Alles blo\u00df Taktik?
\nDas Titelbild des Artikels zeigt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dieses Gericht wird zu einem noch nicht feststehenden Termin \u00fcber die Klage entscheiden, welche die AdressatInnen der Verbotsverf\u00fcgung gegen das Verbot der linken Internet-Plattform linksunten.indymedia erhoben haben. F\u00fcr den Samstag vor Beginn der m\u00fcndlichen Verhandlung wird f\u00fcr eine Tag (((i))) -Demonstration mobilisiert. Im Folgenden wird das Streitgespr\u00e4ch fortgef\u00fchrt, bei dem in Teil eins vor allem Fragen der Repression und das Verh\u00e4ltnis von Handlung und Meinung diskutiert wurden.
\u201eButter bei die Fische\u201c: Was sagen wir dem Gericht
Detlef Georgia: Kommen wir im zweiten Teil doch mal zur\u00fcck ins Hier und Heute. Du, Achim, meintest ja: \u201eTaktisch und im Hinblick auf politische Prozesse ist es aber notwendig, die bestehenden Widerspr\u00fcche (auch in den Rechtsauffassungen) auszunutzen und f\u00fcr m\u00f6glichst gro\u00dfe (politische) Freiheitsrechte einzutreten. [\u2026].\u201c Und dann sagst du weiter, sinngem\u00e4\u00df: Selbst, wenn dies der liberalen Rechtsauffassung widerspricht, w\u00e4re es politisch falsch und gef\u00e4hrlich, dem b\u00fcrgerlichen Staat seine \u201aeigenen\u2018 liberalen Rechtsgrundlagen entgegenzuhalten. Es w\u00fcrde Illusionen verbreiten. Vielmehr solle doch klargemacht werden, dass Rechtsprechung in der b\u00fcrgerlichen Gesellschaft fast ausnahmslos einen Klassencharakter hat. Das hat f\u00fcr uns ja unmittelbar Relevanz: Wir diskutieren das Thema ja deshalb, weil uns die Berliner Staatsanwaltschaft beim Landgericht wegen unserer linksunten.indymedia-solidarischen Erkl\u00e4rung vom 31.08.2017 angeklagt hat. Sagen wir dem Landgericht also: \u201eRein taktisch w\u00fcrden wir uns freuen, wenn Sie uns freisprechen. Aber in Wirklichkeit wissen wir, dass das weitgehend illusorisch ist \u2013 vor allem glauben wir selbst nicht an die juristischen Argumente, die wir beziehungsweise unsere Anw\u00e4lte vortragen. Denn wir wissen, als revolution\u00e4re MarxistInnen und Adorno-LeserInnen: \u201ajegliche Rechtsprechung [hat] (oder [\u2026 hat] zumindest \u00fcberwiegend) in der b\u00fcrgerlichen Gesellschaft immer einen Klassencharakter\u2019.\u201c \u2013 Ist das Dein Vorschlag f\u00fcr unsere Prozessstrategie? Oder ist Dein Vorschlag, im Gericht das eine und vor dem Gericht das andere zu erz\u00e4hlen?
Achim: Weder noch. Im Gericht sind wir gezwungen, im Rahmen der gesetzlichen Legalit\u00e4t zu argumentieren \u2013 die aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum hat. Aber vor dem Gericht k\u00f6nnen wir diese gesetzliche Legalit\u00e4t noch in einen gr\u00f6\u00dferen politischen und historischen Rahmen stellen. Also etwas von beidem.
Peter: Wir sollten vor Gericht wie auch davor sagen, dass wir mit linksunten.indymedia ein Medium verteidigen, in dem wir publiziert haben. Wir w\u00fcrden ja auch eine gedruckte Zeitung verteidigen, in der wir publiziert haben, wenn sie verboten w\u00fcrde. Wir bestreiten die These des Gerichts, dass wir einen verbotenen Verein unterst\u00fctzen. linksunten.indymedia war ein Medium und kein Verein, wir kennen keinen Verein. Das w\u00fcrde ich vor dem Gericht, aber auch auf Veranstaltungen sagen. Da sehe ich keinen Widerspruch.
Achim: Inhaltlich stimme ich dieser Aussage zu, w\u00fcrde aber noch anmerken, dass das ja nicht die These des Gerichts ist, sondern des Bundesinnenministeriums (im folgenden BMI, Anm. Red.) und folglich der Staatsanwaltschaft. Ich bin nicht sicher, ob \u201ejuristische Naivit\u00e4t\u201c (einfach zu sagen, wir haben von keinem Verein gewu\u00dft) eine gute Verteidigungsstrategie ist \u2013 will aber nicht in Abrede stellen, dass sie auch mal funktionieren k\u00f6nnte.
Detlef Georgia: Das Argument von Peter w\u00e4re ja nicht, dass wir nicht wussten (juristisch gesprochen: eine Frage des subjektiven Tatbestandes), dass es um einen Verein geht. Der entscheidende Punkt ist vielmehr: Wir haben uns in unserem Text vom 31.08.2017 ausschlie\u00dflich zu einem Medium ge\u00e4u\u00dfert. Und das w\u00e4re ein Aspekt, der in Bezug auf den objektiven Tatbestand des \u00a7 20 VereinsG relevant ist, in dem es ausschlie\u00dflich um Vereine, aber nicht um Medien geht. Dieses Medium, zu dem wir uns in der Tat ge\u00e4u\u00dfert haben, mag von einem Verein herausgegeben worden sein oder auch nicht. Mit dieser Frage (vereinsf\u00f6rmige HerausgeberInnen \u2013 ja oder nein?) hatten wir uns am 31.08.2017 aber gar nicht befasst.
Auf alle F\u00e4lle wussten wir, dass das BMI von Existenz eines Vereins ausgeht \u2013 aber dazu haben wir uns in unserem Text gar nicht ge\u00e4u\u00dfert: Erstens, weil das f\u00fcr uns nur ein Nebenaspekt ist. Zweitens, weil wir tats\u00e4chlich nicht wissen, wie die Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der linksunten-HerausgeberInnen ablief und das auch gar nicht beurteilen k\u00f6nnen. Die Hauptpunkte sind meines Erachtens Pressefreiheit und Zensurverbot, nicht der Vereins-Begriff.
Peter: Genau so w\u00fcrde ich das auch sehen. Ich w\u00fcrde da auch nicht von einer Naivit\u00e4t gegen\u00fcber der Justiz sprechen, sondern vielmehr von unserer Position, die wir ihrer Position entgegensetzen. Es w\u00e4re naiv, wenn wir da von Waffengleichheit ausgehen w\u00fcrden, aber das tun wir alle drei nicht. Es ist aber nicht naiv, den eigenen Standpunkt offensiv auch vor Gericht zu vertreten, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir damit Erfolg haben. Das haben ja zum Beispiel die Gerichtsprozesse gegen die Bewohner*innen der Rigaer Stra\u00dfe 94 gezeigt.
Rechtstheorie mit Adorno oder mit Althusser?
Detlef Georgia: Gut, dann vom Juristischen und Prozessstrategischen zum grunds\u00e4tzlich Gesellschafts- und Staatsanalytischen. Du, Achim, schreibst in dem Text, den wir ja zu einem der Ausgangspunkte dieses Gespr\u00e4chs gemacht haben: \u201e\u201aDemokratie\u2019 unter dem \u201atotalit\u00e4ren\u2019 Kapitalverh\u00e4ltnis reduziert sich im Kern und in letzter Analyse auf den vorauseilenden (verinnerlichten) Gehorsam zur \u201aSelbstverwertung\u2019 und der Affirmation der ihr entsprechenden Bewusstseinsformen.\u201c Das mag Adorno so sehen, wie du durch dein einleitendes Adorno-Zitat hervorhebst. Das m\u00f6gen auch andere Hegel-MarxistInnen so sehen. Mich \u00fcberzeugt aber eher der Antideterminismus Althussers, der sagte, die Stunde der letzten Instanz schlage nie, sondern die letzte Instanz sei nur eine Tendenz [1]. Und zwei Hinweise von Lenin:
Hinweis 1: \u201eDie Einheit (Kongruenz, Identit\u00e4t, Wirkungsgleichheit) der Gegens\u00e4tze ist bedingt, zeitweilig, verg\u00e4nglich, relativ. Der Kampf der einander ausschlie\u00dfenden Gegens\u00e4tze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.\u201c [2]. In der wirklichen Geschichte gibt es \u2013 anders als vor Gericht \u2013 nie eine letzte Instanz; Revision und Berufung bleiben immer m\u00f6glich. Auf eine Revolution kann die Konterrevolution folgen, aber auch nach-revolution\u00e4re \u00dcbergangsgesellschaften, die sich wirklich in Richtung Kommunismus bewegen, bleiben \u2013 trotz aller Tristesse \u2013 m\u00f6glich (ohne auch nur ann\u00e4hrend garantiert zu sein).
Hinweis 2: \u201eIdentit\u00e4t der Gegens\u00e4tze (vielleicht richtiger: deren \u201aEinheit\u2019? [\u2026]) bedeutet Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschlie\u00dfender, gegens\u00e4tzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorg\u00e4ngen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft).\u201c [3] Ergo: Wir haben es nicht mit einer homogenen Totalit\u00e4t, sondern \u2013 mit Althusser gesprochen \u2013 mit einem \u201ekomplex, strukturierten Ganzen\u201c [4] zu tun, das aus verschiedenen \u201eInstanzen\u201c mit je \u201eeigene[r] Konsistenz und Wirksamkeit\u201c [5] besteht.
Achim: Mir war selbst nicht ganz wohl bei der Formulierung dieses Satzes. Er \u00fcbert\u00f6nt zu sehr die Tatsache, dass das Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnis st\u00e4ndig neu diskursiv ausgehandelt werden muss. Es ist also ein bisschen reduktionistisch \u2013 aber \u00dcberspitzungen k\u00f6nnen ja auch Erkenntnisse hervorrufen. Es wird dich vielleicht \u00fcberraschen, Detlef Georgia, aber ich bin n\u00e4her bei deinem (und Althussers) \u201aAnti-determinismus\u2019 als bei irgendwelchen \u201ahistorischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten\u2019. F\u00fcr mich ist letzteres eher ein falsch verstandener [Vulg\u00e4r]Marxismus. Gleichzeitig kann ich eben auch nicht (mehr) ignorieren, dass die strukturellen Zw\u00e4nge quasi wie ein historischer Determinismus wirken. Sie kommen mir \u00fcberm\u00e4chtig vor, und die politische Linke wirkt immer schw\u00e4cher und hilfloser. Sie zerlegt sich in gef\u00fchlt tausende Fraktionen und Unterfraktionen. Vielleicht ist das die Kehrseite dieser Schw\u00e4che.
\u00dcber b\u00fcrgerliches Recht
Detlef Georgia: Noch etwas Rechtstheoretisches: Achim, du zitierst in dem erw\u00e4hnten Text Adorno mit den Worten: \u201eRecht ist das Urph\u00e4nomen irrationaler Rationalit\u00e4t. In ihm wird das formale \u00c4quivalenzprinzip zur Norm, alle schl\u00e4gt es \u00fcber den selben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub.\u201c [6] Im Ernst? Das \u2013 im Grundsatz \u2013 gleiche Recht des b\u00fcrgerlichen Staates ist schlimmer als das \u2013 von vornherein \u2013 ungleiche Recht des Feudalstaates und des Staates von SklavInnenhalterInnen-Gesellschaften? Ich w\u00fcrde demgegen\u00fcber sagen: Das ungleiche, vor-b\u00fcrgerliche Recht verdoppelte die herrschaftlichen und ausbeuterischen (\u201aungleichen\u2019) gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisse; das gleiche, b\u00fcrgerliche Recht hebt sie zwar nicht auf, aber relativiert sie.
Achim: Ich w\u00fcrde das b\u00fcrgerliche Recht nicht mit dem Recht in Feudalgesellschaften vergleichen wollen. Eher mit \u201apostkapitalistischen\u2019 Gesellschaften, und auch nur in diesem Kontext ergibt meines Erachtens die Kritik von Adorno einen (historischen) Sinn. ansonsten bin ich ganz bei Marx und seiner Rechtskritik aus der Kritik am Gothaer Programm. [7]
Detlef Georgia: Einerseits schiebst Du den \u201eich kann halt nicht (mehr) ignorieren, dass sich die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse in den letzten Jahren zunehmend zu Ungunsten der politischen Linken entwickelt haben\u201c-Blues; andererseits erschl\u00e4gst Du die Verteidigung des liberalen Strafrechts \u2013 als kleineres \u00dcbel \u2013 gegen\u00fcber Gesinnungsstrafrecht mit Hinweis auf die \u00dcberwindung der Rechtsform im Kommunismus zweiter Phase. Wo bleibt denn da Lenins Einsicht, dass \u201edie Form der Unterdr\u00fcckung\u201c nicht gleichg\u00fcltig ist, wie aber \u201emanche Anarchisten \u201alehren\u2019. Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdr\u00fcckung bedeutet f\u00fcr das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebung der Klassen \u00fcberhaupt.\u201c [8]
Achim: Ich spiele nicht beides gegeneinander aus. Ich wei\u00df sehr wohl, dass wir von jeglicher \u201e\u00dcbergangsgesellschaft\u201c sehr weit entfernt sind. Neben der notwendigen Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte muss meiner Ansicht nach auch ein gewisser \u201eLinker Rechtsfetischmus\u201c (der aber eher ein Problem des reformistischen Spektrums ist) kritisiert werden. Das war dann in meinem Artikel eben ein allgemeinerer Beitrag zur \u201emarxistischen Staats- und Rechtstheorie\u201c, der nicht direkt mit unserem Verfahren zu tun hatte.
\u201eKlassencharakter\u201c und \u201eKlassenwiderspruch\u201c im Rechts- und im Justizsystem
Detlef Georgia: Ich m\u00f6chte noch einen dritten rechtstheoretischen Punkt ansprechen. Achim schreibt: \u201eMan muss dazu sagen, dass erst die b\u00fcrgerliche Gesellschaft die Individuen als \u201aRechtssubjekte\u2019 geschaffen hat. Sie haben aber nur insofern Rechte, wie sie [abstrakt gleiche] Eigent\u00fcmer von Waren sind; und sei es die Ware Arbeitskraft. Kapitalistische \u00d6konomie und Rechtsverh\u00e4ltnisse sind die zwei Seiten derselben Medaille: die \u201ab\u00fcrgerliche\u2019 Vergesellschaftung (\u201aSynthese\u2019).\u201c Ist das wirklich so? Ist b\u00fcrgerliches Recht ausschlie\u00dflich Zivil- (oder noch enger: Vertrags)recht?
Achim: nat\u00fcrlich gibt es auch politische (Freiheits)rechte, aber immer nur so lange, wie sie systemkompatibel sind. Und nat\u00fcrlich ist b\u00fcrgerliche Demokratie besser als Faschismus. Aber letztlich ist es entscheidend, dass die sozialen Interessengegens\u00e4tze nicht innerhalb der b\u00fcrgerlichen Systemgrenzen befriedet werden k\u00f6nnen, zumindest nicht in langfristiger historischer Perspektive. Die b\u00fcrgerliche Demokratie ist daher keine \u201eEtappe\u201c, sondern eine (andere) Kampfbedingung f\u00fcr die emanzipatorischen Kr\u00e4fte.
Peter: Gerade, wenn wir nicht nur von einen Klassenwiderspruch, sondern auch von einer patriarchalen und rassistischen Unterdr\u00fcckung in unseren Gesellschaften ausgehen, m\u00fcssen wir die Rechte genauer anschauen. Tats\u00e4chlich gab es in den letzten 20 Jahren in der deutschen Gesellschaft mehr Rechte f\u00fcr Schwule, Transpersonen und so weiter als zuvor. Die greifen sicher den Kapitalismus nicht an, aber das Argument w\u00fcrde ja unterschlagen, dass es aber noch andere Unterdr\u00fcckungsformen gibt. Diese werden durch die neuen Rechte sicher nicht abgeschafft, aber zur\u00fcckgedr\u00e4ngt.
Achim: Mir geht es aber vor allem um den Klassenwiderspruch in der Form, wie er in der marxistischen Staatstheorie vorkommt. Andere Unterdr\u00fcckungsformen sind Themen, die diskutiert geh\u00f6ren, keine Frage. F\u00fcr die heutige Auseinandersetzung sollten wir sie aber erst einmal ausklammern wie die Fragen nach Rechtspopulismus und Faschismus auch. Das Ganze wird sonst zu un\u00fcbersichtlich und \u00fcberfrachtet. Es ist jetzt schon kompliziert genug!
Peter: Ich w\u00fcrde die Unterdr\u00fcckungsverh\u00e4ltnisse Rassismus und Patriachat nicht wie Rechtspopulismus/Faschismus behandeln. Sie sind ja mit der Klassenunterdr\u00fcckung verbunden, aber durchaus eigenst\u00e4ndig, was sich schon daran zeigt, dass es sie in anderer Form bereits vor dem Kapitalismus gab und sie mit ihm auch nicht automatisch enden. Zudem haben viele Indymedia-AutorInnen Patriarchat und Rassismus in ihren Texten thematisiert. Aber ich bin einverstanden, dass wir das Thema hier nicht vertiefen m\u00fcssen.
Detlef Georgia: Ich kann mir aber schon jetzt nicht verkneifen zu sagen: Bei linksunten.indymedia m\u00f6gen sich viele AutorInnen als AntikapitalistInnen verstanden haben \u2013 sei es als KonsumkritikerInnen, Umweltsch\u00fctzerInnen, WertkritikerInnen und KritikerInnen des \u201eArbeiterbewegungs-Marxismus\u201c und so weiter. Aber dieser Antikapitalismus war eher selten aus einer marxistischen Klassenanalyse heraus entwickelt. Auch deshalb scheint es mir nicht gerade naheliegend zu sein, das linksunten.indymedia-Verbot aus dem \u201eKlassencharakter\u201c des Staates \u201eabzuleiten\u201c. \u2013 W\u00e4re der deutsche Staat ein Deut weniger b\u00fcrgerlich, wenn linksunten.indymedia nicht verboten worden w\u00e4re oder wenn es kein Strafverfahren gegen uns g\u00e4be?
Bei unserem Strafverfahren geht nicht darum, die \u201esozialen Interessengegens\u00e4tze\u201c zu l\u00f6sen, sondern \u2013 implizit \u2013 um die etwas bescheidenere Frage, ob die ModeratorInnen von linksunten.indymedia weiterhin ihre Internet-Zeitung betreiben d\u00fcrfen. Und um die noch bescheidenere Frage, ob wir unsere ablehnende Meinung zu dem \u2013 vom Bundesinnenministerium ausgesprochenen \u2013 Verbot \u00e4u\u00dfern und diese Haltung mit einem Ausschnitt aus der Verbotsverf\u00fcgung, der unter anderem das Logo der verbotenen Zeitung enth\u00e4lt, bebildern d\u00fcrfen. Das ist doch von einer b\u00fcrgerlichen Demokratie nicht zu viel verlangt, und es r\u00fcttelt auch nicht an der Systemgrenze. Oder doch? Daher noch mal zur\u00fcck zur Frage vom Anfang und der Butter bei den Fischen.
Was sagen wir dem Gericht?
Peter: Genau das ist der Gegenstand unserer Initiative: Dass es nicht zu viel von einer b\u00fcrgerlichen Demokratie verlangt ist, dass linksunten.indymedia wieder erscheinen darf, und wir unsere Kritik an dem aktuellen Verbot \u00e4u\u00dfern und \u2013 wie getan \u2013 bebildern d\u00fcrfen.
Achim: Wir bedienen eine Doppelstrategie, wie ich sie oben ausgef\u00fchrt habe.
Detlef Georgia: Es ist also okay, wenn wir uns gegen das Verbot von linksunten.indymedia und f\u00fcr unsere eigene Meinungs\u00e4u\u00dferung auf Artikel 5 Grundgesetz und einige Feinheiten des \u00a7 20 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 Vereinsgesetz (Zuwiderhandlung gegen Vereinsverbote) berufen? Falls ja: Was ist dann als Differenz(en) zwischen uns noch \u00fcbriggeblieben?
Achim: Vielleicht, dass ich weniger Vertrauen in die \u201eLiberalit\u00e4t\u201c des b\u00fcrgerlichen Staates habe als du.
Peter: Ich denke, wir alle drei haben kein gro\u00dfes Vertrauen in die Liberalit\u00e4t des b\u00fcrgerlichen Staates, nur ist der Liberalismus nun mal dessen Gesch\u00e4ftsgrundlage. Wenn es in Deutschland eine so gro\u00dfe Kampagne zum Tag der Pressefreiheit (3. Mai) gibt, die die Einschr\u00e4nkungen der Pressefreiheit nat\u00fcrlich \u00fcberall nur nicht in Deutschland sieht, ist es unsere Aufgabe, deutlich zu machen, dass es auch in Deutschland so gut damit nicht bestellt ist. Da passt ja das (((i)))-Verfahren gut.
Detlef Georgia: Ja, auch ich w\u00fcrde weiterhin nicht sagen, dass ich besonders vertrauensselig bin. In dem weiteren diskussionsausl\u00f6senden Text zeige und kritisiere ich ja gerade, dass das Bundesverfassungsgericht in dem dort behandelten Fall den ideologisch-diskursiven Staatsschutz der Meinungs\u00e4u\u00dferungsfreiheit \u00fcbergeordnet hat. Auch wenn wir keine KBW-SympathisantInnen [9] sind, und es den KBW auch schon l\u00e4ngst nicht mehr gibt und unser Text um ein ganz anderes Thema geht als die Artikel und Flugbl\u00e4tter, um die es in der damaligen Verfassungsgerichtsentscheidung ging: Die damalige BVerfG-Entscheidung zum Ma\u00dfstab zu nehmen, hie\u00dfe damit zu rechnen, dass die Gerichte auch in unserem Fall (und im Fall von linksunten.indymedia selbst) den ideologisch-diskursiven Staatsschutz \u00fcber die Meinungs\u00e4u\u00dferungsfreiheit stellen. Aber das hei\u00dft ja nicht, dass sich dagegen keine Argumente vorbringen lassen. Falls sie nicht die zust\u00e4ndigen Gerichte \u00fcberzeugen, sensibilisieren sie vielleicht zumindest einen Teil der \u00d6ffentlichkeit f\u00fcr das Problem.
Achim: Ich habe da eher geringe Hoffnungen. Das st\u00e4rkste Argument f\u00fcr eine breitere Sensibilisierung scheint mir zu sein, dass das Aushebeln der Pressefreiheit \u00fcber das Vereinsrecht potentiell alle Medien betreffen kann. Da sollten eigentlich die Alarmglocken schrillen; insbesondere im Angesicht der geschichtlichen Vergangenheit des Landes.
Anmerkungen
[1] \u201edie \u00f6konomische Dialektik [bringt sich] einfach niemals im reinen Zustand zur Geltung [\u2026], [\u2026] man [kann] in der Geschichte niemals sehen [\u2026], wie etwa diese [anderen] Instanzen, die \u00dcberbauten, respektvoll Platz machen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben (oder sich einfach aufl\u00f6sen, wie ein reines Ph\u00e4nomen), um ihre Majest\u00e4t die \u00d6konomie auf dem K\u00f6nigsweg der Dialektik allein voranschreiten zu lassen, weil ihre Zeit gekommen ist. Die einsame Stunde der \u201aletzten Instanz\u2019 schl\u00e4gt niemals, weder im ersten noch im letzten Augenblick.\u201c (Louis Althusser, F\u00fcr Marx, Suhrkamp: Berlin, 2011, S. 139)
[2] LW 38, S. 339.
[3] ebd. S. 338, Herv. i.O.
[4] Althusser, a.a.O. (FN 2), S. 243.
[5] ebd., S. 111, s.a. 137: \u201erelative Autonomie der \u00dcberbauten und ihre spezifische Wirksamkeit\u201c.
[6] GS 6, 304 zit. n. Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 7.
[7] Kritik des Gothaer Programms; MEW 19, 20 f.:
\u201eDas gleiche Recht ist hier daher immer noch \u2013 dem Prinzip nach \u2013 das b\u00fcrgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, w\u00e4hrend der Austausch von \u00c4quivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht f\u00fcr den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer b\u00fcrgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, da\u00df an gleichem Ma\u00dfstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern \u00fcberlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann w\u00e4hrend mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Ma\u00df zu dienen, mu\u00df der Ausdehnung oder der Intensit\u00e4t nach bestimmt werden, sonst h\u00f6rte sie auf, Ma\u00dfstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht f\u00fcr ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsf\u00e4higkeit der Arbeiter als nat\u00fcrliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Ma\u00dfstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie w\u00e4ren nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche w\u00e4ren) sind nur an gleichem Ma\u00dfstab me\u00dfbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fa\u00dft, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erh\u00e4lt also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mi\u00dfst\u00e4nde zu vermeiden, m\u00fc\u00dfte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.\u201c
[8] LW 25, S. 467.
[9] = Kommunistischer Bund Westdeutschlands. Die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf Flugbl\u00e4tter und Zeitungsartikel der dem KBW nahestehenden Antimilitaristischen Gruppe Delmenhorst.