F\u00fcr eine Revolutionierung der Migrantifa
\nDas neue Feature: re:wire
Premiere: Ab heute stellen wir auch Audiodateien einiger bei uns ver\u00f6ffentlichter Texte zum Anh\u00f6ren zur Verf\u00fcgung. F\u00fcr all die, die die Revolution auch h\u00f6ren und nicht nur lesen wollen! Der folgende Beitrag wurde eingesprochen und bearbeitet von CeeJay und Emexota.
Bei dem rechten Terroranschlag in Hanau vom 19. Februar 2020 wurde Ferhat Unvar, G\u00f6khan G\u00fcltekin, Hamza Kurtovic\u0301, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat G\u00fcrb\u00fcz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Paun, Fatih Sarac\u0327o\u011flu und der Mutter des T\u00e4ters das Leben genommen. Wir wollen ihre Namen nicht vergessen. Jede*r von ihnen hat eine Familie, Angeh\u00f6rige und Freund*innen, die nun tagt\u00e4glich damit zu k\u00e4mpfen haben, dass ihre Lieben aus dem Leben gerissen wurden.
Tobias R. war kein Einzelt\u00e4ter. Er war ein bewaffneter Faschist, der Netzwerke hatte, sozial eingebunden war, arbeiten ging, Kolleg*innen und Familie hatte. Da drau\u00dfen gab und gibt es viele wie ihn. Die Gefahr f\u00fcr Migrant*innen in Deutschland ist nicht erst seit #Hanau da. Das Problem hei\u00dft Rassismus.
Kollektive Erinnerung
Nach dem Anschlag waren wir mit vielen auf der Stra\u00dfe, in K\u00f6ln an der Keupstra\u00dfe an Weiberfasnacht, in Hanau am Samstag nach den Morden. Danach ging es im Netz weiter. Wir haben das Gespr\u00e4ch miteinander gesucht \u2013 als Genoss*innen, Freund*innen, Kolleg*innen und mit unseren Familien. Die Schweigeminute in Hanau vor der Shishabar, in der neun Menschen erschossen wurden, hallt noch immer in uns nach. Sie f\u00fchrt uns einmal mehr vor Augen: Den vermeintlichen Einzelt\u00e4tern brennt nicht mal eben die Sicherung durch. Ihre rassistisch motivierten Morde sind das Ergebnis einer Legitimierungsspirale des neuen Faschismus. Ihre psychische Labilit\u00e4t ist fester Bestandteil des stochastischen (also in ihrem konkreten Ziel zufallsbedingten, Anm. Red.) Terrorismus, der sowohl paranoide und wahnhafte Vorstellungen, als auch ein rechtes Weltbild beinhaltet.
Es stelle sich wieder dieses Schaudern ein, erz\u00e4hlt eine Genossin von uns. Dieses Schaudern, das sie erstmals 2011 \u2013 damals war sie 16 Jahre alt und der NSU hatte sich selbst enttarnt \u2013 sp\u00fcrte; sp\u00e4ter dann im Sommer 2015, als der rassistische Mob in Heidenau tobte und dann wieder und wieder nach der Ermordung von Walter L\u00fcbcke im vergangenen Sommer, nach dem Anschlag in Halle vor ein paar Monaten. Am Tag nach den Morden in Hanau sagte sie zu einem Genossen, w\u00e4hrend sie das Banner mit der Aufschrift \u201eGegen Naziterror und Rechtsruck\u201c mit anderen durch M\u00fclheim trug: \u201eIch hatte mir, als wir das Transparent malten, nicht erhofft, dass wir es so schnell wieder einsetzen m\u00fcssten.\u201c
Der Rassismus in der deutschen Gesellschaft ist allgegenw\u00e4rtig. Rassismuserfahrungen, politische Ohnmacht gegen\u00fcber der Herrschaft des Grauens, die h\u00e4sslichsten Fratzen der bundesdeutschen Gesellschaft, die sich in Hanau zeigten: Der Umgang mit all dem ist notwendig ein anderer f\u00fcr die, die davon betroffen sind und betroffen gemacht werden. Wir wollen einige Punkte hervorheben, die unseres Ermessens nach im aktuellen linken und antirassistischen Diskurs zu wenig Erw\u00e4hnung finden \u2013 und auch in der Organisationsdebatte um die Migrantifa, die daraus folgt. Kurz nach dem Anschlag und auch jetzt gibt es Momente des kollektiven Gedenkens. Sie dr\u00fccken sich unter anderem durch sogenannte Share Pics in den Sozialen Medien bis hin zur \u00f6ffentlichen Anteilnahme von Personen des \u00f6ffentlichen Lebens aus, wie etwa im frisch erschienen Soli-Track \u201eBist du wach?\u201c. Jedes geteilte Bild und jeder Klick f\u00fcr den Track sind erste richtige Schritte zur Kollektivierung der Anteilnahme \u2013 gegen die linksliberale Deutungshoheit und die vermeintlichen warmen Worte von Politiker*innen. Die Reaktionen des Staates, die etwa in der Aufstockung des Personals in der Bek\u00e4mpfung von \u201eRechtsextremismus\u201c bestehen, sind Tropfen auf den hei\u00dfen Stein. Wir m\u00fcssen mehr wollen und tun!
\u201eYou can\u2018t have capitalism without racism!\u201c (Malcolm X)
Wenn wir \u00fcber Rassismus sprechen, gehen wir \u00fcber das Verst\u00e4ndnis von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Ausl\u00e4nderfeindlichkeit oder Diskriminierung hinaus. Wir meinen die systematische Rassifizierung von Menschen im Kapitalismus. Vereinfacht gesagt: Die Menschen stehen in diesem System in Konkurrenz zueinander; es finden fortlaufend K\u00e4mpfe statt, die mit unterschiedlichen Ressourcen ausgefochten werden m\u00fcssen. Mit dem Kolonialismus und einer europ\u00e4ischen Erz\u00e4hlung der Eroberung und vor allem Nutzbarmachung des Erdballs als Reichtum und \u201eErrungenschaft\u201c des Abendlands, tritt die systematische Rassifizierung von Menschen in wei\u00df und europ\u00e4isch = Herrenrasse und nicht-wei\u00df = minderwertig und Ausbeutungsobjekt, auf die Karte. F\u00fcr Frauen und Queers, Trans und Non-Binaries hat diese \u00dcberkreuzung von Widerspr\u00fcchen weitere spezifische Auswirkungen auf ihre Lebensrealit\u00e4ten. Gemeinsamkeiten treten in den Hintergrund, weil diese Realit\u00e4ten so verschieden erscheinen. F\u00fcr alle von Rassismus Betroffenen ist hingegen die Gewissheit real, dass sie systematisch in nu\u0308tzlich oder unbrauchbar selektiert werden.
Das oben und unten im Kapitalismus legitimiert den Rassismus. Denn augenscheinlich ist der Zugang zu den Ressourcen ungleich verteilt. Er gestaltet sich f\u00fcr jene, die rassistisch ausgegrenzt werden, deutlich schwieriger. Bei der Zuweisung eines spezifischen Platzes in dieser Gesellschaft greifen Klassenverh\u00e4ltnisse und Rassismus ineinander. Um es konkret zu machen: So lange Migrant*innen ihre Arbeitskraft gewinnbringend f\u00fcr den deutschen Staat verkaufen, sind sie geduldet, niemals aber erw\u00fcnscht. Andersherum: Auch reiche Migrant*innen sind von Rassismus betroffen, auch wenn sie \u00fcber mehr materielle Ressourcen verf\u00fcgen, f\u00fcr die sie oftmals deutlich erbitterter k\u00e4mpfen m\u00fcssen. Integration hin oder her. Auch als Spieler in der deutschen Nationalmannschaft wirst du nie richtig dazu geh\u00f6ren.
Bundesdeutscher Rassismus
Eine von uns schreibt: Ich bin in Deutschland geboren. Ich bin wei\u00df. Ich habe studieren k\u00f6nnen, weil meine Mutter, die Migrantin ist und bis heute keine deutsche Staatsb\u00fcrgerschaft haben m\u00f6chte, weil sie sich nicht vollst\u00e4ndig als Deutsche sieht, hierher gekommen ist. Sie hat viel gearbeitet und mich, ihre Tochter, unterst\u00fctzt, damit ich eine Deutsche sein konnte, mit deutschem Namen und deutscher Staatsb\u00fcrgerschaft, und nicht die Erfahrungen machen musste, die sie erlebt hat. Sie sei fr\u00fcher h\u00e4ufig in Hanau gewesen, erz\u00e4hlt meine Mutter eine Woche nach dem Anschlag. Dort war die zentrale Ausl\u00e4nderbeh\u00f6rde. Als sie von dem Anschlag in Hanau erfuhr, berichtete sie mir davon, wie es war, vor \u00fcber 40 Jahren nach Deutschland zu kommen. Was sie mit Hanau verbindet? Rassistische G\u00e4ngeleien, ekelhafte \u00c4rzte, die sie in den G\u00e4ngen der Beh\u00f6rden \u201euntersuchten\u201c, die Freude \u2013 nach zehn Jahren \u2013 \u00fcber einen unbefristeten Aufenthalt. Und nie wieder Hanau.
Das, was sie und die Betroffenen und Opfer von Hanau, migrantische Genoss*innen und Freund*innen teilen, ist die gemeinsame Erfahrung von Rassismus. Die Geschichten und Auspr\u00e4gungen der Erfahrungen sind sehr subjektiv und unterschiedlich: Allt\u00e4glicher Rassismus auf der Stra\u00dfe oder bei der Arbeit bis hin zu den Morden von geliebten Menschen, die einfach so von dreckigen Faschisten get\u00f6tet wurden. Wenn wir diese Erfahrungen kollektivieren wollen, dann mu\u0308ssen wir aber mehr fordern und tun, als Migrantifa aktuell leistet.
Umsturz statt Kaltland
Wir brauchen mehr Stimmen, die fragen: Wer ist diese Gesellschaft der Vielen? Mit der Fokussierung auf das viele Verschiedene, das schon jetzt da ist, ger\u00e4t der Blick auf das Gemeinsame aus dem Fokus \u2013 das Gemeinsame der rassistischen Erfahrungen, das Gemeinsame m\u00f6glicher Perspektiven. Viele sind seit Generationen hier, sind seit Jahrzehnten antifaschistisch organisiert. Sie k\u00e4mpfen jeden Tag gegen den rassistischen Normalvollzug. Auf dem Arbeitsmarkt, in der Ausl\u00e4nderbeh\u00f6rde, auf dem Schulhof und in den Klassenzimmern. Das macht vor allem eines deutlich: Ein St\u00fcck Kaltland f\u00fcr uns h\u00e4lt den Faschismus nicht auf. Wir sind handelnde politische Subjekte, die einordnen k\u00f6nnen, warum unsere M\u00fctter in der Ausl\u00e4nderbeh\u00f6rde geg\u00e4ngelt wurden; unsere Freund*innen und Genoss*innen tagt\u00e4glich dumm angeschaut werden in der Bahn, weil ihre Hautfarbe nicht-wei\u00df ist; warum Tobias R. einen Waffenschein besa\u00df, warum unz\u00e4hlige Nazis im Untergrund bewaffnet auf ihre Stunde warten und warum Hanau wahrscheinlich nicht der letzte rechte Terroranschlag war.
Dieser Staat hat den m\u00f6rderischen Rassismus zu verantworten. Er ist mit seinen Institutionen und ideologischen Apparaten der Organisator dieser menschenverachtenden Zust\u00e4nde. Deshalb haben wir uns antifaschistisch, feministisch und antirassistisch organisiert. Weil wir mit anderen zusammengekommen sind, um die Ohnmacht zu \u00fcberwinden und f\u00fcr ein gemeinsames Ziel zu streiten \u2013 diesen Staat und seine Klassenherrschaft abzuschaffen. Wir brauchen in der Konsequenz keine Gesellschaft der Vielen, sondern Viele mehr gegen den Faschismus. Migrantifa l\u00e4uft derzeit Gefahr, ein migrantisches Subjekt innerhalb des Bestehenden zu schaffen, welches aber nur handeln und sprechen darf, wenn es eben nicht gleich zum Umsturz dieser Verh\u00e4ltnisse aufruft. Doch genau das wollen wir: Wir wollen st\u00f6ren, revoltieren und mehr werden mit denen, die unser Ziel teilen.
Wir wollen unser Ziel ins Verh\u00e4ltnis setzen: Wir fordern die l\u00fcckenlose Aufkl\u00e4rung der staatlichen und beh\u00f6rdlichen Beteiligung bei den rassistischen Morden. Wir fordern mehr Beratungsstellen, an die sich Opfer von Rassismus wenden k\u00f6nnen. Und wir wollen die Forderungen zusammenbringen und daf\u00fcr k\u00e4mpfen, dass kein Mensch mehr Angst haben muss, in eine Shishabar zu gehen, vor Ende des Monats kein Geld mehr f\u00fcr Essen zu haben, auf dem Amt zu sitzen und schikaniert zu werden. Wir brauchen deshalb nicht nur mehr Migrantifa und Protest f\u00fcr Menschenrechte, sondern auch eine gemeinsame Organisierung und eine offensive Linke, die sich weder hinter linksliberalen Forderungen und Appellen an den Staat versteckt, noch \u201edie Migrantifa\u201c vorschickt im Kampf gegen den Faschismus. Besonders jetzt gilt es, den Druck zu erho\u0308hen und Institutionen des Rassismus und der Abschottung anzugreifen.
Wir appellieren auch an die deutsche Antifa-Bewegung, die Entnazifizierung dieses Landes voranzutreiben. Konkrete Handlungsangebote machen beispielsweise die Initiative in Gedenken an Ramazan Avc\u0131 mit dem Aufruf zum Tag des Zorns am 8. Mai, die Initiative Herkesin Meydan\u0131 f\u00fcr ein Mahnmal an der Keupstra\u00dfe und viele andere Initiativen, die vielerorts an der Realisierung der Losung \u201eErinnern hei\u00dft k\u00e4mpfen\u201c arbeiten. Nicht zuletzt haben auch die Verteilungsk\u00e4mpfe, die in der aktuellen Krise ausgehandelt werden und vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, sowie Frauen* besonders hart treffen, das Potenzial, in antirassistischen als auch antikapitalistischen kollektiven Widerstand verwandelt zu werden.