re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=932018-10-16T10:21:49.411108+00:00Von Saarbrücken bis zur Frontlinie. Wie Rojava in deutsche Gerichtssäle gebracht wird2018-10-16T10:12:43.876225+00:002018-10-16T10:21:49.411108+00:00Robert Coppiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/von-saarbr%C3%BCcken-bis-zur-frontlinie-wie-rojava-deutsche-gerichtss%C3%A4%C3%A4le-gebracht-wird/
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<h1>Von Saarbrücken bis zur Frontlinie. Wie Rojava in deutsche Gerichtssäle gebracht wird</h1>
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<img alt="Besetzung der Saarbrücker Hauptsparkasse, März 2015" height="420" src="/media/images/20181012-sparkasse-saarbrueck.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">ANF</span>
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</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Am
17.10.2018 wird mehreren linken Aktivist*innen<a href="https://anfdeutsch.com/aktuelles/prozesse-wegen-protest-gegen-kuendigung-eines-solidaritaetskontos-7130"> in
Saarbrücken der Prozess gemacht</a>, welche in der dortigen Hauptsparkasse vor über drei
Jahren gegen eine Kontoschließung protestierten. Im Oktober 2014,
als der sogenannte Islamische Staat (Daesh) begann Kobanê zu
überfallen, wurde von der Initiative „Solidarität mit Rojava“
ein Spendenkonto eingerichtet. Dessen Inhalt sollte der
Selbstverwaltung Rojavas übergeben werden. Innerhalb weniger Monate
wurden über 109.000€ gesammelt. Die Spendenbereitschaft war hoch
zu dieser Zeit. Der Kampf gegen Daesh bestimmte die Schlagzeilen.
Dessen effektivste Gegner*innen, die kurdischen
Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ wurden bis in die Mitte der
deutschen Gesellschaft hinein gefeiert. Im August 2014 gelang es den
YPJ/YPG und der Guerilla der PKK (HPG) einen Fluchtkorridor aus dem
von Daesh besetzten Şengal
nach Rojava frei zu kämpften. Daraufhin fanden diese Einheiten und
das Projekt Rojava international große Beachtung. Die gesamte
Weltöffentlichkeit schaute auf den Kampf um Kôbane, der Sieg der
Genoss*innen gegen Daesh wurde von vielen begeistert aufgenommen.
</p><h2>
Vorauseilender
Gehorsam</h2>
<p>
Im April
2015 wurde das Spendenkonto dann von der Sparkasse Saarbrücken
gesperrt. Zunächst gab sie hierfür keine Gründe an. Später
begründete die Sparkasse ihr Vorgehen damit, dass das Geld für
PKK-nahe Kämpfer bestimmt sei, diese Organisation sei in Deutschland
verboten.
</p>
<p>
Das PKK
Verbot diente hier also, wie in vielen anderen Fällen, als Handhabe
zur Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung. Dies geschah
in diesem Fall darüber hinaus in Eigeninitiative der Bank – der
Staat musste nicht eingreifen. Als Reaktion auf dieses Vorgehen fand
am 19.05.2015 eine Sitzblockade in den Geschäftsräumen der
Sparkasse statt. Diese hatte das Ziel, Solidarität mit dem Kampf in
Rojava auszudrücken. Außerdem sollte die Kooperation Deutschlands
mit dem türkischen Regime und die Übernahme der
Terrorismus-Definition desselben, die auch in der BRD zur Repression
fortschrittlicher Aktivist*innen dient, in die Öffentlichkeit
gerückt werden.
</p>
<h2>
Der Wolf
mit dem Olivenzweig</h2>
<p>Mehr
als drei Jahre sind seit der Blockade und der ihr zugrunde liegenden
politischen Situation in Rojava nun vergangen. Die Genoss*innen der
YPG/YPJ haben Daesh mittlerweile militärisch nahezu vollständig
besiegt. Die politische Lage ist heute eine andere: Deutschlands
NATO-Partner Türkei unterstützt nicht mehr nur den IS logistisch
und finanziell, sondern führt selbst einen offenen Angriffskrieg
gegen Rojava. Bei ihrem Vorstoß auf Afrin setzte die türkische
Armee mit ihren djihadistischen Verbündeten deutsche Leopard 2
Panzer ein. Allein in den ersten fünfeinhalb Wochen des zynisch
„Operation Olivenzweig“ genannten Angriffs genehmigte die
Bundesregierung Exporte
deutscher Rüstungsgüter im Wert von 4,4 Millionen Euro. Dies stand
in krassem Gegensatz zu den Behauptungen des damaligen SPD
Außenministers Sigmar Gabriel, dass die Türkei nicht in ihrem
Angriffskrieg unterstützt werde. Das Bild der türkischen Soldaten,
die den faschistischen Wolfsgruß zeigend auf Leopard 2 Panzern
stehen, versinnbildlichte die Kollaboration Deutschlands mit dem
Angriffskrieg auf unsere Genoss*innen.</p>
<h2>
Der
Humanismus der deutschen Außenpolitik</h2>
<p>In
der Bewertung dieses Angriffskrieges wurde offen mit zweierlei Maß
gemessen. Die Menschenrechtsverletzungen, welche sich die Regierung
Erdogan zuschulden kommen ließ, wurden zwar sichtbar, aber kurz
kommentiert. Danach verließen sie sowohl die Debatten als auch die
Kommentarspalten der Republik. Sehr viel konsequenter und
ausdauernder wurde und wird über die Verbrechen des Diktators Bashar
Al-Assad berichtet. Dieser ist neben seiner Eigenschaft, ein
mörderischer Diktator zu sein, eben auch mit dem russischen Staat
und dessen geopolitischem Machtblock verbunden. Ergo wird die
humanistische Kritik, die gegen das System Erdogan unterbleibt, gerne
gegen ihn gerichtet. Aus Afrin hingegen dringen schon seit Monaten
keine Nachrichten mehr in die deutsche Öffentlichkeit, was nicht
daran liegen kann, dass die türkische Armee und ihre Milizen
besonders humanistisch agieren – <a href="https://jacobinmag.com/2018/09/afrin-turkey-syria-repression-media-violence">das
Gegenteil tun sie</a>. Die Kritik
an den Verbrechen in Syrien denunziert sich durch diese
Doppelbödigkeit offen als Interessenpolitik, die mit wohlklingenden
Demokratiephrasen geostrategisches Agieren kaschiert.
</p><h2>
Wind
of Change</h2>
<p>
Die
NATO billigte den Vormarsch der türkischen Armee über die syrische
Grenze auf Afrin. Zwar arbeiteten die USA im Kampf gegen Daesh noch
mit den Volksverteidigungseinheiten zusammen, jedoch wurden diese,
nachdem Daesh größtenteils zerschlagen war, von der NATO fallen
gelassen. Dabei spielt die BRD innerhalb der NATO nochmals eine
besondere Rolle. Die BRD und die Türkei sind nicht nur über
wirtschaftliche Interessen fest verflochten. Auch politisch herrscht
eine enge, arbeitsteilige Beziehung: Dank dem EU-Türkei
Migrationsdeal führt die BRD gerne aus, was der türkische Staat
fordert. Die Devise lautet: EU Außengrenzen werden auch in der
Türkei verteidigt. Dies spüren Gegner*innen des türkischen
Regimes, deren Verfolgung auch hierzulande stattfindet. Die
politische Konjunktur hat sich geändert: Waren zu Zeiten der
Protestaktion in der Sparkasse selbst aus CDU-Kreisen noch
Forderungen nach der Aufhebung des Verbots der PKK zu hören, werden
heute Menschen sogar dafür angeklagt die Fahnen der YPG/YPJ
öffentlich zu zeigen oder auch nur bei Facebook zu teilen.</p>
<h2>
Global
agieren heißt hier kämpfen</h2>
<p>
Durch
den Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind hierzulande bereits
Verbote von Versammlungen und Vereinen, Durchsuchungen und so weiter
möglich, ohne dass dies einen nennenswerten öffentlichen Aufschrei
hervorrufen würde. Sowohl die deutsche Politik als auch die
Medienberichterstattung versuchen, die Auseinandersetzung zwischen
dem autoritären Projekt der modernen Türkei und dem demokratischen
Konföderalismus, welcher in Rojava praktiziert wird, zu einem
innertürkischen Konflikt zu deklarieren. Es wird der Eindruck
erweckt, als ob die BRD nichts damit zu tun habe. Diese ist jedoch
über die wirtschaftlichen und politischen Verbindungen aktiver
Player in diesem Konflikt. Das Projekt Rojavas, als einzig
emanzipatorischer Alternative im mittleren Osten, hat eine
Strahlkraft weit über diese Region hinaus, es verdient die
Unterstützung aller fortschrittlichen Menschen. Trotz aller
Widersprüche hat es den Kampf gegen Patriarchat, Rassismus und
Kapitalismus implementiert. Es muss verteidigt werden. Auf den
Versuch der Partikularisierung und Abspaltung, den Versuch der
bundesdeutschen Eliten, den Konflikt als einen innertürkischen
Machtkampf darzustellen, muss die Antwort heißen: Internationale
Solidarität, in den Bergen, in der Bank, im Gerichtssaal!</p></div>
</section>
</article>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
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Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
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<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
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<img alt="Afrind wird bombardiert" height="420" src="/media/images/Afrin.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
</section>
</article>
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Tötet den Metropolenchauvinismus in eurem Kopf!2017-11-15T11:11:31.148997+00:002018-01-20T23:21:29.023340+00:00Erdal Firazredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-den-metropolenchauvinismus-eurem-kopf/
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<h1>Tötet den Metropolenchauvinismus in eurem Kopf!</h1>
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<span class="content-copyright">Eren Kansoy</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p>Seit der Rojava-Revolution
interessieren sich verschiedenste linke Bewegungen in Deutschland für
die kurdische Bewegung. Themen wie internationale Solidarität und
Internationalismus gewinnen von Neuem an Bedeutung für die hiesige
Linke. Viele verschiedene Gruppen und Strömungen, die sich sonst
innerhalb der linken Szene nicht über den Weg trauen, sind sich
plötzlich darin einig, dass die Revolution von Rojava ein Thema ist,
bei dem mensch wieder mal zusammenkommen und gemeinsam agieren kann.
Sofern man natürlich über seinen eigenen Schatten springt, die
Grabenkämpfe in der Szene mal hinter sich lässt und nicht nur im
Sinne der eigenen Gruppe, sondern auch mal im Sinne der linken
Bewegung als Ganzes agiert. Doch dazu später mehr.<p>
</p><p>Es gab natürlich hier und
da auch linke Gruppen, die sich mit der kurdischen Bewegung
auseinandersetzten, als es noch keine Rojava-Revolution gab. Vor
sechs, sieben Jahren war ich noch Teil des Verbandes der Studierenden
aus Kurdistan (YXK). Wir suchten den Kontakt zu linken Gruppen,
hielten uns immer mehr in linken Szeneläden auf, begaben uns
sozusagen in ein für uns neues Terrain. Oftmals stießen wir auf
Ablehnung, viele hatten uns schon in eine „völkische“ Schublade
gesteckt, manche wollten noch nicht einmal mit uns sprechen. Ich
erinnere mich, dass wir von vermeintlich linken Asten keine
Räumlichkeiten erhielten. Doch hier und da tauchten dann Gruppen
auf, die den Kontakt zu uns suchten, die nicht vorurteilsbeladen
sondern offen waren und auf uns zukamen, ohne dass wir sie suchen
mussten. Doch insgesamt schien uns der erste Kontakt zu der linken
Bewegung in Deutschland sehr schwierig.</p><p>
</p><p>Doch dann kam die
Rojava-Revolution und das Blatt wendete sich plötzlich. Auf einmal
war das Interesse an der kurdischen Bewegung derart groß, dass wir
gar nicht mehr hinterherkamen. Organisierten wir zuvor selbst
Diskussionsveranstaltungen, bei denen wir wochenlang Räume suchen
und Werbung machen mussten und am Ende vielleicht 40-50 Leute
erreichten, trudelten nun so viele Referent*innenanfragen bei uns
ein, dass wir gar nicht hinterherkamen. Jede*r innerhalb der linken
Bewegung redete plötzlich vom kurdischen Freiheitskampf. Ich
erinnere mich an eine Demo, an der plötzlich Leute von demselben
AStA auftauchten, die uns zuvor noch rigoros Räume für
Veranstaltungen verweigert hatten, und uns fragten, ob wir nicht mal
was mit ihnen organisieren wollten.</p><p>
</p><p>Letztlich waren wir
natürlich glücklich über diese Situation. Doch dieser neue Umstand
war für uns auch Anlass zur Selbstkritik: Der Paradigmenwechsel der
kurdischen Bewegung hatte sich bereits vor der Rojava-Revolution
vollzogen. Wieso war es uns nicht bereits früher gelungen, die Ideen
der kurdischen Freiheitsbewegung in der linken Bewegung in
Deutschland bekannt zu machen? Wieso musste es erst zur
Rojava-Revolution kommen, bevor die Leute uns nicht mehr als
„suspekt“ betrachteten oder uns als „nationalistisch“ oder
gar „völkisch“ ansahen? Als ich 2010 auf einer Delegationsreise
in Kurdistan war, erklärte mir ein Genosse, dass es die Aufgabe der
YXK sei, die Ideen der Bewegung, also den Demokratischen
Konföderalismus, innerhalb der linken Bewegungen in Deutschland und
Europa bekannt zu machen. Würden wir dies erfolgreich tun, so würde
das nicht nur uns weiterhelfen, sondern auch ein neues Feuer
innerhalb den Linken in Deutschland entfachen, ihnen neue
Perspektiven aufzeigen. Ich war damals nicht so überzeugt von seinen
Ausführungen, hielt sie für leicht überheblich. Im Nachhinein muss
ich sagen, dass er wohl Recht hatte und wir unserer Verantwortung
nicht gerecht geworden sind.
</p><p>
</p><p>Doch zurück nach
Deutschland. Es gab also in Deutschland diejenigen Gruppen innerhalb
der linken Szene, die mit uns gearbeitet hatten, als andere uns nicht
mal die Hand reichen wollten. Und dann gab es diejenigen Gruppen, die
plötzlich neu Interesse an uns zu gewinnen begannen. Das Problem,
das sich nun für uns auftat, war die Tatsache, dass die
unterschiedlichen Gruppen oft nichts miteinander zu tun haben
wollten, sich zum Teil gar feindlich gegenüberstanden. Keine
einfache Situation für uns. Wir wussten natürlich unsere „alten“
Freund*innen und Genoss*innen sehr zu schätzen. Doch ging es uns
stets darum, die Ideen aus Kurdistan zu verbreiten, sie innerhalb der
gesamten linken Szene zur Diskussion zu stellen und eine breite
Solidarität ins Leben zu rufen. Wir versuchten Bündnisse auf die
Beine zu stellen, beteiligten uns an bestehenden Bündnissen und
versuchten über die bestehenden Gräben, deren Ursachen wir
teilweise nicht richtig verstanden, zu springen. Doch wir stießen
auf Grenzen.</p><p>
</p><p>Wir machten dann die
Erkenntnis, dass bei manchen Gruppen Verbitterung aufkam. Sie
dachten, dass sie das Thema „Kurdistan“ für sich gepachtet
hatten. Ihnen schien es nicht zu gefallen, dass sich nun auch andere
Gruppen dafür interessierten. Ihr Solidaritätsverständnis schien
zu lauten: „Wir machen was zu Kurdistan, erreichen dadurch viele
Leute und polieren damit unsere Stellung auf.“ Eine tiefer gehende
inhaltliche Auseinandersetzung schien da eher weniger von Interesse.
Aber auch innerhalb der Szene begegneten wir zunehmend diesem
Phänomen, vor allem unter einigen Teilen unserer „alten
Freund*innen“.</p><p>
</p><p>Die Absicht von uns
kurdischen Aktivist*innen ist es, Menschen um die Ideen des
Demokratischen Konföderalismus herum zusammenzubringen, die sich als
politisch links verstehen. Wir haben keineswegs den Anspruch, die
Linke hier zu belehren und ihnen zu erklären, was „sie“ falsch
und was „wir“ richtig machen. Doch wir wollen unsere Konzepte und
Ideen der Szene bekannt machen und sie dazu einladen, darüber
intensiv zu diskutieren, damit mensch am Ende vielleicht für die
eigene Praxis Schlüsse daraus ziehen kann. Es geht dabei nicht
darum, die Praxis in Kurdistan nach Deutschland zu kopieren. Es geht
viel eher darum, aus den theoretischen Konzepten der Bewegung
praktische Schlüsse für die eigene Realität zu gewinnen, damit wir
hier gemeinsam Alternativen aufbauen können.</p><p>
</p><p>Um dies zu
ermöglichen, bedarf es einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der
kurdischen Freiheitsbewegung. Alle, die meinen, für ihre eigenen Gruppeninteressen das Thema „Kurdistan“ ausschlachten zu müssen,
sind hier fehl am Platz. Auch diejenigen, die meinen, Solidarität
bedeute, „Mitleid mit der Situation der Kurd*innen“ haben zu
müssen, werden nicht zum Kern der Sache vordringen können. Die
Solidarität, zu der wir aufrufen, soll dazu einladen, gemeinsam zu
diskutieren, zu arbeiten und Alternativen aufzubauen. Bei dem
<a href="https://revoltmag.org/articles/tötet-die-projektionsflächen-eurem-kopf/">Artikel</a>
des<i> re:volt magazine</i>-Redakteurs Geronimo Marulanda hatte ich hingegen den
Eindruck, dass da jemand ausgehend von seinen persönlichen negativen
Erfahrungen mit einzelnen Personen in der kurdischen Bewegung einen
Artikel zu Papier gebracht hat, der wenig mit konstruktiver Kritik zu
tun hat. Ich will nicht in Abrede stellen, dass es Probleme dieser
Art beziehungsweise Widersprüche in der eigenen Basis gibt. Dadurch
aber die eigentliche Perspektive der Bewegung, die auch immer mehr
von der eigenen Basis angenommen wird, in Frage zu stellen, ist nicht
richtig und erinnert mich letztlich an die Überheblichkeit innerhalb
der deutschen Linken, auf die unser Genosse Hüseyin Çelebi in den
1990ern Bezug nahm.</p><p>
</p><p>Der meinte einst
bezüglich der deutschen Linken: „Für die BRD-Linke möchte ich
sagen, dass sie von einer sehr stark eurozentristischen, metropolenchauvinistischen Haltung geprägt ist, die konkret den
Leuten vielleicht noch gar nicht einmal bewusst ist, wie überheblich,
was für eine.... ich finde fast schon keine Worte mehr für dieses
Ausmaß an Anmaßung, was in dieser Haltung steckt. Sie haben gar
nicht mehr mitgekriegt, wie sehr ihnen der Imperialismus schon die
Köpfe gestohlen und das, was hier als Metropole bezeichnet wird, in
ihre Köpfe hereingemauert hat.“</p><p>
</p><p>Hüseyin Çelebi hat sich
in den 1980er Jahren sehr stark dafür bemüht, eine Zusammenarbeit
zwischen der kurdischen Bewegung und den linken Kräften in
Deutschland aufzubauen. Anfang der 1990er Jahre fiel er schließlich
im Freiheitskampf in Kurdistan.</p><p>
</p><p><a></a>Als
sich der Kampf in Kobanê auf seinem Höhepunkt befand, der IS kurz
vor dem Sieg stand, die Menschen weltweit auf die Straßen gingen und
letztlich die Anti-IS Koalition sich quasi erst in letzter Sekunde
dazu entschied, den IS in Kobanê zu bombardieren, tauchten plötzlich
in der linken Szene merkwürdige Diskussionen auf, die mich sehr an
die Worte von unserem Genossen Hüseyin erinnerten. Plötzlich
erklangen aus dem sogenannten anti-imperialistischen Spektrum
Stimmen, die darüber nachdachten, ob man vor dem Hintergrund der
neuen Situation nicht die Solidarität mit der kurdischen Bewegung
einstellen müsste. Leute, die ich für Genoss*innen hielt, hätten
also lieber den IS in Kobanê siegen als ein Einschreiten der
Anti-IS-Koalition gesehen. Ich fand damals, ähnlich wie Heval
Hüseyin, keine Worte für diese Überheblichkeit…</p><p>
</p><p>Wenn jetzt manche Leute
aus der Szene schreiben, dass abzuwarten sei, ob in Kurdistan eine
Revolution oder letztlich eine Integration ins System stattfinden
wird, dann rufe ich dazu auf, nicht die Ereignisse in Kurdistan
abzuwarten, sondern über unsere gemeinsame revolutionäre
Perspektive im Hier und Jetzt zu diskutieren und uns entsprechend zu
organisieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Idee des
Demokratischen Konföderalismus hierfür ein nützlicher Wegweiser
sein kann und schlage vor, gemeinsam darüber zu diskutieren. Doch um
eine produktive Diskussion zu ermöglichen, müssen wir zunächst den
Metopolenchauvinismus in unseren Köpfen töten.</p>
<hr/>Erdal Firaz ist kurdischer Aktivist.<br/><p><br/></p></div>
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Welche Art der Selbstbestimmung? Zur Rojava-Revolution2017-10-12T11:03:22.518790+00:002017-10-26T17:22:16.474593+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/welche-art-der-selbstbestimmung-zur-rojava-revolution/
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<h1>Welche Art der Selbstbestimmung? Zur Rojava-Revolution</h1>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Lange
Zeit haben viele Linke in Deutschland die PKK und die kurdische
Befreiungsbewegung als nationalistisch und stalinistisch abgetan, sie
bildete kein Hauptaugenmerk ihres sowieso schon bis zur Auflösung
dahinschwindenden Internationalismus. 2014 änderte sich das
schlagartig: Mit dem Angriff des IS auf Kobanê sowie dem Widerstand
der YPG/J wurden die Kurd*innen zu Held*innen der Menschheit und auch
innerhalb der deutschen Linken plötzlich „in“. Die anfängliche
Euphorie hat sich zwar nicht aufgelöst, aber doch erheblich an
Schwung verloren. Es haben sich einige Kurdistan-Solikomitees mit
Öcalan-Lesekursen gebildet und es findet zumindest ein wenig
internationalistische Arbeit statt. Ansonsten debattiert die deutsche
Linke viel, ob sich die Kurd*innen an den US-Imperialismus verkauft
haben oder nicht. Hinzu kommt eine romantische Schwärmerei, die eher
der Projektion eigener Wünsche und Sehnsüchte entspricht, als einem
genuinen Interesse an dem Revolutionsprozess. Um zentrale Elemente,
Fragen und Probleme der Revolution wird kaum (mehr) debattiert. Was
also sind die Schlüsselelemente der neuen Gesellschaftsformation in
Rojava/Nordsyrien und welche Prozesse der Selbstorganisierung sind
dabei zentral?<br/><br/><h2><b>1.
Nationale Selbstbestimmung</b></h2>
<p>Kämpfen
um nationale Selbstbestimmung steht die deutschsprachige Linke meist
ablehnend gegenüber – genau dieser Kampf ist allerdings zentrales
Kernelement und Motivationskraft in der Revolution von Rojava wie
auch in den Auseinandersetzungen in den anderen Teilen Kurdistans.
Bekanntermaßen existierten relativ autonome kurdische Provinzen in
Mesopotamien seit spätestens dem 15. Jahrhundert und wurden auf
zeitgenössischen Landkarten auch als „Kurdistan“ benannt. Im
Zuge des Ersten Weltkrieges wurde den Kurd*innen allerdings seitens
der Imperialisten genau so wie seitens der neu entstehenden
Nationalstaaten die Bildung eigener Staaten oder Autonomiegebiete
versagt. Das führte in allen vier Staaten (Türkei, Irak, Iran,
Syrien), auf die das historische Gebiet Kurdistan aufgeteilt wurde,
bis zum heutigen Tag zur Unterdrückung der Kurd*innen – und zum
Widerstand und Kampf gegen diese Unterdrückung und für die
nationale Befreiung. Der Westen nahm hierbei eine ganz besonders
eklige Rolle ein: Er unterstützte zwecks Schwächung jener
Nationalstaaten phasenweise den Unabhängigkeitskampf der Kurd*innen
gegen die Unterdrückung, die er selbst sanktioniert hatte, nur um
die Unterstützung sofort wieder zu entziehen, wo eine erneute
Einigung mit den jeweiligen Nationalstaaten erreicht werden konnte.
Am brutalsten fand dies im Zuge der kurdischen
Unabhängigkeitsbewegung im Irak statt, die, mittlerweile unter
Führung von Barzani Jr., wenig von der eigenen Geschichte gelernt zu
haben scheint.</p>
<p>In
Syrien lief es nicht wesentlich anders ab. Im Zuge arabischer
Aufstände 1925 im damaligen Mandatsgebiet Syrien versuchten
dieselben Franzosen, die den Kurd*innen noch vor wenigen Jahren die
Autonomie versagt hatten, dieselben auf ihre Seite zu ziehen, indem
sie sie für ihre Armee (<i>Les Troupes Spéciales du Levant</i>)
rekrutierten. Als dann arabische Nationalisten in Syrien 1946 die
Unabhängigkeit erkämpften, erfolgte (zuerst schrittweise und erst
ab 1954/57 systematisch) eine massive Repressionswelle gegenüber den
syrischen Kurd*innen, die Vertreibung, Zwangsarbeit, Entzug der
Staatsbürgerschaft, Verhaftungen, Verbot kurdischer Traditionen,
Namensänderung von Dörfern usw. beinhaltete. Assad Sr. fügte
dieser Unterdrückung 1973 die Errichtung eines schon lange geplanten
„arabischen Gürtels“ (<i>al-hizam al-'arabi</i>) im heutigen
Rojava hinzu: Hunderttausende Kurd*innen wurden zwangsumgesiedelt,
anstatt ihrer Araber*innen angesiedelt. Wie so oft sollte eine
Zersplitterung einer unterdrückten Bevölkerung und Vermischung mit
anderen Bevölkerungsteilen zu einer politischen Schwächung und
Assimilation der jeweiligen unterdrückten Minderheit führen.</p>
<p>Im
Gegensatz zu den anderen Teilen des historischen Kurdistans
entwickelte sich der Befreiungskampf in Syrien aber dezidiert anders:
1979-80 seilten sich die PKK-Gründungskader nach Syrien ab und
ließen sich von der PLO im Guerilla-Kampf trainieren. Gemeinsam
widerstanden sie 1982 der israelischen Invasion des Libanon. Ab dem
Punkt wurde die PKK für den syrischen Staat interessant: Als
Druckmittel gegenüber der Türkei tolerierte er, dass die PKK ihre
militärischen Hauptausbildungslager in Syrien unterhielt, dafür
verzichtete die PKK darauf, die kurdische Frage in Syrien zu
thematisieren, um ein ungestörtes organisatorisches Hinterland zu
haben. Es waren die 1980er und 1990er, in denen die PKK das
weitflächige und engmaschige Organisationsnetzwerk in (Nord-)Syrien
aufbaute, auf das sie dann 2011-12 erfolgreich zurückgreifen konnte.
Letztlich wurde das informelle Bündnis zwischen Assad-Regime und PKK
in Syrien gekündigt: Einerseits erlangte der revolutionäre
Volkskrieg in Nordkurdistan (Südosttürkei) eine Pattsituation, die
die PKK dazu brachte, einen Waffenstillstand zu erklären und für
die Öffnung der politischen Sphäre zu kämpfen. Damit allerdings
verlor Syrien das Interesse an der Unterstützung der PKK.
Andererseits marschierte die 2. Armee der Türkei an der syrischen
Grenze auf und ließ ein Ultimatum an Assad durchgeben: Entweder wird
die PKK sofort ausgewiesen und alle Lager geschlossen, oder wir
marschieren ein. Im Adana-Abkommen von 1998 akzeptierte Syrien die
Bedingungen der Türkei, der PKK-Führer Öcalan musste fliehen und
fiel letztlich in Gefangenschaft. Aus der Isolationshaft heraus
leitete er den Paradigmenwechsel der PKK von
marxistisch-leninistischem nationalen Befreiungsprogramm zum
demokratischen Konföderalismus ein.</p>
<p>Wichtig
für die Perspektive der nationalen Frage war, dass die PKK ab nun in
allen Teilen Kurdistans genuine politische (Massen-)Strukturen
aufbaute: Mit der PCDK im Irak (2002), der PYD in Syrien (2003) und
der PJAK im Iran (2004) wurden PKK-nahe Strukturen erschaffen, die
der Politisierung und Mobilisierung der Massen dienen sollten.
Entsprechend repressiv reagierte der syrische Staat, als die
kurdische Frage nun auch in Syrien wieder thematisiert wurde:
Türkischen Medienberichten zufolge wurden im Zeitraum von 2003 bis
2011 etwa 1.400 Mitglieder der PYD in Syrien inhaftiert.</p>
<p>Als
sich dann 2012, als es um das syrische Regime äußerst schlecht
bestellt war, die syrischen Kräfte weitestgehend aus Nordsyrien
zurückzogen, um die Kerngebiete des Regimes zu verteidigen,
übernahmen die sehr gut organisierten PKK-nahen Kräfte in Teilen
der heutigen Kantone Afrîn, Kobanê und Cizîre die Macht. Sofort
hoben sie alle anti-kurdischen Beschränkungen auf, legalisierten die
kurdische Sprache, Organisationen und Feste und eröffneten dutzende
Schulen, Kulturinstitutionen usw. zur Förderung der kurdischen
Sprache und Traditionen. Die nationale Befreiung war somit
erfolgreich und strahlte bis in die Türkei aus, in der sie die
Kurd*innen massenhaft motivierte.</p>
<p>Interessant
jedoch sind die Konflikte, die sich alsbald im kurdischen Lager um
den Charakter der nationalen Befreiung einstellten: Sollte die
nationale Befreiung<i> demokratisch</i> oder<i> nationalistisch</i>
sein? Öcalan lobte vom Gefängnis aus die erfolgreiche nationale
Befreiung, insistierte jedoch seit 2013 scharf darauf, dass die
Revolution nicht dabei stehenbleiben dürfe. Er drängte die PKK und
die PKK-nahen Kräfte dazu, „Rojava“ (auf Kurdisch Westen) in
eine Nordsyrische Föderation zu verwandeln, die nicht kurdisch zu
definieren sei, sondern als Gebilde, die alle Rechte der in
Nordsyrien wohnenden Bevölkerung anerkennt und mehrere Amtssprachen
kennt – unter anderem Kurdisch. Den eher traditionalistisch
ausgerichteten Kräften, die dem nordirakischen Barzani-Clan
nahestehen, hingegen war die Revolution nicht national genug: Sie
verlangten eine explizit kurdische Definition des Gebildes und
wandten sich von den Vorschlägen der PKK-nahen Kräfte ab, die sie
zu kommunistisch und feministisch fanden.</p>
<p>Letztlich
setzte sich die<i> demokratische</i> Perspektive durch: Rojava und
später die Nordsyrische Föderation wurde als multiethnisches,
multilinguales und multireligiöses Gebiet begriffen und
institutionalisiert, unterschiedliche Minderheitenquoten auf
unterschiedlichen Ebenen eingeführt. Mit den Syrischen
Demokratischen Kräften (SDF) schufen die PKK-nahe Partei der
Demokratischen Einheit (PYD) sowie die Volksverteidigungseinheiten
(YPG) eine Militärkoalition, die quantitativ betrachtet mittlerweile
mindestens zur Hälfte von nicht-kurdischen Elementen gestemmt wird
(auch wenn qualitativ betrachtetet die kurdische YPG dominiert),
während die Stadträte der befreiten Städte je nach ethnischer
Bevölkerungszusammensetzung strukturiert sind: So dominieren z.B.
Araber*innen den Stadtrat von Tel Abyad; beim politischen Pendant zum
SDF, dem Syrian Democratic Council (SDC), verhält es sich ebenso.
Diese Form der demokratischen Perspektive wird seitens PYD und
anderen Organisationen letztlich ganz Syrien als Lösungsmodell für
die internen Konflikte vorgeschlagen. Dafür spricht nicht zuletzt,
dass es in Syrien wie im gesamten Nahostraum die (vom Westen
geförderten) sektiererischen Spaltungen waren, die eine
Stabilisierung der Region bis heute verunmöglichten.</p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="kurdische YPG und kommunale Sicherheitskräfte" height="803" src="/media/images/26251722796_cdfb6e6ce8_b.original.jpg" width="1024">
<span class="content-copyright">kurdishstruggle | flickr</span>
</div>
<figcaption>
<p>YPG Kämpfer mit Asayiş-J (kommunalen Sicherheitkräften)</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><h2><b>2.
Rätedemokratische Selbstorganisierung</b>
</h2><p>Es gibt
ein Kernstück, für das sich die Linke weltweit interessiert, wenn
es um Rojava geht, nämlich die rätedemokratische
Selbstorganisierung. Dabei übersehen Linke oft, dass das politische
System in Rojava durchaus komplexer und widersprüchlicher ist. PKK-nahe
Kräfte führten das Rätesystem mit der Machtübernahme 2011-12 in
den Gebieten ein, in denen sie die Führung innehatten. Grenzen fand
die Implementierung in der Skepsis nicht-PKK-naher sowie
nicht-kurdischer Kräfte als auch in den Gebieten, in denen der IS
wütete. Das Rätesystem erwies sich als erstaunlich flexibel und
robust und konnte sich z.B. im Kanton Kobanê nach der Vertreibung
des IS sofort wieder etablieren. Schritt um Schritt weitete sich das
Rätesystem aus.
</p><p>Das
Rätesystem besteht von unten nach oben aus Kommunal-,
Stadtteil-/Dorfgemeinschafts- und Gebietsräten sowie einem obersten
Volksrat, wobei der Volksrat quasi das politische Hauptorgan für
ganz Rojava ist. Der Kern sind die einzelnen Kommunen, die je nachdem
aus 40 bis 300 Haushalten eines Straßenzugs konstituiert werden.
Ein- bis zweimonatlich tagt das Plenum der Kommune, an der jede*r aus
der Kommune teilnehmen und mit entscheiden darf. Die Plena initiieren
je nach Bedarf die nötigen Kommissionen, wählen die Koordination
sowie die Ko-Vorsitzenden und entscheiden in zentralen
Angelegenheiten. In der Koordination, die durchschnittlich
wöchentlich tagt, treffen sich die Ko-Sprecher*innen der insgesamt
acht Kommissionen (Politik, Frauen, Verteidigung, Freie Gesellschaft,
Zivilgesellschaft, Ideologie, Justiz, Wirtschaft) sowie die
Ko-Vorsitzenden der Kommune, um über die Koordination der einzelnen
Arbeitsfelder zu diskutieren und zu beschließen. Diese Treffen sind
öffentlich. Die Kommissionen hingegen arbeiten zu den jeweiligen
Teilbereichen innerhalb der betreffenden Kommune: Sie beschließen
Infrastrukturmaßnahmen, kümmern sich um Müllentsorgung sowie die
Versorgung von Kranken und Mittellosen, organisieren die Sicherheit
und wenden sich bei Problemen, die ihre Mittel überschreiten, an die
höheren Strukturen. An den Kommissionen kann sich jede*r aus der
Kommune beteiligen. Die Kommune ist Kern des Rätesystems und
zugleich dasjenige Element, das die größtmögliche direkte
Partizipation der Bevölkerung erlaubt.
</p><p>Auf der
nächsthöheren Ebene treffen sich die Koordinationen von sieben bis
30 Kommunen zum Plenum des jeweiligen Stadtteil- bzw.
Dorfgemeinschaftsrats. Nach demselben Muster wie in den Kommunen
werden die dortigen Gremien gestaltet, kontrolliert und Beschlüsse
in die Tat umgesetzt. Die Eigenmächtigkeit der jeweiligen Kommunen
wird dadurch gewahrt, dass sie die Stadtteilräte zusammensetzen und
zugleich dadurch, dass Entscheidungen der jeweiligen Räte in den sie
betreffenden Kommunen abgenickt werden müssen. Diese Kompetenz der
jeweils unteren Strukturen, auch von Entscheidungen der oberen
Strukturen abweichen zu dürfen oder Einspruch einzulegen, gilt für
das gesamte System. Es ist nicht ganz klar, wie weit dieses Recht
geht.
</p><p>Ab der
dritten Stufe des Rätesystems, dem Gebietsrat (eine gesamte Stadt
plus Umfeld), engagieren sich vermehrt Parteien und NGOs. Während
das Plenum erneut aus den dazugehörenden Koordinationen besteht,
bekommen nunmehr Parteien, die auf der vierten und obersten Ebene des
Rätesystems, dem Volksrat, aktiv sind, zusätzliche Sitze in den
Plena der jeweiligen Gebietsräte. An die Gebietsräte sind zum
Beispiel auch die ehemals staatlichen Kommunalverwaltungen mit ihren
kommunalen Diensten und Infrastrukturen angebunden. Die
Koordinationen der Gebietsräte scheinen hingegen viel stärker bei
der TEV-DEM, der Koalition PKK-naher Kräfte, zu liegen. Als vierte
und höchste Instanz rangiert der Volksrat Westkurdistans, der
ebenfalls eng mit der TEV-DEM gekoppelt ist. In ihm werden
Angelegenheiten, die ganz Rojava betreffen, koordiniert und
beschlossen.
</p><p>Dies
klingt zunächst alles recht übersichtlich strukturiert. Letzten
Endes bleibt aber die genaue Struktur und vor allem die
Kompetenzverteilung der unterschiedlichen Elemente des politischen
Systems von Rojava noch unklar bzw. noch nicht vollständig
entwickelt. Zusätzlich bestehen seit 2014 zunehmend parallel zu den
Rätestrukturen parlamentarisch-demokratische Strukturen auf
Gemeinde- und Stadtebene. Hinzu kommt – seit dem
Gesellschaftsvertrag von Rojava – die Gliederung Rojavas in
einzelne Kantone, die wiederum eher klassisch föderal-parlamentarisch
organisiert sind. In ihnen sind auch Kräfte organisiert, die beim
Rätesystem nicht mitmachen. Und die Transformation von Rojava in die
Nordsyrische Föderation im März 2016 ging einher mit einer
Ausweitung auf Gebiete, die noch nicht einmal kantonal organisiert
sind. Außerdem wurde erst vor kurzem (Ende Juli 2017) beschlossen,
die Kantonsstruktur wieder umzuändern in sechs Regionen mit drei
Kantonen. Alle diese Änderungen stärkten zwar die politische
Integration des mittlerweile föderalen Gebietes mittels Ausweitung
und Inklusion von bis dato insbesondere nicht-kurdischen Akteuren und
nicht-PKK-nahen Kurd*innen, die fast überall mehrheitlich dem
Rätesystem fernblieben. Aber die Verteilung von Kompetenzen und
Entscheidungsgewalten und damit das politische System ist dadurch
noch verwirrender und unklarer geworden. Es scheint der Fall zu sein,
dass vieles de facto geregelt wird und die Räte in den Gebieten, in
denen sie stark ausgebaut sind und wo die PKK-nahen Kräfte stark
sind, viel Bestimmungsmacht haben. An diesen Orten scheinen
weitestgehend die Interessen der höheren Entscheidungsebenen mit
denen der unteren sowie diejenigen der parlamentarischen Strukturen
mit denen der Räte zu harmonieren. Es wird sich aber erst mit Ende
des Krieges und der Ausdifferenzierung (klassenförmiger) Interessen
zeigen, wohin sich das politische System entwickeln wird.
</p><p>Fakt
ist, dass neben der nationalen Befreiung insbesondere die politische
Struktur des Rätesystems eine bisher nicht gesehene
Massenpartizipation und Selbstermächtigung in den betreffenden
Gebieten insbesondere auf kommunaler Ebene entfesselte. Die Menschen
der Viertel und Dörfer sind mittlerweile überall, wo das Rätesystem
entwickelt ist, aktiv an allen Belangen der jeweiligen Viertel und
Dörfer beteiligt und stellen sogar die erste Stufe der
Selbstverteidigungsmilizen dar. Über die an die Kommunen
angekoppelten Kooperativen entwickeln sie zugleich erste Ansätze von
Wirtschaftsdemokratie in den Betrieben und von gesellschaftlicher
Planung. Zudem werden Staatsapparate, die in bürgerlichen Staaten
klassisch bürokratisch-autoritär organisiert sind, politisiert: So
wählen die Einheiten des kurdisch dominierten Militärs (YPG/J) ihre
eigenen Offizier*innen und sind den jeweiligen Räten
rechenschaftspflichtig. Dasselbe gilt für die Polizei (Asayish). All
dies sorgt für eine demokratische Politisierung und
gesellschaftliche Kontrolle von Apparaten, die in bürgerlichen
Gesellschaften normalerweise hochprofessionalisiert und bürokratisch
sind und damit strukturell wie personell den Interessen der
jeweiligen gesellschaftlichen Eliten dienen.
</p><p>Nicht
zuletzt aus der Perspektive der Frauen(selbst)ermächtigung ist die
Leistung des Rätesystems beachtlich. An der von Öcalan entwickelten
Theorie der Jineologie lässt sich aus westlich-feministischer
Perspektive mit Fug und Recht die Naturalisierung von
Geschlechterrollen kritisieren. Übersehen sollte man deshalb aber
nicht, unter welchen Umständen die Frauenbewegung in Rojava entsteht
und was sie zu erreichen im Stande ist: Innerhalb weniger Jahre
wurden in einem erzpatriarchalen Gebiet, in dem zudem der IS mit
Massenversklavung und -vergewaltigung von Frauen wütete und
weiterhin wütet, Gender-Quoten in politischen und militärischen
Angelegenheiten normalisiert, eigenständige Frauenräte gebildet
und, als Mittel der Frauenbefreiung, eigenständige
Frauen-Kampfeinheiten, die YPJ institutionalisiert. Insbesondere sie
ist, als originär militärisch-<i>politische</i> Formation, die sich
nicht allein auf militärische Handlungen reduziert, in der Lage,
Frauen in der Region scharenweise zur politischen Partizipation und
Selbstermächtigung zu organisieren. Frauenkooperativen hingegen
sollen die Abhängigkeit der jeweiligen Frauen von den Familien und
Ehemännern aufheben. Eine eigens eingerichtete Notfallhotline soll
Frauen, die z.B. wegen Zwangsverheiratung zu Suizid tendieren,
helfen; in Frauenhäusern können sich Frauen ohne zeitliche
Einschränkung aufhalten und erhalten kostenlose Bildung. Was
strafrechtliche Angelegenheiten in Bezug auf Frauen und Kinder angeht
(von Belästigung über Vergewaltigung bis hin zu häuslicher
Gewalt), ist eine sonders aus Frauen gebildete Sicherheitsbehörde,
die Asayisch-J, sowie aus Frauen gebildete Räte zuständig. Ähnliche
Institutionen wären nicht nur in der deutschen Linken bitter nötig.
Sie führen ganz offensichtlich zu einer Stärkung, nicht Schwächung
des gesamten Revolutionsprozesses.
</p><p>Alle
diese Errungenschaften der Revolution damit zur Seite zu schieben,
indem man behauptet, sie seien integrierbar in die imperialistischen
Pläne im Nahen Osten, da diese ja auch die „Menschenrechte“ und
den „Pluralismus“ hoch hielten, ist auf eine menschenverachtende
Art und Weise zynisch. Der Imperialismus mag im Nahen Osten stets mit
dem Menschenrechtsbanner einmarschiert sein; Folge waren aber noch
mehr Chaos, Massaker und Sektierertum – das Gegenteil von
Demokratie und Pluralismus. Jede Befreiung im Nahen Osten muss
unabhängig gegen den Imperialismus, aber auch gegen die reaktionären
Regime vor Ort erkämpft werden.
</p><h2><b>3.
Keine Rätedemokratie ohne revolutionäre Kader-Kampfpartei</b>
</h2><p>Bei der
linken Solidarität und Parteinahme für die Revolution in Rojava
wird nicht nur oft diejenige Widersprüchlichkeit, die in der
Parallelität unterschiedlicher politischer Strukturen und der mit
ihr einhergehenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen
liegt, übersehen. Auch die zentrale Rolle der revolutionären
Kader-Kampfpartei geht unter. Daran hat nicht zuletzt der von Öcalan
eingeleitete Paradigmenwechsel großen Anteil, insofern es in der
neueren Theorie des Demokratischen Konföderalismus eigentlich keinen
Platz für sie gibt. In der Praxis sieht das ganz anders aus: Ohne
die Aktivität von PKK-Kadern und PKK-nahen Kräften wären weder PYD
noch YPG entstanden, Rojava und die Rätedemokratie wären undenkbar.
An fast allen führenden militärischen und politischen Stellen sind
PKK-Kader aktiv: Die TEV-DEM, die im Prinzip in allen höheren
Strukturen des Rätesystems dominiert und auch in den föderalen
Strukturen stark mitredet, ist im Prinzip eine Koalition aus PYD,
Massenorganisationen der PYD sowie kleinen PYD-nahen Parteien. Die
PYD selbst hingegen wurde von PKK-Kadern gegründet. Bei der YPG und
YPJ sieht das ähnlich aus: (ehemalige) PKK-Kommandant*innen waren
führend am Aufbau der YPG beteiligt, noch heute sind die
Ausbilderinnen der YPJ-Militärakademien alte Veteraninnen der
YJA-Star, der Frauenmilitärformation der PKK. Die Initiierung und
Ausweitung der Rätestrukturen wiederum ging wesentlich von der PYD
aus.
</p><p>All das
heißt nicht, dass alle Organisationen Tarnorganisationen der PKK
sind und von ihr kontrolliert werden oder alles erstickt wird, was
nicht passt oder nicht PKK-nah ist (wobei die Auseinandersetzungen
zwischen Barzani-nahen und PKK-nahen Fraktionen in Rojava und im Irak
teils ziemlich brutal ablaufen). Die Basisaktivität der Bevölkerung
und die Räte sind real, auch wenn das Verhältnis von „obersten“
politischen Machtstellen und „untersten“ Räten nicht ganz
durchsichtig ist. Die PKK und PKK-nahen Kader besorgen vor allem die
militärische Organisation und Führung und die hohe Politik, d.h.
Verhandlungen mit Assad und den anderen beteiligten Großmächten,
regionenübergreifende Diplomatie mit den unterschiedlichen
Gruppierungen und Interessen in Gesamt Rojava/Nordsyrien sowie
weitestgehend die Kontrolle über Infrastruktur und Großbetriebe. Im
Endeffekt bedingen sich in Rojava Rätedemokratie und revolutionäre
Partei gegenseitig: Ohne die revolutionäre Partei hätte es die
Machtübernahme und Initiierung von Rätestrukturen sowie ihren
Schutz vor dem IS, ohne die aktive Partizipation der Massen keine
soziale Verankerung der neuen Macht und der neuen
Gesellschaftsvorstellungen gegeben. Ebenso wenig wird es ohne breite
Mobilisierung, so lässt sich sicher voraussagen, keine
Transformation der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
geben. Dass die Balance eine heikle ist, kennt man aus früheren
sozialen Revolutionen. Auch in Rojava wird sich der Erfolg der
sozialen Revolution daran bemessen, wie weit die Differenz zwischen
Regierenden und Regierten aufgehoben werden wird.
</p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
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<img alt="YPJ in Rojava" height="960" src="/media/images/rojava1.original.jpg" width="700">
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<figcaption>
<p>Noch heute sind Ausbilderinnen der YPJ-Militärakademien alte Veteraninnen der YJA-Star, der Frauenmilitärformation der PKK.</p>
</figcaption>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><h2><b>4.
Das heikle Thema der Produktionsweise</b>
</h2><p>In
Öcalans neueren Schriften lassen sich bekanntermaßen ganz
unterschiedliche Dinge zum Thema der Wirtschaft oder der
Produktionsweise finden. So nehmen sich einerseits die liberalen
Argumentationsmuster, die sich entlang einer Entgegensetzung von
natürlicher, demokratischer Gesellschaft und repressivem,
autoritären Staat formieren, als eher moralistisch, korporatistisch
und versöhnlerisch aus. Andererseits finden sich ebenso viele
antikapitalistische Elemente, die auf eine Aufhebung der
profitwirtschaftlich und monopolistisch organisierten
kapitalistischen Produktionsweise hin zu einer kooperativen und
kommunalen Ökonomie mit Fokus auf Bedürfnisbefriedigung zielen. Was
Eklektizismus in der Theorie ist, stellt sich in der Praxis als ein
Ganzes von teils auseinander strebenden Widersprüchen und Tendenzen
dar.
</p><p>Die von
den PKK-nahen Kräften verfolgte Umstrukturierung der Wirtschaft
Rojavas entwickelt sich anhand der Achse von Kooperativen und an die
Rätestrukturen gebundenen Wirtschaftskommissionen. Zahlen gibt es
wenige. Fakt ist, dass die Wirtschaftskommissionen der Räte- und
Föderationsstrukturen alles übernahmen, was zuvor verstaatlicht war
– die Rede ist von bis zu 70 bis 80 Prozent aller Ländereien. Fakt
ist aber auch, dass Privatunternehmen, deren Besitzer nicht geflohen
waren, sowie Großgrundbesitz nicht angefasst wurden. Der Volksrat
und die föderalen Strukturen monopolisierten nicht nur die wenigen
großen ehemaligen Staatsbetriebe (Elektrizität, Benzin,
Brotproduktion und öffentlicher Verkehr), sondern auch die
Verteilung von Grundnahrungsmitteln und verteilten deren Produkte
bedarfsorientiert. Zusätzlich wurden Preiskontrollen für
Grundnahrungsmittel, die über den Markt verhandelt wurden,
eingeführt. Mit diesen Maßnahmen konnte eine stabile Infrastruktur
und Grundversorgung der Bevölkerung garantiert werden.
</p><p>Unterhalb
dieser Ebene der grundlegenden und umfassenden Versorgung und
Infrastruktur wird die Entwicklung einer Kooperativenwirtschaft
vorangetrieben und gefördert. So wird Land, das nicht benutzt wird,
sowie Gebäude und jeweilige Werkzeuge an Menschen zwecks Gründung
von Kooperativen übergeben. Diese zumeist kleinen bis mittleren
Einheiten übernehmen in erster Linie Subsistenzproduktion und
drücken knapp 30 Prozent des Gewinns an die jeweiligen
Wirtschaftskommissionen ab, die damit die Gründung neuer
Kooperativen fördern. Zusätzlich kontrollieren die zuständigen
regionalen und kommunalen Räte Leitung und Geschäftstätigkeit der
jeweiligen Kooperativen, um einen „Betriebsegoismus“, wie er sich
zum Teil in der Sowjetunion und in Jugoslawien herausbildete, zu
verhindern. Die Kooperativen stellen somit kein Privateigentum dar,
können auch nicht privatisiert werden. Die Werktätigen der
Kooperativen betreiben sie zusammen mit den jeweiligen
Rätestrukturen. Allerdings zeigen die wenigen Zahlen, die vorliegen,
dass die Kooperativenstruktur nicht stark ausgebildet ist: Während
<a href="https://www.jungewelt.de/artikel/312087.rojava-aufbau-im-krieg.html">zum
Beispiel</a> Talal Cudi aus der Leitung der
Wirtschaftskoordination der Föderation Nordsyrien davon spricht,
dass Kooperativen nur fünf Prozent der Landwirtschaft ausmachen,
geht <a href="https://cooperativeeconomy.info/rojavas-economics-and-the-future-of-the-revolution/">eine
andere Analyse</a> davon aus, dass bisher nur
100.000 der insgesamt 4,5 Millionen Bewohner*innen von Rojava in
Kooperativen organisiert sind.
</p><p>Während
Anhänger*innen der Revolution von Rojava den Aufbau der
Kooperativenwirtschaft als Aufbau einer alternativen,
nichtkapitalistischen Wirtschaft feiern, reden kritische Stimmen von
„notdürftigen Übergangslösungen“, die im besten Fall in einer
stabilisierten kapitalistischen Wirtschaft mit korporatistischen
Elementen münden werde. Korrekter ließe sich festhalten, dass es
unterschiedliche soziale Akteure mit unterschiedlichen Interessen
gibt, die im Rahmen einer vom Krieg dominierten Wirtschaft
zusammenkommen. Aber während die Neureichen der Kriegsökonomie
(Schmuggel, Handel, informelles Finanzwesen) sowie Überreste der
Großgrundbesitzer und Unternehmer kein Interesse an einer
nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung haben, haben die PKK-nahen
Kräfte großes Interesse am Ausbau der Kooperativenwirtschaft und
der linke Flügel hat Interesse an der Überwindung des Kapitalismus.
So planen die Rätestrukturen, die demokratisch kontrollierte
Kooperativenwirtschaft über die nächsten Jahre hinweg massiv
auszubauen. Die linken Kräfte beklagen aber auch das Fehlen von
starken, unabhängigen Gewerkschaften sowie der stärkeren
Verankerung von Arbeiter*innenkontrolle in den großen, bisher von
den föderalen Strukturen verwalteten Betrieben – unter anderem
auch als notwendiges Instrument dafür, um gemeinsam mit kleineren
und mittleren Kooperativen die Entwicklung von Privateigentum zu
verhindern.
</p><p>Der
Gesellschaftsvertrag von Rojava aus dem Jahre 2014 garantiert
einerseits das Recht auf Privateigentum. Andererseits verbietet er
Monopole, erklärt natürliche Ressourcen zum Gemeineigentum, erhebt
die Bedürfnisbefriedigung und das würdevolle Leben für alle zum
Zweck der Wirtschaft und ermöglicht Enteignungen aus sozialen
Gründen bei Entschädigung des Eigentümers. Damit ist er
offensichtlich eine<i> Kompromiss-Verfassung</i> für sehr diverse
politische Akteure, die sich eben auch in betreffs der Frage nach der
Produktionsweise unterscheiden.
</p><h2><b>5.
Widersprüche ausnutzen oder von Widersprüchen ausgenutzt werden?
Perspektiven der Revolution in Rojava</b><br/></h2><p>Bekanntlich
kooperierten die kurdischen Kräfte und anschließend die SDF mit den
USA, gleichzeitig jedoch auch mit Russland und zeitweise auch mit dem
syrischen Regime, um ein Gleichgewicht zwischen den Mächten zwecks
Verfolgung eigener Interessen herzustellen. Auch in der Frage der
Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Akteuren
kristallisieren sich unterschiedliche Vorstellungen heraus: Während
der linke Flügel einerseits klarmacht, dass jede Zusammenarbeit mit
kapitalistischen (Groß-)Mächten nur vorübergehend und taktisch
sein kann, ist der rechte Flügel daran interessiert, die USA
längerfristig in Rojava zu behalten und strategisch mit ihnen zu
kooperieren, mutmaßlich um die eigenen kapitalistischen Interessen
zu stabilisieren.
</p><p>Es ist
der Krieg, der in Kombination mit den klugen taktischen Schritten der
PKK-nahen Kräfte eine Koalition aus ganz unterschiedlichen Kräften
in Rojava/Nordsyrien möglich gemacht hat. Hat die erfolgreiche
nationale Befreiung dazu geführt, dass bis in den Irak hinein die
PKK und PKK-nahe Kräfte immensen Zulauf unter der kurdischen
Bevölkerung gewonnen haben, konnte der demokratische Charakter
derselben letztlich auch Bevölkerungsteile der anderen Nationen und
Ethnien integrieren. Gleichzeitig führen die
revolutionär-demokratischen Elemente (das Rätesystem) vor allem zu
einer (Selbst-)Ermächtigung der an ihnen partizipierenden
Werktätigen. Ob aber der Großgrundbesitzer und Scheich Mehdi
Daham-al Hadi, Stammesführer der Shammar und Gründer der in die SDF
integrierten al-Sanadid Milizen, sowie die anderen Großgrundbesitzer
und -unternehmer ein Interesse an der Ausweitung der demokratischen
Revolution über den bürgerlichen Rahmen hinaus oder gar an einer
Vertiefung der sozialen Revolution haben – daran darf mit Fug und
Recht gezweifelt werden. Es wird sich mit Ende des Krieges – so
dies stattfindet – zeigen, welche Interessen sich stärker
durchsetzen werden und wie weit die Revolution gehen wird. <br/></p><hr/>Dieser Artikel ist eine erweiterte Version des Essays "Rojava: Welche Art der Selbstbestimmung?", welches am 10.10.2017 auf <a href="https://kritisch-lesen.de/essay/rojava-welche-art-der-selbstbestimmung">kritisch-lesen.de</a> erschien.<br/><p><br/></p><hr/><h2>Weiterführende
Literatur:
</h2><p>Anja
Flach, Ercan Ayboğa, Michael Knapp:<i> Revolution in Rojava.
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo</i>, 3.
aktualisierte Auflage, Hamburg, 2016.</p><p>David McDowall:<i> A Modern History of the Kurds</i>, 3rd ed., London, 2004.</p><p>Ismail Küpeli (Hrsg.):<i> Kampf um Kobanê, Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens</i>, Münster, 2015.<br/></p>
<p>Strangers
Tangled in Wilderness:<i> A Small Key Can Open a Large Door: The
Rojava Revolution</i>, 2015.
</p><p>Thomas
Schmidinger:<i> Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan: Analysen
und Stimmen aus Rojava</i>, 4. erweiterte Auflage, Wien, 2017.
</p></div>
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