung der Einlagen, also der Anteil von $-Bankeinlagen an allen Bankeinlagen, als Schutz vor W\u00e4hrungsverfall und Inflation betr\u00e4gt weiterhin fast 60%, die Inflation ist mit mittlerweile 18,95% (Juli) erneut stark gestiegen und die Schere zwischen der Inflation der Produzentenpreise und der Verbraucherpreise [8] hat mit fast 26% mittlerweile einen historischen H\u00f6chststand erreicht. Diese Entwicklung wird sich sehr sicher in kurzer Zeit auf die Verbraucherpreise niederschlagen. Kaum jemand glaubt mehr den erw\u00e4hnten Inflationszahlen des T\u00dcIK; alternative Berechnungen der Untersuchungsgruppe Inflation (Enflasyon Ara\u015ft\u0131rma Grubu, ENAG) gehen von einer fast dreifachen Inflationsrate (36% f\u00fcr 2020) als der offiziell angegebenen aus. Es verwundert nicht, dass die ENAG wegen \u201egezielter Verleumdung\u201c und \u201eIrref\u00fchrung der \u00d6ffentlichkeit\u201c prompt seitens des T\u00dcIK und des Finanzministers angezeigt und vom Staatsanwalt vorgeladen wurde.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die kr\u00e4ftigen Wachstumszahlen verdecken nicht nur die Ausma\u00dfe der sozialen Depravation, sondern \u00fcberhaupt die fundamentale Instabilit\u00e4t des Akkumulationsregimes und des Krisenmanagements.
Diese werden seit Jahren palliativ behandelt, wobei sich Instabilit\u00e4t und Krisen Jahr um Jahr versch\u00e4rfen. Ob und wann sich diese Instabilit\u00e4t erneut als manifeste Krise Bahn bricht, steht in den Sternen geschrieben. Fest steht jedoch: Umso mehr sie sich versch\u00e4rft, umso heftiger bricht sie hervor, wenn es soweit ist. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Das ist immer wieder der Fall. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der stets wiederkehrende Zyklus aus struktureller Instabilit\u00e4t \u2013 Krise \u2013 palliatives Krisenmanagement beendet wird, solange das derzeitige politische und Akkumulationsregime bestehen bleibt.
Das Unbehagen im Akkumulationsregime
Im Unterschied zu den untergeordneten Kapitalfraktionen geht es dem Gro\u00dfkapital unmittelbar ganz pr\u00e4chtig: Die gr\u00f6\u00dften Kapitalgruppen und Privatbanken der T\u00fcrkei wie Ko\u00e7, Sabanc\u0131, \u0130\u015f Bankas\u0131 und so weiter legten 2020 wie auch bisher im Jahr 2021 kr\u00e4ftig zu, an Ums\u00e4tzen so sehr wie an Profiten. \u00c4hnliches gilt f\u00fcr die gr\u00f6\u00dften 500 Industrieunternehmen der T\u00fcrkei, deren gr\u00f6\u00dfte zu ebenen jenen Kapitalgruppen geh\u00f6ren \u2013 auch wenn ihre Verschuldung und Schuldenr\u00fcckzahlungen ebenfalls zunahmen und sich ihre kr\u00e4ftigen Profitsteigerungen haupts\u00e4chlich aus dem nicht-operativen Gesch\u00e4ft ergaben (also au\u00dferhalb ihres industriellen Kerngesch\u00e4fts liegend, z.B. im Finanzwesen). Woher kommt also das Unbehagen der f\u00fchrenden \u00f6konomischen Akteure im Akkumulationsregime? Warum beschwert sich der T\u00dcSIAD fast durchgehend \u00fcber das derzeitige Regime (au\u00dfer es legt mal wieder eine orthodox-neoliberale Wende hin)?
Marxistische Theoretiker*innen und Kritiker*innen haben \u00fcberzeugend dargestellt, dass Erdo\u011fans weiter oben dargestellten permanenten \u201eZigzag\u2019s\u201c nicht einer pers\u00f6nlichen Schrulle des Pr\u00e4sidenten entspringen oder gar einer islamistischen Ideologie, wie es \u00f6fter aus (links-)liberalen Kreisen zu h\u00f6ren ist.
Es handelt sich vielmehr um einen immer prek\u00e4rer werdenden Balanceakt des Regimes zwischen den \u00f6konomischen Interessen des Gro\u00dfkapitals und denen der KMU, wobei die letzteren gemeinsam mit ihren Besch\u00e4ftigten zur Hauptw\u00e4hler*innenbasis des derzeitigen Regimes geh\u00f6ren. In Abgrenzung zu liberalen Analyseans\u00e4tzen tendieren die marxistischen dennoch oft in eine allzu rigide strukturalistische Richtung: Die These vom \u201eneuen Neoliberalismus\u201c legt beispielsweise nahe, dass der Autoritarismus Erdo\u011fans eine geradezu notwendige Folge der Krise des finanzialisierten Neoliberalismus (in der T\u00fcrkei) darstellt. Dabei streben doch gerade die b\u00fcrgerliche Opposition in der T\u00fcrkei und die \u00f6konomisch dominanten Akteure, das Gro\u00dfkapital, eine Perspektive der Restauration des Neoliberalismus anstelle des derzeitigen dezisionistischen Regimes an. Der Marxist \u00dcmit Ak\u00e7ay hebt zwar hervor, dass die bisher gr\u00f6\u00dfte Krise des Regimes, die sich durch den Gezi-Aufstand 2013 manifestierte, nicht unmittelbar aus einer Krise des Akkumulationsregimes folgte. Er f\u00fchrt aus, dass es so etwas wie \u201e[t]he political elite\u2019s survival strategies\u201c (S. 10) gab, die zu einer Staatskrise und dann zum Wandel des politischen Regimes hin zur pr\u00e4sidialen Diktatur f\u00fchrten \u2013 sprich, sich politische K\u00e4mpfe nicht eins zu eins auf die Verh\u00e4ltnisse im Akkumulationsregime zur\u00fcckf\u00fchren lassen. Gleichzeitig bleiben sie davon auch nicht g\u00e4nzlich unabh\u00e4ngig, da beispielsweise im betreffenden Fall die Akkumulationskrise die Staatskrise versch\u00e4rfte. Dann aber ordnet Ak\u00e7ay den politischen Autoritarismus in der T\u00fcrkei dem allgemeinen globalen Trend zum Autoritarismus angesichts wirtschaftlicher Stagnation zu und identifiziert \u00fcberhaupt politischen Autoritarismus mit Neoliberalismus, den er als \u2013 ausschlie\u00dfliche? \u2013 Ursache f\u00fcr jenen Autoritarismus betrachtet \u2013 als ob das eine zwangsl\u00e4ufig aus dem anderen folgte. Auch historisch betrachtet ist dies ungen\u00fcgend: Als sei es nach Thatcher und Reagan nicht zur Formation eines \u201eprogressiven Neoliberalismus\u201c gekommen; als g\u00e4be es aktuell nicht Biden in den USA, den Aufschwung des Gr\u00fcnen Kapitalismus in Europa und die neoliberale Restaurationsperspektive in der T\u00fcrkei als reale Alternativen f\u00fcr die dominanten Fraktionen des Kapitals.
Der Marxist Ali R\u0131za G\u00fcrgen hebt gegen liberale Ans\u00e4tze hervor, dass nicht der Autoritarismus von Erdo\u011fan f\u00fcr die prek\u00e4re Situation der internationalen Kapitalfl\u00fcsse in die T\u00fcrkei verantwortlich sei, sondern \u2013 so legt es sein Artikel nahe \u2013 ausschlie\u00dflich der globale Kontext, das hei\u00dft die globale Krise des Kapitalismus im Zuge der Coronapandemie, die ein Versiegen der Kapitalstr\u00f6me in die Peripherie mit sich brachte. Es stimmt nat\u00fcrlich, dass die t\u00fcrkische Wirtschaft wegen ihrer abh\u00e4ngigen Finanzialisierung auf internationale Kapitalstr\u00f6me besonders sensibel reagiert. Warum dann aber beispielsweise letztes Jahr die Lira derjenigen W\u00e4hrung der Schwellenl\u00e4nder wurde, die am st\u00e4rksten abwertete, obwohl alle Schwellenl\u00e4nder mehr oder minder im selben globalen Kontext operieren und alle mehr oder minder von internationalen Kapitalfl\u00fcssen abh\u00e4ngen, l\u00e4sst sich nicht allein damit erkl\u00e4ren.
Selbstverst\u00e4ndlich hat die Politik und damit auch die unvorhersehbare \u2013 oder eigentlich: vorhersehbar im Zickzackkurs prozessierende \u2013 Wirtschaftspolitik des Regimes unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalkreisl\u00e4ufe: Die offensichtlich politisch herbeigef\u00fchrte Negativzinspolitik der TCMB letzten Jahres f\u00fchrte sehr unmittelbar zu einem Versiegen der internationalen Kapitalstr\u00f6me und versch\u00e4rfte die Krise.
Die erneute \u201eUnberechenbarkeit\u201c und Politisierung der Wirtschaftspolitik seit M\u00e4rz dieses Jahres nach einem kurzen orthodox-neoliberalen Intermezzo f\u00fchrt weiterhin zu einem Fall des Wertes der Lira, damit zu einer Steigerung der Inflation und so weiter, die sich nicht allein aus der strukturellen Akkumulationskrise erkl\u00e4ren lassen, sondern wesentlich durch die Wirtschaftspolitik des Regimes versch\u00e4rft werden. Politik und Wirtschaftspolitik gehen somit selbst nicht unmittelbar oder ausschlie\u00dflich auf in ihren Funktionen f\u00fcr die Erf\u00fcllung der Interessen der dominanten \u00f6konomischen Akteure. Sie funktionieren ebenso im Sinne des politischen Machterhalts, was sich nicht immer oder nicht in jeder Hinsicht mit den Interessen der dominanten \u00f6konomischen Akteure deckt und zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Akkumulation hat. Umgekehrt sind die dominanten Fraktionen des Kapitals nicht nur am weitestgehend reibungslosen Funktionieren der Kapitalkreisl\u00e4ufe interessiert, sondern ebenso am gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem die Kapitalkreisl\u00e4ufe eingebettet sind, sprich an der Stabilit\u00e4t gesellschaftlicher Hegemonie.
Die marxistischen Erkl\u00e4rungsans\u00e4tze zur derzeitigen Situation in der T\u00fcrkei leiden meines Ermessens daran, dass sie bestimmte \u00f6konomische Zusammenh\u00e4nge als gegeben und als ausschlie\u00dflich oder haupts\u00e4chlich determinativ f\u00fcr gesellschaftliche Verh\u00e4ltnisse ansehen, dabei aber die gesellschaftlichen und hegemonialen Aspekte von Vergesellschaftung sowie den (Klassen-)Kampf um hegemoniale (\u00f6konomische) Strategien essentialistisch oder funktionalistisch relativieren und ihnen keine wesentliche Determinationskraft zuordnen. Wie schon hervorgehoben, hat das Wirtschaftsmanagement unter Erdo\u011fan den wirtschaftspolitischen Spielraum der \u201egoldenen Jahre\u201c (2002-10) dazu genutzt, klientelkapitalistische Beziehungen aufzubauen und zu st\u00e4rken, anstatt diesen f\u00fcr ein Upgrade der kapitalistischen Struktur der t\u00fcrkischen Wirtschaft insgesamt zu verwenden. Diese klientelkapitalistischen Beziehungen sind zwar, gesamtwirtschaftlich gesprochen, nebens\u00e4chlich: Der linke Analytiker Bahad\u0131r \u00d6zg\u00fcr skandalisiert zwar zurecht, dass die gr\u00f6\u00dften 10 Unternehmen, die die gr\u00f6\u00dften Staatsauftr\u00e4ge erhalten, 2002-19 Auftr\u00e4ge in H\u00f6he von 203,9 Milliarden $ oder Auftr\u00e4ge von einem Volumen von 26%/BIP zugesprochen bekommen haben. Damit ist laut WB die T\u00fcrkei das Land, in dem die gr\u00f6\u00dften 10 Unternehmen am meisten Staatsauftr\u00e4ge relativ zum BIP bekommen, noch vor Brasilien mit 9,8%/BIP. Aber diese Relationen verblassen im Vergleich zum Gro\u00dfkapital, was \u00d6zg\u00fcr und viele andere linke Analytiker*innen nicht betonen und daher ein verzerrtes Bild reproduzieren: Allein die gr\u00f6\u00dfte Kapitalgruppe der T\u00fcrkei, die Ko\u00e7 Holding, hat einen j\u00e4hrlichen Umsatz von 6%/BIP; die T\u00dcSIAD als Ganze hingegen produziert 50%/BNP ausschlie\u00dflich des \u00f6ffentlichen Sektors. Weder Ko\u00e7 noch die T\u00dcSIAD als Ganze z\u00e4hlen zum klientelkapitalistischen Netzwerk im engeren Sinne, sondern bilden den Hauptmotor des t\u00fcrkischen Kapitalismus. Aufgrund dieser vergleichbar untergeordneten Rolle des Klientelkapitalismus war daher die Gro\u00dfbourgeoisie diesen Beziehungen gegen\u00fcber lange Zeit auch mehr oder minder gleichg\u00fcltig eingestellt, oder hielt sie f\u00fcr einen Preis, den man f\u00fcr die im Sinne des Gro\u00dfkapitals umgesetzten neoliberalen Reformen seitens der AKP zahlen musste. Sie sind aber f\u00fcr den politischen Machterhalt des Regimes unerl\u00e4sslich, so sehr, wie sie im derzeitigen dezisionistisch-polykratischen Politikgef\u00fcge gleichzeitig auch zu einer Last werden f\u00fcr das Regime, da ein \u201eSkandal\u201c nach dem anderen auffliegt (ich f\u00fchre dies sp\u00e4ter aus). Zum anderen: Auch das wirtschaftliche Krisenmanagement des Regimes zielt ganz offensichtlich darauf, durch St\u00fctzung der KMU das politische \u00dcberleben des Regimes zu sichern. Wegen der \u00f6konomischen Subordination der KMU und wegen des Realit\u00e4tssinnes der AKP wird dabei stets der prek\u00e4re Balanceakt mit dem Gro\u00dfkapital gesucht, woraus sich der schon beschriebene Zickzack-Kurs herleitet, der aber zugleich die fundamentale wirtschaftliche Instabilit\u00e4t versch\u00e4rft.
Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus
Gesellschaftliche Hegemonie besteht nicht allein aus und dient nicht allein der \u00f6konomischen Dominanz beziehungsweise Hegemonie der f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals, wie sich umgekehrt \u00f6konomisch hegemoniale Akteure nicht allein um (ihre) \u00f6konomische Dominanz und Hegemonie k\u00fcmmern, sondern auf umfassende gesellschaftliche Hegemonie visieren.
In der Organisation gesellschaftlicher Hegemonie werden nicht nur die Interessen der \u00f6konomisch relevanten Akteur*innen prozessiert, sondern auch derer, die im Politischen, Kulturellen und Sozialen Deutungsmuster, Ideologien, Vermittlungsformen usw. im Sinne gesellschaftlicher Hegemonie und damit ebenfalls politische, kulturelle (und andere) Hegemonie(n) organisieren. Militarismus, Chauvinismus, gesellschaftliche Polarisierung, Dezisionismus und dergleichen sind hierbei ebenso Mittel, mit denen das derzeitige Regime in der T\u00fcrkei versucht, sich teils mit nicht unmittelbar \u00f6konomischen Methoden eine neue Legitimationsbasis zu schaffen und daher nicht allein als Funktionen f\u00fcr die kapitalistische Akkumulation zu betrachten. Daher funktioniert der politische Machterhalt des Regimes beziehungsweise die Sicherung seines \u00dcberlebens trotz aller Krisen im Land weiterhin, auch wenn seit l\u00e4ngerem die Legitimation des Regimes schleichend untergraben wird. Der immer noch verbreitete Unglaube der Bev\u00f6lkerung, dass die Opposition es besser machen k\u00f6nne (bzw. dass es tragf\u00e4hige alternative Parteien g\u00e4be), der weiterhin fest verankerte Glaube von fast 80% der AKP-W\u00e4hler*innen an eine ausl\u00e4ndische Verschw\u00f6rung hinter dem Gezi-Aufstand 2013, und die damit im Zusammenhang stehende viel st\u00e4rkere Zunahme der wahltechnisch betrachtet Unsicheren/Schwankenden als derer, die statt den Regimeparteien nun die Oppositionsparteien w\u00e4hlen wollen, bezeugt das Gewicht der relativen Autonomie politischer und sozialer Muster von Macht und Identit\u00e4tsbildung auch inmitten einer Hegemoniekrise.
Weder die Krise des Akkumulationsregimes, noch die allgemeinere Legitimationskrise haben unmittelbar und unvermittelt soziale und politische Effekte. Sie haben nur vermittelt durch die Formen des Politischen und des Sozialen Effekte, die somit co-determinativ sind und deren Eigenheiten daher nicht einfach funktionalistisch entkernt werden k\u00f6nnen. Umgekehrt gef\u00e4hrden insbesondere gesellschaftliche Polarisierung und Dezisionismus aus der Perspektive des orthodox-neoliberalen b\u00fcrgerlichen Lagers \u2013 wegen der durch sie teils induzierten, teils versch\u00e4rften Hegemoniekrise \u2013 die Stabilit\u00e4t des gesamten gesellschaftlichen Systems ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Beziehungen (nicht nur der \u00f6konomischen) grundlegend, weshalb sie, zumindest in ihrer eigenen diskursiven Repr\u00e4sentation, f\u00fcr eine stabilere Form der Regulation aller gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisse streiten. Das regulationstheoretische Argument, dass das (hegemoniale) Projekt politischer Akteure die Interessen der Bourgeoisie im weitesten Sinne mit einbeziehen muss, und dass erst die Synchronisation von politischem Projekt mit diesen Interessen die Kontinuit\u00e4t des Machtblocks gew\u00e4hrleistet, ist zwar so allgemein gehalten richtig, weicht der Bearbeitung dieser Felder aber letztlich aus und zieht sich auf eine deskriptive Position zur\u00fcck (Feststellung von Synchronit\u00e4t oder Asynchronit\u00e4t/Krise). Es ist daher auch zugleich nicht richtig: Zum einen aufgrund der Bandbreite an M\u00f6glichkeiten, die zwischen vollst\u00e4ndiger Synchronisation und vollst\u00e4ndiger Asynchronit\u00e4t liegen. Es fehlt die Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die festlegen, welche Position genau zwischen vollst\u00e4ndiger Synchronisation und vollst\u00e4ndiger Asynchronit\u00e4t eingenommen wird und damit nach Akteur*innen, Funktionsweisen und Interessen (innerhalb) derjenigen gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisse, die miteinander synchronisieren oder asynchron sind. Damit im Zusammenhang l\u00e4sst es zum anderen die Frage nach der Eigenheit nicht-\u00f6konomischer Sph\u00e4ren und somit nicht-\u00f6konomischer Interessen, Akteure, Hegemonien usw. im Ensemble der gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisse unbeantwortet und legt einen Funktionalismus \u201ein letzter Instanz\u201c nahe (in letzter Instanz m\u00fcssen diese anderen Verh\u00e4ltnisse n\u00e4mlich mit den \u00f6konomischen synchronisieren). Aus dieser unzureichenden theoretischen Bearbeitung folgt aber die unzureichende Analyse hegemonietheoretisch ausschlaggebender Prozesse, was der theorie- und analyseimmanente Grund f\u00fcr die Attraktivit\u00e4t nicht-marxistischer Ans\u00e4tze ist.
Liest man die Verlautbarungen des T\u00dcSIAD genauer, kann man eine ineinander verschr\u00e4nkte \u00f6konomische wie politisch-regulative, in jeder Hinsicht jedoch sehr umfassende Kritik am derzeitigen Regime herauslesen: \u00d6konomisch wird ganz offen f\u00fcr eine neoliberale Restauration auf erweiterter Grundlage optiert. Politisierung der regulativen Institutionen, Unvorhersehbarkeit, Unf\u00e4higkeit in der Inflations- und W\u00e4hrungsverfallsbek\u00e4mpfung und somit palliatives statt transformatives Krisenmanagement werden darin scharf kritisiert. Im Gegenzug werden eine neoliberale Geldpolitik, depolitisierte regulative Institutionen, ein Krisenmanagement und eine Wirtschaftspolitik eingefordert, die die industrielle Produktionsbasis des t\u00fcrkischen Kapitalismus eine Stufe h\u00f6her heben kann, statt mit Kreditschwemmen bankrotte Gesch\u00e4ftsmodelle am Leben zu halten. Das Kalk\u00fcl ist, in den globalen Lieferketten aufzusteigen und China partiell abzul\u00f6sen. Politisch-regulativ betrachtet kritisiert der T\u00dcSIAD fast alle wichtigen politischen Entscheidungen des Regimes: Ob nun den Austritt aus der Istanbuler Konvention, das HDP-Verbotsverfahren, die Berufung des neuen Rektors der Bo\u011fazi\u00e7i-Universit\u00e4t wider den Willen der Studierenden und Lehrenden, die Bildungspolitik, die Infragestellung des Laizismus, die Repression der Medien, die diplomatische Isolation des Landes oder die politisierte Justiz \u2013 nicht zuletzt die durch Sedat Pekers \u201eOffenbarungen\u201c publik gemachte Versumpfung des Staates. All dies wird kritisiert aus der Angst heraus, dass ansonsten gesellschaftliche Polarisierung und Legitimationseinbruch die Hegemoniekrise so sehr versch\u00e4rfen k\u00f6nnten, dass sie nicht mehr nur die derzeitige Regierung und das derzeitige politische Regime gef\u00e4hrden. Aus demselben Grund bezieht sich der Vorsitzende des T\u00dcSIAD, Simone Kaslowski, positiv-wohlwollend auf Bidens Krisenpaket, das er als \u201esozialdemokratisch gef\u00e4rbt\u201c charakterisiert. Bez\u00fcglich des Krisenmanagements in der T\u00fcrkei \u00e4u\u00dfert er, wie oben hervorgehoben, Sorge wegen Inflation und Arbeitslosigkeit.
Inwiefern die Vorschl\u00e4ge der restaurativen Akteure \u00fcberhaupt f\u00fcr die popularen Klassen von Nutzen sind, diskutiere ich am Ende des Artikels genauer. F\u00fcr diesen Abschnitt m\u00f6chte ich allerdings Folgendes hervorheben: Nat\u00fcrlich w\u00e4re Erdo\u011fan ohne den Neoliberalismus nicht m\u00f6glich gewesen. Dessen krisenhafte Umsetzung in den 1990ern delegitimierte fast alle Parteien au\u00dferhalb der AKP, vor allem die sozialdemokratische Linke; zudem zerschlug die Privatisierungswelle der 2000er die organisiertesten Teile der Arbeiter*innenklasse, wie \u00fcberhaupt der Neoliberalismus f\u00fcr einen grundlegenden Positionsverlust der Arbeiter*innenklasse sorgte (Entrechtung, stagnierende Reall\u00f6hne, klaffende Produktivit\u00e4ts-Lohn-Schere, finanzielle Abh\u00e4ngigkeit usw.).
Eine desorientierte, zunehmend sozial depravierte Arbeiter*innenklasse bei gleichzeitiger (partieller) Delegitimation der b\u00fcrgerlichen Linken ist eine der wichtigsten Bedingungen f\u00fcr den Aufstieg der autorit\u00e4ren Rechten, die so einerseits das Vakuum f\u00fcllen, andererseits den sozialen Unmut auf ihre Art und Weise prozessieren kann.
Marxist*innen wie Korkut Boratav, Galip Yalman, P\u0131nar Bedirhano\u011flu oder \u00dcmit Ak\u00e7ay haben diese Entwicklungen exzellent aufgearbeitet. Es sind dies aber nicht die einzigen und hinreichenden Gr\u00fcnde f\u00fcr den Aufstieg der autorit\u00e4ren Rechten \u2013 im Fall der T\u00fcrkei: f\u00fcr die Errichtung einer pr\u00e4sidialen Diktatur unter F\u00fchrung von Erdo\u011fan. Es bedarf auch einer autorit\u00e4ren Rechten, die, um der eigenen politischen Macht willen, einen erfolgreichen sozialen und politischen Kampf mit politischen Kontrahent*innen und den relevanten sozialen Akteuren um politische und soziale F\u00fchrung ausficht. Eine autorit\u00e4re Rechte, die zudem in der Lage ist, eine gewisse aktive oder passive Massenbasis zu schaffen. Einmal an der Macht, ist diese auch seitens der Gro\u00dfbourgeoisie nicht mehr ohne weiteres kontrollierbar und deshalb \u2013 au\u00dfer in au\u00dferordentlichen Krisenzeiten \u2013 selten von ihr erw\u00fcnscht. Daher \u00e4hnelt der T\u00dcSIAD heute dem Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren kann, die er selbst herbeirief (oder zumindest stark in ihrer Genese unterst\u00fctzte). Es gibt aber auch keinen Zaubermeister, der helfen kann. Insofern ist es richtiger, den derzeitigen Autoritarismus nicht als \u201eneuen Neoliberalismus\u201c zu bezeichnen, sondern als \u201eErgebnis einer mit zunehmender H\u00e4rte gef\u00fchrten Auseinandersetzung um Neoliberalismus\u201c (S. 59) seitens diverser im engeren Sinne \u00f6konomischer und nicht-\u00f6konomischer Akteur*innen. Erdo\u011fan bleibt an das Gro\u00dfkapital gebunden, das die \u00f6konomische Hauptkraft in der T\u00fcrkei ist. Und ebenso bleibt das Gro\u00dfkapital an Erdo\u011fan gebunden: Denn seine Regierung h\u00e4lt, wenn auch krisenhaft, die Profite des Kapitals und neoliberale Arbeitsverh\u00e4ltnisse aufrecht. Eine allzu antagonistische Opposition gegen Erdo\u011fan zu betreiben, vergr\u00f6\u00dfert die Gefahr, ganz andere Geister, n\u00e4mlich die popularen, zu entfachen, was wiederum aus Sicht des Gro\u00dfkapitals und der b\u00fcrgerlichen Opposition ganz andere Risiken birgt. Daher befinden sich Erdo\u011fan und Gro\u00dfkapital in einem instrumentellen Zweckverh\u00e4ltnis miteinander, das sie bei erstbester Gelegenheit \u00fcber den Haufen schmei\u00dfen w\u00fcrden \u2013 w\u00e4re dies nur m\u00f6glich, ohne gro\u00dfe Krisen zu riskieren!
Autorit\u00e4re Konsolidierungsversuche
Die schon bekannten autorit\u00e4ren Konsolidierungsversuche des Regimes setzen sich derweil ununterbrochen fort. Sie setzen sich zusammen aus Unterdr\u00fcckung (erstens und zweitens), sowie Einbindung und Spaltung zugleich der Opposition (zweitens und drittens). Au\u00dferdem findet der Versuch der Festigung eines autorit\u00e4ren, dezisionistischen Regimes inklusive einer ihm entsprechenden neuen Legitimationsbasis statt (viertens).
Erstens wird der Kampf um die entscheidenden oppositionsgef\u00fchrten Gro\u00dfst\u00e4dte weitergef\u00fchrt. Wie schon dargelegt, bilden die oppositionsgef\u00fchrten Gro\u00dfst\u00e4dte \u2013 insbesondere Ankara und Istanbul \u2013 die politische Hauptschlagkraft der b\u00fcrgerlichen Opposition gegen das Regime, wie sie selbst Ergebnis eines erfolgreichen Kampfes der Opposition sind. Seit den Kommunalwahlen 2019, also seitdem Ankara und Istanbul nach Jahrzehnten von der AKP (oder Vorg\u00e4ngerparteien der AKP) an die Opposition \u00fcbergingen, decken deren neugew\u00e4hlte B\u00fcrgermeister einen Korruptions- oder Misswirtschaftsfall nach dem anderen aus der AKP-\u00c4ra auf. Zugleich nutzen sie die Mittel der Stadtverwaltungen, um durch dienstleistungsorientierte Politik und milde redistributive Ma\u00dfnahmen f\u00fcr die Mittellosen eine gewisse Massenbasis f\u00fcr die b\u00fcrgerliche Opposition aufzubauen. Es ist offensichtlich, dass die b\u00fcrgerliche Opposition darauf abzielt, durch den Erfolg in den Kommunalverwaltungen in die Macherrolle zu kommen, Barrieren bei Regime-W\u00e4hler*innen zu brechen und ergo gen\u00fcgend Unterst\u00fctzung aufzubauen, um die n\u00e4chsten Parlaments- und Pr\u00e4sidentschaftswahlen zu gewinnen. Erdo\u011fan und das um ihn herum organisierte Regime hingegen versuchen, den Handlungsspielraum der oppositionellen Stadtverwaltungen so weit wie m\u00f6glich einzuschn\u00fcren, um diese Rechnung der Gegenseite zu vereiteln.
Mehrere Mechanismen greifen dabei ineinander: Zum einen werden zwar die B\u00fcrgermeister der betreffenden St\u00e4dte von der oppositionellen CHP gestellt, die Stadtparlamente sind aber immer noch von AKP und MHP dominiert. Das bedeutet, die Parteien des Regimes nutzen ihre Parlamentsmehrheiten, um die Legislative und Exekutive auf Munizipalebene zu blockieren. Zudem nutzt Erdo\u011fan die Mittel des Zentralstaates, um die Ressourcen der St\u00e4dte so weit wie m\u00f6glich zum Versiegen zu bringen: So bekommen oppositionsgef\u00fchrte St\u00e4dte (und Unternehmen) unterdurchschnittlich wenig zentralstaatliche Gelder und \u00f6ffentliche Kredite, weshalb sie sich internationale Partner oder Kreditgeber wie die franz\u00f6sische oder europ\u00e4ische Entwicklungsbank suchen. Es werden aber auch historische St\u00e4tten wie etwa der Gezi Park oder der Galata-Turm (beides Istanbul), die sich eigentlich im Eigentum der Gro\u00dfst\u00e4dte befinden, an zentralstaatliche Ministerien \u00fcbertragen und somit aus den H\u00e4nden der Stadtverwaltungen genommen. Nicht zuletzt interveniert die Zentralregierung permanent in die Angelegenheiten der St\u00e4dte: Spendensammlungen der Munizipalit\u00e4ten, um von der Corona-Pandemie Betroffenen zu helfen (und nat\u00fcrlich gesellschaftliche Legitimation aufzubauen), wurden etwa der \u201eParallelstaatlichkeit\u201c und des Terrorismus bezichtigt und seitens des Innenministeriums unter einem juristischen Vorwand verboten. Die oppositionellen Munizipalit\u00e4ten wussten dies aber mehr oder minder zu umgehen. Die Auseinandersetzung um das Spendensammeln und -verteilen der oppositionellen Munizipalit\u00e4ten setzt sich bis heute fort, ebenso wie das Bem\u00fchen derselben, alternative Methoden der Redistribution zur Anwendung zu bringen und somit der Repressionskeule des Regimes zu entgehen. Auch beschlagnahmte das Innenministerium einen Gro\u00dfteil der \u201eAntikorruptionsdossiers\u201c der Istanbuler Stadtverwaltung, bevor diese die Dossiers finalisieren und der Justiz \u00fcbergeben konnte.
Der derzeit gr\u00f6\u00dfte Konfliktpunkt, der mehrere dieser Mechanismen zusammenf\u00fchrt und daher symptomatisch ist, ist der Konflikt um Kanal Istanbul, ein megalomanes, mehrere Dutzend Milliarden Dollar teures Projekt zur Anlage eines k\u00fcnstlichen zweiten Wasserkanals parallel zum Bosporus. Von den \u00f6kologisch potenziell desastr\u00f6sen Folgen dieses Projekts abgesehen, ist offensichtlich, dass es sich hier \u00f6konomisch betrachtet um ein klassisches Klientelprojekt handelt \u2013 die Bauauftr\u00e4ge gehen nat\u00fcrlich an Erdo\u011fan-nahe Unternehmer. Zugleich ist es ein Prestigeprojekt Erdo\u011fans, mit dem er sich erneut als Vision\u00e4r und \u201eMacher\u201c pr\u00e4sentieren will. Und nicht zuletzt ist es ein Armdr\u00fccken zwischen Erdo\u011fan und der Istanbuler Munizipalit\u00e4t darum, wer eigentlich in Istanbul das Sagen hat.
Zweitens geht die umfassende Repression gegen Oppositionelle und Dissidenten ununterbrochen weiter. Demonstrationen oder Kundgebungen sind, wenn sie nicht regierungsnah sind, fast unm\u00f6glich geworden, Folter und Gewalt seitens Beamt*innen nimmt zu. Unabh\u00e4ngige oder nicht regierungskonforme Fernsehsender werden im Gegensatz zu regimetreuen mit horrenden Strafzahlungen des Obersten Rundfunk- und Fernsehrates (Radyo ve Televizyon \u00dcst Kurulu, RT\u00dcK) \u00fcberzogen, dessen Chef laut Eigenaussage zudem Erdo\u011fans \u201eEmpfehlungen und Vorschl\u00e4ge\u201c als Befehle ansieht. Der letztes Jahr neu gegr\u00fcndete Fernsehsender Olay TV musste innerhalb k\u00fcrzester Zeit schlie\u00dfen \u2013 mutma\u00dflich wegen gro\u00dfem politischem Druck, da der Sender auch \u00fcber die pro-kurdische, linke HDP berichtete. Nat\u00fcrlich gehen fast alle \u00f6ffentlichen Reklameschaltungen und damit Unsummen an Geldern an regimetreue Sender und Zeitungen, kaum welche an oppositionelle. Nicht nur werden Hunderttausende Webseiten blockiert und Tausende Social Media-Accounts juristisch verfolgt; die Regierung \u00fcberzog auch Facebook, Youtube, Instagram, TikTok und Twitter mit Strafen in H\u00f6he von insgesamt 1,2 Millionen \u20ac, weil sie keine der Regierung gegen\u00fcber f\u00fcr das Unternehmen verantwortlichen lokalen Repr\u00e4sentanten ernannt hatten. Das Gesetz, das dies erfordert, wie auch die Strafzahlungen stehen im Zusammenhang mit dem Versuch des Regimes, mehr direkte Kontrolle auf die Social Media-Unternehmen auszu\u00fcben. Eine weitere Versch\u00e4rfung des Medienrechts, wonach die Kontrolle der Regierung \u00fcber Nachrichtenplattformen, die Gelder aus dem Ausland beziehen (also im Prinzip die gesamte alternative Onlinepresse), wurde schon angek\u00fcndigt als \u201eKampf gegen die f\u00fcnfte Kolonne\u201c. Zudem wurden seit 2018 etwa 40 (oft oppositionelle) Journalist*innen t\u00e4tlich angegriffen. Der oppositionelle, nationalistisch orientierte Sender Halk TV wurde w\u00e4hrend einer Live\u00fcbertragung aus den Waldbrandgebieten Anfang August von einem regierungsnahen Mob angegriffen, nachdem zuvor der RT\u00dcK Sender, die nicht regierungskonform \u00fcber die Waldbr\u00e4nde berichteten, mit \u201eden heftigsten Sanktionen\u201c bedroht (und diese dann umgesetzt) und der millionenfach auf Twitter geteilte #HelpTurkey-Hashtag \u00f6ffentlich und juristisch angeprangert und verfolgt wurde, weil er die T\u00fcrkei als \u201eschwach\u201c darstelle.
Die Verfolgung geschieht auch au\u00dferhalb der T\u00fcrkei, wie j\u00fcngst der Angriff auf den kritischen Investigativjournalisten Erk Acarer in Berlin und die Existenz von Todeslisten mit Namen von t\u00fcrkeist\u00e4mmigen Oppositionellen und Dissidenten in Deutschland gezeigt hat. Das Vorgehen beschr\u00e4nkt sich nicht allein auf Journalist*innen, sondern hat System. Erst neulich wurde die Chefin der rechten Oppositionspartei IYI, Meral Ak\u015fener, bei einem Besuch in Rize am Schwarzen Meer von einem aufgestachelten Mob empfangen und musste die Stadt fr\u00fchzeitig verlassen. Erdo\u011fans Kommentar, an Ak\u015fener gerichtet: \u201eDanke Gott daf\u00fcr, dass sie nicht zu weit gegangen sind, und dir [nur, A. K.] eine Lehre erteilt haben. Das sind noch die guten Tage, wartet mal ab, was da noch kommt\u201c, ist paradigmatisch f\u00fcr die drohende, Gewalt relativierende oder zur Gewalt anstachelnde Sprache, die zentrale Personen des Regimes seit Jahren gegen oppositionelle Politiker*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und andere nutzen. Dabei ist MHP-Chef Bah\u00e7eli oft viel direkter als Erdo\u011fan. So bezeichnete er Protestierende an der Eliteuniversit\u00e4t Bo\u011fazi\u00e7i als \u201egiftige Schlangen, deren K\u00f6pfe wir zerquetschen m\u00fcssen\u201c.
Die Repressionswelle gegen die HDP wurde in der vergangenen Zeit immer intensiver. Tausende ihrer Mitglieder, Funktionstr\u00e4ger*innen und sogar Parlamentarier*innen wurden in den letzten Jahren in Untersuchungshaft genommen, etwa 1000 Immunit\u00e4tsaufhebungsantr\u00e4ge liegen f\u00fcr HDP-Parlamentarier*innen im Parlament vor und fortlaufend finden Razzien gegen sie statt. Mittlerweile l\u00e4uft auch das sogenannte \u201eKobane-Verfahren\u201c auf Grundlage einer haneb\u00fcchenen Anklageschrift gegen insgesamt 108 \u00e4ltere F\u00fchrungspersonen der HDP. Gegen die Partei ist mittlerweile auch ein umfassendes Verbotsverfahren beim Verfassungsgericht anh\u00e4ngig (ebenfalls auf Grundlage einer haneb\u00fcchenen Anklageschrift), das auch eine Politikverbotsforderung f\u00fcr Hunderte HDP-Politiker*innen enth\u00e4lt; beide Anklagen mit dem Hauptvorwurf der Spaltung von Staat und Nation beziehungsweise der Zuarbeit zu einer \u201eTerrororganisation\u201c (also der PKK).
Auch hier gilt: Was von oben abgesegnet wurde, findet von unten seine Entsprechung. Am 15. Juni 2021 ermordete ein \u00fcberzeugter Faschist in Izmir Deniz Poyraz, eine Mitarbeiterin im dortigen B\u00fcro der HDP am 15. Juni 2021. Die Tat, begangen von einem, der in Syrien gek\u00e4mpft und sich laut Eigenaussage vorgenommen hatte, so viele HDP\u2019ler wie er konnte zu ermorden, ist \u2013 egal ob es ein geplantes Attentat oder ein Selbstl\u00e4ufer war \u2013 direkte Folge einer von oben gezielt betriebenen Politik der gewaltt\u00e4tigen Polarisierung im Sinne des Machterhalts. Es folgten weitere auch bewaffnete Attacken auf HDP-B\u00fcros und ein Massenmord an einer kurdischen Familie in Konya, bei der sieben Mitglieder der Familie von einem t\u00fcrkischen Faschisten ermordet wurden, kaum ein paar Wochen nachdem sie von einem aufgestachelten Mob, an dem auch der sp\u00e4tere Massenm\u00f6rder teilnahm, angegriffen wurden. Einen Tag darauf griff ein faschistischer Mob von 300 Personen kurdische Landarbeiter*innen in Elmal\u0131 an und forderte sie dazu auf, das Land zu verlassen.
Offensichtlich dient die Entfesselung der Repression im Allgemeinen (wie im Besonderen gegen die HDP) dazu, Teile der Opposition zu demobilisieren und zu zerm\u00fcrben sowie, bez\u00fcglich der Medien, zu Regimediskursen massenwirksame alternative Diskurse zu verhindern. Au\u00dferdem dient sie dazu, eine autorit\u00e4r-faschistoide Massenbasis aufzubauen.
Beim angestrebten HDP-Verbot k\u00f6nnte die Rechnung der Regierung weniger die sein, die Formation einer alternativen, mitte-links orientierten pro-kurdischen Partei in der T\u00fcrkei \u00fcberhaupt zu verhindern. Wichtigen politischen Akteur*innen in der T\u00fcrkei ist klar, dass dies eher unwahrscheinlich ist und auch, dass sich pro-kurdische Parteien in der Vergangenheit immer st\u00e4rker reformierten, nachdem sie verboten wurden. Das Kalk\u00fcl ist vermutlich eher, dass eine Schlie\u00dfung der HDP (oder eine Kappung der ihr zustehenden staatlichen Zusch\u00fcsse) kurz vor den n\u00e4chsten Wahlen zu einer gleichm\u00e4\u00dfigen Verteilung des W\u00e4hler*innenpotenzials der HDP auf Regime- wie restlichen Oppositionsparteien f\u00fchrt (oder die Effizienz der HDP weiter reduziert) und somit den Regimeparteien den Sieg erm\u00f6glicht. Es ist aber bislang nicht abzusehen, in welche Richtung sich das Verbotsverfahren entwickelt, da sein Ausgang wesentlich von den derzeitig laufenden Machtk\u00e4mpfen abh\u00e4ngt und nicht von juristischen Prozessen (w\u00e4ren Recht und Gesetz Ma\u00dfstab des Verfahrens, w\u00e4re es gar nicht erst zu einem Verbotsverfahren gekommen).
Die in diesem Artikel wegen einem innenpolitischen Fokus stiefm\u00fctterlich behandelte Au\u00dfenpolitik, in diesem Fall das Verh\u00e4ltnis zur USA und zur EU, hat diese Repressionsorgie im Allgemeinen und das Verbotsverfahren gegen die HDP im Besonderen nicht nachteilig affiziert, im Gegenteil. Die durch die politische wie \u00f6konomische Integration der T\u00fcrkei in den euro-transatlantischen Kapitalismus sowie durch Druck ihrer Hauptakteure (USA, EU) erzeugte Wiederann\u00e4herung der T\u00fcrkei an die au\u00dfenpolitischen Interessen der NATO war Grund genug f\u00fcr diese, keine weiteren Sanktionen gegen die T\u00fcrkei zu erheben \u2013 mit explizitem Verweis darauf, dass auch ein drohendes HDP-Verbot daran nichts \u00e4ndern w\u00fcrde. Dies steht in Kontinuit\u00e4t zur Au\u00dfenpolitik des euro-transatlantischen Blocks gegen\u00fcber der T\u00fcrkei der letzten Jahre, wonach die wirtschaftliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit sowie R\u00fcstungsexporte weiter Bl\u00fcten trieben, w\u00e4hrend gelegentliche Skandalisierungen der Menschenrechtslage in der T\u00fcrkei als disziplinierende Hebel genutzt wurden, um die T\u00fcrkei \u00f6konomisch wie au\u00dfenpolitisch auf Linie zu halten. Jedenfalls folgten niemals auch nur ann\u00e4hernd so harte Sanktionen gegen\u00fcber der T\u00fcrkei wie gegen\u00fcber Russland, China oder seit neuestem Belarus. Seit geraumer Zeit verweisen bundesdeutsche Think Tanks zudem ganz offen und unverbl\u00fcmt darauf hin, dass sich die EU ihrer mangelnden \u201enormativen Kraft\u201c bewusst werden und sich daher darauf beschr\u00e4nken sollte, wirtschaftliche Druckmechanismen daf\u00fcr zu nutzen, die T\u00fcrkei ausschlie\u00dflich in au\u00dfenpolitischen Angelegenheiten auf Linie zu bringen. Hic Rhodus, hic salta \u2013 zeige hier und jetzt, was du kannst! Das HDP-Verbotsverfahren ist das Rhodos der Fabel, und die EU sprang: Es wurde eine Vertiefung der f\u00fcr die T\u00fcrkei sehr wichtigen Zollunion und eine Verl\u00e4ngerung des \u201eFl\u00fcchtlingsdeals\u201c vereinbart statt neuen Sanktionen. Insofern ist der EU keine Inkonsequenz vorzuwerfen \u2013 au\u00dfer freilich derjenigen, \u201eMenschenrechte\u201c ganz nach gusto hochtrabend im Munde zu f\u00fchren aber sich nur dann f\u00fcr sie zu interessieren, wenn es gegen Russland, China, Belarus, Venezuela oder Kuba geht.
Aber die Repression gegen die HDP ist, drittens, auch ein integrales Element der Spaltung und Einbindung von Teilen der Opposition.
Die (Nicht-)Thematisierung der \u201ekurdischen Frage\u201c auf Grundlage eines assimilatorischen t\u00fcrkischen Nationalismus und die Normalisierung eines rasenden militaristisch-nationalistischen \u201eAntiterrordiskurses\u201c hat den antikurdischen t\u00fcrkischen Nationalismus zu einer wichtigen Mobilisierungs- und Legitimationsquelle f\u00fcr politische Akteur*innen gemacht.
Sogar der klassisch progressiv-neoliberale Ali Babacan, ehemals Wirtschaftsminister unter der AKP, nun Chef der kleinen Oppositionspartei DEVA, der sonst einen sehr starken Fokus auf \u201eRechtsstaatlichkeit und Menschenrechte\u201c hat, kritisiert den in der Vergangenheit liegenden \u201eFriedensprozess\u201c mit der PKK, weil er die PKK gest\u00e4rkt habe. Abdullah G\u00fcl, der letzte Pr\u00e4sident vor Erdo\u011fan, der tendenziell Babacan-nah ist und die Polarisierung im Land wie auch das Pr\u00e4sidialsystem (wenn auch oft in sehr diplomatischen Worten) ablehnt, lehnt zwar den Verbotsantrag gegen die HDP ab \u2013 allerdings mit der Begr\u00fcndung, dass eine Schlie\u00dfung der HDP \u201eTerrororganisationen\u201c (also die PKK) st\u00e4rken w\u00fcrde und nicht etwa, weil ein solches Verbot gegen jede Minimalvorstellung von Rechtsstaatlichkeit geht. Sogar Babacan dr\u00fcckt sich darum, die Pr\u00e4ambel und die ersten vier Paragraphen der Verfassung, die unter anderem einen rasenden geschichtsmetaphysischen t\u00fcrkischen Nationalismus und einen staatsverherrlichenden \u201eAtat\u00fcrkismus\u201c auf Verfassungsrang erheben, infrage zu stellen. Daher und weil sich die b\u00fcrgerliche Opposition weitestgehend mit dieser Normalisierung arrangiert und diese teilweise auch f\u00fcr ihre eigenen Zwecke nutzt, wird der antikurdische t\u00fcrkische Nationalismus von Regime- wie von Oppositionsparteien mehr oder minder stark geteilt.
Die Regimeparteien waren, machiavellianisch betrachtet, sehr geschickt darin, diesen militaristisch-nationalistischen \u201eAntiterrordiskurs\u201c auch auf die HDP auszuweiten und diese mit der PKK in eins zu setzen. Mittlerweile ist die HDP \u2013 neben der AKP \u2013 die am st\u00e4rksten abgelehnte Partei in der Bev\u00f6lkerung, auch eine politische Zusammenarbeit mit ihr wird mehrheitlich abgelehnt. Mit der intensivierten Repression gegen die HDP man\u00f6vriert das Regime daher auch die b\u00fcrgerliche Opposition in eine schwierige Position. Diese wissen ja: Ohne die HDP, die bei landesweiten Wahlumfragen bei etwa 10% der Stimmen liegt, und somit auch ohne politische Zugest\u00e4ndnisse an die HDP scheint ein Sieg gegen die Regimeparteien und Erdo\u011fan unm\u00f6glich. Beispielsweise waren die HDP-W\u00e4hler*innen die K\u00f6nigsmacher bei den Kommunalwahlen in Istanbul 2019. Andererseits ist die Ablehnung von PKK und HDP insbesondere bei der oppositionellen MHP-Abspaltung IYI und innerhalb ihrer W\u00e4hler*innenbasis sehr stark. Orientiert sich die Hauptoppositionspartei CHP also allzu offen auf eine Zusammenarbeit auch mit der HDP, dann riskiert sie einen Bruch mit der IYI und anderen kleineren Oppositionsparteien, was die Aussichten auf einen Sieg gegen Erdo\u011fan bei Wahlen ebenso unwahrscheinlich macht. Regimeakteure konzentrieren daher ihre verbalen Attacken und \u201eTerrorismusvorw\u00fcrfe\u201c auch ganz besonders auf die CHP und versuchen \u2013 teils mit expliziten Einladungen \u2013, die IYI und andere kleinere Oppositionsparteien auf ihre Seite zu ziehen. Ganz davon abgesehen gibt es auch innerhalb der CHP und den CHP-W\u00e4hler*innenschaft starke anti-kurdische und anti-HDP Tendenzen.
Es ist also ein best\u00e4ndiges Schwanken der b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsparteien hinsichtlich der HDP zu sehen: Bekundete der stellvertretende Chef der IYI, Yavuz A\u011f\u0131ralio\u011flu, dass sie die Aufhebung der Immunit\u00e4ten von HDP-Parlamentar*iennen unterst\u00fctzen werden (weil Terror!), ruderte gleich darauf die Chefin der IYI, Meral Ak\u015fener, zur\u00fcck und betonte, man w\u00fcrde nicht einfach so, ohne genauere Pr\u00fcfung, die Immunit\u00e4tsaufhebungsantr\u00e4ge abnicken. Dieselbe Ak\u015fener sagte aber auch noch kurz zuvor im Februar 2021, Selahattin Demirta\u015f (der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, der seit mehreren Jahren im Gef\u00e4ngnis sitzt) sei organisch mit dem \u201eTerror\u201c verbunden und sie suche kein B\u00fcndnis mit der HDP. Zur Verbotsdrohung gegen die HDP blieb und bleibt sie allerdings gezielt vage und h\u00e4lt sogar eine Unterst\u00fctzung daf\u00fcr von Teilen ihrer Partei f\u00fcr m\u00f6glich. Innerhalb der IYI wird diskutiert, wie es zu bewerkstelligen ist, sich so scharf wie m\u00f6glich von der HDP abzugrenzen, zugleich aber auch nicht dem Regime zuzuarbeiten; etwa, indem man beispielsweise durch Akzeptanz der Immunit\u00e4tsaufhebungen auch die Ausweitung der Repression auf die restliche Opposition erm\u00f6glicht. Die IYI denkt offensichtlich auch \u00fcber die Gr\u00fcndung eines dritten Wahlb\u00fcndnisses nach, sollten CHP und HDP offen miteinander koalieren. Einige wenige Austritte aus der IYI wegen der \u201eN\u00e4he zur HDP\u201c hat es ebenfalls schon gegeben. CHP-Chef K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu hingegen weicht zwar vom Ultranationalismus seines Vorg\u00e4ngers Deniz Baykal betreffs der \u201ekurdischen Frage\u201c ab, lehnte aber den \u201eFriedensprozess\u201c mit der PKK ab 2009/2010 dennoch ab \u2013 mit der Begr\u00fcndung, dieser nutze der PKK und \u00d6calan. In den letzten Jahren stach er damit hervor, dass er milit\u00e4rische Invasionen der t\u00fcrkischen Armee gegen die PKK und kurdische Gebiete in Syrien unterst\u00fctzte und zudem denjenigen Immunit\u00e4tsaufhebungsantr\u00e4gen zustimmte, die \u00fcberhaupt erst zur Inhaftierung der ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP (und sp\u00e4ter auch zur Inhaftierung eines CHP-Parlamentariers) f\u00fchrten. Auch aktuell lehnt er die offensichtlich zur Schw\u00e4chung und Spaltung der Opposition eingesetzten Immunit\u00e4tsaufhebungsantr\u00e4ge nicht rigoros ab, sondern bekundet, man m\u00fcsse erst mal deren Inhalte \u201epr\u00fcfen\u201c.
Ein wirkliches Novum war allerdings die Reaktion der b\u00fcrgerlichen Opposition auf eine in ihrer Zielsetzung und Umsetzung bis heute nicht ganz aufgekl\u00e4rten Milit\u00e4roperation des t\u00fcrkischen Staates im irakisch-kurdischen Gebirge von Gara im Februar 2021. W\u00e4hrend der Operation kamen 13 t\u00fcrkische Geiseln in der Hand der PKK um, wof\u00fcr sich der t\u00fcrkische Staat und die PKK gegenseitig beschuldigten. W\u00e4hrend die b\u00fcrgerlichen Oppositionsparteien bei solchen Operationen \u2013 insbesondere mit so hohen Verlusten \u2013 \u00fcblicherweise sofort an der Seite der Regierung stehen, blieben sie diesmal kritisch-distanziert und stellten viele Fragen bez\u00fcglich des Zwecks und des genauen Ablaufs der Operation. Das versetze nat\u00fcrlich das Regime in Rage. In diesem Fall durchschauten also die b\u00fcrgerlichen Oppositionsparteien die politische Inszenierung des Operationsablaufs als Methode des Regimes, sich Legitimation auch im oppositionellen Lager zu organisieren. Das Verbotsverfahren gegen die HDP ist in dieser Hinsicht nat\u00fcrlich auch eine Initiative des Regimes, um die b\u00fcrgerliche Opposition dazu zu zwingen, sich nicht mehr schwankend angesichts der \u201ekurdischen Frage\u201c beziehungsweise der HDP zu verhalten, sondern sich eindeutig zu positionieren \u2013 und daf\u00fcr den Preis bezahlen (n\u00e4mlich entweder die Unterst\u00fctzung der Kurd*innen oder die der Nationalist*innen zu verlieren).
Die Versuche zur Spaltung und Einbindung der Opposition erfolgen indes nicht ausschlie\u00dflich \u00fcber die \u201ekurdische Frage\u201c. Zum einen f\u00e4llt die wohlwollende Berichterstattung \u00fcber Spaltungen innerhalb der Oppositionsparteien ins Auge. Eine offiziell mit Verweis auf die \u201ekurdische Frage\u201c und N\u00e4he zur G\u00fclen-Gemeinde erfolgte Abspaltung von der IYI wurde seitens der Regimepresse gut aufgenommen. Auch der Pr\u00e4sidentschaftskandidat der CHP von 2018, Muharrem Ince, trat aus der CHP aus und hat mittlerweile eine eigene Partei gegr\u00fcndet. Auch \u00fcber ihn wurde in der Regimepresse sehr wohlwollend berichtet und das Vorgehen der CHP gegen\u00fcber Ince skandalisiert. Aber es wird unter Umst\u00e4nden auch direkter interveniert: So besuchte Erdo\u011fan im Januar 2021 ein wichtiges Mitglied der kleinen oppositionellen Partei der Gl\u00fcckseligkeit (Saadet Partisi, SP), die aus der Tradition des politischen Islams in der T\u00fcrkei kommt und von deren Vorg\u00e4ngerin sich die AKP als Abspaltung gegr\u00fcndet hat. Offensichtlich konnte Erdo\u011fan diese Pers\u00f6nlichkeit (O\u011fuzhan Asilt\u00fcrk) von einer Wiederann\u00e4herung an die AKP \u00fcberzeugen. Seit kurzem pl\u00e4diert Asilt\u00fcrk offen daf\u00fcr, dass sich die SP der Wahlallianz des Regimes, der Volksallianz (Cumhur \u0130ttifak\u0131) anschlie\u00dft und ihre oppositionelle Rolle aufgibt. Er versucht mittlerweile zunehmend aggressiv, die Macht innerhalb der SP zu \u00fcbernehmen, wobei auch die derzeitige SP-F\u00fchrung selbst in ihrer Opposition zur AKP nicht immer klar positioniert ist. Offensichtlich zielen diese Taktiken darauf ab, eine Demobilisierung, Demoralisierung und/oder sogar ein \u00dcberlaufen von Teilen der Opposition herbeizuf\u00fchren.
Nicht zuletzt erfolgen Einbindungsversuche der Opposition auch \u00fcber die k\u00fcmmerlichen Reste gemeinschaftlicher oder konsultativer Verfahren sowie einer angeblich an Rechtsstaatlichkeit orientierten Reformagenda. Bei der Besetzung von sieben neuen Mitgliedern des f\u00fcr die Ernennung aller wichtigen Richter*innen und Staatsanw\u00e4lt*innen zust\u00e4ndigen Rats f\u00fcr Richter und Staatsanw\u00e4lte (Hakim ve Savc\u0131lar Kurulu, HSK) erlaubte das Regime der CHP und IYI, zwei der Mitglieder zu ernennen und somit so etwas wie eine \u201egemeinsame Verantwortung in der Staatsf\u00fchrung\u201c zu evozieren. Auch wurde zeitweise dar\u00fcber gemunkelt, das Regime k\u00f6nne einige wenige Zugest\u00e4ndnisse an die rechten Oppositionsparteien machen bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung \u2013 und selbstredend im Gegenzug Unterst\u00fctzung f\u00fcr die neue Verfassung erhalten. Und wie schon vor zwei Jahren wurde mit gro\u00dfem Tamtam ein Menschenrechtsaktionsplan verk\u00fcndet, das angeblich Menschenrechte sch\u00fctzen und willk\u00fcrlichen Haftstrafen vorbeugen und dadurch als Schein einer Teilliberalisierung die oppositionelle Energie d\u00e4mpfen sollte. Letztlich tragen die Zugest\u00e4ndnisse an gemeinschaftliche Verfahrensweisen und die Reformagenda allerdings nicht weit, da sie schon von Anfang an weitestgehend Makulatur waren.
Denn gemeinschaftliche Verfahren und Rechtsstaatlichkeit vertragen sich, viertens, nicht mit dem andauernden Faschisierungsprozess als Krisenbearbeitungsmodus, der daher auch einer anderen Legitimationsbasis, namentlich einer autorit\u00e4ren bedarf. In dieser Hinsicht erfolgte zuz\u00fcglich der in diesem Artikel schon beschriebenen repressiven Ma\u00dfnahmen und zur Gewalt anstachelnden Reden seitens des Regimes auch eine erneute Diskussion um die Wiedereinf\u00fchrung der Todesstrafe sowie mehrmalige Forderungen nach der institutionellen Entmachtung oder gar Abschaffung des Verfassungsgerichtes, da es in einigen wichtigen politischen Verfahren nicht nach dem Gefallen des Regimes entschied. Als Zementierung konservativ-autorit\u00e4ren Lebensstils wurden Alkoholverkaufsverbote w\u00e4hrend pandemiebedingten Lockdowns verh\u00e4ngt, Musik und Unterhaltung m\u00fcssen aktuell trotz vollst\u00e4ndiger \u00d6ffnungen um Mitternacht beendet werden. Und es erfolgte die lang angek\u00fcndigte Aufk\u00fcndigung der Istanbuler Konvention zum Schutz vor h\u00e4uslicher Gewalt seitens des t\u00fcrkischen Staates. Der Austritt aus diesem Abkommen war schon letztes Jahr versucht worden, traf aber auch innerhalb des Regimes auf gro\u00dfen Widerstand. Dieses Jahr war das Regime erfolgreich darin, die K\u00fcndigung der Istanbuler Konvention durchzudr\u00fccken \u2013 mit dem Argument, diese legitimiere mit dem Begriff \u201egesellschaftliches Geschlecht\u201c \u201ewidernat\u00fcrliche\u201c (also nicht-heteronormative) Sexualit\u00e4ten, was \u201eunserem\u201c Moralverst\u00e4ndnis widerspr\u00e4che. Die restriktive und homophobe Sexualit\u00e4ts- und Alltagsmoral zielt damit aber nicht nur auf die Unterdr\u00fcckung und Demoralisierung alternativer Lebensentw\u00fcrfe und Sexualit\u00e4ten, sondern vor allem auch auf die Schaffung (oder St\u00e4rkung) von und Legitimation durch konservativ-autorit\u00e4re Sozialcharaktere. Warum sonst kommt eine Familien- und Sozialministerin auf die Idee, den Anstieg von Gewalt an Frauen f\u00fcr \u201etolerabel\u201c zu halten, da sie einen (noch) st\u00e4rkeren Anstieg mit der Pandemie erwartet h\u00e4tte? Zugleich erdreistete sich aber das Tourismusministerium Ende Juli 2021 ernsthaft und ohne Scham ein Promotionsvideo \u00fcber Istanbul mit dem Titel \u201eIstanbul is the new cool\u201c zu drehen und zu ver\u00f6ffentlichen, das Istanbul als eine s\u00e4kulare, liberale, offene, lebensfreudige, unbeschwerte, potenziell queere und hippe Stadt darstellte, um irgendwie noch westliche Tourist*innen anzuziehen. Als ob \u201eEnjoy, I\u2019m vaccinated\u201c nicht gereicht h\u00e4tte. Die zynischen Kommentare auf Twitter reichten von \u201edas war/ist Istanbul vor/nach der AKP\u201c bis hin zu \u201eFrauen tanzen, Ballett auf den Stra\u00dfen, wilde N\u00e4chte, Getr\u00e4nke, Tische... Es ist so sch\u00f6n, ich frage mich welches Land das wohl sein mag\u201c.
Nicht zuletzt gab es einige institutionelle Ver\u00e4nderungen zur St\u00e4rkung der repressiven Apparate. Die Ver\u00e4nderungen zielen auf die Festigung eines autorit\u00e4ren Staatsaufbaus: Beispielsweise ist es mittlerweile dem Geheimdienst (MIT) und der Polizei erlaubt, bei \u201eterroristischen oder gesellschaftsbezogenen Ereignissen\u201c auf Waffenbest\u00e4nde des Milit\u00e4rs zuzugreifen. Zudem ist es mittlerweile verboten, mit Handys Aufnahmen von polizeilichen Ma\u00dfnahmen zu t\u00e4tigen. Auch wurde die Kontroll- und Interventionsmacht des Innenministeriums \u00fcber die Vorst\u00e4nde von NGOs bedeutend gest\u00e4rkt. Und es wird seitens des Regimes die Einf\u00fchrung einer neuen Verfassung diskutiert, die offensichtlich eine verfassungsrechtliche St\u00e4rkung der Pr\u00e4sidialdiktatur parallel mit einer St\u00e4rkung der t\u00fcrkisch-nationalistischen und islamistischen Elemente der Verfassung zum Ziel hat. Aber keine dieser Ma\u00dfnahmen konnte verhindern, dass Anatolien Ende Juli wortw\u00f6rtlich in Flammen aufging.
Anatolien in Flammen
Seit Ende Juli w\u00fcten die vermutlich verheerendsten Waldbr\u00e4nde in der Geschichte der modernen T\u00fcrkei. \u00dcber 160.000 Hektar Waldfl\u00e4che verbrannten vom 28. Juli bis zum 9. August in \u00fcber 270 Br\u00e4nden, die 53 von insgesamt 81 Provinzen in Flammenmeere verwandelten.
Es ist nat\u00fcrlich einerseits Zufall, dass im selben Jahr die Corona-Pandemie auf der Welt w\u00fctet; in Texas im Februar eine historische K\u00e4ltewelle zum Zusammenbruch des Elektrizit\u00e4tsnetzwerkes und zu \u00fcber 200 K\u00e4ltetoten f\u00fchrte; Kanada und Teile der USA eine bisher nicht gesehen Hitzewelle von 50\u00b0 Celsius durchmach(t)en; in Rheinland-Pfalz beziehungsweise Nordrhein-Westfalen (und in Belgien, Luxemburg, der Niederlande und der nord\u00f6stlichen Schwarzmeerk\u00fcste der T\u00fcrkei) geradezu diluvianische Sintfluten zu immensen Zerst\u00f6rungen und zum Tod von fast 200 Menschen f\u00fchrten; weitere Regionen rund um das Mittelmeer in Flammen stehen (Waldbr\u00e4nde in Italien, Griechenland, dem Balkan, Algerien...); auch Kalifornien mit dem gr\u00f6\u00dften Waldbrand seiner Geschichte k\u00e4mpft; es sogar in Sibirien zu weitfl\u00e4chigen Waldbr\u00e4nden kommt, w\u00e4hrend in Gr\u00f6nland die Eiskappen wegen einer Hitzewelle massiv schmelzen und so weiter. Aber es ist zugleich \u00fcberhaupt kein Zufall, sondern diese Extremwetterereignisse sind eine logische Konsequenz von geradezu eiserner Notwendigkeit. Sie folgen aus dem menschengemachten Klimawandel, wie der aktuell ver\u00f6ffentlichte Weltklimabericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in aller Ausf\u00fchrlichkeit und wissenschaftlich fundiert festh\u00e4lt. Extremwetterereignisse werden daher unausweichlich zunehmen, einzig die Frage nach dem wann und wo beherbergt eine Prise Zufall. \u00c4hnlich verh\u00e4lt es sich mit dem zumindest stark durch menschliche Handlungen beg\u00fcnstigten Ausbruch und der Verbreitung von Epidemien und Pandemien. Vielleicht wird dieses Jahr irgendwann als das erste \u00f6kologische Katastrophenjahr bezeichnet werden, in dem sich die mit apodiktischer Notwendigkeit aus dem Klimawandel und den spezifischen Formen menschlicher Landwirtschaft folgenden Extremwetterereignisse und Pandemien in einem bislang noch nicht gekannten Ausma\u00df akkumulierten \u2013 und damit auch den Menschen in den imperialistischen Zentren die Klimakrise fassbar vor Augen f\u00fchrten. Die UN spricht schon davon, dass wir auf einen Planet hinsteuern, der zu einer \u201euninhabitable hell\u201c (S. 3) wird und Leo Panitch bl\u00e4ut uns, etwas arg pessimistisch, schon seit Jahren ein, dass wir uns darauf vorbereiten m\u00fcssen, den Sozialismus unter Umst\u00e4nden aufzubauen, die denen von Blade Runner \u00e4hneln.
Das derzeitige Inferno in Anatolien ist allerdings nicht nur eine Geschichte des menschengemachten Klimawandels. Es f\u00fchrt \u2013 wie in einem Brennglas \u2013 alle in diesem Artikel bereits angesprochenen sozialen Entwicklungen und Antagonismen konzentriert zusammen und versch\u00e4rft sie: den neronischen Hochmut des Regimes, das Desinteresse des neoliberalen Staates an Mensch und Natur, die Faschisierung, den Lynchmob, die antikurdische Hetze \u2013 aber auch das Potenzial umfassender Solidarit\u00e4t.
An erster Stelle ist das Totalversagen des neoliberalen Staates zu nennen, wo es um Schutz und \u00dcberleben von Mensch und Natur geht: Angesichts der v\u00f6llig unzureichenden Ausstattung von Feuerwehr und Feuerl\u00f6schflugzeugen versuchten Dorfbewohner*innen, Polizist*innen und Gendarmen individuell mit eigenen H\u00e4nden, kleinen Wasserk\u00fcbeln, Decken und dergleichen den Fl\u00e4chenbrand zu bes\u00e4nftigen; die Evakuation von Tausenden von Menschen aus K\u00fcstenorten und Tourismusressorts wurde teils mit privaten Mitteln, das hei\u00dft mit Privatjachten, Jetskies und kleinen Booten organisiert. Ganze D\u00f6rfer und St\u00e4dte mussten evakuiert werden; auch das Kohlekraftwerk \u00d6ren bei Milas/Mu\u011fla, das in letzter Sekunde abgeschaltet und gemeinsam mit der ganzen Umgebung von den Seestreitkr\u00e4ften des t\u00fcrkischen Milit\u00e4rs evakuiert wurde. Es war eine der wenigen Situationen, in denen die Regierung das Milit\u00e4r, das seit dem Putschversuch 2016 direkt dem Gouverneur und der Regierung mit Ausnahme des milit\u00e4rischen Verteidigungsfalles weisungsgebunden untersteht, zu Hilfe rief. Die Furcht vor einer (eher fiktiven denn wahrscheinlichen) kemalistischen \u201eVereinigung von Volk und Armee\u201c durch gemeinsame Aktion sitzt tief. Viele freiwillige Brandbek\u00e4mpfer*innen aus allen Landesteilen, oft politisch links eingestellt, und Dorfbewohner*innen berichten davon, dass lange Zeit gar keine oder kaum Flugzeuge/Helikopter eingesetzt wurden \u2013 oder sie, von Staat und Regierung in Stich gelassen, die Br\u00e4nde selbst bek\u00e4mpfen mussten. \u201eIch wei\u00df nicht, wer uns helfen wird\u201c, ruft \u2013 verzweifelt und w\u00fctend zugleich \u2013 Ismail \u00d6zt\u00fcrk, ein Dorfbewohner bei Manavgat/Antalya, dessen gesamtes Dorf niederbrannte.
Im Zentrum der Debatte um Staatsversagen steht die beizeiten von Atat\u00fcrk gegr\u00fcndete gemeinn\u00fctzige Institution der T\u00fcrkischen Luftfahrtgesellschaft (T\u00fcrk Hava Kurumu, THK) und nat\u00fcrlich das Forst- und Landwirtschaftsministerium. Die THK diente historisch nicht nur der Verbreitung und Ausbildung der Luftfahrt, sondern auch der Bek\u00e4mpfung von Br\u00e4nden. Noch 2002 besa\u00df sie 19 L\u00f6schflugzeuge, die in den 2000er-Jahren im In- wie im internationalen Ausland zum Einsatz kamen. Ab etwa 2010 wurde sie zunehmend heruntergewirtschaftet, indem ihr bestimmte privilegierte Einkommensquellen staatlicherseits gekappt und islamistischen Organisationen \u00fcbergeben wurden. Seit 2019 wird sie von einem regimetreuen Zwangsverwalter gef\u00fchrt, der 2015 kurzfristig einen Ministerposten innehatte (den f\u00fcr Handel und Z\u00f6lle), und die THK gemeinsam mit dem Forst- und Landwirtschaftsministerium ganz aus der Brandbek\u00e4mpfung herauszog. Das Herunterwirtschaften der THK ist dabei nicht nur (aber auch) Teil des antikemalistischen Kulturkampfes der AKP: Die THK steht immer noch f\u00fcr ein \u201eErbe Atat\u00fcrks\u201c und galt als kemalistische Bastion. Das Kaputtsparen der de facto halbstaatlichen, aber nach Privatrecht operierenden THK ist aber auch ganz simpel Teil einer neoliberalen Austerit\u00e4tspolitik, die an allen haupts\u00e4chlich sozialen und infrastrukturellen Ausgaben spart, die als \u201e\u00fcberfl\u00fcssig\u201c gelten. Ein Blick auf das Nachbarland Griechenland, in dem die durch Austerit\u00e4t fast handlungsunf\u00e4hige Feuerwehr verzweifelt mit dem wenigen Personal, das ihr zur Verf\u00fcgung steht, versucht, die Br\u00e4nde zu bek\u00e4mpfen \u2013 w\u00e4hrend zugleich die Polizei massiv aufgestockt wurde und wird \u2013, macht deutlich, wie \u00e4hnlich sich zwei neoliberale Staaten an der euro-transatlantischen Peripherie bei allen ideologischen und kulturellen Differenzen sind.
Anstatt die durchaus vorhandenen funktionsf\u00e4higen Teile der Flotte der THK sofort zu nutzen \u2013 sieben Flieger standen die ganze Zeit flugbereit bei Etimesgut/Ankara auf dem Flugfeld \u2013 und die reparaturbed\u00fcrftigen schnellstm\u00f6glich auf Vordermann zu bringen, regnete es Schm\u00e4hungen und Drohungen auf die THK und alle, die den Einsatz der THK einforderten. Dabei plapperte der Forst- und Landwirtschaftsminister Bekir Pakdemirli nat\u00fcrlich heraus, dass dem Ministerium selbst keine Feuerl\u00f6schflugzeuge zur Verf\u00fcgung st\u00fcnden. Und der derzeitige Zwangsverwalter der THK gab zu, dass er sich \u201eauf einer Hochzeit\u201c befand, als ihn CHP-Chef Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu verzweifelt versuchte, per Telefon zu erreichen. Dieser wollte ihm das Angebot der am heftigsten vom Feuer betroffenen Gebiete (alle CHP-gef\u00fchrt) \u00fcberreichen, wonach die betreffenden Munizipalit\u00e4ten vorschlugen, die Wartungskosten der THK-Feuerl\u00f6schflugzeuge zu \u00fcbernehmen, damit diese schnellstm\u00f6glich in den Einsatz geschickt werden k\u00f6nnten. Bis Feuerl\u00f6schflugzeuge und -helikopter von Russland, der Ukraine, Israel und Aserbaidschan und anderen L\u00e4ndern \u2013 \u00fcbrigens zu vermutlich bedeutend h\u00f6heren Kosten als eine Wartung der THK-Flotte \u2013 angemietet wurden und die EU Hilfe schickte, waren die Br\u00e4nde schon zu einem Fl\u00e4chenbrand ausgewachsen.
Sehenden Auges also lie\u00df das Regime die Provinzen in Flammen aufgehen \u2013 genauso, wie der r\u00f6mische Geschichtsschreiber Sueton Kaiser Nero beschreibt, der dem Gro\u00dfen Brand von Rom unt\u00e4tig zugeschaut haben soll.
Wie der Nero der Erz\u00e4hlungen Suetons, so verfolgt \u2013 abgesehen von der neoliberalen Inkompetenz \u2013 auch das Regime in der T\u00fcrkei offensichtlich mehrere Kalk\u00fcle mit dem laxen Vorgehen gegen die Br\u00e4nde. Ein Faktor ist vermutlich ein polit\u00f6konomischer: Bis zu 70% einiger betroffener Provinzen sind mit Bergbaulizenzen versehen. Das Abbrennen der W\u00e4lder \u201evereinfacht\u201c da nat\u00fcrlich den Bergbau, zumal \u2013 zuf\u00e4lligerweise? \u2013 unmittelbar zu Beginn der Br\u00e4nde ein Gesetz verabschiedet wurde, das im Prinzip dem Pr\u00e4sidenten das Recht zuspricht, nach Gutd\u00fcnken Waldgebiete als Bergbaugebiet zu deklarieren. Obwohl der Schutz der W\u00e4lder auf Verfassungsrang verbindlich festgelegt ist, wurde dieses Verfassungsprinzip w\u00e4hrend der AKP-\u00c4ra kontinuierlich untergraben. Der Bergbau (Gold, Metalle, usw.) stellt nun mal eines der lukrativsten Investitionsm\u00f6glichkeiten f\u00fcr AKP-nahe Kapitalgruppen dar. Auch jetzt wird zwar versprochen und versichert, dass alle niedergebrannten W\u00e4lder aufgeforstet werden. \u00c4hnliche hochheilige Versprechungen haben sich allerdings in der Vergangenheit als blanke L\u00fcgen erwiesen.
Ein weiterer Faktor ist ein gedoppelter politischer. Zum einen wird die Unf\u00e4higkeit, die Br\u00e4nde zu bek\u00e4mpfen \u2013 auch von Erdo\u011fan selbst \u2013 der Opposition zugeschrieben. Alle Kommunalverwaltungen der am heftigsten von den Br\u00e4nden betroffenen Provinzen an der West- und S\u00fcdk\u00fcste der T\u00fcrkei sind n\u00e4mlich unter Kontrolle der CHP. Das ist nat\u00fcrlich Teil des allgemeinen Kampfes um die Hegemonie zwischen Regime und Opposition um die Gunst der Bev\u00f6lkerung. Zugleich aber soll und darf aus Regimeperspektive brennen, was zum verhassten West- und S\u00fcdk\u00fcstenstreifen der T\u00fcrkei geh\u00f6rt \u2013 das hei\u00dft diejenigen Teile des Landes, die w\u00e4hrend der AKP-\u00c4ra durchgehend in der Hand der kemalistischen CHP (oder, wenn auch etwas weniger stabil, der MHP) blieben und daher nun in neronischer Verachtung dem Brand ausgeliefert wurden. Und inmitten dieses Infernos sang das Regime und die Regimepresse eine Ode auf die angeblich unvergleichlich effektive Brandbek\u00e4mpfung(sinfrastruktur) des t\u00fcrkischen Staates und schwang die Repressionskeule gegen den millionenfach geteilten #HelpTurkey-Hashtag auf Twitter.
Der andere Teil des politischen Kalk\u00fcls ist die Nutzbarmachung der Br\u00e4nde f\u00fcr die Entfachung des antikurdischen Rassismus und der faschistischen Massenmobilisierung zwecks Legitimationserhalt. Erdo\u011fan h\u00f6chstpers\u00f6nlich legte eine Verursachung der Br\u00e4nde durch die PKK nahe. Er bezeichnete die Opposition erneut als \u201eTerroristen\u201c und drohte durch die Blume mit Gewalt im Falle eines solchen \u201eVaterlandsverrats\u201c, was die dann nat\u00fcrlich tats\u00e4chlich stattfindenden \u00dcbergriffe legitimierte und anfachte. Nat\u00fcrlich gibt es bis heute keine Beweise daf\u00fcr, dass \u201eSaboteure\u201c oder die PKK die Feuer gelegt haben. Der t\u00fcrkische Staat m\u00fcsste sich grundlegend Gedanken \u00fcber seinen Existenzgrund machen, wenn Saboteure und/oder die PKK so f\u00e4hig w\u00e4ren, dass sie fast die H\u00e4lfte des Landes in ein Flammenmeer verwandeln k\u00f6nnen. Unter F\u00fchrung vermutlich der MHP (aber auch Teilen der oppositionellen MHP-Abspaltung IYI) und mit tatkr\u00e4ftiger Unterst\u00fctzung der regimetreuen Revolverpresse wurden \u00fcber Social Media-Accounts und Internetseiten Hetze gegen angebliche \u201ePKK-Terroristen\u201c und andere \u201eB\u00f6sewichte\u201c betrieben und bewaffnete rechte Volkswehren zum \u201eSchutze des Vaterlandes\u201c gegr\u00fcndet. Anstelle die Feuer zu bek\u00e4mpfen und die Regeneration von Mensch und Natur zu f\u00f6rdern, wie linke Freiwillige es taten, konzentrierten sich diese Volkswehren darauf, Lynchmobs und sogar Passkontrollen auf viel befahrenen Stra\u00dfen zu organisieren. Alle, die \u201eausl\u00e4ndisch\u201c, \u201esuspekt\u201c oder, noch schlimmer, wie Kurd*innen aussahen beziehungsweise per Geburtsort als \u201eKurde\u201c identifiziert werden konnten, wurden angegriffen und regelrecht zum Abschuss freigegeben. Die Aufwiegelung ging so weit, dass ein Gendarmerie-Kommandant intervenierte und organisierte Zivilist*innen in scharfen Worten mahnte, nicht auf Falschinformationen bez\u00fcglich angeblicher \u201eTerroristen\u201c und Sabotageakten reinzufallen. Die Gendarmerie h\u00e4tte eine Reihe an solchen anonymen Meldungen gepr\u00fcft; alle seien falsch gewesen und h\u00e4tten Unschuldige bewusst zur Zielscheibe erkoren. Der Kommandant hob explizit hervor, dass solcher Art Informationen der wechselseitigen Aufhetzung und der Lynchjustiz dienten. Offensichtlich bef\u00fcrchten auch Teile des Staates, dass die betriebene Hetze zu einem unkontrollierbaren Chaos und zur weiteren Destabilisierung des Landes f\u00fchrt.
Alle gegen alle \u2013 im Namen von Staat und Erdo\u011fan!
Denn inmitten der autorit\u00e4ren Konsolidierungsversuche versch\u00e4rft sich mit dem sich einengenden \u00f6konomischen Spielraum und der allgemeinen Krisenhaftigkeit der konflikthafte Charakter der Polykratie. Polykratie bezeichnet ein \u201e\u00e4u\u00dferst komplizierte[s] Herrschaftsgef\u00fcge[], aufgebaut aus mehreren, sich gegenseitig nicht selten bek\u00e4mpfenden und blockierenden Zentren, die allerdings in der Regel [\u2026] dem allm\u00e4chtigen F\u00fchrer\u201c (S. 417) untergeordnet bleiben. Zu so einer Situation kommt es \u00fcblicherweise mit der schrittweisen Ersetzung konstitutionell-institutioneller Vermittlungs- und Politikformen durch dezisionistische Politik- und Staatsformen. Dezisionismus hei\u00dft in diesem Fall, dass das politische Handeln nicht prim\u00e4r mittels rechtsstaatlich-konstitutionell abgesicherten und f\u00fcr alle relevanten Machtakteur*innen verbindlichen Regeln, Normen und gemeinschaftlichen Vermittlungsformen stattfindet. Vielmehr sind es unmittelbare Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen, aus deren Handlungen auch Gesetz und Norm folgen oder zumindest nach gusto interpretiert/angewandt werden (k\u00f6nnen). [9]
Die grundlegende dezisionistische Fiktion ist nat\u00fcrlich diejenige, dass es in einem politischen Zustand, in dem der Dezisionismus dominant ist oder eine wichtige Rolle spielt, nur einen Souver\u00e4n gibt, aus dessen Entscheidung dann alles Relevante folgt beziehungsweise dem alle anderen politischen Organe untergeordnet sind. Stattdessen tun sich unter dem einen offiziellen (dezisionistisch agierenden) Souver\u00e4n (in diesem Fall Erdo\u011fan), der sich auch in das Gesch\u00e4ft anderer staatlicher Institutionen einmischt, lauter kleinere (M\u00f6chtegern-)Souver\u00e4ne und Machtbl\u00f6cke hervor, die miteinander konkurrieren um Macht und Einfluss, eben eine Polykratie. Da aber konstitutionell-institutionelle Vermittlungsformen politischer Konflikte fehlen oder den dominanten dezisionistischen stark untergeordnet sind, werden diese Konflikte oft hinter den Kulissen gef\u00fchrt. B\u00fcndnisse und Kooperationen werden ad hoc und institutionell nicht abgesichert geschlossen \u2013 und genauso abrupt wieder aufgek\u00fcndigt. Dabei nehmen alle untergeordneten, aber dennoch entscheidenden, Akteur*innen f\u00fcr sich in Anspruch, ganz und gar im Sinne des offiziellen Souver\u00e4ns (Erdo\u011fan) oder des Staatswohls zu handeln, da diese Elemente das Einzige sind, worauf sich die dezisionistischen Akteure als \u00fcbergeordnete Institutionen einigen k\u00f6nnen. Da diese selbst aber durch den Dezisionismus entweder fast jedweder Verbindlichkeit und objektivierter Institutionalisierung beraubt sind oder aber selbst wesentlich dezisionistisch agieren, wird der politische Konflikt innerhalb des polykratischen Gef\u00fcges zunehmend eruptiv und agonal ausgetragen, insbesondere, wenn der politische und \u00f6konomische Verteilungsspielraum durch die andauernde Krisenhaftigkeit kleiner wird.
Erdo\u011fan thront als Schiedsrichter letzter Instanz \u00fcber dem polykratischen Kampfplatz und versucht, dessen Volatilit\u00e4t durch ad hoc kalkulierte Balanceakte unter Kontrolle zu halten.
Es macht daher auch Sinn, von einem (politischen) Regime zu sprechen, da nicht alle relevanten politischen Akteur*innen auch \u00f6ffentliche oder offen gelegte politische Funktionen \u00fcbernehmen, aber dennoch im und au\u00dferhalb des Staates politisch ma\u00dfgeblich sind. Die MHP hat beispielsweise keinen einzigen Ministerialposten inne \u2013 dennoch organisiert sie ihre Kader in bestimmten Staatsapparaten und wirkt ganz ma\u00dfgeblich mit an der Formulierung der Regierungspolitik.
\u00dcber die Ausma\u00dfe dieses polykratischen Zustandes habe ich anderorts ausf\u00fchrlich geschrieben. Ich m\u00f6chte hier auf die aktuellen Entwicklungen eingehen. Zum einen hat sich der Machtkampf zwischen dem \u2013 von den Nationalisten der MHP unterst\u00fctzten \u2013 Innenminister S\u00fcleyman Soylu, der nicht aus der Tradition des politischen Islams stammt, und dem aus der Tradition des politischen Islams kommenden Schwiegersohn von Erdo\u011fan, Berat Albayrak (ehemals Finanz- und Wirtschaftsminister), durch den weiter oben diskutierten R\u00fccktritt von Albayrak Ende letzten Jahres vorerst im Sinne von Soylu \u2013 und daher im Sinne des nationalistischen Lagers beziehungsweise eines nationalistischen Kr\u00e4ftenetzwerkes im derzeitigen Regime \u2013 entschieden.
Dieses Netzwerk befindet sich mit dem erneut eskalierten Krieg gegen die Kurd*innen ab 2015 und der, politisch betrachtet lebenserhaltenden, Unterst\u00fctzung der MHP f\u00fcr die AKP schon seit geraumer Zeit im Aufwind. Auch in diesem Jahr \u00fcbernahm der MHP-Chef Bah\u00e7eli wie in den Jahren zuvor die Initiative im Faschisierungsprozess der T\u00fcrkei, indem er die Wiedereinf\u00fchrung der Todesstrafe, mehrmals die Entmachtung und/oder Abschaffung des Verfassungsgerichtshofes und letztlich eine neue Verfassung vorschlug. An letzterem entfachte sich ein bisher nicht weiter hochgekochter Konflikt mit der AKP, da Bah\u00e7elis Vorschlag zwar auf ein autorit\u00e4res Staatssystem ausgerichtet ist, aber auch explizite Kontrollmechanismen des Pr\u00e4sidenten, beispielsweise durch ebenfalls direkt gew\u00e4hlte Pr\u00e4sidentenberater (sozusagen durch faschistische Tribune) vorsieht. Auch bei der Verbotsforderung gegen\u00fcber der HDP war Bah\u00e7eli lautstark vorne dabei \u2013 mit Sicherheit auch deswegen, um der M\u00f6glichkeit einer taktisch-instrumentellen Ann\u00e4herung der AKP an die HDP oder einem erneuten \u201eFriedensprozess\u201c zuvorzukommen, da die MHP selbst Haupttreiberin und eine der Hauptprofiteurinnen des militaristischen Kurses ist. Demgegen\u00fcber k\u00f6nnte die AKP unter Umst\u00e4nden auch wegen ihrer Geschichte zu einem taktisch-instrumentell verstandenen \u201eFriedensprozess\u201c mit der kurdischen Bewegung zur\u00fcckkehren oder eine R\u00fcckkehr wahltaktisch in Aussicht stellen, auch wenn dies aufgrund der Entwicklungen immer unwahrscheinlicher wird. \u00c4hnliches, wenn auch auf einem viel niedrigeren Niveau, wurde schon bei den Kommunalwahlen 2019 versucht. [10] Dass Erdo\u011fan vor Kurzem die mehrheitlich kurdische Gro\u00dfstadt Diyarbak\u0131r besuchte und betonte, es sei nicht die AKP gewesen, die den \u201eFriedensprozess\u201c beendet habe (sondern nat\u00fcrlich PKK und HDP), war f\u00fcr die t\u00fcrkischen Verh\u00e4ltnisse seit 2015 ein Novum, weil es den Friedensprozess zumindest wieder zum Thema machte. Erst k\u00fcrzlich hob er kontrafaktisch hervor, dass es der t\u00fcrkische Staat gewesen sei, der die Kurd*innen in Kob\u00e2ne vor dem IS gesch\u00fctzt habe. Prompt intervenierte Bah\u00e7eli und gab \u00f6ffentlich zu verstehen, dass niemand irgendwelche \u201eAbsichten\u201c (sprich, auf einen erneuten Friedensprozess) herauslesen sollte.
Im Zuge der Erstarkung des nationalistischen Lagers in seiner Breite sowie der erneuten offenen Militarisierung der T\u00fcrkei sind auch zentrale Akteur*innen des Tiefen Staates der 1990er als wirkm\u00e4chtige Akteur*innen erneut in die \u00d6ffentlichkeit ger\u00fcckt.
Ryan Gingeras h\u00e4lt fest, dass der Begriff des Tiefen Staates genutzt wird, um
to explain why and how agents employed by the state execute policies that directly contravene the letter and spirit of the law. It is a phrase that generally refers to a kind of shadow or parallel system of government in which unofficial or publicly unacknowledged individuals play important roles in defining and implementing state policy. Although military officers are often seen as ringleaders in administering the Turkish deep state, the participation of narcotics traffickers, paramilitaries, terrorists and other criminals is also deemed essential in constructing the deep state. [\u2026] Paramount to the operation and survival of the deep state is the extreme emphasis placed upon state security[.] (S. 152-54, 173)
Im Tiefen Staat spielen also Pers\u00f6nlichkeiten innerhalb und au\u00dferhalb des Staates eine zentrale Rolle in der Formulierung und Umsetzung legaler wie vor allem illegaler Sicherheitspolitik im Namen der \u201eStaatssicherheit\u201c. Die ehemalige Premierministerin Tansu \u00c7iller, die alle (das hei\u00dft vor allem auch rechtswidrig vorgehende Paramilit\u00e4rs) als \u201eHelden\u201c bezeichnete, die f\u00fcr den Staat t\u00f6ten und get\u00f6tet werden; der ehemalige Polizeichef und Innenminister Mehmet A\u011far, der f\u00fcr den Aufbau der Sondereinsatzkr\u00e4fte der Polizei und ihrer semi- bis illegalen Kriegsf\u00fchrung in den kurdischen Gebieten in den 1990er ma\u00dfgeblich verantwortlich war (und wegen der Bildung einer kriminellen Organisation w\u00e4hrend seiner Amtszeit ins Gef\u00e4ngnis musste); sowie nationalistische Mafiabosse, darunter auch Sedat Peker, wurden seit 2015/16 juristisch wie politisch rehabilitiert und unterst\u00fctz(t)en seitdem die AKP. Auch Innenminister S\u00fcleyman Soylu kommt aus der politischen Tradition, aus der auch Mehmet A\u011far kommt. Ein Foto aus dem letzten Jahr, auf dem besagter Mehmet A\u011far, ein ultranationalistischer Mafiaboss und zwei ehemalige hochrangige Milit\u00e4rs aus dem Gebiet der \u201espeziellen Kriegsf\u00fchrung\u201c in einem Luxusyachthafen posieren, zeigt deutlicher als alle Worte, was Tiefer Staat in der T\u00fcrkei ist.
Aber die Konflikte innerhalb dieses polykratischen Regimes nehmen nicht ab, sondern eher zu. So kam es zu einem gr\u00f6\u00dferen Machtkonflikt mit einer spezifischen nationalistischen Fraktion, die wegen ihrer au\u00dfenpolitischen Perspektive einer zu erschaffenden Balance zwischen USA und Russland als Eurasier bezeichnet werden. Diese Fraktion war ebenfalls nach dem Bruch zwischen AKP und G\u00fclen-Gemeinde 2012-13, sp\u00e4testens jedoch ab 2016 juristisch wie politisch rehabilitiert worden. Sie konnte sogar eine starke mediale Pr\u00e4senz entwickeln und in Diplomatie und au\u00dfenpolitischer Sicherheitsdoktrin partiell den Ton angeben, trotz fehlender elektoraler Verankerung. Der vorgeschobene Grund f\u00fcr den jetzt aufbrechenden Machtkonflikt war eine eher spielerische denn ernsthafte Infragestellung des Vertrages von Montreux (1936), der die Hoheit der T\u00fcrkei \u00fcber die Bosporus-Meerenge und die Freiheit der Handelsschifffahrt garantiert, dabei aber zugleich den internationalen milit\u00e4rischen Schiffsverkehr stark einschr\u00e4nkt. Diese Infragestellung ist jedoch ein Symptom der au\u00dfenpolitischen Reorientierung des Regimes in Richtung einer engeren Zusammenarbeit mit den USA und dem Westen im Allgemeinen: Vor allem Staaten, die nicht Anrainer des Schwarzen Meeres sind, sind von den milit\u00e4rischen Beschr\u00e4nkungen des Vertrages betroffen. Daher ver\u00f6ffentlichten unter anderem mehr als 100 ehemalige Admir\u00e4le aus besagter eurasischer Fraktion eine Erkl\u00e4rung, die zur Einhaltung des Vertrages mahnte, da sie eine Besch\u00e4digung des Verh\u00e4ltnisses zu Russland bef\u00fcrchteten. Es war zugleich ein Man\u00f6ver, um ihrer offensichtlich anstehenden politischen Liquidation zuvorzukommen. AKP und MHP reagierten umgehend und verurteilten die Erkl\u00e4rung als \u201ePutschversuch\u201c; es folgte eine riesige Razzia gegen die Admir\u00e4le. Ein hochrangiger AKP\u2019ler bezeichnete die Erkl\u00e4rung als \u201eGottes Segen\u201c \u2013 so wie Erdo\u011fan den Milit\u00e4rputsch 2016 als Gottes Segen bezeichnet hatte \u2013, der ihnen die S\u00e4uberung der eurasischen Elemente erm\u00f6gliche. Der intellektuelle Kopf der Eurasier, der ehemalige Admiral Cem G\u00fcrdeniz, war gemeinsam mit anderen wichtigen eurasischen Milit\u00e4rs nach Jahren der teils \u00f6ffentlichen Lobpreisung seitens des Regimes im Handumdrehen zur persona non grata geworden \u2013 eine typische Entwicklung in dezisionistisch-polykratischen B\u00fcndniskonstellationen.
Auch mit dem Hauptb\u00fcndnispartner MHP und der um sie und in ihr organisierten nationalistischen Fraktion kommt es zu Konflikten. Die \u201ekurdische Frage\u201c und die Kontrolle \u00fcber das Pr\u00e4sidialamt beziehungsweise die Debatte um die neue Verfassung habe ich schon erw\u00e4hnt. Es gibt aber auch einen Kampf um die ideologische Deutungshoheit im Allgemeinen. Eine Wiederann\u00e4herung Erdo\u011fans und der AKP an Parteien sowie an Kultur- und Symbolpolitik des politischen Islams ist klar erkennbar. Nach 2015-2016 hatte eine t\u00fcrkisch-nationalistische und staatsverherrlichende Wende stattgefunden, da die AKP angesichts der Hegemoniekrise und des Bruchs mit ihrem ehemaligen B\u00fcndnispartner, der Gemeinde des Predigers Fetullah G\u00fclen, das B\u00fcndnis mit unterschiedlichen nationalistischen Fraktionen in Staat und Gesellschaft suchte. Jetzt aber versucht die AKP wieder umzuschwenken. Ihr geht es dabei wie bei der instrumentellen Tuchf\u00fchlung an die Kurd*innen zum einen darum, das eigene B\u00fcndnisnetzwerk ausweiten und damit zugleich die Opposition zu schw\u00e4chen. Das habe ich weiter oben bez\u00fcglich der Ann\u00e4herungen an die Saadet Partisi (SP) ausgef\u00fchrt. Die AKP nahm hierf\u00fcr auch eine innere Erneuerung ihrer Kaderstruktur vor und versetzte erneut viele Pers\u00f6nlichkeiten aus der Tradition des politischen Islams in entscheidende Stellen der Parteistruktur. Andererseits geht es ihr aber auch darum, im Ideologischen und Kulturellen daf\u00fcr zu sorgen, dass ihr die F\u00fchrung nicht zugunsten der nationalistischen Fraktionen entgleitet. Schon fr\u00fcher gab es darum Konflikte. Wegen der Abschaffung eines erznationalistischen Eidspruchs in Schulen oder bestimmter anti-islamistischer Regularien bei den Rekrutierungsmechanismen des Milit\u00e4rs gab es j\u00fcngst einen \u00e4hnlichen Konflikt zwischen AKP und nationalistischen Fraktionen.
Dabei treten auch in der Reorientierung der AKP auf einen islamistischen Kulturkampf dezisionistische Elemente zutage: Der Imam der erst j\u00fcngst wieder in eine Moschee konvertierten Hagia Sophia, Boynukal\u0131n, trat mehrmals initiativ ins Rampenlicht, indem er lautstark gegen hohe Zinsen, den Laizismus, LGBTQI*, die Nutzung des Begriffs \u201eFemizid\u201c sowie die Istanbuler Konvention Stellung bezog und das seiner Interpretation nach vom Quran verb\u00fcrgte Recht des Mannes \u00fcber die Familie zu herrschen verteidigte. Er \u00fcbersch\u00e4tzte sich allerdings. Nach gro\u00dfem \u00f6ffentlichen Druck trat er im April diesen Jahres zur\u00fcck. An seiner Statt ergriff gleich der n\u00e4chste Imam die Initiative: Bei einem Gebet, bei dem auch Erdo\u011fan zugegen war, bezeichnete er den Staatsgr\u00fcnder Atat\u00fcrk als \u201eUnterdr\u00fccker und Ungl\u00e4ubigen\u201c, was nat\u00fcrlich ebenfalls zu einem gro\u00dfen Skandal wurde. Ein anderer AKP-Parlamentarier war der Meinung, dass \u201edie Scharia unser Gesetz\u201c ist, w\u00e4hrend ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AKP die Perspektive vertrat, dass die geplante neue Verfassung eine \u201eVerfassung der Neubegr\u00fcndung\u201c der Republik anstrebe. Der eigentliche Fraktionsvorsitzende der AKP ruderte prompt zur\u00fcck und versicherte, dass man an der Republik von 1923 festhalten werde.
Der Kampf um die Justiz setzt sich ebenfalls fort. Wie gehabt beschweren sich zentrale Figuren des Verfassungsgerichtshofs regelm\u00e4\u00dfig \u00fcber unterschiedliche Aspekte mangelhafter Rechtsstaatlichkeit im Land; etwa \u00fcber die mangelhafte Umsetzung von Urteilsspr\u00fcchen des Verfassungsgerichtes. Dabei h\u00e4lt sich das Verfassungsgericht selber \u201enach oben hin\u201c, also hinsichtlich der Umsetzung von Urteilen des Europ\u00e4ischen Menschengerichtshofes, nicht immer an dessen Beschl\u00fcsse. Es handelt also selbst nicht rechtsstaatlich und ist intern politisch grob in zwei Lager gespalten. Erdo\u011fan versucht, eigene Leute in diese Institution zu platzieren, die noch nicht vollst\u00e4ndig unter seiner Kontrolle ist. Innerhalb des polykratischen Herrschaftsgef\u00fcges hat sich das Verfassungsgericht den \u00c4rger f\u00fchrender Vertreter des Regimes zugezogen, da es in einigen besonders krassen rechtswidrigen F\u00e4llen nicht im Sinne des Regimes entschied: Beispielsweise beim Demonstrationsrecht, dem ersten Verbotsantrag gegen die HDP (das mangels \u00fcberzeugender Begr\u00fcndung einstimmig zur\u00fcckgewiesen wurde!) und bei der offensichtlich rechtswidrigen und rein politisch motivierten Inhaftierung eines HDP-Parlamentariers (\u00d6mer Faruk Gergerlio\u011flu). Es kam sogar zu einem sehr heftigen \u00f6ffentlichen Schlagabtausch zwischen einem vermutlich linksnationalistischen Richter des Gerichts und dem Innenminister Soylu. Aus diesen Gr\u00fcnden speist sich die mehrfach erfolgte Forderung nach der Abschaffung des Verfassungsgerichtes, allen voran seitens der MHP. Das Verfassungsgericht bef\u00fcrchtet, dass der Vertrauenseinbruch in das Justizsystem zu gro\u00df wird und es \u201enotwendigerweise zu Suchbewegungen au\u00dferhalb des Justizsystems\u201c (AYM-Vorsitzender Arslan) kommt; dass also die staatliche Ordnung aktiv in Frage gestellt und Gerechtigkeit au\u00dferstaatlich gesucht wird. \u00c4hnlich argumentiert auch der Justizminister Abd\u00fclhamit G\u00fcl, der deshalb mit Innenminister Soylu seit l\u00e4ngerem im Clinch liegt. Soylu fordert beispielsweise im Gegensatz zu Justizminister G\u00fcl die Fortf\u00fchrung von Elementen des Ausnahmezustandes; diese seien n\u00fctzlich im \u201eKampf gegen den Terror\u201c (Soylu hat sich in dieser Angelegenheit mittlerweile durchgesetzt). Aber letztlich bilden die Gegens\u00e4tze Verfassungsgericht-Lokalgerichte oder (Abd\u00fclhamit) G\u00fcl-Soylu nur unterschiedliche Nuancen desselben dezisionistisch-polykratischen Herrschaftsgef\u00fcges im Justizsystem. Die Justiz als solche ist in hohem Ma\u00dfe durchpolitisiert und so zu \u201eunabh\u00e4ngigen\u201c Entscheidungen nicht f\u00e4hig. Sichtbar wird dies etwa aus einer Untersuchung von Reuters auf Grundlage von Daten des Justizministeriums, nach der 45% der 21.000 Richter*innen und Staatsanw\u00e4lt*innen drei oder weniger als drei Jahre Erfahrung im Amt haben.
\u201eDer Staat ist heilig, nicht aber das Wort eines jeden, der ihm dient\u201c
Zur\u00fcck zum Aufh\u00e4nger des Essays, dem ber\u00fcchtigten Mafiaboss, Sto\u00dftruppler des tiefen Staates und mittlerweile Social Media Star Sedat Peker.
Peker ist MHP\u2019ler und tritt ein f\u00fcr die Schaffung eines gro\u00dft\u00fcrkischen Reiches \u2013 er ist also ein typischer ultranationalistischer Faschist, genauer gesagt ein Pant\u00fcrkist. Als Mafiaboss \u00fcbernahm er laut seinen eigenen Aussagen auch bewaffnete Aufgaben f\u00fcr den Staat im Kampf gegen die PKK.
In Geheimdienstberichten der 1990er wird er namentlich genannt als Akteur innerhalb der mit dem Geheimdienst konkurrierenden staatlichen Elemente des Tiefen Staates. In den sp\u00e4ten 1990ern und fr\u00fchen 2000ern erlosch sein Glanz \u2013 wie der der anderen nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates. Innerhalb der staatlichen Elemente des Tiefen Staates setzte sich die \u00dcberzeugung durch, nach der Inhaftierung von Abdullah \u00d6calan seien diese schwer kontrollierbaren und relativ autonomen Akteure nicht mehr n\u00fctzlich genug f\u00fcr den Staat. Ein Mafiaboss nach dem anderen landete im Gef\u00e4ngnis oder musste ins Ausland fliehen, die kurdische Hizbullah wurde dezimiert. Aber wie schon erw\u00e4hnt: Sp\u00e4testens mit der offen militaristisch-nationalistischen Wende der AKP ab 2015 krochen diese Kreaturen wieder hervor. Auch Sedat Peker, der 2016 wieder zu fragw\u00fcrdigem \u201eRuhm\u201c gelangte: Er bedrohte die Akademiker*innen f\u00fcr den Frieden (BAK) damit, dass er in ihrem Blut duschen werde. Seitdem wurde er wieder zu einer angesehenen und f\u00fcr das Regime mobilisierenden Pers\u00f6nlichkeit \u2013 bis er sich 2020 ins Ausland absetzte. Einige Monate sp\u00e4ter, im April 2021 kam es dann zu einer gro\u00dfen Razzia gegen seine Familie und seine Mafiastrukturen.
Laut eigener Aussage hatte ihn der Innenminister Soylu vor dieser m\u00f6glichen Razzia gewarnt und Peker deshalb empfohlen, f\u00fcr einige Zeit ins Ausland zu verschwinden, bis sich die Lage beruhige. Es ist bisher nicht wirklich ersichtlich, warum genau Soylu Peker fallen lie\u00df; auch Peker \u00e4u\u00dfert in seinen ersten Videos Verwunderung und vor allem Entr\u00fcstung \u00fcber den Innenminister: Peker habe doch auch aus dem Ausland so sehr f\u00fcr Soylu im Kampf gegen Albayrak Position bezogen. \u201eDu warst doch mein R\u00fcckkehrticket\u201c, bricht er an einer Stelle in seinem f\u00fcnften Video ehrlich entr\u00fcstet hervor, als er sich direkt an Soylu wendet. Im Endeffekt ist dieses Detail vielleicht auch unwichtig. Im Allgemeinen k\u00f6nnen wir einen polit-\u00f6konomischen und vermutlich einen politischen Ursachenkomplex f\u00fcr den Zwist ausmachen, auch ohne alle Details genau zu kennen.
Polit\u00f6konomisch betrachtet handelt es sich um ein Auseinanderbrechen von Teilen des unendlich komplex ausdifferenzierten milliardenschweren Klientelgeflechts der Netzwerke um und zwischen Erdo\u011fan und dem Regierungsclan der Aliyevs in Aserbaidschan, in welchem die nicht zum engen Netzwerk geh\u00f6renden Akteure geschasst wurden, als sich \u00f6konomische Probleme (prim\u00e4r Schuldenr\u00fcckzahlungsprobleme) einstellten. Peker war wohl mit einem azerischen Oligarchen alliiert, der in Bedr\u00e4ngnis geriet und unterging \u2013 das zumindest legt die verlinkte Analyse von Bahad\u0131r \u00d6zg\u00fcr nahe. Politisch betrachtet ist es ein wahrscheinliches Szenario, dass sich ein Teil des nationalistischen Machtblocks daf\u00fcr einsetzt, dass Albayrak (oder Soylu?) sich zum Nachfolger von Erdo\u011fan heraufarbeitet, um im Windschatten des schwachen Albayrak (oder Soylus?) erneut die dominante Kraft im Staat zu werden. Peker hat sich wohl Ger\u00fcchten nach relativ autonom und gegen diesen Block und Albayrak (oder Soylu?) gestellt und geriet dadurch auf die politische Abschussliste. Warum ihn dann der mit Albayrak verfeindete Soylu fallen lie\u00df, dar\u00fcber k\u00f6nnen wir, wie gesagt, derzeit nur spekulieren. Mittlerweile r\u00fchmt sich Peker auch damit, dass er Soylus Pl\u00e4ne auf das Pr\u00e4sidialamt zerst\u00f6rt habe. Eventuell war nicht Albayrak, sondern Soylu die Person, die den Windschatten f\u00fcr die nationalistische Fraktion hervorbringen sollte. Oder aber die Person \u00e4nderte sich im Laufe der Zeit.
Was wir wissen ist, dass Soylu bisher versucht, die ganze Aff\u00e4re dahingehend auszunutzen, gegen die islamistischen Fraktionen innerhalb der AKP vorzugehen und partiell auch gegen vergangene Politik der AKP wie beispielsweise den Friedensprozess zu wettern, also in die Offensive zu kommen. Dabei hat er aber einen schweren Stand: Innerhalb der zentralen Machtstellen des Polizeiapparates ist anscheinend schon ein Kampf zwischen Soylu-nahen und anti-Soylu-Fraktionen entbrannt \u2013 und auch in Bev\u00f6lkerungsumfragen steht Soylu mittlerweile schlecht da. In einem der wichtigsten Think Tanks des Regimes, SETA, hat es vermutlich die zuvor Soylu unterlegene Albayrak-Fraktion geschafft, die gesamte Soylu-nahe Fraktion auszumerzen (die wiederum, typisch f\u00fcr einen polykratischen F\u00fchrerstaat, mit viel Pathos und der Ansage: \u201ewir werden weiter auf dem Weg marschieren, den der Pr\u00e4sident gezeigt hat\u201c, den Think Tank mit wehenden Fahnen verlie\u00df). Auch innerhalb der B\u00fcrokratie der TCMB scheint die Albayrak-Fraktion die Oberhand gewonnen zu haben. Wie gesagt: Wo Dezisionismus und Polykratie herrschen, da k\u00f6nnen Verb\u00fcndete von gestern Feinde am n\u00e4chsten Tag sein und umgekehrt.
Pekers erneuter Aufstieg und das Aufplatzen der von ihm \u201eaufgedeckten\u201c Skandale als Form politischer Abrechnung w\u00e4ren nicht m\u00f6glich gewesen ohne die ausgeuferten Verschr\u00e4nkungen von Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus \u2013 letzterer als Mechanismus der Loyalit\u00e4tsbildung \u2013 der letzten Jahre.
Anf\u00e4nglich \u2013 wie er selbst in seinen Videos betont \u2013 motiviert aus Entr\u00fcstung, Wut und Rachedurst erz\u00e4hlte Peker in einer immer wieder durch ausf\u00fchrliche Drohungen und Kampfansagen an Mehmet A\u011far, Albayrak und Soylu durchsetzten manisch-narzisstischen Inszenierung aus dem Plauderk\u00e4stchen dezisionistischer und klientelistischer Willk\u00fcr hinter den Kulissen. Bis Mitte-Ende Mai ging es in seinen Videos darum, wie sich angeblich Mehmet A\u011far im oben erw\u00e4hnten polit\u00f6konomischen t\u00fcrkisch-azerischen Geflecht den ebenfalls oben erw\u00e4hnten Luxusyachthafen mit unlauteren Mitteln krallte; sein Sohn (ein AKP-Parlamentarier) eine Frau vergewaltigt und umgebracht und sich dann durch den Staat habe decken lassen; darum, dass der Sohn des ehemaligen AKP-Premiers Binali Y\u0131ld\u0131r\u0131m, Erkam Y\u0131ld\u0131r\u0131m, angeblich den Drogenhandel zwischen Kolumbien-Venezuela-T\u00fcrkei-Zypern organisiert habe; um einen lokalen Polizeichef in Silivri, der Suizid beging, weil er anscheinend dem Druck politischer Direktiven Soylus nicht mehr standgehalten habe; um eine Hand voll erzopportunistischer Journalisten wie Hadi \u00d6z\u0131\u015f\u0131k oder Veyis Ate\u015f, die sich inmitten der Aufl\u00f6sung des Konstitutionalismus im Glanze von Macht und Geld zu Vermittlern zwischen Macht und Geld aufgespielt h\u00e4tten (unter anderem auch zwischen Peker und Soylu); um S\u00fcleyman Soylu selbst, der seine Position als Minister ausgenutzt habe, um sein Versicherungsunternehmen aufbl\u00fchen zu lassen; aber auch darum, wie Peker im Zypern der 1990er seinen Bruder dem Milit\u00e4r f\u00fcr extralegale Aktivit\u00e4ten zur Verf\u00fcgung stellte; wie er im Sinne der AKP 2015 mit Gewalt gegen Medien vorging; wie er AKP-Parlamentariern und AKP-nahen Auslandsorganisationen wie den (zwischenzeitlich verbotenen) Osmanen Germania Geld zusteckte und so weiter und so fort. Wortmeldungen seitens in den Videos genannter Personen, Leaks von Videos und Gespr\u00e4chen, einige journalistische Recherchen und sogar einige wenige R\u00fccktritte (Veyis Ate\u015f k\u00fcndigte von seinem Sender, Mehmet A\u011far trat von seiner CEO-Position im Luxusyachthafen zur\u00fcck) legen bei den meisten von Peker erz\u00e4hlten Geschichten nahe, dass in ihnen zumindest ein F\u00fcnkchen Wahrheit innewohnt; wie viel genau davon Realit\u00e4t, wieviel Fiktion, wie viel blo\u00df falsches Wissen oder \u00dcberheblichkeit ist, werden wir indes wohl erst dann lernen, sobald uns alle relevanten staatlichen Quellen offengelegt werden \u2013 wenn \u00fcberhaupt. Die t\u00fcrkische Justiz tut angesichts der \u201eEnth\u00fcllungen\u201c von Peker bisher jedenfalls \u2013 gar nichts.
In der partiell auch von Peker \u201eaufgedeckten\u201c Geschichte des dubiosen Gesch\u00e4ftsmannes Sezgin Baran Korkmaz kommen alle diese F\u00e4den des Dezisionismus, der Polykratie und des Klientelkapitalismus exemplarisch zusammen. Korkmaz, ein aggressiver Investor kurdischer Abstammung, geh\u00f6rt zu den typischen Neureichen der AKP-\u00c4ra. Nach 2016 arbeitete er sich durch Anbiederung an den Staat nach oben, etwa durch Vermittlungst\u00e4tigkeiten zwischen der us-amerikanischen Gesch\u00e4ftswelt und der t\u00fcrkischen. Unter Umst\u00e4nden spielte er auch eine wichtige Vermittlerrolle im Drogenhandel zwischen Venezuela und der T\u00fcrkei. F\u00fcr seine Dienste wurde er offensichtlich klientelistisch belohnt: mit Insiderinformationen zu Unternehmen in der T\u00fcrkei, die sich in Schwierigkeiten befanden. Diese kaufte er dann aggressiv und vermutlich teils mit unlauteren Mitteln auf. Zudem betrieb er Geldw\u00e4sche f\u00fcr die Kingston-Br\u00fcder, einer Betr\u00fcgerbande in den USA, die sich vom us-amerikanischen Staat rechtswidrig Milliarden von Dollar an Zusch\u00fcssen zuwenden lie\u00dfen. Korkmaz hatte offensichtlich Kontakte in alle Bereiche \u00f6konomischer, politischer und juristischer Macht in der T\u00fcrkei und lie\u00df aus all diesen Bereichen wichtige Personen in seinen Luxushotels umsonst verkehren. Aber er war eben nicht der einzige Klient der Macht: Ein t\u00fcrkischer Konkurrent, der Korkmaz auch \u00f6konomisch unterlegen war und von ihm vernichtet zu werden drohte, wandte sich vermutlich an den Innenminister Soylu (die Details der Story bleiben noch vage). Mit Appellen an Nation, Vaterland und dergleichen hochtrabende Dinge bat er diesen, Korkmaz aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Soylu sah vermutlich die Chance gekommen, sich einen getreuen \u00f6konomischen Klienten aufzubauen. Er informierte Korkmaz, \u00e4hnlich wie sp\u00e4ter Peker, vor einer bevorstehenden Razzia und riet ihm zur Flucht. Das B\u00fcro f\u00fcr die Untersuchung von Finanzkriminalit\u00e4t (MASAK) fertigte zeitgleich einen vernichtenden Bericht \u00fcber Korkmaz an \u2013 ein paar Monate, nachdem ein vorhergehender Bericht desselben MASAK nichts gegen Korkmaz aufzudecken hatte. Und schon war Korkmaz pl\u00f6tzlich Saulus statt Paulus. Die Leser*in wei\u00df mittlerweile schon: Solche abrupten Umkehrungen sind typisch f\u00fcr dezisionistisch-polykratische Herrschaftsgef\u00fcge. Hinzu kommt nun, dass der schon genannte Journalist Veyis Ate\u015f Korkmaz telefonisch kontaktierte \u2013 Teile des Telefongespr\u00e4chs wurden im Zuge des \u201eSkandals\u201c ver\u00f6ffentlicht \u2013 und sich als Vermittler zwischen ihm und Soylu anbot; nat\u00fcrlich im Gegenzug f\u00fcr eine l\u00e4ppische Aufwandsentsch\u00e4digung von 10 Millionen Euro!
Der Staat war also nicht nur tief, sondern auch sumpfig geworden, voller Kreaturen, denen noch die \u201enationalen Werte\u201c der alten Mafiosis und Paramilit\u00e4rs des Tiefen Staates zu blo\u00dfen Instrumenten ihres reinen individuellen Machtopportunismus wurden.
Interessant ist, dass Peker in seinen ersten Videos stets hervorhob, nicht gegen den Staat zu sein. Im Gegenteil, er hielt bei seinen \u201eAufdeckungen\u201c und Attacken auch stets den Staatspr\u00e4sidenten Erdo\u011fan au\u00dfen vor. Mehrmals betonte er, dass er im Staate aufgewachsen und f\u00fcr ihn gedient habe. \u201eDer Staat existiert ewig, er ist heilig. Es gibt aber kein Gesetz, das vorschreibt, dass das Wort eines jeden, der dem Staat dient, auch heilig ist\u201c, so Peker im dritten Video, und sp\u00e4ter im siebten Video: \u201eDer Staat ist ein Geist und es ist dieser Geist, der heilig ist\u201c. Deshalb, so Peker, greife er bestimmte \u00fcble oder \u201etiefe\u201c Elemente im Staat an, nicht aber den Staat als solchen. Er hob hervor, dass \u201esie\u201c \u2013 A\u011far, Soylu, Albayrak \u2026 und so weiter? \u2013 Erdo\u011fan umgarnt h\u00e4tten und rief Erdo\u011fan, den er seinen \u201egro\u00dfen Bruder\u201c nannte, dazu auf, im Sinne des Staates (und somit nat\u00fcrlich in seinem eigenen) zu intervenieren. Im vierten Video sprach er davon, dass er \u201evor dem Staat in den Staat\u201c fl\u00fcchtete. Das kann w\u00f6rtlich verstanden werden: Aus der T\u00fcrkei fl\u00fcchtete er nach Albanien, dann in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Es ist aber vor allem im \u00fcbertragenen Sinne zu verstehen: Geschasst im Machtkonflikt innerhalb des polykratischen Staatsgebildes seitens einer ihm feindlich gesinnten Fraktion fl\u00fcchtete er nach vorne, mitten in dieses Gebilde hinein \u2013 in der Hoffnung, das Spiel gegen die ihn verfolgenden Elemente im Staat zu wenden und sich selbst erneut als lukrativen Agent desselben pr\u00e4sentieren zu k\u00f6nnen. Alle seine Videos sind daher ebenso viele Gespr\u00e4chsangebote an den Staat im Allgemeinen, an Erdo\u011fan im Besonderen.
Ende Mai drehte er jedoch den Hahn weiter auf. Er betrat sehr sensible Themenbereiche \u2013 vermutlich, weil seine Versuche, erneut vom Staat ernst genommen zu werden, bis dato keine Fr\u00fcchte getragen hatten. In seinem achten Video machte er \u00f6ffentlich, wie seinem Wissen nach die T\u00fcrkei Waffen an Jihadisten in Syrien lieferte \u2013 unter anderem ihn selbst \u201eausnutzend\u201c, wie er es bezeichnete. Peker k\u00fcndigte an, auch in eine Abrechnung mit Erdo\u011fan h\u00f6chstpers\u00f6nlich gehen zu wollen und dessen Ged\u00e4chtnis \u201eaufzufrischen\u201c, da Erdo\u011fan leider im Sinne von Soylu Partei ergriffen habe. Er fing an, die AKP im Allgemeinen anzugreifen und dar\u00fcber zu berichten, wie nicht nur Soylu Klientelismus betreibe, sondern auf welche Art und Weise in allen AKP-Munizipalit\u00e4ten Korruption und Vetternwirtschaft stattf\u00e4nde. Peker nutzte die Gelegenheit, seine Zuschauer*innen dazu aufzurufen, sich gegen die Regierung zu stellen, diese umzuw\u00e4lzen und die Ordnung zu ver\u00e4ndern, damit Korruption und Klientelismus aufh\u00f6rten. Er schlug sogar einen linkspopulistischen Ton an: Er sprach von der Pl\u00fcnderung von Ressourcen durch eine Handvoll Klientelkapitalisten, w\u00e4hrend die Bauern und das Volk in Armut dahindarbten. Er \u00e4u\u00dferte sich auch dar\u00fcber hinaus politisch und kritisierte die Kurden- und Alevitenpolitik der Regierung. Auch w\u00e4hrend der Waldbr\u00e4nde Ende Juli/Anfang August kritisierte er die Schuldzuweisungen an die HDP und bezeichnete die Vorw\u00fcrfe als \u201eSpiel von Provokateuren im Gewande der Vaterlandsliebe\u201c. Peker vertrat damit eine politische Linie, die sich eigentlich als Mehrheitsmeinung im Staat der fr\u00fchen 2000er durchgesetzt hatte, namentlich die in diesen \u201eFragen\u201c enthaltenen sozialen Antagonismen durch milde integrative Kompromisse zu entsch\u00e4rfen und damit der PKK die soziale Basis abzugraben, ohne von den Prinzipien des t\u00fcrkischen Nationalismus g\u00e4nzlich abzuweichen. Letztlich konnte er noch so oft betonen, dass er nur einzelne Individuen im Staat angriff und der Staat heilig sei: Ende Mai/Anfang Juni befand Peker sich eindeutig auf Kriegsfu\u00df mit Regierung wie Staat.
Seine ver\u00e4nderte Strategie machte vermutlich Eindruck. In Kombination mit dem gro\u00dfen \u00f6ffentlichen \u201eErfolg\u201c seiner Videos kam es deshalb ab Anfang/Mitte Juni zu einer merklichen Ver\u00e4nderung im Vorgehen von Peker. Am Wochenende des 12./13. Juni 2021 erschien nicht wie erwartet ein neues Video. Zun\u00e4chst hie\u00df es, Peker sei von t\u00fcrkischen Kommandos entf\u00fchrt worden. Es stellte sich heraus, dass ihn Beamte der VAE (vermutlich des Geheimdienstes) zu einer Befragung einbestellt hatten. Wir wissen nicht genau, was dort und anderweitig besprochen wurde. Peker selbst erz\u00e4hlt die eher unwahrscheinliche Geschichte, dass ihn die VAE-Beamten davor warnten, weitere Videos zu ver\u00f6ffentlichen, da sein Leben in h\u00f6chster Gefahr sei. Wahrscheinlicher ist, dass die VAE gegen au\u00dfenpolitische Konzessionen der T\u00fcrkei Druck auf Peker aufbauten; gleichzeitig ist es sehr wahrscheinlich, dass um diesen Zeitpunkt herum auch Verhandlungen zwischen Peker und dem t\u00fcrkischen Staat, oder besser gesagt, bestimmten Fraktionen im t\u00fcrkischen Staat stattfanden. Die Videos h\u00f6rten abrupt auf. Seitdem twittert Peker seine \u201eEnth\u00fcllungen\u201c nur mehr. Er ging auch nicht wie angek\u00fcndigt dazu \u00fcber, Erdo\u011fan ins Zentrum zu stellen. Stattdessen schoss er sich wieder vor allem auf S\u00fcleyman Soylu und dessen angebliches Klientelnetzwerk ein: Beispielsweise machte er publik, dass Soylu angeblich auch nach dem gescheiterten Milit\u00e4rputsch vom 15. Juli 2016 unter der Hand Langfeuerwaffen an Zivilisten verteilte in der Vorbereitung auf einen B\u00fcrgerkrieg (was plausibel ist, da eine bei der angeblichen Waffen\u00fcbergabe beteiligte Person das von Peker angef\u00fchrte \u00dcbergabetreffen best\u00e4tigt hat, ohne jedoch zu wissen was \u00fcbergeben wurde, und laut einer Analyse von Daten des Innenministeriums bis zu 100.000 Waffen aus staatlichen Inventaren fehlen). Es ist seitdem offensichtlich, dass Peker seither (wenn nicht schon zuvor) unmittelbar aus dem Polizei- und Justizapparat heraus sensible Informationen auch \u00fcber sehr aktuelle Ereignisse erh\u00e4lt, die er sodann auch ver\u00f6ffentlicht.
Peker hat also sein subjektives Ziel, als jemandes Agent im Staat zu fungieren und darin zugleich seine eigenen Interessen zu verfolgen, vorerst erfolgreich erreicht. Ende Mai waren seine Videos schon insgesamt 172 Millionen mal angeschaut gewesen, in den Sozialen Medien folgen ihm ebenfalls Millionen Menschen. \u00d6ffentliche Umfragen \u00fcber Kenntnis und Einsch\u00e4tzung der Inhalte von Pekers Videos seitens der Bev\u00f6lkerung der T\u00fcrkei oszillieren in ihren Ergebnissen zwar noch zu extrem, um daraus zu tragf\u00e4higen Schl\u00fcssen zu kommen; es ist aber offensichtlich, dass Peker zu einem popularen Ph\u00e4nomen geworden ist.
Das von ihm wohlkomponiert inszenierte Simulacrum, die Simulation des \u201eEhrenmannes\u201c, der \u00fcberpotente M\u00e4nnlichkeit, Gewaltbereitschaft, einen exzessiv-manischen Narzissmus und ein dementsprechendes Selbstbewusstsein gekoppelt mit einer aufm\u00fcpfigen, gar politisch oppositionellen Haltung, aber im Namen von Staat (devlet), Nation (millet) und Vaterland (vatan) verk\u00f6rpert, macht den verf\u00fchrerischen Bann seiner politischen \u00c4sthetik aus.
Sehr erfolgreich auf wenige Minuten ist dies in einem Kunstvideo des Youtubers T\u0131mar Rutherford zur Darstellung gebracht worden. Peker selbst ist nat\u00fcrlich alles andere als irgendwie \u201eoppositionell\u201c oder gar emanzipatorisch: \u201eWenn ich Dreck bin, dann nur Dreck der untersten Stufe in einem ganzen System an Dreck\u201c, hebt Peker selber in aller Ehrlichkeit im bisher letzten seiner langen Videos hervor. Durch seine Popularit\u00e4t und seine Bef\u00e4higung, wichtige Akteur*innen der polykratischen Konfiguration ins Wanken zu bringen und \u00f6ffentlich zu demaskieren, hat er erreicht, was viele andere Machtnetzwerke im polykratischen Gef\u00fcge nicht schaffen. Darin liegt Pekers derzeitige Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit, was ihn letztlich n\u00fctzlich gemacht hat \u2013 f\u00fcr wen auch immer innerhalb des polykratischen Gef\u00fcges. Ryan Gingeras h\u00e4lt dazu passend fest, dass die nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates zwar vornehmlich mit Bezug auf den Staat wirkm\u00e4chtig werden, dass sie aber nicht darin aufgehen, willenlose Instrumente f\u00fcr staatliche Akteure zu sein. Dar\u00fcber hinaus verfolgen sie auch eigene Interessen und legen sich daf\u00fcr, wo n\u00f6tig, auch mit staatlichen Akteuren an.
Was hat sich also machtpolitisch hinter den Kulissen getan Ende Mai/Anfang Juni? Eine These w\u00e4re, dass Erdo\u011fan durch Pekers Performance \u00fcberzeugt ist, jetzt den geeigneten Moment gefunden zu haben, sich einer nationalistischen Fraktion im Machtblock zu entledigen, dass aber Bah\u00e7eli, der auch als erster von beiden \u00f6ffentlich Soylu in Schutz genommen hat, blockt. Andererseits hat Peker vor Kurzem auch wenig subtil damit gedroht, die Gewalt eskalieren zu lassen, wenn \u201esie\u201c bei den n\u00e4chsten Wahlen, die \u201esie\u201c laut Peker offensichtlich verlieren werden, nicht von selbst die Macht abtreten. Es ist nicht ganz klar, ob Peker mit \u201esie\u201c Erdo\u011fan und die AKP meint, oder nur bestimmte Teile des derzeitigen Regimes. Letztlich k\u00f6nnen wir derzeit nur spekulieren, mit wem im Staat Peker zusammenarbeitet. Fakt ist, dass die Causa Peker beziehungsweise die vom ihm \u00f6ffentlichkeitswirksam aufgerollten Skandale eindr\u00fccklich vor Augen f\u00fchren, welches Ausma\u00df Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus in der T\u00fcrkei mittlerweile angenommen haben.
Das ganze Land schaut auf die Youtube-Videos eines gewaltaffinen, im Namen des Staates mordenden Mafiabosses anstatt auf das Parlament und die Justiz f\u00fcr entscheidende Entwicklungen in Politik und Recht \u2013 kann es ein eindr\u00fccklicheres Bild f\u00fcr die Ersetzung von Konstitutionalismus durch Dezisionismus und Polykratie geben?
Und zeigen nicht gerade die von ihm \u201eaufgedeckten\u201c Skandale, wie sehr Dezisionismus und Polykratie mit Korruption, Vetternwirtschaft, Gl\u00fccksrittertum, kurzum: Klientelkapitalismus zusammengewachsen sind? Zugleich zielt Pekers Vorgehen nat\u00fcrlich darauf ab, diese etablierten Mechanismen zu festigen. In der klassisch paternalistischen Manier des Rechtspopulismus entfacht er den berechtigten Unmut und die Leidenschaften der Bev\u00f6lkerung in einer tendenziell reaktion\u00e4ren Art und Weise \u2013 und dann noch in einer Form, die die Bev\u00f6lkerung passiv mobilisiert, sie also explizit nicht selbst zur Organisation und zur Aktivit\u00e4t aufruft, sondern als mobilisierte Man\u00f6vriermasse im innerpolykratischen Machtkampf zur Hand haben m\u00f6chte.
Die widerst\u00e4ndige T\u00fcrkei und die etatistische Opposition
Beim Versuch einer paternalistischen Mobilisierung der Bev\u00f6lkerung steht Peker nicht alleine da. Der Unmut in der Bev\u00f6lkerung und der Unglaube in die Institutionen des Staates ist, wie gezeigt, weit verbreitet. Es gibt aber dar\u00fcber hinaus auch zahlreiche Widerst\u00e4nde und K\u00e4mpfe gegen die vom Regime und vom Neoliberalismus herbeigef\u00fchrten destruktiven Zw\u00e4nge, Verbote, Entrechtungen, Depravationen. So k\u00e4mpften und k\u00e4mpfen die gesamte Pandemie \u00fcber Arbeiter*innen an vielen Standorten gegen Entlassungen, Nicht-Erf\u00fcllung von Corona-Ma\u00dfnahmen, fehlende Auszahlung von L\u00f6hnen und vieles mehr \u2013 auch in oppositionsgef\u00fchrten Kommunen. Zwar waren am 1. Mai 2021 im Prinzip alle Demonstrationen verboten, Linke und Gewerkschafter*innen organisierten aber in vielen Stadtteilen und -pl\u00e4tzen kleinere Kundgebungen und lie\u00dfen sich von Gewahrsamnahmen nicht einsch\u00fcchtern. An der Bo\u011fazi\u00e7i Universit\u00e4t, einer der prestigetr\u00e4chtigsten Universit\u00e4ten des Landes, kam es seit Januar diesen Jahres zu einer riesigen Protestwelle gegen einen von Erdo\u011fan per Dekret und gegen die W\u00fcnsche der Studierenden und Lehrenden eingesetzten AKP\u2019ler als Zwangsverwalter-Rektor \u2013 mit Erfolg: Erst vor Kurzem wurde der Rektor, Melih Bulu, ebenfalls per Erdo\u011fans Gnadendekret abgesetzt. Die Bo\u011fazi\u00e7i-Uni geh\u00f6rt neben einer kleinen Handvoll anderer Eliteuniversit\u00e4ten zu den Universit\u00e4ten, die die AKP trotz 20-j\u00e4hriger Regierungszeit nicht kontrolliert bekommt. Die feministische Bewegung ist die Einzige, die wegen ihrer gro\u00dfen Legitimation immer noch Demos organisieren und teils die Polizei zum R\u00fcckzug von den Stra\u00dfen zwingen kann. Dabei hat die Mobilisierungsf\u00e4higkeit der feministischen Bewegung mit zunehmender Repression und Austritt aus der Istanbuler Konvention nicht abgenommen, sondern zugenommen. Die HDP ist zwar durch den autorit\u00e4ren Dauerbeschuss kaum mehr handlungsf\u00e4hig, bleibt aber weiterhin standhaft; auch in Wahlumfragen bleibt sie weiterhin stabil bei um die 10%. Der Kampf der Anwaltskammern gegen die regimefreundliche Reform derselben letzten Jahres wie auch der geradezu heroische Kampf der \u00c4rztekammer f\u00fcr eine populare Pandemiepolitik und gegen die Verdrehungen und Inhumanit\u00e4t des Regimes unter den widrigsten Umst\u00e4nden zeigen, dass es auch in und durch organisierte Korporationen \u2013 \u00dcberreste des fordistischen Erbes in der T\u00fcrkei \u2013 Widerstand gegen den Autoritarismus m\u00f6glich ist.
Auch angesichts dieser K\u00e4mpfe und anderen wichtigen politischen Fragen ist regelm\u00e4\u00dfig eine mehr oder minder starke beziehungsweise absolute Mehrheit der Bev\u00f6lkerung anderer Meinung als das Regime: Eine absolute Mehrheit der Bev\u00f6lkerung lehnt den Austritt aus der Istanbuler Konvention ab; eine absolute Mehrheit lehnt die staatlichen Profitgarantien f\u00fcr die zahlreichen \u201eMegaprojekte\u201c (Br\u00fccken, Tunnel, Flugh\u00e4fen, usw.) ab und unterst\u00fctzt deren Verstaatlichung; eine Mehrheit lehnt auch den Kanal Istanbul ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass es keine politische Einmischung in die Universit\u00e4ten geben und diese ihre Rektor*innen selber w\u00e4hlen sollten und unterst\u00fctzt den Protest an der Bo\u011fazi\u00e7i-Universit\u00e4t; ebenso eine absolute Mehrheit lehnt jedwede Beschr\u00e4nkung des Verfassungsgerichtes ab; eine absolute Mehrheit bevorzugt Laizismus statt \u201edie Scharia\u201c (81% gg. 18%); eine Mehrheit lehnt die Enteignung des Gezi-Parkes und seine \u00dcberf\u00fchrung in ministeriales Eigentum ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass die Erkl\u00e4rung der Admir\u00e4le zum Vertrag von Montreux keinen Putschversuch darstellt; und nicht zuletzt findet eine Mehrheit die von der Opposition betriebene Skandalisierung der Verschleuderung der TCMB-Reserven richtig.
Angesichts der autorit\u00e4ren Furie, wie sie in der T\u00fcrkei w\u00fctet, ist dieses Niveau an Widerstand, K\u00e4mpfen und abweichender politischer Meinung der Bev\u00f6lkerungsmehrheit beachtlich. Der LKW-Fahrer, der bei einem Besuch der oppositionellen CHP \u00fcber die \u00f6konomische Misere seines Berufsstandes klagt und dann spontan vor laufender Kamera explodiert: \u201eBruder, lass\u2019 mal br\u00fcllen wie ein L\u00f6we. Mein verehrter Bruder, hau doch mal die Faust auf den Tisch und br\u00fcll mal. Es geschieht Unrecht, die Menschen hier leiden, den Menschen geht es schlecht, sie sind hungrig\u201c, hat schon viel in Kauf genommen. Es bedarf viel Mut, eine solche Kampfansage in der heutigen T\u00fcrkei vor laufender Kamera abzulassen.
An Kampfbereitschaft und Mut fehlt es wahrlich nicht. Aber die K\u00e4mpfe finden nur selten zu einer relativ geeinten politischen Form und Perspektive zusammen.
Das Potenzial atomisierter und demobilisierter Proteste und individueller Kampfbereitschaft bleibt aber notwendig beschr\u00e4nkt und tendenziell offen f\u00fcr eine reaktion\u00e4re Degeneration, Hoffnungslosigkeit, Kapitulation vor dem Herrschenden und/oder R\u00fcckzug. Angesichts dessen verfolgt die b\u00fcrgerliche Opposition eine sehr etatistische Form der Politik. Die N\u00e4he bis hin zu Identit\u00e4t der b\u00fcrgerlichen Opposition zur/mit der Regierung bez\u00fcglich der \u201ekurdischen Frage\u201c habe ich schon erw\u00e4hnt. Auch in allen Angelegenheiten, die als \u201estaatlich\u201c akzeptiert sind, wie beispielsweise die grunds\u00e4tzliche Vorstellung einer Substanz und Einheit des Staates und die Verteidigung seiner Institutionen (inklusive des Pr\u00e4sidialamtes!) und Interessen nach Au\u00dfen, steht die b\u00fcrgerliche Opposition Seite an Seite mit dem Regime (oder fordert sogar ein noch h\u00e4rteres Vorgehen). Sie stimmen damit de facto zu, wenn wichtige Wortf\u00fchrer*innen des Regimes die Unterscheidung machen in Regierungsangelegenheiten, bei denen man durchaus unterschiedlicher Meinung sein k\u00f6nne, und Staatsangelegenheiten, bei denen Einheit gefordert sei. Dabei gibt es nat\u00fcrlich nicht einen \u201eheiligen Geist des Staates\u201c, der zeitlos durch Raum und Zeit west, wie es Peker und viele vor ihm behaupteten. Die Anrufung einer mystischen \u201eEssenz des Staates\u201c ist allerdings ein Mittel, um Zustimmung zu einer grunds\u00e4tzlich autorit\u00e4ren Vergesellschaftungsform zu generieren \u2013 etwas, worin sich in der Tat Regierende wie b\u00fcrgerliche Oppositionelle seit Gr\u00fcndung der Republik, ja seit dem sp\u00e4ten Osmanischen Reich einig sind. Insofern l\u00e4sst sich mit Fug und Recht von einer autorit\u00e4ren Staatstradition in der T\u00fcrkischen Republik sprechen.
Die b\u00fcrgerliche Opposition teilt aber auch den Aspekt der paternalistischen Mobilisierung, die der autorit\u00e4ren Staatstradition zueigen ist.
Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu so sehr wie Sedat Peker, Imamo\u011flu (CHP-B\u00fcrgermeister von Istanbul) so sehr wie Bah\u00e7eli, Meral Ak\u015fener so sehr wie die Revolverpresse des Regimes sind sich einig im Aufruf, dass die Menschen \u201eja nicht auf die Stra\u00dfe\u201c gehen oder zumindest \u201eMa\u00df und Zur\u00fcckhaltung\u201c in ihrem Protest wahren sollen, weil sonst alles au\u00dfer Kontrolle ger\u00e4t und Chaos das Land regiert. Als disziplinierend-mobilisierendes Element werden dazu verschw\u00f6rungstheoretische Ideologiefragmente \u201eas an intentionally deployed weapon of politics\u201c (S. 2) genutzt. \u201eJemand hat auf den Knopf gedr\u00fcckt\u201c und \u00e4hnliche S\u00e4tze sind politische Allgemeinpl\u00e4tze geworden, die implizieren, dass es ein \u2013 nat\u00fcrlich nie konkret zu identifizierendes \u2013 Mastermind (\u00fcst ak\u0131l) gibt, das laut Erdo\u011fan seit Gezi 2013 in den unzusammenh\u00e4ngendsten Ereignissen als das eine identische Subjekt wirkt, um die T\u00fcrkei durch wechselseitige Polarisierung und Aufhetzung der Bev\u00f6lkerung zu vernichten. Auch Sedat Peker wird von der Revolverpresse in diese Verschw\u00f6rung eingeordnet.
Nat\u00fcrlich gibt es kein Mastermind. Es ist das Regime selbst, das Polarisierung und Aufhetzung betreibt, um Alternativen zu unterdr\u00fccken und sich eine autorit\u00e4re Legitimationsbasis zu schaffen. In Kombination mit anderen Krisenelementen bringt dies aber auch eine Reihe nichtintendierter Effekte mit sich, wie sich versch\u00e4rfende au\u00dfenpolitische und soziale Antagonismen, Prekarit\u00e4t, usw., die durchaus wirklich zu einer Art von Kontrollverlust f\u00fchren, n\u00e4mlich zur Hegemoniekrise an sich. Das verschw\u00f6rungstheoretische Framing versucht blo\u00df, diese Hegemoniekrise disziplinierend zu organisieren. Denn wo hinter allem Unzusammenh\u00e4ngenden und allen Verwerfungen ein b\u00f6ser Mastermind zum Schaden Aller agiert und man nie wei\u00df, ob nicht auch etwas als Gut erscheinendes eigentlich dem B\u00f6sen dient, da macht sich eine passivierende \u00c4ngstlichkeit breit. Der Glaube daran w\u00e4chst, dass es der Lenkung durch die das Volk f\u00fchrenden Elite bedarf, welche allein kompetent den Kampf gegen dieses Mastermind ausfechten kann. \u201e[C]onspiracy isn\u2019t just a symptom of authoritarian politics, [\u2026] it imagines and prefigures that authoritarianism\u201c (S. 6), fasst G\u00f6knar im eben zitierten Artikel folgerichtig zusammen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Taktiken des Regimes, in dem die Bev\u00f6lkerung selbst organisiert partizipiert, ist der erfolgversprechendste Weg gegen die Pr\u00e4sidialdiktatur: Die Wahrnehmung der eigenen Wirkm\u00e4chtigkeit ist das beste praktische Gegenmittel gegen die verschw\u00f6rungstheoretische Disziplinierung im Allgemeinen, aber vor allem auch gegen die in der Diffusit\u00e4t des Alltagsverstandes verankerten, jahrzehntelang von den Herrschenden gef\u00f6rderten reaktion\u00e4ren Elemente wie den antikurdischen Rassismus oder die Unterst\u00fctzung f\u00fcr au\u00dfenpolitischen Chauvinismus.
Die b\u00fcrgerliche Opposition will dies aber offensichtlich nicht. Sie hofft darauf, durch die Exploitation reaktion\u00e4rer Sedimente im Alltagsverstand eine paternalistische Mobilisierung gegen das Regime zu organisieren, mit dem sie das Regime st\u00fcrzen und den \u00dcbergang zu einer restaurierten neoliberalen Hegemonie einleiten kann \u2013 ohne eine zu starke populare Partizipation zu riskieren, die bedeutend mehr als eine blo\u00dfe Restauration des Neoliberalismus auf die politische Agenda setzen k\u00f6nnte. Wie sehr die b\u00fcrgerliche Opposition das Regime st\u00fcrzen und wirklich abschaffen will, ist ohnehin an sich fragw\u00fcrdig. Der Chef der Hauptoppositionspartei CHP, Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, gab erneut zu verstehen, dass sie keine Abrechnung (devr-i sab\u0131k) mit der AKP-\u00c4ra und ihren Verbrechen vorhaben, sollten sie an die Macht kommen. \u00c4hnlich der schon erw\u00e4hnte stellvertretende Vorsitzende der IYI, Yavuz A\u011f\u0131ralio\u011flu, der \u201eunsere Freunde in der AKP, inklusive Herr Erdo\u011fan\u201c explizit nicht als Feinde, sondern als Konkurrenten unter dem Banner derselben Sache, \u201eNation und Heimat\u201c bezeichnete.
Unter dem Druck der Faschisierung sind auch Teile der Linken, allen voran starke Fraktionen innerhalb der HDP, auf eine Taktik der \u201eDemokratiefront\u201c umgeschwenkt, der zufolge die Zusammenarbeit aller \u201edemokratischer Parteien\u201c zwecks Sturz des Regimes Priorit\u00e4t hat. Die Linke, auch die HDP, w\u00e4re allerdings besser beraten, sich prim\u00e4r auf das zu konzentrieren, was sie von den b\u00fcrgerlichen Parteien unterscheidet: Eine Perspektive auf die \u00dcberwindung des Neoliberalismus im Sinne der popularen Klassen und eine umfassende Demokratisierung durch populare Massenmobilisierung und -partizipation. Ansonsten bleiben nicht nur die materiellen Bedingungen der M\u00f6glichkeit einer reaktion\u00e4ren Organisierung und Mobilisierung der popularen Klassen erhalten, sondern auch die ideellen und politischen \u2013 wie der antikurdische Rassismus, der militaristische Chauvinismus und dergleichen. Erst wenn das Volk selbst an der politischen Macht aktiv partizipiert und \u00fcber sein Geschick selbst entscheidet, werden die Bedingungen der M\u00f6glichkeit des Autoritarismus aufgehoben, so R\u0131za T\u00fcrmen, ehemaliger Richter der T\u00fcrkei am Europ\u00e4ischen Menschengerichtshof und linker Demokrat. Die revolution\u00e4ren Elemente innerhalb der Linken m\u00fcssen dabei zus\u00e4tzlich den Punkt stark machen, dass es nicht blo\u00df um Klientelkapitalismus und Neoliberalismus geht und dass strategisch die \u00dcberwindung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher letztlich der einzige Weg ist, die notwendigen (wenn auch nicht allein hinreichenden) Grundlagen f\u00fcr ein gutes Leben f\u00fcr die Bev\u00f6lkerungsmehrheit zu schaffen. Dass sich Linke priorit\u00e4r auf ihre Aufgaben konzentrieren, schlie\u00dft eine taktische Wahlzusammenarbeit, so denn Wahlen stattfinden sollten, nicht aus. Im Gegenteil: Erst dann, wenn die Linke ihre Aufgaben gut macht, kann sie bei einer m\u00f6glichen Wahlallianz eine Anerkennung linker Positionen erzwingen.
Das kurz- bis mittelfristige Ziel f\u00fcr Linke sollte sein, Erdo\u011fan zu st\u00fcrzen \u2013 aber unter Umst\u00e4nden, in denen die Linke so stark wie m\u00f6glich ist. Es w\u00e4re sogar w\u00fcnschenswert, wenn sie bei den n\u00e4chsten Wahlen einen selbstbewussten und eigenst\u00e4ndigen dritten Parteienblock im Unterschied zum Regimeblock wie zum Block der b\u00fcrgerlichen Opposition bilden k\u00f6nnte, anstatt direkt oder indirekt dem b\u00fcrgerlichen Oppositionsblock zuzuarbeiten. Nur durch organisatorische und ideologische Autonomie sowie einer erfolgreichen popularen Praxis kann die Linke Positionen erk\u00e4mpfen. Zusammenschl\u00fcsse wie Einheit f\u00fcr Demokratie (Demokrasi \u0130\u00e7in Birlik, D\u0130B), die sich aus Parteien und Organisationen, Bewegungen und Einzelpersonen zusammensetzen, versuchen gerade, solch eine populare Perspektive zusammen mit einer popularen Mobilisierung zu entwickeln.
Vielleicht sind wir derzeit an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr so sehr um die Frage geht, ob Erdo\u011fan st\u00fcrzt \u2013 sondern eher darum, wie er st\u00fcrzt und wie die T\u00fcrkei nach Erdo\u011fan aussehen wird. Diesem Kampf um die Zukunft der T\u00fcrkei sollten wir uns selbstbewusst und voll Lebensfreude stellen.
Anmerkungen:
[1] F\u00fcr die Entwicklungen und theoretischen Einsch\u00e4tzungen zu den Entwicklungen vor/bis September 2020 verweise ich auf meinen l\u00e4ngeren Analyseartikel \u201eVirus als Katalysator\u201c, ebenfalls hier im re:volt magazine erschienen. Ich werde die dort ausgef\u00fchrten Dinge hier nicht mehr ausf\u00fchrlich behandeln und auf permanente Verweise auf jenen Artikel verzichten; wo keine Quellen angegeben sind oder nicht weiter ausgef\u00fchrt wird, lassen sich Details in jenem Artikel nachlesen.
F\u00fcr viele wichtige inhaltliche Diskussionen und Literaturempfehlungen danke ich dem Arbeitskreis Social and Political History of Turkey. Besonderer Dank gilt dabei Axel Gehring und Svenja Huck f\u00fcr wichtige inhaltliche und formale Kommentare. Ganz besonderen Dank zudem an Johanna Br\u00f6se f\u00fcr eine sehr genaue inhaltliche und sprachliche Redaktion des gesamten Artikels. Was w\u00e4re der Artikel nur ohne dich und deine Arbeit? F\u00fcr alle Fehler, Fehleinsch\u00e4tzungen und Verr\u00fccktheiten, die weiterhin im Artikel geblieben sind, bin nat\u00fcrlich nur ich verantwortlich. Gedankt sei auch Jo aus dem re:volt-Kollektiv f\u00fcr die meines Ermessens sehr treffende Collage, die als Titelbild des Artikels fungiert.
[2] Ein in der Zwischenzeit vorlegter Rechenschaftsbericht des Finanzministeriums nennt fast identische Zahlen: 2,4%/BIP direkte Ausgaben, 9,3%/BIP Kredite usw. Siehe T.C. Hazine ve Maliye Bakanl\u0131\u011f\u0131, Kamu Maliyesi Raporu 2021-I, Mai 2021, S. 30.
[3] Minibusse sind kleinere Busse, die etwa 10-20 Sitz- und 5-10 Stehpl\u00e4tze haben und eines der meistgenutzten Fortbewegungsmittel in der T\u00fcrkei darstellen.
[4] Sind die Zinsen niedriger als die Inflationsrate, spricht man von realem Negativzins. Das hei\u00dft die Zinsen sind \u2013 egal ob sie nominell positiv, das hei\u00dft \u00fcber 0% liegen \u2013 real negativ, da sie unterhalb des Niveaus der Preissteigerung verbleiben. Jeder, der zu realem Negativzins investiert, betreibt also im Normalfall ein Verlustgesch\u00e4ft. Im betreffenden Fall ist ein realer Negativleitzins der TCMB daher ein sehr starker negativer Investitionsimpuls f\u00fcr ausl\u00e4ndisches Kapital. Anders sieht es beispielsweise bei bundesdeutschen Staatsanleihen aus, die ebenfalls einen realen Negativzins abwerfen. Da sie jedoch gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft und im Unterschied zur T\u00fcrkei als stabil und als sicherer Hafen gelten, investieren Finanzmarktakteur*innen durchaus in sie um diese dann beispielsweise als Sicherheiten f\u00fcr weitere Finanzgesch\u00e4fte zu nutzen.
[5] Bei einem W\u00e4hrungs- oder Devisenswap werden Mengen zweier W\u00e4hrungen wechselseitig getauscht, um in Zukunft wieder r\u00fcckgetauscht zu werden. Die TCMB beispielsweise nutzt solche Swaps, um kurzfristig an dringend notwendige Devisen heranzukommen. Damit verschiebt sich das Problem des Devisenmangels in die Zukunft.
[6] Da die t\u00fcrkische Wirtschaft bei wesentlichen Inputs an Importe gebunden bleibt, wirkt sich nat\u00fcrlich ein Wertverfall der Lira unmittelbar auf die Inflation aus und zieht regelm\u00e4\u00dfig eine Steigerung derselben mit sich. So wurde dann zwar nach den desastr\u00f6sen 1990ern, als die TCMB noch eine Fokussierung auf einen fixen TL-Wert hatte und inmitten der Transformationskrisen zum regulierten Neoliberalismus und spekulativer Attacken im Prinzip handlungsunf\u00e4hig wurde, die Wechselkursfokussierung der TCMB aufgegeben im Sinne einer Preisstabilit\u00e4tsfokussierung. Da letzteres aber ebenfalls eine gewisse Stabilit\u00e4t des Wechselkurses voraussetzte, intervenierte die TCMB wo n\u00f6tig nat\u00fcrlich auch in den Devisenmarkt, so beispielsweise 2004-05. Aber das waren noch gute Zeiten, da war das Akkumulationsregime noch nicht fundamental krisenhaft, sondern wurde nur zyklisch negativ affiziert von volatilen internationalen Finanzstr\u00f6men.
[7] Was Zinshebungen in den USA und daher Kapitalabfl\u00fcsse aus der Peripherie in die USA wahrscheinlich machte und daher trotz orthodox-neoliberaler Geldpolitik des t\u00fcrkischen Zentralbankchefs zu einem Fall des Wertes der TL f\u00fchrte. Auch die beste Wirtschaftspolitik kann im Regelfall die strukturellen Defizite eines spezifischen Akkumulationsmodells nicht beheben, in diesem Fall die abh\u00e4ngige Finanzialisierung der t\u00fcrkischen Wirtschaft.
[8] \u00dcblicherweise werden die Steigerungen der Verbraucherpreise als offizielle Inflationsrate angegeben. Produzentenpreise hingegen bezeichnen die Preise, die Produzenten f\u00fcr ihre Inputs bezahlen. Wegen der Importabh\u00e4ngigkeit der t\u00fcrkischen Wirtschaft und dem Fall des Wertes der Lira ins Bodenlose sind die Produzentenpreise um mehr als 40% gestiegen, weit mehr als die Verbraucherpreise. Das hei\u00dft letztlich, dass die Kosten der Unternehmen viel st\u00e4rker steigen als die Preise, zu denen sie ihre Waren verkaufen k\u00f6nnen. Auf kurz oder lang werden also Bankrotte folgen oder eine Anpassung der beiden divergierenden Preisentwicklungen stattfinden, das hei\u00dft die sich schon beschleunigende Steigerung der Verbraucherpreise.
[9] Ich nutze damit den Begriff etwas anders als Carl Schmitt, der ihn als ein metaphysisches Letztbegr\u00fcndungsprinzip jeder Rechtsordnung, egal ob liberal oder monarchisch oder sonst wie, verstanden wissen will und ihn zudem normativ positiv aufl\u00e4dt. Daher die Charakterisierung von Schmitt als proto-faschistisch. Ich nutze den Begriff als Analysetool f\u00fcr eine m\u00f6gliche Strukturierung eines gegebenen politischen Systems (im betreffenden Fall der T\u00fcrkei), zudem sicherlich ohne eine normative Aufwertung.
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