Unterwegs zur demokratischen Republik. Ein politisch-gesellschaftliches Programm f\u00fcr die T\u00fcrkei
\nDie Lokalwahlen vom 31. M\u00e4rz 2019 brachten erneut Schwung in die Tagesordnung der T\u00fcrkei. Das Land befindet sich in einer Situation von multiplen Krisen auf verschiedenen Ebenen, aus der das derzeitige Regime aber auch trotz aller Gewalt und \u201ezivilen Putschversuchen\u201c nicht rauskommt.
Dabei geht es nicht nur um die akute Wirtschaftskrise, die in ihren Wurzeln viel l\u00e4nger zur\u00fcckliegt und keine konjunkturelle Schwankung ist, sondern der Ausdruck einer Krise des Akkumulationsregimes. Ganz allgemein gefasst befindet sich das derzeitige Regime seit 2013 in einer Hegemoniekrise. Das hei\u00dft einerseits, dass sich die Herrschenden nicht dar\u00fcber einig sind, wie die Gesellschaft weiterhin regiert werden soll. Sie liegen die ganze Zeit im Clinch miteinander: Der Putschversuch vom Juli 2016 ist dabei nur der brachialste Ausdruck der Widerspr\u00fcche unter den Herrschenden gewesen. Die soziale Hauptgrundlage der Hegemoniekrise ist aber die Verweigerung der Zustimmung von mindestens der H\u00e4lfte des Landes zu einem sich faschisierenden Regime. Trotz all der Gewalt der letzten Jahre, der Installierung eines de facto diktatorialen Pr\u00e4sidialsystems, der Annullierung von \u201eunerw\u00fcnschten\u201c Wahlergebnissen und Hunderttausenden von entlassenen Staatsbediensteten und ebenfalls Hunderttausenden in den Gef\u00e4ngnissen setzt sich der Unmut in breiten Teilen der Gesellschaft fort und f\u00fchrt zu vielen kleinen und manchmal auch gr\u00f6\u00dferen widerst\u00e4ndigen Aktionen.
Zum ersten Mal seit dem 7. Juni 2015 konnten die Hauptoppositionsparteien diesen Unmut und diese Widerst\u00e4ndigkeit an der Wahlurne zu einem partiellen Sieg f\u00fcr sich organisieren. Gerade weil aber der Unmut und die Widerst\u00e4nde keine origin\u00e4ren politischen Organisationsprozesse hervorgebracht haben und Parteien wie die republikanische CHP oder die MHP-Abspaltung IYI-Parti grundlegend etatistisch ausgerichtet und deshalb zu einer grundlegenden Opposition nicht f\u00e4hig sind, blieb der Unmut bisher in weiten Teilen der Gesellschaft diffus, unorganisiert und im Gro\u00dfen und Ganzen ineffektiv. Die Aufgabe der Hauptoppositionsparteien ist es, eine Integration des widerst\u00e4ndigen Potentials in der Gesellschaft in die bestehende Ordnung zu organisieren, um die vom derzeitigen Regime zunehmend gef\u00e4hrdete Fortf\u00fchrung der Hegemonie der Herrschenden zu garantieren. Deshalb sind sie auch nicht in prinzipieller Opposition zum Pr\u00e4sidialsystem an sich und setzen eine grundlegende Verfassungs\u00e4nderung auch nicht auf die Tagesordnung. Wie auch immer es sich konkret ausdr\u00fcckt, so ist ihr Hauptanliegen, dass die derzeitigen wirtschaftlichen, politischen und globalen Instabilit\u00e4ten beseitigt werden sollen ohne dass an den Grundfesten der bestehenden Ordnung ger\u00fcttelt wird. Diese Hauptoppositionsparteien sind deshalb als restaurative Kr\u00e4fte zu begreifen.
Wie gro\u00df das Risiko sein wird, dass sie dabei eingehen werden, h\u00e4ngt einerseits von der Sch\u00e4rfe der Hegemoniekrise ab: Gerade weil sich diese versch\u00e4rft, sind CHP und IYI in ihrer Opposition \u2013 gemessen an ihren eigenen Standards \u2013 im letzten Jahr auch \u201ewahrnehmbarer\u201c geworden. Andererseits aber werden sie nicht so weit gehen, dass die staatliche Einheit und die Einheit der Ordnung gef\u00e4hrdet wird. Ihnen ist klar, dass sie Zugest\u00e4ndnisse an die widerst\u00e4ndigen popularen Kr\u00e4fte machen m\u00fcssen, um \u00fcberhaupt Opposition betreiben zu k\u00f6nnen: In der bisher kurzen Phase der B\u00fcrgermeisterschaft des CHP-Kandidaten von Istanbul, Ekrem Imamo\u011flu, wurden der 8. M\u00e4rz zum Feiertag f\u00fcr Frauen erkl\u00e4rt und Imamo\u011flu beteiligte sich aktiv an der 1. Mai-Kundgebung. Dar\u00fcberhinaus gab es Initiativen f\u00fcr Verbilligung des \u00f6ffentlichen Verkehrs oder auch des Wassers sowie eine Rhetorik gegen Korruption und f\u00fcr Transparenz \u2013 angesichts der enormen Teuerung einerseits und der weitverbreiteten Korruption sind das Ma\u00dfnahmen, die Anklang finden. Die Gefahr f\u00fcr die Kr\u00e4fte der Restauration liegt dabei gerade darin, dass die im Sinne der Beschwichtigung betriebene Opposition und Symbolpolitik zu viel Raum \u00f6ffnet \u2013 Raum f\u00fcr eine eigenm\u00e4chtige und unabh\u00e4ngige Entfaltung der popularen Kr\u00e4fte.
Auf Grundlage einer solchen Realit\u00e4t \u2013 einer permanenten, sich versch\u00e4rfenden Hegemoniekrise, eines massenhaften widerst\u00e4ndigen Potentials und Integrationsbem\u00fchungen desselben durch die Restaurationskr\u00e4fte \u2013 stellt sich f\u00fcr Linke und Kommunist*innen die Frage: Wie k\u00f6nnte eine politische Perspektive aussehen, die die widerst\u00e4ndigen Potenziale der popularen Kr\u00e4fte auf Grundlage ihrer eigenen Macht und Interessen organisiert und sich dabei nicht in das Projekt der Restaurationskr\u00e4fte integrieren l\u00e4sst? [1]
Historische Untiefen
Wir geh\u00f6ren zu den Linken, die in letzter Instanz die \u00dcberwindung des Kapitalismus in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsformation f\u00fcr gut hei\u00dfen. Abstraktes Beharren auf Slogans wie \u201ediese Ordnung muss grundlegend umgew\u00e4lzt werden\u201c oder \u201eder Sozialismus ist die L\u00f6sung\u201c bringen uns jedoch nicht weiter, sondern f\u00fchren einzig zu Verbalradikalismus. Der Sozialismus ist keine fertige Form, die nur noch auf die Wirklichkeit angewendet werden muss, sondern kann nur ein neuer gesellschaftlicher Metabolismus sein, der im Konkreten und materiell aufgebaut werden muss. Deshalb ben\u00f6tigen wir auch ein umfassendes gesellschaftliches und politisches Programm, das die popularen Kr\u00e4fte zu Subjekten ihrer eigenen Umst\u00e4nde macht und weite Teile der Bev\u00f6lkerung umfasst.
Der Name eines solchen Programmes in der T\u00fcrkei ist die demokratische Republik. Den Grund daf\u00fcr finden wir in der Geschichte der T\u00fcrkei. Die Entwicklung des Kapitalismus und der Moderne in der T\u00fcrkei ist ein Prozess gewesen ohne aktiver Beteiligung der popularen Kr\u00e4fte. Unter anderem deshalb wurde die moderne T\u00fcrkei niemals zu einer voll entwickelten b\u00fcrgerlichen Demokratie. Die despotische Staatsstruktur, die das Osmanische Reich wiederum von Byzanz \u00fcbernahm und transformierte, passte sich den Anforderungen des Kapitalismus an und setzte sich, dementsprechend umformiert, in der T\u00fcrkischen Republik fort.
Auch in sozio\u00f6konomischer Hinsicht l\u00e4sst sich feststellen, dass weder die Jungt\u00fcrkische Revolution von 1908 [2] noch die Kemalistische Revolution [3] auf einer fortschrittlichen Industriebourgeoisie gr\u00fcndeten. Die Tr\u00e4ger dieser Revolutionen waren bestimmte Kr\u00e4fte innerhalb der Staatstradition des Osmanischen Reiches. Diese Kr\u00e4fte waren die Staatsklassen, die sich auf die \u00e4ltesten eigenst\u00e4ndigen Formen des Kapitals, das Wucher- und Handelskapital, die ihre Profite mittels Preisaufschlag, Zins und Rente generierten, und das darauf gr\u00fcndende schwache anatolische Kapital st\u00fctzten. Innerhalb der Staatsklassen waren es dabei insbesondere die Milit\u00e4rs (seyfiye), die die treibende revolution\u00e4re Kraft darstellten. Auch wenn sie in ihrem Wunsch nach \u201ewestlicher Zivilisation\u201c eine Reihe moderner Reformen umsetzten, kamen sie doch aus den Bedingungen, die sie vom Osmanischen Reich erbten, nicht heraus und jeder ihrer \u201emodernistischen\u201c Fortschritte war schwach, halbfertig oder entstellt.
Die Kemalistische Revolution war dazu gezwungen, sich auf das \u00f6konomische Modell der Prellerei und der Willk\u00fcr zu st\u00fctzen, nicht auf eine revolution\u00e4re Industriebourgeoisie. Zus\u00e4tzlich fand die Kemalistische Revolution in einem geschichtlichen Kontext des reaktion\u00e4ren Finanzkapitals des Hochimperialismus statt \u2013 eine Zeit, in der sich die progressiven Elemente des Kapitalismus zur\u00fcckbildeten, der Weltkrieg als Austragungsform kapitalistischer Konkurrenz genutzt wurde, der Kapitalexport in Form von Schulden und Krediten gef\u00f6rdert und die Kolonisierung der L\u00e4nder, die versp\u00e4tetet in den Kapitalismus \u00fcbergingen, sowie die Erdrosselung ihrer eigenst\u00e4ndigen Entwicklung betrieben wurde. Eine Entwicklung im wahren Sinne war unter diesen Umst\u00e4nden unm\u00f6glich ohne eine sofortige Initiative der Schwerindustrialisierung und der umfassenden nationalen Einheit. Aber die Revolutionen von 1908 und 1923 zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie eine Entwicklung des Handwerks und der Manufakturen hin zur Industrie f\u00f6rderten, sondern im Gegenteil das reichhaltig entwickelte Handwerk und die Manufakturen erw\u00fcrgten und nur eine sehr begrenzte Industrialisierung ins Leben riefen.
Das Wirtschaftsverst\u00e4ndnis, das die Revolution\u00e4re vom Osmanischen Reich \u00fcbernommen hatten, gr\u00fcndete auf einen origin\u00e4ren Etatismus. Die Kapitaleigent\u00fcmer, die gute Beziehungen zu den Staatsklassen pflegten, bereicherten sich mittels \u00f6ffentlicher Auftr\u00e4ge sowie Prellerei und Wucher. Sie fokussierten sich mehr auf Land- und W\u00e4hrungsspekulation sowie gro\u00dfe Bauauftr\u00e4ge als auf eine Industrialisierung, die sie f\u00fcr zu \u201eriskant\u201c und \u201eanstrengend\u201c, sprich unprofitabel erachteten. Dementsprechend spielten merkantilistische Erw\u00e4gungen eine gr\u00f6\u00dfere Rolle als industrielle und entwicklungstechnische; die handeltreibenden Fraktionen nahmen eine prominente Rolle innerhalb der Bourgeoisie ein, der Staat selbst verbot den \u201efreien Markt\u201c. Diese Grundlagen wurden weder von der Kemalistischen Revolution noch sp\u00e4ter vollst\u00e4ndig bek\u00e4mpft, sodass sie bis heute eine gewichtige Rolle spielen.
Wenn wir es von der Perspektive des Staates und des Regimes her betrachten, so l\u00e4sst sich festhalten, dass der tribut\u00e4re und willk\u00fcrliche Staatstypus mit der sumerischen Zivilisation entstand. In anderen Regionen wie zum Beispiel Europa, in denen es auch Kapitalakkumulation und Konzentration von Reicht\u00fcmern gab, entstand eine entwickeltere Zivilgesellschaft. Diese Entwicklungen beg\u00fcnstigten eine \u201edemokratischere\u201c Entstehung des Staates. Zugleich entwickelte sich das menschliche Potenzial, Produktion und Technologie entwickelten sich schneller. Demokratie wurde zu einem immanenten Bestandteil des Staates. Der Kampf zwischen Stadt und Land, also zwischen der zentralistischen Struktur und den lokalen Kommunen, erm\u00f6glichte die relative politische und \u00f6konomische Autonomie der burgher, der mittelalterlichen Stadtbewohner, und begrenzte die Macht der zentralistischen Despotie. Das ist jetzt alles sehr schematisch und die Geschichte entwickelte sich auch in Europa nicht geradlinig, aber grob ist das der Weg gewesen, der b\u00fcrgerlich-demokratische Revolutionen m\u00f6glich machte.
Im Nahen Osten lief es anders ab. Ein anderes Entwicklungsmodell f\u00fchrte mittels einer Verkastung zu einer anderen Form der Verstaatlichung. Kr\u00e4fte, die dem Despotismus h\u00e4tten ein Ende setzen k\u00f6nnen, wurden von ihm stranguliert. Die unteren Klassen oder die st\u00e4dtische Opposition wurden unterdr\u00fcckt. Die Entwicklung der Produktion spielte keine Rolle, denn wichtig waren nur die Tributzahlungen und die Prellerei des Wucher- und Handelskapitals; die Bed\u00fcrfnisse des Volkes waren peripher. Die zentral bestimmten Provinzgouverneure (vali) herrschten \u00fcber die beschlagnahmten L\u00e4ndereien und f\u00fchrten den Reichtum zum Zentrum hin ab. Als Kollaborateure der zentralen Macht besa\u00dfen die Provinzgouverneure weitgehende milit\u00e4rische und verwaltungstechnische Befugnisse; im Namen des Zentrums trieben sie die Steuern ein, rekrutierten die Soldaten und unterdr\u00fcckten die Bev\u00f6lkerung, wo n\u00f6tig. Dieses System erbte sich von der sumerischen Zivilisation fort an Byzanz, von dort an das Osmanische Reich und letztlich vom Osmanischen Reich an die T\u00fcrkische Republik.
Das Erbe des Despotismus
Es ist nat\u00fcrlich richtig, dass die T\u00fcrkische Republik nicht identisch ist mit dem byzantinischen oder Osmanischen Staat und dass die T\u00fcrkische Republik kein tribut\u00e4rer Expansionsstaat ist. Aber die despotische \u201eSeele\u201c der von ihm besiegten und beerbten Staaten setzte sich in neuen Formen, die nun die Kapitalakkumulation erm\u00f6glichten, fort. Auch heute existieren weiterhin despotisch-zentralistische Institutionen wie der Provinzgouverneur oder der Provinzuntergouverneur (kaymakam). Wesentliche Entscheidungs- und Verf\u00fcgungsgewalt \u00fcber lokale und provinzielle Politik liegt in den H\u00e4ngen dieser vom Pr\u00e4sidenten ernannten Gouverneure und Untergouverneure und nicht bei den gew\u00e4hlten Vertreter*innen. An ihre Stelle geh\u00f6rt die St\u00e4rkung der Macht der lokalen Bev\u00f6lkerung, die gerade von jenen Institutionen unterdr\u00fcckt wird.
Auf Grund der Gesamtheit dieser Verh\u00e4ltnisse und ihres Erbes machte sich das kemalistische Regime an eine Nationengr\u00fcndung ohne L\u00f6sung der demokratischen Probleme, was zum Desaster f\u00fchrte. Die enorme demokratische Energie, die mit der Franz\u00f6sischen Revolution und auch anderen Revolutionen zum Vorschein kam, f\u00fchrte letzten Endes dahin, dass die unterschiedlichsten Schichten der Bev\u00f6lkerung in die jeweiligen Regime integriert wurden; noch heute k\u00f6nnen deshalb die unterschiedlichsten ethnischen Gruppierungen im Rahmen einer \u201egemeinsamen Nation\u201c miteinander verschmelzen. Die verschiedenen Regime in unserem Land versuchten nicht einmal demokratischen Energien zum Durchbruch zu verhelfen; sie versuchten im Gegenteil, jene Energien \u00fcberall dort zu erw\u00fcrgen, wo sie entstanden. Die vereinheitlichende Ideologie wurde per Zwang von oben aufoktroyiert. Im Rahmen dieser vereinheitlichenden Ideologie gerieten alle in Widerspruch zum Regime, die nicht t\u00fcrkisch und sunnitisch waren beziehungsweise sind. Insbesondere Kurd*innen und Alevit*innen wurden seitdem immer wieder zum \u201eProblem\u201c f\u00fcr die Herrschenden.
Von der Perspektive der Gesellschaft aus betrachtet l\u00e4sst sich festhalten, dass die ungleiche und entstellte Entwicklung zu gro\u00dfen Verwerfungen f\u00fchrte. Staat und reaktion\u00e4res Kapital versuchten immer, das menschliche Potenzial zu erdr\u00fccken. Das Schwerwiegendste hierbei ist, dass sich keine verfassungsrechtlich abgesicherte demokratische Kultur fest etablieren konnte. Zwar amalgamierten sich die ebenfalls von den fr\u00fcheren Gesellschaftsformationen ererbten kommunalen und kollektiven Widerstandsformen der Unterklassen mit den neuen Realit\u00e4ten der Werkt\u00e4tigen im Kapitalismus: In Zeiten wie den 1960ern und 1970ern, als die K\u00e4mpfe der Werkt\u00e4tigen stark waren, konnten viele Errungenschaften erk\u00e4mpft und der Despotismus bis zu einem gewissen Grad zur\u00fcckgedr\u00e4ngt werden. Aber die despotische Tradition wurde nicht final geschlagen und konnte sich als Garant der Kapitalakkumulation erneut geltend machen. Der Mangel an Organisations- und Meinungsfreiheit, die fehlende verfassungsrechtliche Verankerung unterschiedlicher Muttersprachen und Glaubensrichtungen, die eingeschr\u00e4nkte Pressefreiheit, das in jeder Regierungsperiode zig mal ver\u00e4nderte und unsystematische Bildungssystem, die mangelnde Anerkennung der Menschenrechte, das Fehlen eines \u00f6kologischen und tierfreundlichen Verst\u00e4ndnisses, die Marginalisierung der Forderung nach Gleichheit der Geschlechter und viele andere Probleme und M\u00e4ngel m\u00fcssen von der Gesellschaft angegangen werden.
Andererseits war die Kemalistische Revolution eine Kaderrevolution. Die aus ihrem despotischen Charakter erwachsende Unf\u00e4higkeit und mangelnde Kraft darin, \u00fcber einen bestimmten Kreis hinaus integrativ zu wirken, sorgte auch f\u00fcr eine sehr lose Bindung der l\u00e4ndlichen Teile an die zentralen Teile und die Revolution weitete sich nicht gleicherma\u00dfen auf das gesamte Land aus. Die gro\u00dfe Divergenz zwischen einigen zentralen Gebieten und den l\u00e4ndlich-r\u00fcckst\u00e4ndigen Anatoliens, in die die Revolution nicht derart eindringen konnte, wurde zu einem gro\u00dfen Hindernis f\u00fcr die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Diese Divergenz, die sehr unterschiedliche Mentalit\u00e4ten, Lebensstile und -welten beinhaltete und herbeif\u00fchrte, diente gleicherma\u00dfen den unterschiedlichen Fraktionen der Bourgeoisie im Kampf miteinander als Quelle ihrer jeweiligen Ideologien. Die Aktionseinheit zwischen Zentrum und r\u00fcckst\u00e4ndigeren Gebieten herzustellen, ist heute eine der Hauptprobleme revolution\u00e4rer Strategie.
Die demokratische Republik als Fluchtpunkt der popularen K\u00e4mpfe
Die demokratische Republik ist eine wichtige und notwendige Zwischenstufe f\u00fcr eine kommunistische Revolution in der T\u00fcrkei. Die Forderung nach einer demokratischen Republik ist derzeit der gemeinsame Fluchtpunkt der unterschiedlichen popularen Kr\u00e4fte und ihrer K\u00e4mpfe. Au\u00dferhalb dieser K\u00e4mpfe zu stehen, verdammt die Kommunist*innen dazu, sich zu isolieren. Nur dadurch, dass Kommunist*innen inmitten dieser K\u00e4mpfe stehen und sie anfachen, k\u00f6nnen sie effektiv dahingehend wirken, die entstehende Republik in Richtung einer sozialistischen Revolution zu radikalisieren. Ebenfalls k\u00f6nnen die Werkt\u00e4tigen die sehr materiellen und reellen Spaltungen innerhalb der Klasse \u2013 in Kurd*innen und T\u00fcrk*innen, in Alevit*innen und Sunnit*innen usw. \u2013 nur in einem Kampf um eine demokratische Republik \u00fcberwinden, indem sie durch gemeinsame T\u00e4tigkeit diese \u00fcberwinden, sich selbst erm\u00e4chtigen und auf Grundlage dieser Praxen ein revolution\u00e4res Selbstbewusstsein herausbilden.
Die verfassungsrechtliche Verankerung der demokratischen Republik ist unerl\u00e4sslich. Erdo\u011fan macht uns vor, wie wichtig die verfassungsrechtliche Verankerung eines Regimes ist. Nachdem er sein \u201ePr\u00e4sidialsystem\u201c de facto errichtete, wirkte er auf eine rechtliche Absicherung desselben hin. Das Programm einer demokratischen Republik kann unm\u00f6glich dasjenige der \u201ealten\u201c Verfassung sein, also der Verfassung vor der AKP-\u00c4ra. Noch kann es darin bestehen, an der derzeitigen Verfassung ein bisschen \u201eherumzudemokratisieren\u201c. Wir brauchen eine vollst\u00e4ndig neue demokratische Verfassung.
Diese neue Verfassung muss zuv\u00f6rderst die Erf\u00fcllung der minimalen Bed\u00fcrfnisse der Bev\u00f6lkerung wie Ern\u00e4hrung, Behausung, Gesundheit, Bildung und Transport garantieren. Um dies real zu gew\u00e4hrleisten, muss die Besteuerung von der derzeit dominanten Form der indirekten Besteuerung (wie zum Beispiel \u00fcber Verbrauchersteuern) ersetzt werden durch eine Dominanz der direkten Besteuerung und der progressiven Verm\u00f6genssteuer. Zentrale Produktionszweige m\u00fcssen zumindest teilweise in \u00f6ffentliches Eigentum umgewandelt werden. Zugleich muss die Zentralbank von gew\u00e4hlten Vertreter*innen der Bev\u00f6lkerung kontrolliert werden, damit sie im Sinne der Erf\u00fcllung jener minimalen Bed\u00fcrfnisse arbeitet.
Die neue Verfassung muss die Pluralit\u00e4t der ethnischen und religi\u00f6sen Identit\u00e4ten der T\u00fcrkei anerkennen. Die Verfassung einer demokratischen, laizistischen und multinationalen Republik kann keine einzelne ethnische oder religi\u00f6se Identit\u00e4t privilegieren. Die grundlegenden Zivil- und Menschenrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Gewerkschafts- und Streikfreiheit, das Recht auf kostenlosen, wissenschaftlichen und gleichen Unterricht in den jeweiligen Muttersprachen, das Recht auf Behausung und dergleichen m\u00fcssen anerkannt werden.
Ebenfalls von gro\u00dfer Bedeutung ist es, dass Kriterien f\u00fcr die mehrheitlich von Frauen geleistete soziale Reproduktionsarbeit erarbeitet werden, die diese unsichtbare Arbeit sichtbar macht und sie dementsprechend anerkennt (zum Beispiel mittels Renten f\u00fcr Hausfrauen). Ebenso muss die Gleichheit der Geschlechter verfassungsrechtlich gest\u00e4rkt und die \u00f6konomische Unabh\u00e4ngigkeit der Frauen garantiert werden. Selbstverst\u00e4ndlich m\u00fcssen auch gleichgeschlechtliche Ehen oder Partnerschaften, das hei\u00dft das Recht jedes Menschen mit jedem beliebigen anderen Menschen eine wie auch immer gestaltete Partnerschaft einzugehen, solange ein festgelegtes Mindestalter und beidseitiger Konsens gegeben sind, verfassungsrechtlich anerkannt werden.
Die \u00dcberreste des despotisch-zentralistischen Verwaltungsapparats des Osmanischen Reiches wie das Gouverneurs- und Untergouverneursamt m\u00fcssen abgeschafft, die Lokalregierungen und die Initiative der jeweiligen Bev\u00f6lkerung gest\u00e4rkt werden. Andere zentralistische Institutionen wie der Hochschulrat (Y\u00d6K), der die Universit\u00e4ten von oben kontrolliert, oder das Amt f\u00fcr religi\u00f6se Angelegenheiten (Diyanet), das landesweit die Aus\u00fcbung einer offiziell sanktionierten Religion privilegiert und kontrolliert, m\u00fcssen ebenfalls abgeschafft werden.
Der Schutz der Natur, die der Quell unseres Lebens ist, muss unter den Schutz der Verfassung gestellt werden, Naturschutzgebiete ausgeweitet und neue gegr\u00fcndet werden. Weitfl\u00e4chige Wiederaufforstung, der Schutz nat\u00fcrlicher Wasserquellen, die Reinigung von Fl\u00fcssen, Seen und Meeren, das Verbot von natur- und menschensch\u00e4dlichen Wirkstoffen und die Lebensmittelsicherheit m\u00fcssen ebenfalls auf Verfassungsebene gehoben werden.
Die R\u00e4te
W\u00e4hrend der gesamten Geschichte der modernen T\u00fcrkei waren die breiten Massen der Bev\u00f6lkerung, die werkt\u00e4tigen Klassen und gew\u00f6hnlichen Menschen niemals das politische Subjekt. Dies ist die objektive Realit\u00e4t, die die demokratische Republik erforderlich macht. Deshalb lautet unsere Grundfrage wie folgt: Welches sind die politischen Subjekte, die im Stande dazu sind, mittels einer demokratischen Revolution eine demokratische Republik und eine demokratische Verfassung zu konstituieren; oder genauer: Wie k\u00f6nnen die hierzu erforderlichen Prozesse der Subjekt-Werdung angesto\u00dfen werden?
Das Wesen der demokratischen Republik besteht in der Integration aller gew\u00f6hnlichen, sprich die Produktion und Reproduktion der T\u00fcrkei aufrechterhaltenden werkt\u00e4tigen Menschen unterschiedlichster Ethnien und Glaubensrichtungen in den Entscheidungsprozess. Letztendlich ist es genau das, was eine Subjekt-Werdung im politischen Sinne bedeutet. Dadurch dass Schwierigkeiten und Probleme des Alltags durch die Partizipation in den R\u00e4ten gel\u00f6st werden, dass durch diese Erfahrungen dazugelernt und Entfremdung durch Partizipation \u00fcberwunden werden, entstehen neue Subjekte. Diese Art der Subjekte werden der B\u00fcrokratisierung und Entfremdung entgegenwirken und den Grundstein einer klassenlosen Gesellschaft legen k\u00f6nnen. Denn der k\u00fcrzeste Weg zur klassenlosen Gesellschaft ist jener, der \u00fcber die demokratische Republik f\u00fchrt.
Wir ben\u00f6tigen Mechanismen, durch die sich eine demokratische Verfassung in die Praxis umsetzen l\u00e4sst. Der Wille, von dem die Umsetzung der demokratischen Republik abh\u00e4ngen wird, wird seine Kraft nicht aus der Bourgeoisie, sondern an erster Stelle von der Arbeiter*innen- und allgemein den unteren Klassen beziehen, da das Interesse der t\u00fcrkischen Bourgeoisie an einer Demokratisierung offensichtlich gering ist. Dieser Wille der Neugr\u00fcndung kann seinen Ausdruck im konstituierenden Rat finden.
Auch wenn sich unser Programm einer demokratischen Republik hinsichtlich ihres Inhaltes einer b\u00fcrgerlichen Demokratie \u00e4hnelt, unterscheidet sie sich mit Blick darauf, welche Klassen das Heft in der Hand halten. Die demokratische Republik unterscheidet sich von einer b\u00fcrgerlich-demokratischen Republik dadurch, dass sie einerseits die politische Partizipation der arbeitenden Klassen und andererseits deren politische Kontrollfunktionen sichert. Es versteht sich von selbst, dass eine solche demokratische Republik nicht \u201erein\u201c und vom Rei\u00dfbrett aus entsteht, sondern dass Klassenkonflikte stets eine Reihe von intermedi\u00e4ren Zust\u00e4nden und nicht-homogene Regime hervorbringen k\u00f6nnen. Es besteht immer die M\u00f6glichkeit, dass Zwischenformen entstehen, in denen zum Beispiel bestimmte Bereiche von der Bourgeoisie und andere von popularen Kr\u00e4ften dominiert werden. Falls wir es schaffen, eine demokratische Republik zu errichten, wird sie aus der Realit\u00e4t der gesellschaftlichen Beziehungen heraus entstehen. Die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse und der Klassenkampf innerhalb der demokratischen Republik werden bestimmen, in welcher Form sich das neue Regime konkretisieren wird.
Schlussendlich kann eine neue Verfassung ausschlie\u00dflich seitens einer konstituierenden Versammlung in die Tat umgesetzt werden. Diese kann nicht die Gro\u00dfe Nationalversammlung der T\u00fcrkei [Name des t\u00fcrkischen Parlaments, Anm. d. \u00dcbers.] sein. Diese neue konstituierende Versammlung m\u00fcsste der Ausdruck eines konstituierenden Kongresses sein, in dem die popularen Kr\u00e4fte partizipieren. Die wichtigste und entscheidende Eigenschaft einer solchen Versammlung m\u00fcsste es sein, sich gegen die existierende Teilung der geistigen und k\u00f6rperlichen Arbeit innerhalb und au\u00dferhalb der Produktionssph\u00e4re zu positionieren. Sie muss darauf abzielen, den breiten Massen, die das Leben und die gesellschaftlichen Beziehungen produzieren und reproduzieren, ebenfalls die F\u00e4higkeit zur Regierung zu geben.
Das alles ist absolut keine utopische Idee. Es gibt viele historische Beispiele, wo genau dies der Fall war. Beispielsweise in der Pariser Kommune, in den russischen Sowjets, den italienischen Arbeiter*innenr\u00e4te und viele mehr. In der heutigen T\u00fcrkei stellt sie keine Utopie dar, sondern ist eine Notwendigkeit geworden zur L\u00f6sung der dr\u00e4ngendsten Probleme.
Neubegr\u00fcndung der Gesellschaft
Das von uns vorgeschlagene politische Programm gilt es, auf dialektische Weise, sprich immanent und von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Die Gesellschaft der T\u00fcrkei verfaulte und befindet sich in einem desolaten Zustand. Dieser Zustand l\u00e4sst sich auch nicht einfach durch eine Reihe juristisch-politischer Ma\u00dfnahmen aus der Welt schaffen lie\u00dfen. Derlei juristisch-politische Ma\u00dfnahmen setzen ja gerade eine starkes gesellschaftliches Fundament voraus.
Es ist hier die Rede vom allgemeinen politischen Klima, das in Folge des Milit\u00e4rputsches vom 12. September [1980, Anm. d. \u00dcbers.] und des anschlie\u00dfenden Zusammenbruchs des Sozialismus vom Gef\u00fchl der Niederlage, vom Def\u00e4tismus bestimmt wird. Zweifelsohne ist aus der Perspektive der sozialistischen Linken auch die Niederlage eine Form des Kampfes, jedoch f\u00fchrten die lang anhaltenden Jahre des Misserfolges schlussendlich dazu, dass sich eine Stimmung der tief sitzenden Hoffnungslosigkeit breitmachen und bestimmend werden konnte.
Das Kapital und die politische Macht beziehen ihre St\u00e4rke eben auch aus den zynischen Gef\u00fchlen, die die Gesellschaft durchdringen. Die nackte Gewalt des Regimes, die Willk\u00fcr und Dreistigkeit der Macht der verschiedenen Staatsapparate f\u00fchren dazu, dass sich im gesellschaftlichen Unbewussten pessimistische Reflexe ausbilden. Dieser Pessimismus ist der Grund daf\u00fcr, weshalb der Glaube entsteht, man k\u00f6nne angesichts der nackten Gewalt und der herrschenden Willk\u00fcr nichts unternehmen.
Die ungez\u00fcgelte Herrschaft des Neoliberalismus in der T\u00fcrkei gr\u00fcndet auf diesem zynischen Gef\u00fchl. In einer scheinbar unipolaren Welt \u2013 und obendrein in einem Land wie dem unsrigen, in dem die Linke von einem Milit\u00e4rputsch zerschlagen wurde \u2013 konnte er sich ohne gro\u00dfe Widerst\u00e4nde und mit rasender Geschwindigkeit breitmachen und alle gesellschaftlichen Sph\u00e4ren besetzen.
Das Kapital nahm Tag und Nacht des Menschen in Beschlag und machte sich \u00fcberall breit. Es errichtete seine Macht im Alltag der Menschen \u2013 der Arbeiter*innenklasse, der Mittellosen, der Unterdr\u00fcckten und der popularen Kr\u00e4fte. Das Alltagsleben wurde zu einem Feld, auf dem einzig und allein nach Pfeife des Kapitals getanzt wird. Denn es traf auf keinen langatmigen und organisierten Widerstand \u2013 obwohl es nat\u00fcrlich eine Menge von Widerst\u00e4nden gab, die diese Entwicklung aber bedauerlicherweise nicht aufhalten konnten.
Die Generationen, die nach dem Putsch [1980, Anm. d. \u00dcbers.] und dem Zusammenbruch des Sozialismus aufwuchsen, bemerkten diesen Siegeszug nicht einmal. F\u00fcr sie und ihr allt\u00e4gliches Leben ist diese Macht des Kapitals das Nat\u00fcrlichste, was es gibt. Schlie\u00dflich waren Klassenk\u00e4mpfe ja angeblich nicht mehr von Bedeutung (!). Aufgrund dieser leidvollen und gnadenlosen Prozesse wurden zunehmend breitere Teile der Bev\u00f6lkerung aus der Politik entfernt, das allt\u00e4gliche Leben der Menschen seitens des Kapitals belagert.
Aber der Gezi-Aufstand 2013 ist ein gesellschaftliches Ereignis gewesen, das die neoliberale Hegemonie gebrochen und in St\u00fccke zerschlagen hat. Die historische und populare Energie dieses Aufstandes konnte sich durch eine ganze Reihe von H\u00f6hen und Tiefen hindurch erhalten und sich sogar, unz\u00e4hliger Repressionen und Wahlbetr\u00fcgereien zum Trotz, in Wahlergebnissen niederschlagen. Die neoliberale Belagerung des Kapitals muss durch eine popular-demokratische Kraft, hinter der die Energien des Gezi-Aufstands stehen, aufgebrochen und im allt\u00e4glichen Leben mit einer Gegenhegemonie zerschlagen werden.
Eingepfercht zwischen Hammer und Ambos von Armut und Entbehrung m\u00fcssen die Lebensbereiche, die der Belagerung des Kapitals unterliegen, also die Stadtteile und Nachbarschaften, die Arbeitspl\u00e4tze, die H\u00e4user und Stra\u00dfen ihrerseits durch einen popularen Gegenangriff r\u00fcckerobert werden. Arbeiter*innen, die an extremer Ausbeutung und Entfremdung leiden, m\u00fcssen die Arbeiter*innenvereine wiederbeleben und sich in den neuen Gewerkschaften abermals engagieren. Sie m\u00fcssen sich hier auf verschiedenen Ebenen weiterbilden und Erfahrungen mit Blick auf rechtliche und gesundheitliche Themen sammeln und sich in k\u00fcnstlerische T\u00e4tigkeiten einbringen.
In den Kulturh\u00e4usern und Quartiersvereinen muss darauf hingearbeitet werden, Prozessen der Entfremdung, der Atomisierung und Vereinsamung, der Entsolidarisierung und dem Verlust von Subjektivit\u00e4t Werte und Praxen der gemeinsamen Produktion, des Teilens, der Subjekt-Werdung, des Zusammenhalts und der Solidarit\u00e4t entgegenzusetzen. Das unwissenschaftliche und anti-demokratische Umfeld an den Sekundarschulen und Universit\u00e4ten muss wiederum kompensiert werden durch alternative Kultur- und Kunstzentren. Frauen und LGBTI+-Personen, denen es nicht einmal erlaubt wird, Gedanken im Hinblick auf ihre K\u00f6rper frei zu \u00e4u\u00dfern, m\u00fcssen im Rahmen von Solidarit\u00e4tsnetzwerken ein Gegenbewusstsein und eine alternative politische Praxis entwickeln, in denen ihre K\u00f6rper anerkannt und respektiert werden und die allt\u00e4gliche Gewalt und Herabstufung zu Menschen zweiter Klasse bek\u00e4mpft wird.
Kinder, allgemein die kommenden Generationen, die bildungstechnisch und gesellschaftlich am meisten vernachl\u00e4ssigt werden, m\u00fcssen durch alternative Bildungsangebote in Sommerschulen und Solidarit\u00e4tsvereinen in den Quartieren aufgefangen werden und auf deren Entfaltung muss hingearbeitet werden.
All diese Prozesse machen es unerl\u00e4sslich, ein breites und auf gesellschaftlicher Solidarit\u00e4t basierendes Netz an Freiwilligen zu organisieren. Eine Organisation dieser Art ist nichts weiter als die fortlaufende Ausweitung der kleinen und gr\u00f6\u00dferen selbstorganisierten R\u00e4te und Solidarit\u00e4tsnetzwerke.
Quellen unserer Hoffnungen
Vor dem Hintergrund der sich seit den M\u00e4rz-Wahlen zusehends vertiefenden \u00f6konomischen und politischen Krisen, m\u00fcssen die Forderungen nach einer demokratischen Republik und einer demokratischen Verfassung klar und deutlich formuliert und k\u00fcnftige gesellschaftliche Verh\u00e4ltnisse in ihren Grundz\u00fcgen gesetzt werden; wir m\u00fcssen die Solidarit\u00e4t vergesellschaften und Schritte in Richtung ihrer Institutionalisierung machen.
Aufgrund der herrschenden Ungewissheit, in der der Faschismus Auftrieb hat und versucht, die popularen Kr\u00e4fte psychologisch wie an sich zu zertr\u00fcmmern, wird manch einer fragen, wie so etwas bewerkstelligt werden soll. Sorgen dieser Art haben ihre Berechtigung. Schlie\u00dflich sehen wir, dass die Taktiken der herrschenden Regierung in den letzten Jahren prinzipiell darauf abzielt, die Organisierung der Bev\u00f6lkerung in h\u00f6chstm\u00f6glichem Ma\u00dfe zu verhindern, die Werkt\u00e4tigen zu desorientieren, ihre Hoffnungen zu zerst\u00f6ren und stattdessen durch Krieg, Gewalt, Massaker und Bomben Mauern der Angst zu errichten, und wenn es n\u00f6tig ist auch politische Putsche anzuordnen.
Trotz alledem ist der gesellschaftliche Widerstand zu keiner Zeit erloschen. Von Frauen bis hin zu LGBTI+-Personen, von Kurd*innen bis hin zu den Alevit*innen sind weiterhin alle Widerstandsdynamiken aktiv. K\u00e4mpfe wie die der Flormar-Arbeiter*innen [erfolgreicher Arbeitskampf seitens der Arbeiter*innen des Kosmetikwarenherstellers Flormar, Anm. d. \u00dcbers.] und der Arbeiter*innen am 3. Flughafen von Istanbul zeigen, dass auch die Arbeiter*innenklasse jederzeit bereit ist, Widerstand zu leisten. Alle diese Widerst\u00e4nde und K\u00e4mpfe sind eben so viele Quellen der Hoffnung und der St\u00e4rkung unserer Moral. Das oben beschriebene Programm stellt den Rahmen daf\u00fcr dar, all diese gesellschaftlichen Dynamiken revolution\u00e4r vereinen zu k\u00f6nnen \u2013 f\u00fcr das Ziel einer besseren, freieren Gesellschaft f\u00fcr den Gro\u00dfteil der Menschen in unserem Land.
Anmerkungen:
[1] Taktische, vor\u00fcbergehende B\u00fcndnisse sind dabei selbstverst\u00e4ndlich m\u00f6glich und auch wahrscheinlich, vor allem da die Kr\u00e4fte der Restauration im Moment die \u201eOpposition\u201c anf\u00fchren. Letztlich sind weite Teile der Basis der jeweiligen Hauptoppositionsparteien selber f\u00fcr eine demokratische Alternative zu gewinnen.
[2] Im Juli 1908 organisierten die radikalen Elemente der sogenannten Jungt\u00fcrkischen Bewegung einen erfolgreichen Aufstand mit dem Zentrum in den mazedonischen und bulgarischen Gebieten des Osmanischen Reiches gegen den Absolutismus des Sultanats und f\u00fcr die Bewahrung des t\u00fcrkischen Reiches. Sultan Abd\u00fclhamid II. beugte sich ihrer Forderung nach der Wieder-Einf\u00fchrung der Verfassung und die kurzweilige \u201eZweite Verfassungsperiode\u201c (\u0130kinci Me\u015frutiyet) begann; Anm. d. Red.
[3] Die Errichtung der T\u00fcrkischen Republik aus den Tr\u00fcmmern des Osmanischen Reiches infolge des Nationalen Unabh\u00e4ngigkeitskrieges (Kurtulu\u015f Sava\u015f\u0131, 1919-23) unter dem General (Pa\u015fa) Mustafa Kemal wird auch als \u201ekemalistische Revolution\u201c bezeichnet, da sie die radikale Losl\u00f6sung vom Erbe des Osmanischen Reiches beabsichtigte; Anm. d. Red.