Ausz\u00fcge einer Chronik aus Mailand in Zeiten von Corona
\n[Editorial:] W\u00e4hrend sich auch in Deutschland die politischen Ma\u00dfnahmen nahezu t\u00e4glich \u00fcberschlagen und die Fallzahlen der an Covid-19 Erkrankten multiplizieren, ist Italien dem deutschen Szenario bereits neun Tage voraus. Die Genoss*innen vom malaboca Kollektiv legen hier die \u00dcbersetzung einer eindr\u00fccklichen Schilderung Mail\u00e4nder Genoss*innen vor, die den Verlauf der Pandemie in Norditalien aus linker, aktivistischer Sicht zusammenfasst. In den kommenden Wochen und Monaten werden es Zehntausende in Italien und Hunderttausende weltweit mehr sein, welche die gesundheitlichen Folgen des Virus unmittelbar zu sp\u00fcren bekommen - und Millionen, welche die Auswirkungen \u00f6konomisch und sozial zu tragen haben.
11. Januar:
Erster Todesfall in China.
23. Januar:
Zwei chinesische Touristen werden in Rom positiv auf das Virus getestet und werden unter Quarant\u00e4ne gestellt. Die Stadt Wuhan wird unter Quarant\u00e4ne gestellt. Am n\u00e4chsten Tag die angrenzende Stadt.
30. Januar:
Die Weltgesundheitsorganisation WHO deklariert den globalen Notstand (bei 7000 Infizierten und 170 Toten).
01. Februar:
Chinesische Tourist*innen werden in Florenz rassistisch beleidigt. Ungef\u00e4hr zu diesem Zeitpunkt werden die ersten Auswirkungen der Pandemie sp\u00fcrbar - bevor diese sich verwirklicht hat, hat sie sich bereits in Angst verwandelt. Die Suche nach den Schuldigen l\u00e4sst nicht lange auf sich warten. Dieses Mal sind es weder die Juden und J\u00fcdinnen, noch die Ketzer*innen, sondern die Chines*innen. Es kommt vermehrt zu \u00dcbergriffen, Menschen werden bespuckt, geschlagen und mit Flaschen beworfen \u2013 einfach, weil sie in den Augen der Angreifer \u201easiatisch aussehen\u201c. Wo die Menschen letztlich herkommen spielt dabei eigentlich keine Rolle. Allm\u00e4hlich melden sich verschiedene rechte Politiker*innen zu Wort, die versuchen, \u201edie Chines*innen\u201c und \u201edie Ausl\u00e4nder\u201c f\u00fcr die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich zu machen - nat\u00fcrlich ohne jegliche faktische Grundlage.
Diese Momente der direkten und latenten rassistischen Aggression waren begrenzt, jedoch ausreichend vorhanden, um uns einen Vorgeschmack auf die rassistische Dimension, die eine solche Situation mit sich bringen kann, zu geben. In einer anderen Ausgangssituation, das hei\u00dft in einer Situation, in der Gefl\u00fcchtete oder \u201eArmuts-Migrant*innen\u201c direkt beschuldigt worden w\u00e4ren, den Virus nach Italien gebracht zu haben, h\u00e4tte es eine noch st\u00e4rkere Welle der rassistischen Gewalt gegeben. Auf ein solches Szenario w\u00e4ren wir nicht vorbereitet gewesen.
21. Februar:
Der erste Infektionsfall in Codogno wird gemeldet. Angesichts der Trag\u00f6die eine schon fast komische Wendung: Von der Millionenstadt Wuhan zu einer kleinen, unbekannten Stadt im Nichts der Lombardei zwischen den St\u00e4dten Piacenza und Crema.
Wir gehen aus, trinken und treffen Leute. Wuhan erscheint unglaublich weit weg, aber auch Codogno liegt gef\u00fchlt noch in der Ferne. Die Meldungen laufen in den Nachrichten. Es ist nicht vorstellbar, was noch kommen wird. Die Stadt Wuhan steht seit dem 23. Januar unter Quarant\u00e4ne. Obwohl diese Welt eine globalisierte und vernetzte ist, scheint es uns an der F\u00e4higkeit zu mangeln, Informationen zu empfangen, zu verstehen und in konsequentes Handeln zu \u00fcberf\u00fchren. Das Coronavirus in China erschien blo\u00df wie ein mediales Spektakel, gedreht auf einem anderen Planeten.
W\u00e4hrend wir eher fasziniert, als erschrocken die ersten aufgeregten Live-\u00dcbertragungen aus den D\u00f6rfern der unteren Po-Ebene verfolgten, von denen wir hier in der Gro\u00dfstadt noch nie etwas geh\u00f6rt hatten, f\u00fchlten wir uns noch immer gut vor dem gesch\u00fctzt, was wir auf den Fernseherbildschirmen sahen und in den Schlagzeilen lasen. In unseren Kreisen machte sich eine gewisse Skepsis breit. Dazu trat der bitters\u00fc\u00dfe Geschmack, der mit der Vorstellung einherging, eine Apokalypse live mitverfolgen zu k\u00f6nnen und die Widerspr\u00fcche und die Hysterie des Systems gleichsam bewundern und kommentieren zu k\u00f6nnen, w\u00e4hrend unser Alltag davon jedoch schlussendlich unber\u00fchrt bleiben w\u00fcrde.
23. Februar:
Die Suche nach Quarant\u00e4ne-Einrichtungen in den betroffenen Gebieten in Italien beginnt. Es wird an Hoteliers appelliert, ihre R\u00e4umlichkeiten zur Verf\u00fcgung zu stellen. In Mailand werden die Schulen vorerst f\u00fcr eine Woche lang geschlossen.
Das erste Dekret des Ministerrats mit pr\u00e4ventiven Ma\u00dfnahmen wird erlassen. Verbot des Ein- und Ausreisens in und aus den von dem Virus betroffenen Orten in den Regionen Veneto und Lombardei; Aussetzung von Demonstrationen oder anderweitigen Versammlungen jeglicher Natur und Form an \u00f6ffentlichen Orten, einschlie\u00dflich kultureller, sportlicher und religi\u00f6ser St\u00e4tten; vor\u00fcbergehende Schlie\u00dfung von Bildungseinrichtungen f\u00fcr Kinder und junge Erwachsene auf allen Ebenen; Aufhebung aller Bildungsreisen innerhalb und au\u00dferhalb Italiens; vor\u00fcbergehende Schlie\u00dfung von Museen und aller weiteren kulturellen Institutionen des \u00f6ffentlichen Lebens; Reduzierung der Dienste staatlicher und st\u00e4dtischer \u00c4mter bis auf das N\u00f6tigste; Schlie\u00dfung aller kommerziellen Einrichtungen, mit Ausnahme derer, die es zur Grundversorgung der Bev\u00f6lkerung und Aufrechterhaltung der \u00f6ffentlichen Ordnung ben\u00f6tigt; Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Vorsichtsma\u00dfnahmen und dem Tragen bestimmter Schutzausr\u00fcstung; Aussetzung von Bef\u00f6rderungsdienstleistungen f\u00fcr G\u00fcter und Personen \u00fcber Land, Schienen und Binnengew\u00e4sser; Aufhebung der Produktionst\u00e4tigkeit von Unternehmen, sowie Arbeiter*innen in den betroffenen Gebieten.
Nervosit\u00e4t greift um sich. Die Menschen str\u00f6men in die Superm\u00e4rkte und leeren die Regale. Dieser Moment schwebte zwischen dem Unglauben, dass das Virus und die fatalen Auswirkungen, die es mit sich bringt, immer n\u00e4herkommt und der schleichend durchsickernden Angst, die zu unbewussten Gesten f\u00fchrt. Auch in der wirkungsschwachen Debatte innerhalb der \u201eantagonistischen\u201c Mikrowelt der linken Bewegung spiegelt sich diese Zerrissenheit wider. Es gibt auf der einen Seite diejenigen, die sich bem\u00fchen, die Virulenz der Epidemie zu verneinen und sich an den verabschiedeten staatlichen Sonderma\u00dfnahmen abzuarbeiten. Andererseits gibt es die, die dazu aufrufen, den Ernst der Lage zu begreifen. Am darauffolgenden Tag werden die Ma\u00dfnahmen in Mailand versch\u00e4rft: Restaurants und Bars m\u00fcssen nach 18.00 Uhr schlie\u00dfen.
28. Februar:
Nachdem die Schulen geschlossen worden sind und die Medien registrieren, dass die Ansteckungen stetig steigen, beginnt die Wirtschaft Mailands zu leiden. Die Menschen konsumieren nicht mehr genug. Es wird nicht genug zu Abend gegessen in den Restaurants, nicht genug Aperitivos getrunken, zu wenig \u201eshoppen\u201c gegangen. Die Wirtschaft ger\u00e4t zunehmend ins Stocken. Mailand f\u00e4ngt an zu zittern.
Die Lokale d\u00fcrfen wieder \u00f6ffnen. Dabei gilt die Empfehlung, nur am Tisch zu bedienen \u2013 was in den meisten F\u00e4llen nicht eingehalten wurde. Der Mail\u00e4nder B\u00fcrgermeister Guiseppe Sala dreht eine Art Videospot mit dem Hashtag #Milanononsiferma (#Milanoschlie\u00dftnicht). In diesem Video fordert er dazu auf, den Konsum ohne Angst wieder aufzunehmen. Der Sekret\u00e4r des PD (Partido Democratico) Nicola Zingaretti l\u00e4sst sich bei einem Bier an den Kan\u00e4len in Mailand ablichten. Einige Tage sp\u00e4ter wird er positiv auf das Covid-19-Virus getestet. Der Mail\u00e4nder Confcommercio (Handels- und Unternehmervereinigung) l\u00e4dt die Bev\u00f6lkerung dazu ein, den normalen Lebens- und Einkaufszyklus wiederaufzunehmen, auszugehen und einzukaufen. Es wird noch einige Tage dauern, bis auch der Ruf in der Lombardei immer lauter wird, nicht mehr auszugehen, um die Ansteckungen zu stoppen.
Die Regierung scheint zwischen dem Bewusstsein \u00fcber den Ernst der Lage und dem wirtschaftlichen Druck gefangen zu sein \u2013 und ist bem\u00fcht, so bald wie m\u00f6glich wieder zum Normalzustand \u00fcberzugehen. In der Tat gilt diese Zerrissenheit f\u00fcr alle B\u00fcrger*innen, auch f\u00fcr uns. Wir sind unvorbereitet, naiv und ungl\u00e4ubig. Die Anweisungen sind widerspr\u00fcchlich. Die politischen Institutionen fordern eine Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens, die wirtschaftlichen fordern ein Weiter-So.
06. M\u00e4rz:
Der Pr\u00e4sident der Republik Sergio Mattarella spricht zur Nation: \u201eWir m\u00fcssen Vertrauen haben\u201c.
07. M\u00e4rz:
Die Zahlen sprechen f\u00fcr sich. Die Epidemie breitet sich explosionsartig aus - vor allem im Norden Italiens. Es ist kaum zu glauben, doch der Entwurf eines Dekrets erreicht vorzeitig die Zeitungen, w\u00e4hrend er noch im Ministerrat diskutiert wird. Das Dekret besagt, dass die Lombardei und 14 andere Provinzen in Norditalien abgeriegelt werden sollen. Die Zeitungen bringen die Meldung \u00fcber Nacht auf die Titelseite. Das Chaos gewinnt an Fahrt.
Im Einzelnen umfassen die Ma\u00dfnahmen: Verbot des Betretens, wie Verlassens besagter Gebiete. Ausgenommen sind nachgewiesen Arbeitswege oder Bewegungen in Notfallsituationen. Es ist erlaubt, an den Heimatort, sowie an den Wohnsitz oder in die eigene Wohnung zur\u00fcckzukehren. Es gilt ein absolutes Mobilit\u00e4tsverbot f\u00fcr diejenigen, die Quarant\u00e4nema\u00dfnahmen unterliegen. \u00d6ffentliche Veranstaltungen und Sportwettbewerbe werden ausgesetzt. Einrichtungen in den Skigebieten werden geschlossen. Alle bereits organisierten Demonstrationen sind suspendiert. Die Bildungsdienste f\u00fcr Kinder sind ausgesetzt. Die Er\u00f6ffnung von Gottesh\u00e4usern ist an strenge Bedingungen gekn\u00fcpft. Museen und andere kulturelle Einrichtungen und Orte werden geschlossen. Restaurant- und Baraktivit\u00e4ten sind nur noch von 6.00 bis 18.00 Uhr erlaubt. Der Urlaub des Gesundheits- und technischen Personals wird ausgesetzt. Fitnessstudios, Sportzentren, Schwimmb\u00e4der, Schwimmzentren, Wellnesszentren und Kurb\u00e4der werden geschlossen.
Panik macht sich breit. Die Entschuldigung der Regierung f\u00fcr die Fehlkommunikation und die Betonung der restriktiven Ma\u00dfnahmen werden alsbald folgen. Bis kurz davor wird \u00fcber die Situation gelacht oder diese zumindest bel\u00e4chelt. Niemand sah das kommen, was kam. Bis vor Kurzen sollte noch die Wirtschaft funktionieren. Und es ist noch immer von \u201enicht mehr\u201c als einer einfachen Grippe die Rede. Es scheint immer noch alles \u201eunverh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig\u201c. Man nimmt einen Freund, der sagt, er bleibe zu Hause, immer noch nicht ernst, versteht den Ernst der Lage nicht. Nach dem wir nun mehr als eine Woche zu Hause eingesperrt sind, nach dem es immer mehr Todesf\u00e4lle gibt und \u00c4rzte, die krank werden, die Reanimationsst\u00e4tten \u00fcberlastet sind, f\u00fchlen wir uns r\u00fcckblickend wie unverantwortliche Arschl\u00f6cher.
Man f\u00fchlt sich wie infantilisiert. Wir sind auf externe Informationen und Anweisungen angewiesen. Und wir \u00e4rgern uns, wenn sie uns nicht sagen, was wir tun sollen. Eine Autonomie (Autonomia) zu organisieren, sich eine andere Welt vorzustellen, eine Revolution im Lichte dieser Ereignisse zu machen, erfordert viel mehr Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit und Arbeit von unserer Seite. Ein positives Element scheint aus dieser Krise hervorzugehen: die Trennung des Individuums vom Nicht-Individuum/nicht individuellen - diese ethische, politische Kategorie scheint endlich eine direkt wahrnehmbare Inkarnation zu erfahren.
Die K\u00fcrzungen der \u00f6ffentlichen Gesundheitsversorgung sind beschissen. In den Bergen Skifahren zu gehen, w\u00e4hrend man in Quarant\u00e4ne sein sollte, ist ein beschissenes Verhalten. 100 Rollen Toilettenpapier (oder irgendein anderes Produkt) f\u00fcr sich selbst zu kaufen, und anderen dadurch zu berauben, ist schei\u00dfe.
Einige mobilisieren in die entgegengesetzte Richtung; f\u00fcr alle, f\u00fcr das Kollektiv. In Mailand zum Beispiel gr\u00fcnden einige Genoss*innen die \u201eBrigate per l'Emergenza\u201c (Notfallbrigaden), die viele Freiwillige (ausgebildet und gesch\u00fctzt) zusammenbringen und koordinieren. Sie organisieren Menschen, die in der Lage sind, anderen Menschen, die in Schwierigkeiten sind, zu helfen. Denjenigen, die Informationen ben\u00f6tigen, denjenigen, die jemanden brauchen der f\u00fcr sie einkauft oder Medikamente besorgt. W\u00e4hrend eine Flut von \u00c4rzten und Krankenpfleger*innen in den Krankenh\u00e4usern unserer Region grausame Schichten \u00fcbernehmen und sich selbst dabei anstecken, ist es unsere Aufgabe, sich um die Bed\u00fcrftigen zu k\u00fcmmern.
Jetzt gilt f\u00fcr uns: Ein Angriff auf das Kapital bedeutet, dass man sich um die Gemeinschaft k\u00fcmmert, in diesem Moment n\u00fctzliche Dienste f\u00fcr ihr \u00dcberleben zu leisten, und dabei effektiv und glaubw\u00fcrdig zu sein.
08. M\u00e4rz:
Menschen str\u00f6men zu den Bahnh\u00f6fen Mailands und versuchen zu ihrem Heimatort zu gelangen. Es ist eine leichtsinnige Reaktion, die nicht das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus in andere Teile Italiens bedenkt. Sie ist Ergebnis der konfusen Kommunikation der Regierung. Und sie ist Folge von einem Mangel an Empathie und eines Individualismus, welcher in vielen weiteren Reaktionen in diesen Tagen zur Geltung kommt.
09. M\u00e4rz:
Es gibt Aufst\u00e4nde in 26 italienischen Kn\u00e4sten mit zw\u00f6lf Toten in weniger als zwei Tagen. Es ist das erste Mal in unserer j\u00fcngeren Geschichte, dass sich Gef\u00e4ngnisaufst\u00e4nde wie ein Waldbrand in ganz Italien ausbreiten. Und es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass Gefangene* die Kontrolle \u00fcber einzelne Bereiche, oder sogar ganze Kn\u00e4ste \u00fcbernehmen. Den st\u00e4rksten Aufruhr gab es in Modena, wo Gefangene* das gesamte Gef\u00e4ngnis f\u00fcr ein paar Stunden unter ihre Kontrolle gebracht haben. Aber es handelt sich hier auch zugleich um einen der blutigsten K\u00e4mpfe. Mehr als zehn Gefangene* sind bei dem Aufstand gestorben. Bisher hat sich der Staat nicht einmal bem\u00fc\u00dfigt gef\u00fchlt, eine offizielle Version der Todesumst\u00e4nde vorzulegen.
Bei den vielen Bildern dieses Tages, sind jene vielleicht die Eindr\u00fccklichsten: Verschiedene Gruppen von Frauen* und Unterst\u00fctzer*innen (M\u00fctter, Ehefrauen und Kinder der Gefangenen) vor den Toren der Kn\u00e4ste in Mailand, Neapel, Rom, Ferrara, Bologna, Rieti und Pescara, besorgt um die Gesundheit ihrer Liebsten und lautstark fordernd \u201eLasst sie frei, begnadigt sie, Amnestie\u201c. Ein anderes eindr\u00fcckliches Bild ist jenes von Gefangenen* w\u00e4hrend des Aufstands, die auf das Gef\u00e4ngnisdach in San Vittore (Mailand) klettern und ein Banner mit der Aufschrift \u201eFreiheit\u201c halten, w\u00e4hrend im Hintergrund schwarzer Rauch aus einem angrenzenden Gef\u00e4ngnisbereich in den Himmel steigt. Ein letztes Bild ist jenes der Flucht von \u00fcber 40 Gefangenen aus dem Knast in Foggia - aufgenommen von \u00dcberwachungskameras.
Italienische Kn\u00e4ste waren schon vor der aktuellen Situation am Rande des Kollapses. Sie gelten als v\u00f6llig \u00fcberf\u00fcllt. Die hygienischen und sanit\u00e4ren Bedingungen sind an den Grenzen des Ertragbaren. Als die Coronavirus-Epidemie in Italien immer schlimmer wurde, dachte die Regierung nicht im Geringsten daran, die Gef\u00e4ngnisse zu leeren - wie es sogar von einigen Richtern gefordert wurde. Sie erlie\u00df stattdessen absurde Ma\u00dfnahmen, wie beispielsweise ein Gespr\u00e4chsverbot (ausgenommen per Video und Telefon), ein Verbot Post entgegenzunehmen oder weitere Beschr\u00e4nkungen des Zutritts und Verlassens des Gef\u00e4ngnisses.
Es folgt das Dekret #iorestoincasa (#ichbleibezuHause). Die \u201eRote Zone\u201c wird auf ganz Italien erweitert. Einzelhandelsgesch\u00e4fte m\u00fcssen schlie\u00dfen, Ausnahmen gelten nur f\u00fcr den Verkauf von Nahrungsmitteln und f\u00fcr G\u00fcter zur Befriedigung von Grundbed\u00fcrfnissen. Gastst\u00e4tten und Restaurants m\u00fcssen schlie\u00dfen (dazu z\u00e4hlen auch Bars, Kneipen, Eisdielen und B\u00e4ckereien). Dienstleistungen mit direktem Kontakt werden ebenso verboten (dazu geh\u00f6ren u.a. Friseure und Kosmetiksalons). Banken, Finanzdienstleistungen und Versicherungen bleiben ge\u00f6ffnet. Ebenso wie die Landwirtschaft und Tierhaltung zur Nahrungsmittelherstellung. Bei den wirtschaftlichen T\u00e4tigkeiten wird den Unternehmen empfohlen, so viel Home-Office wie m\u00f6glich zu nutzen. Lohnabh\u00e4ngige sollen Anreize erhalten, bezahlten Urlaub zu nehmen. Sicherheitsvorschriften zur Kontaktvermeidung werden eingef\u00fchrt und sanit\u00e4re Ma\u00dfnahmen werden gef\u00f6rdert.
10. M\u00e4rz:
In Frankreich verkleiden sich Menschen als Schl\u00fcmpfe und ziehen unter dem Motto \u201edas Virus wegschlumpfen\u201c durch die Stra\u00dfen. \u201eVersteht ihr nicht, was hier los ist?\u201c - das sind unsere Ansagen an unsere Freund*innen, die weit weg sind - in den USA, in Frankreich oder Deutschland. Es erscheint uns schon verr\u00fcckt, wie sehr wir uns nach so kurzer Zeit bereits verantwortlich f\u00fchlen. Wir haben keinen Krieg, keinen wirklichen Hunger und keine Pest erlebt, doch nun sehen wir uns dennoch mit einer historischen Situation konfrontiert. Im Angesicht der realen Katastrophe, die kein blo\u00dfes Gedankenspiel ist, bringen uns die klassischen Diskurse um Biopolitik und die staatliche Kontrolle der Bev\u00f6lkerung nicht weiter auf dem Weg zu einer kollektiven Antwort.
Sich die H\u00e4nde zu waschen, sich nicht in Gruppen zu versammeln, zu Hause zu bleiben, jede Form des allt\u00e4glichen Lebens zu unterbrechen, sind verantwortungsbewusste Handlungen. Es sind Formen einer grundlegenden Empathie, um die Verbreitung des Virus einzud\u00e4mmen. Wir m\u00fcssen verstehen, dass diese Handlungsweisen tats\u00e4chlich in der Lage sind uns, unsere Liebsten und all die \u00e4lteren Menschen, die wir nicht pers\u00f6nlich kennen, zu retten. Es geht darum den Druck von den \u00f6ffentlichen Krankenh\u00e4usern zu nehmen, bei denen die Effekte der vergangenen Einsparungen in der \u00f6ffentlichen Gesundheit jetzt zu erleben sind.
Die zwingende Notwendigkeit des Augenblicks liegt darin, sich nicht von den Geschehnissen zu entfremden. Es gibt einen realen Ausnahmezustand, der nach wie vor die Ausgeschlossenen, Vergessenen und \u00dcberfl\u00fcssigen am St\u00e4rksten trifft. In den Verlautbarungen der \u201egeeinten Nation\u201c zur Pandemie tauchen etwa Gef\u00e4ngnisse und Fabriken nicht auf.
Es ist nicht die Zeit, um die eine Variante von \u201eantagonistischem\u201c Denken gegen die andere auszuspielen. Das gliche einem l\u00e4cherlichen Wettrennen von denjenigen, die nach der einzig wahren Interpretation zur derzeitigen Situation suchen. Ereignisse \u00fcberkommen uns, wir mussten das immer wieder lernen. Durch diese Ereignisse lernen wir, wie unsere Gedanken (um)geformt werden, wie sie sich in der Realit\u00e4t behaupten m\u00fcssen. Selbstverst\u00e4ndlich be\u00e4ngstigen uns die neuen Sicherheitsma\u00dfnahmen und die Frage, was und wie lange sie bleiben werden, wenn die Notsituation vorbei ist. Wie sie verwendet werden, wie es weitergeht \u2013 wenn nicht einmal im Moment des Kollapses die Fabriken und die Gef\u00e4ngnisse geschlossen werden.
10. M\u00e4rz:
Die B\u00f6rsenkurse brechen ein.
11. M\u00e4rz:
Der Pr\u00e4sident der \u00c4rztevereinigung der Provinz Varese stirbt.
13. M\u00e4rz:
Boris Johnson erkl\u00e4rt: \u201eGew\u00f6hnt euch dran, eure Liebsten zu verlieren\u201c. Der Plan der britischen Regierung scheint es zu sein, 60 Prozent der britischen Bev\u00f6lkerung zu infizieren, um eine Herdenimmunit\u00e4t zu entwickeln.
Eine Welle von spontanen Streiks findet in ganz Italien statt \u2013 initiiert durch die Gewerkschaft Si.Cobas. In den Fabriken wird trotz der Notlage weitergearbeitet. Dies ist ein Auszug aus einem Zeitungsartikel, der von dem Treffen zwischen Regierung und Arbeitgeberverband berichtet und die Situation gut zusammenfasst:
\u201e(\u2026) Die Unternehmen beharren auf eigenverantwortlicher Selbst-Regulierung, die weniger restriktiv und ohne Sanktionen ist. Eine Art freiwilliger Kodex von guten Verhaltensregeln, die Unternehmen befolgen k\u00f6nnen oder nicht, in vollst\u00e4ndiger Unabh\u00e4ngigkeit, ohne dies mit Betriebsr\u00e4ten oder den Arbeiter*innen direkt abstimmen zu m\u00fcssen. Und ohne zur Schlie\u00dfung gezwungen zu werden, wenigstens f\u00fcr ein paar Tage, um die sanit\u00e4ren Einrichtungen in Ordnung zu bringen (\u2026)\u201c.
Der Bericht eines Arbeiters:
\u201eEin Freund ist bis gestern zur Arbeit gegangen. Er hatte seinem Vorgesetzen eine E-Mail geschrieben, dass die Arbeitsumst\u00e4nde nicht angemessen seien. Zu viele Menschen im B\u00fcro, keine Masken, die Kantine noch in Betrieb. Seine Warnung wurde erst ignoriert und als die Vorgesetzten genervt waren, wurde ihm individuell angeboten von zu Hause zu arbeiten, ohne die Schutzma\u00dfnahmen f\u00fcr die anderen auszuweiten. Am 15. M\u00e4rz musste ein Arbeitskollege von ihm wegen der Infizierung mit dem Corona-Virus an ein Beatmungsger\u00e4t angeschlossen werden und zwei weitere Kollegen wurden ebenfalls positiv getestet. Daraufhin ist eine andere Kollegin mit Mundschutz auf die Arbeit gekommen und wurde von den Securities und dem Vorgesetzten aufgefordert, sie abzunehmen, um die Verbreitung von Panik zu vermeiden. Ihre Bitte, diese Anweisung schriftlich zu bekommen, f\u00fchrte dazu, dass auch sie von zu Hause arbeiten konnte. Am n\u00e4chsten Tag folgten viele dem Beispiel und kamen mit Mundschutz, um nicht mehr im Betrieb arbeiten zu m\u00fcssen.\u201c
Das Kapital und die Bosse werden immer das Geld und den Profit \u00fcber das Leben und die Gesundheit der Menschen stellen \u2013 das ist keine neue Einsicht, aber in der jetzigen Situation umso offensichtlicher.
14. M\u00e4rz:
Chinesische Hilfe f\u00fcr Italien: Material, Experten und die Arbeitsergebnisse von tausenden \u00c4rzt*innen.
15. M\u00e4rz:
In Italien gibt es nach offiziellen Angaben mindestens 20.603 Infizierte, 1.809 Tote, 2.333 Geheilte und 1.672 Personen in Intensiv-Behandlung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erkl\u00e4rt die Corona-Virus-Epidemie zur Pandemie. Sie merkt eine \u201eAlarmierende Unt\u00e4tigkeit der Regierungen\u201c an.
16. M\u00e4rz:
27.980 Infizierte in Italien. In 24 Stunden gibt es 2.470 F\u00e4lle mehr, die Gesamtzahl der Gestorbenen liegt bei 2.158. Die Anzahl der Toten steigt um 349 an nur einem Tag. 7.000 Tote gibt es bereits weltweit. Die EU isoliert sich selbst und schl\u00e4gt die Schlie\u00dfung der Au\u00dfengrenzen vor. In Italien ist Sizilien isoliert. Das Betreten, wie Verlassen der Insel ist verboten.
Es folgt ein B\u00f6rsencrash. Die Regierung k\u00fcndigt ein weiteres Ma\u00dfnahmenpaket an: D1 \u201eCura Italia\u201c. 25 Milliarden Euro f\u00fcr Unternehmen und Familien. Die Gef\u00e4ngnisse in der Lombardei \u201ekollabieren\u201c. Der Haftrichter bittet Minister Bonafede alle Haftstrafen unter vier Jahren und verringerte Haftstrafen in Hausarrest umzuwandeln, weil die Gef\u00e4ngnisse zu platzen drohen. Das Risiko von Ansteckungen sei sehr hoch und es k\u00f6nnten neue Aufst\u00e4nde ausbrechen.
Die USA testen den ersten Impfstoff gegen Covid-19 mit einem Meerschweinchen. Die Stadt New York schlie\u00dft Schulen, Bars und Restaurants. In Las Vegas gehen die Lichter in den Casinos aus.
Es handelt sich um die \u00dcbersetzung eines Textes von unterschiedlichen Genoss*innen aus Mailand durch das malaboca-Kollektiv. Viele sind nun auch in den \u201eBrigate Volontarie per l\u2019emergenza\u201c aktiv.