Chance oder Schrecken: Freihandel in Afrika
\nIm 21. Jahrhundert erlebt der Panafrikanismus eine Renaissance. Seine Tradition reicht zur\u00fcck bis ins 18. Jahrhundert. Er war zentraler Bestandteil der Bewegungen, die in den 1960\u2018er Jahren in teils blutigen K\u00e4mpfen die Unabh\u00e4ngigkeit vieler afrikanischer L\u00e4nder erreichen sollten. Der wichtigste Standpunkt, den die Denker*innen des Panafrikanismus vertraten, war die Ansicht, dass die Befreiung des afrikanischen Kontinents von Kolonialismus und Imperialismus mit dem Schicksal Schwarzer Menschen verkn\u00fcpft ist, die weltweit unter Rassismus leiden. Aus der Erkenntnis, dass Schwarze Menschen besonders entrechtet und von kapitalistischer Ausbeutung betroffen waren, folgte f\u00fcr die radikalsten unter ihnen konsequenterweise eine antikapitalistische und antiimperialistische Haltung. Doch statt eines Panafrikanismus in Gestalt einer antikolonialen Massenbewegung mit sozialistischer Perspektive und Verankerung in den Gewerkschaften anzustreben, ernennen ihn nun Banken, Gro\u00dfkonzerne und Staatsf\u00fchrungen h\u00f6chst selbst zu ihrer historischen Mission.
Grenzenlose Wirtschaftsabkommen
Das African Continental Free Trade Agreement (AfCFTA) ist der neueste Ausdruck dieser Entwicklung. Das Abkommen, dem sich 54 der 55 afrikanischen Staaten angeschlossen haben und das bereits von 27 dieser Staaten ratifiziert wurde, schafft die bisher gr\u00f6\u00dfte Freihandelszone der Welt. Sie umfasst bis zu einer Milliarde Menschen.
In den letzten Jahren hatten vor allem Abkommen zwischen europ\u00e4ischen und afrikanischen Staaten Aufmerksamkeit erregt, deren Ziel es war, Grenzen zu schlie\u00dfen und Migration nach Europa einzud\u00e4mmen. Ein Beispiel daf\u00fcr war der 2015 ausgehandelte Khartoum-Deal, mit dem sich die EU den \u201aSchutz\u2018 vor Gefl\u00fcchteten erkaufen wollte. In diesem neueren Abkommen nun sollen G\u00fcter, Kapital sowie (einige) Menschen von uneingeschr\u00e4nkter Mobilit\u00e4t profitieren. Das beinhaltet den Abbau von Zollschranken, was f\u00fcr den innerafrikanischen Handel ein prognostiziertes Wachstum von mehr als f\u00fcnfzig Prozent bedeuten k\u00f6nnte. Im Falle der Entfernung nicht tarif\u00e4rer Handelshemmnisse steht sogar noch ein umfangreicheres Wachstum zur Debatte.
Gen\u00fcgend dieser Regierungen wissen die Freiheit ihrer V\u00f6lker allerdings nur dann zu sch\u00e4tzen, solange sie sich in den von ihnen gew\u00fcnschten Bahnen bewegt. Denn ohnehin misst sich der Grad der pers\u00f6nlichen Freiheit im Kapitalismus an der H\u00f6he des verf\u00fcgbaren Geldes. Eine neoliberale Ma\u00dfnahme wie das beschlossene AfCFTA kann so die Rhetorik der afrikanischen Einheit nutzen, um ein weiteres Mal den Abgrund zwischen Armut und Reichtum zu vergr\u00f6\u00dfern. Denn grenzenlose Konkurrenz ist ein wirkungsvoller Mechanismus, um den Lebensstandard der Massen in einer Abw\u00e4rtsspirale weiter Richtung Elend zu dr\u00fccken.
Folgerichtig haben beispielsweise Gewerkschaften und die Labour Party in Nigeria gegen die Unterzeichnung und die negativen Auswirkungen auf die Lage der Lohnabh\u00e4ngigen protestiert. Tats\u00e4chlich hat die Regierung Nigerias bereits nach kurzer Zeit unter dem Vorwand, Schmuggel zu bek\u00e4mpfen, die Grenzen zu Benin, Niger und Kamerun geschlossen und somit die M\u00f6glichkeit zu Handeln, ausgesetzt. Davon sind vor allem kleine H\u00e4ndler*innen entlang der Transitrouten betroffen. Dabei handelt es sich bei Nigeria noch um eines der afrikanischen L\u00e4nder, dessen Wirtschaftsleistung vom Abkommen tendenziell profitieren k\u00f6nnte. In vielen anderen L\u00e4ndern, deren Regierungen das Abkommen unterzeichneten, sieht dies anders aus. Was kann also f\u00fcr linke und revolution\u00e4re Kr\u00e4fte unter diesen Umst\u00e4nden ein Umgang mit dem unvermeidlichen Abkommen sein?
Von Panafrikanismus zu afrikanischem Kapitalismus
Abayomi Azikiwe, Mitglied der Workers World Party und Herausgeber des Pan-African News Wire, eines t\u00e4glich aktualisierten Nachrichtendienstes, erinnert daran, dass die Umsetzung der Ziele des Panafrikanismus in der Vergangenheit von der Aus\u00fcbung sozialistischer Methoden der Planung und Organisation abhingen. Gerade deshalb erscheint es umso abwegiger, dass eine progressive Entwicklung nun von einer Reihe von Staatschefs eingeleitet werden k\u00f6nnte, die sich und ihre Verb\u00fcndeten in der Vergangenheit bereits umfassend mit Anteilen an den wichtigsten afrikanischen Unternehmen und deren Profiten versorgt haben. Azikiwe stellt daher richtigerweise die Frage, ob und inwiefern (Land)Arbeiter*innen und die Jugend \u00fcberhaupt vom AfCFTA profitieren k\u00f6nnen.
Der panafrikanische Intellektuelle Georges Nzongola-Ntalaja, von dem bedeutende Essays \u00fcber die Klassenk\u00e4mpfe und die nationale Frage in Afrika stammen, pr\u00e4gte den Begriff der \u201eBalkanisierung\u201c des afrikanischen Kontinents \u2013 die \u201eBalkanisierung\u201c stelle gleichsam ein Projekt der imperialistischen M\u00e4chte, wie auch der regionalen aufstrebenden kleinb\u00fcrgerlichen Elite dar. Zu deren zentralem Anliegen, so Nzongola-Ntalaja, z\u00e4hlte es, die sozialistische Bewegung einzud\u00e4mmen. Das Kleinb\u00fcrgertum der historisch neu gegr\u00fcndeten Staaten konnte darauf hoffen, nach der formalen Unabh\u00e4ngigkeit endlich an die Schaltstellen der Macht zu gelangen. Eine nationale Befreiung, so wie sie auf dem Programm der marxistischen und radikaleren panafrikanistischen Organisationen zu finden war, stellte hingegen, neben der profitorientierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung, auch die kolonialen Grenzziehungen in Frage. Man strebte einen Zusammenschluss im Rahmen von regionalen, bis kontinentalen F\u00f6derationen an. Die postkoloniale Realit\u00e4t machte unterdessen den b\u00fcrgerlichen Nationalstaat mitsamt Staatseigentum zu pers\u00f6nlichen Wohlstandsquellen. Die elit\u00e4re B\u00fcrokratie an der Macht lernte, besonders effizient die Kassen zu pl\u00fcndern und sich gegenseitig Positionen in Staatsunternehmen zuzuschieben. Enteignungen von Land wurden oft als propagandistische Mittel eingesetzt und kamen am Ende nicht den besitzlosen Massen zugute.
Bis heute konnte also weder das Problem der kolonialen Grenzziehung noch die damit einhergehende nationale Frage gel\u00f6st werden. Die daraus resultierenden Folgen dr\u00fccken sich vielerorts in der Unterdr\u00fcckung nationaler Minderheiten aus, oder in der ungel\u00f6sten Landfrage, wie die j\u00fcngste Diskussionen um das geraubte und von Wei\u00dfen besetzte Land in Namibia, Zimbabwe oder S\u00fcdafrika zeigt.
Zwischen haushohen Glasfassaden und prek\u00e4rer Subsistenzwirtschaft
Ein weiteres Problem der afrikanischen Wirtschaft, das bereits der Revolution\u00e4r und Intellektuelle Adbulrahman Mohamed Babu in seinem Buch African Socialism or Socialist Africa herausgearbeitet hat, ist die Inkoh\u00e4renz von Landwirtschaft und Industrie. Statt des Aufbaus von Wirtschaftszweigen, die produktiv ineinandergreifen, werden die nationalen \u00d6konomien auf den Export von Rohstoffen orientiert. Fertige Produkte m\u00fcssen oftmals importiert werden. Eine notwendige Entwicklung, die Babu in den 1960er Jahren im Kontext der revolution\u00e4ren Phase f\u00fcr Zanzibar anstrebte, w\u00e4re dahingegen die Ausrichtung der Wirtschaft auf die Weiterverarbeitung gef\u00f6rderter Rohstoffe und geernteter Landwirtschaftserzeugnisse. Au\u00dferdem ginge es um die Produktion von Produktionsmitteln, also die Fertigung von Maschinen. Unproduktive Branchen wie der Tourismus k\u00f6nnen zwar in kurzer Zeit finanzielle Mittel erwirtschaften, sind jedoch ihrerseits unf\u00e4hig, selbst die Wirtschaft zu entwickeln und aus der Abh\u00e4ngigkeit zu befreien. Zwischen dieser wirtschaftlichen Stagnation einerseits und den europ\u00e4isierten Glasfassaden der gigantischen B\u00fcrogeb\u00e4ude multinationaler Konzerne andererseits befinden sich Millionen Menschen auf dem Niveau der Subsistenzwirtschaft und der prek\u00e4ren Besch\u00e4ftigung im informellen Sektor.
In seinem Buch Die heimliche Kolonialmacht hat der \u00d6konom Rainer Falk die Beweggr\u00fcnde und Entstehung der Entwicklungshilfe nachvollzogen. Seit den Zeiten der antikolonialen Befreiungsbewegungen war es den westlichen Industriestaaten ein Anliegen, die schlimmsten Konsequenzen der globalisierten Marktwirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent abzufedern und zu gleicher Zeit bessere Voraussetzungen f\u00fcr diese zu schaffen. Dem idealistischen Modell der europ\u00e4ischen Demokratie nachempfunden, sollte f\u00fcr diese Zwecke mittels der Entwicklungshilfe eine mit dem Ordnungsinteresse des Staates verbundene Mittelschicht von Kleinunternehmen geschaffen werden. Die Exponent*innen dieser Klasse sollten ihre Interessen nicht im nationalen Befreiungsprojekt einer marxistischen Guerilla, sondern in korrupten Polizeitrupps vertreten sehen. Ein Freihandelsabkommen wie das AfCFTA erm\u00f6glicht dieser Klasse letztlich mehr Zugriff auf geeignetere Ressourcen, billigere Arbeitskraft und gr\u00f6\u00dfere Absatzm\u00e4rkte. Realistisch betrachtet allerdings nur kurz- bis mittelfristig, bevor diese mit gr\u00f6\u00dfter Wahrscheinlichkeit n\u00e4mlich unter dem Druck der multinationalen afrikanischen Kapitalist*innen und der restlichen imperialistischen Konkurrenz zusammenbrechen wird.
Zunehmende soziale Polarisierung
Es bedarf einer klaren Sicht, die diese liberalen Illusionen als solche erkennt und deutlich herausstellt. Ein Freihandelsabkommen wie das AfCFTA, das f\u00fcr die Bed\u00fcrfnissen der Elite ma\u00dfgeschneidert wurde, ist nicht in der Lage, eine progressive Antwort auf die soziale Frage in den afrikanischen Staaten zu geben. Es ist dazu vorbestimmt, von den inneren Widerspr\u00fcchen der verschiedenen \u00d6konomien ausgehend, zu noch mehr sozialer Polarisierung zu f\u00fchren. Die Situation der Massen, die noch immer von Subsistenzwirtschaft lebt und unter dem Druck der internationalen Wirtschaft leidet, kann so nur verschlechtert werden. W\u00e4hrenddessen besteht die Gefahr, dass ein besserer Zugriff der Unternehmen auf M\u00e4rkte und Arbeitskraft dazu f\u00fchrt, dass die gigantische Kluft zwischen Armut und \u00fcberbordendem Reichtum noch gewaltiger wird. Das Abkommen dient denjenigen, die schon jetzt profitieren als Mittel, sich noch weitere Vorteile zu beschaffen. Die gleichen Voraussetzungen, die dazu f\u00fchrten, dass zur Bew\u00e4ltigung der Schuldenkrise in der EU die Troika aus Europ\u00e4ischer Zentralbank (EZB), Internationalem W\u00e4hrungsfonds (IWF) und der Europ\u00e4ischen Kommission \u2013 mit der BRD am Abzug \u2013, Griechenland, Spanien und Irland brutale Sparprogramme auferlegte, drohen sich nun als scheinbar fortschrittliche Inszenierung der Solidarit\u00e4t der afrikanischen Wirtschaft zu bem\u00e4chtigen. Wom\u00f6glich wird sich dann im Rahmen der n\u00e4chsten Krise das Dilemma der nationalen Schulden wiederholen und eine noch m\u00e4chtigere Welle der Privatisierung um sich greifen. Diesmal allerdings nicht als Trag\u00f6die, sondern als Farce.