re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=8072019-07-07T12:53:11.144577+00:00Die Revolte einer ganzen Generation2019-07-07T12:52:38.742661+00:002019-07-07T12:53:11.144577+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-revolte-einer-ganzen-generation/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Die Revolte einer ganzen Generation</h1>
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<img alt="Alg2.jpg" height="420" src="/media/images/Alg2.a61eefaa.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Federica Riccardi</span>
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<div class="rich-text"><p>Der algerische Hirak – wie die <a href="https://revoltmag.org/articles/was-ist-los-algerien/">soziale Bewegung</a> bezeichnet wird, die seit dem 22. Februar 2019 zahlreiche Menschen auf die Straße bewegt – befindet sich in der zwanzigsten Woche des Protestes gegen das herrschende Regime und für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel. Die Mainstream-Medien sind noch immer nicht in der Lage, eine gründliche Analyse dessen vorzulegen, was tatsächlich in der ehemaligen französischen Kolonie passiert. Wenn es überhaupt um Algerien geht, dann schreiben die Berichterstatter*innen lediglich von einem „politischen Chaos“. Und auch im politisch linken Spektrum hegen viele noch Zweifel: Stehen wir vor einer Bewegung, die in der Lage sein wird, das Potenzial, welches auf den Straßen zum Ausdruck kommt, tatsächlich in einen Demokratisierungsprozess münden zu lassen? Oder wird das politisch-militärische Regime nicht davor zurückschrecken, auf (Waffen-)Gewalt zurückgreifen, um die eigenen Interessen zu verteidigen; ganz so, wie es in Ägypten und anderen Ländern des „arabischen Frühlings“ geschah?</p><p>Die über vier Monate andauernden sozialen Proteste stellen indes den Charakter der algerischen Bewegung sehr deutlich heraus: Es handelt sich dabei um Elemente, welche die Bewegung in einen historischen Kontext einbettet, sowohl in Bezug auf gesellschaftspolitische Dynamiken Algeriens als auch in Bezug auf die 2011 ausgebrochenen <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/310519/monde-arabe-des-revolutions-qui-se-suivent-et-ne-se-ressemblent-pas?onglet=full">Revolten in Nordafrika und im Nahen Osten</a>.</p><h2><b>Nein zum System</b></h2><p>Die algerische Bewegung drückt, allgemein gesprochen, den Wunsch nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit angesichts eines korrupten und despotischen Regimes aus, das seit Jahrzehnten die Macht monopolisiert. Forderten die ersten Demonstrationen noch die Annullierung der Aprilwahlen und den Rücktritt des damals amtierenden Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, entwickelten und radikalisierten sie sich nach nur wenigen Wochen. Der Bewegung ging es nicht mehr nur um den Rückzug von Bouteflika, sondern um den aller Vertreter*innen des herrschenden politischen Systems: „système dégage!“ – macht das System frei; einschließlich derjenigen Figur, die sich als reales Oberhaupt des Machtapparates Algerien erwies: der General und Stabschef der algerischen Armee, Ahmed Gaïd Salah.</p><p>Der Versuch, den Zeitrahmen des demokratischen Übergangs nach den vom Regime vorgegebenen Wahlfristen zu definieren, scheiterte an der Entschlossenheit der Bewegung, die Roadmap des Regimes zu akzeptieren. Die Ablehnung der Präsidentschaftswahlen, die zunächst im April und dann im Juli anberaumt werden sollten, folgt genau dieser Logik. Der erste Versuch, die unabhängigen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften an einen Tisch zu bringen, um über die Zukunft Algeriens zu diskutieren, erfolgte am 15. Juni. An der <a href="https://www.lemonde.fr/afrique/article/2019/06/16/en-algerie-des-organisations-de-la-societe-civile-se-mettent-d-accord-pour-une-transition-de-six-mois-a-un-an_5476910_3212.html">nationalen Konferenz der zivilgesellschaftlichen Bewegungen</a> konnten sich die unterschiedlichen Akteur*innen nicht darüber einigen, wie die ersten Schritte des Übergangs aussehen sollen. Doch in einer Sache besteht Einigkeit: Es braucht einen radikalen Bruch mit dem herrschenden Regime.</p><h2><b>Soziale Dynamiken der Veränderung</b></h2><p>Auch nach einer ganzen Reihe sozialer und kultureller Veränderungen während der letzten vierzig Jahre zeigen die aktuellen politischen und sozialen Konflikte, dass die algerische Gesellschaft einen neuen Weg einschlagen will. Die demographische Entwicklung bietet einen ersten Anhaltspunkt in der Suche nach dem Warum. Da wäre zum einen der – erneute – Rückgang der <a href="http://www.factfish.com/de/statistik-land/algerien/fertilit%C3%A4tsrate">Fertilitätsrate</a>: Während diese abstrakte Größe im Jahre 1990 noch 4,5 Kinder pro Frau betrug, sank sie im Jahr 2000 auf 2,4. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends stieg sie indes auf 3,1 Kinder pro Frau an. Es handelt sich um ein Wachstum, welches im Zusammenhang mit den Sozialprogrammen nach dem Ende des Bürgerkrieges (1988-1999) steht, eines der <a href="https://maghrebemergent.info/avec-gaid-salah-le-regime-decrepit-ne-marche-plus-que-sur-un-pied-le-securitaire/">Grundpfeiler der algerischen Politik unter Bouteflika</a>. Sie trugen letztlich auch dazu bei, Algerien zu befrieden und den Zugang zu Grundrechten wie Bildung, Wohnen und Arbeit zu verbessern. Nach Absetzen der Sozialprogramme sank die Fertilitätsrate aber erneut. Es wird geschätzt, dass bis ins Jahr 2020 erneut die 2,5 Kinder Grenze unterschritten wird. Gleiches gilt für die <a href="http://www.andi.dz/index.php/fr/statistique/demographie-algerienne-2017">Eheschließungen</a>, welche während den Jahren 2000 und 2014 stetig zugenommen haben, seither jedoch einen Rückgang verzeichnen (minus fünf Prozent zwischen 2016 und 2017). Diese Entwicklungen drücken zum einen die Schwierigkeiten für junge Menschen aus, unter den aktuellen Bedingungen eine Familie zu gründen. Gleichzeitig sind sie jedoch auch ein Hinweis auf <a href="https://www.middleeasteye.net/news/new-survey-reveals-drop-religiousity-across-arab-world-especially-north-africa">Säkularisierung</a> und die Emanzipation von Familientraditionen. Wie die Forscher*innen Nadia Leïla Aïssaoui und Ziad Majed in ihrer <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/310519/monde-arabe-des-revolutions-qui-se-suivent-et-ne-se-ressemblent-pas?onglet=full">Analyse</a> darstellen, haben diese Dynamiken der neuen Generation neue Möglichkeiten eröffnet, sich politisch zu organisieren, ohne zu früh familiäre Verantwortungen tragen zu müssen.</p><p>Ein weiteres Schlüsselelement zum Verständnis der sozialen Dynamiken, die zu sozialer Unzufriedenheit geführt hat, ist die <a href="https://www.huffpostmaghreb.com/2014/09/20/algerie-immigration-annee_n_5854048.html%20e%20">Emigration</a>. Im Jahr 2000 stand Algerien mit über zwei Millionen Menschen (6,8 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf Platz fünfzehn der Länder mit den höchsten Zahlen von Migrant*innen in andere Länder weltweit. Zwischen 2000 und 2013 verließen 840.000 Algerier*innen das Land. Im <a href="https://www.lemonde.fr/afrique/article/2017/12/06/l-emigration-algerienne-repart-a-la-hausse_5225432_3212.html">Jahr 2017</a> stiegen die Zahlen weiter an, sodass Algerien aktuell nach Syrien, Marokko, Nigeria und dem Irak unter den ersten fünf Nationen zu finden ist, von wo aus Menschen nach Europa emigrieren. 82 Prozent der <a href="https://revoltmag.org/articles/protestieren-wie-algier/">algerischen Migrant*innen leben in Frankreich</a>.</p><p>Auch der <a href="https://www.lemonde.fr/afrique/article/2017/12/06/l-enseignement-superieur-en-algerie-un-defi-constant_5225663_3212.html">Zugang zur Hochschulbildung</a> hat sich in den zwei Jahrzehnten des „Bouteflikismus“ (1999-2019) verbessert. Die Zahlen stiegen von 400.000 Studierenden im Jahr 1999 auf 1,5 Millionen im Jahr 2016 an. Allgemein wurden Alphabetisierungsmaßnahmen eingeführt und das Internet ausgebaut, was für eine ganze Generation bedeutete, einen besseren „Zugang zur Welt“ zu haben, in erster Linie über die Nutzung von sozialen Medien. Diese ist ein Instrument, welches ermöglicht, sich der Kontrolle der Behörden zu entziehen, in Dialog mit anderen Orten und Menschen in der Welt zu kommen und eben auch und insbesondere, um sich politisch zu positionieren. Bereits während des „Arabischen Frühlings“ verwandelten sich <a href="http://www.mucem.org/programme/exposition-et-temps-forts/instant-tunisien-les-archives-de-la-revolution">Mobiltelefone zu wirksamen Waffen</a>, um die Ereignisse auf den besetzten Plätzen und während den Demonstrationen zu dokumentieren. Es rief ein Gefühl der Zugehörigkeit hervor, sowohl in Bezug auf eine Generation als auch auf einen geografischen Raum. Es handelt sich dabei um ein kollektives Bewusstsein über gleiche materielle Bedingungen als junge Prekäre, Frauen* und Arbeitslose, die in Metropolen, ohne Zukunftsperspektiven und unter ähnlichen autoritären Regimen leben. Dank den Erfahrungen des „Arabischen Frühlings“ sind die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Erwartungen und damit auch die Überzeugung der jungen Algerier*innen gereift, etwas gegen die alltäglich erlebten Ungerechtigkeiten zu tun.</p><h2><b>Zuspitzung der Klassenwidersprüche</b></h2><p>Auf rein wirtschaftlicher Ebene hat Algerien in den letzten 30 Jahren tiefgreifende Veränderungen durchlaufen. Tatsächlich führten der massive Rückgang des Ölpreises Mitte der 1980er Jahre und die durch den Bürgerkrieg und den Aufstieg der islamischen Kräfte und ausgelöste politische Krise zu einem wirtschaftlichen Chaos, welches die Regierung dazu zwang, auf ausländische Finanzhilfen zurückzugreifen. Insbesondere die durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) angestoßenen Strukturanpassungsmaßnahmen der Wirtschaft, die bis dahin noch stark vom Staat kontrolliert wurde, ebneten den Weg zu Liberalisierungen und Privatisierungen. Die Folgen der Klassenzusammensetzung waren drastisch: einerseits eine verstärkte Prekarisierung der Arbeiter*innenklasse und eine Erosion der wirtschaftlichen Basis; folglich auch die Verarmung der Mittelschicht, die sich vor allem aus Staatsbeamt*innen zusammensetzte; andererseits die Entwicklung von Großhändler*innen und monopolistischen Positionen rund um die mit dem Machtapparat verbundenen Clans. In anderen Worten: Infolge der politischen und ökonomischen Krise der 1980er und 1990er Jahre haben der Klassenwidersprüche in Algerien zugenommen.</p><p>Darüber hinaus bremste die <a href="https://www.cairn.info/revue-politique-etrangere-2009-2-page-323.htm">einseitige Ausrichtung auf den Erdöl- und Erdgassektor</a> die wirtschaftliche Entwicklung, da die Regierung kaum in andere Produktionssektoren investierte. Nach einer leichten Erholung Anfang der 2000er Jahre führte der Zusammenbruch der Ölpreise 2014 zu einer allmählichen Erschöpfung des staatlich gesteuerten Akkumulationsmodells und der Umverteilungspolitik. Auch deshalb erhöhte sich die <a href="https://www.huffpostmaghreb.com/entry/chomage-en-algerie-un-taux-de-117-en-septembre-2018_mg_5c602058e4b0eec79b245b35">Arbeitslosigkeit</a> auf rund 1,5 Millionen Menschen, wobei Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren mit 30 Prozent Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind. Mit der Zunahme der existentiellen Unsicherheit und der Arbeitslosigkeit nahm auch die Ernüchterung über die Zukunftsmöglichkeiten zu, vor allem in einer Gesellschaft, in der 60 Prozent der Menschen unter 35 Jahre alt sind. Der Ausbruch der algerischen Protestbewegung beruht auf dieser Desillusionierung – es sind heute vor allem junge Menschen, die die algerischen Straßen besetzen.</p><p>Und es sind die Frauen*, die in erster Linie die aktuelle soziale Bewegung Algeriens prägen: Die materiellen Widersprüche ihrer Existenz sind die ersten Gründe, warum sie den öffentlichen Raum zurückerobern und an öffentlichen Debatten und künstlerischen Veranstaltungen teilnehmen. Frauen* sind vermehrt im Arbeitsmarkt integriert und ihre Erwerbsbeteiligung wächst kontinuierlich. Gleichzeitig weisen sie eine höhere Arbeitslosigkeit im Vergleich zu Männern auf (<a href="https://www.huffpostmaghreb.com/entry/chomage-en-algerie-un-taux-de-117-en-septembre-2018_mg_5c602058e4b0eec79b245b35">19,5 Prozent vs. neun Prozent im Jahr 2018</a>) und ihre Tätigkeit ist oftmals prekärer. Auch herrscht in Algerien immer noch das 1984 eingeführte Familiengesetz, welches Frauen zu bloßen Anhängseln ihrer Familien und Ehemänner reduziert. Ihre Forderungen gegen das Patriarchat und gegen alle Formen der Diskriminierung sind während der Proteste allgegenwärtig und sie werden von der gesamten Bewegung getragen, auch wenn die staatliche Gewalt und der Konservativismus des Machtapparates mit gezielten Verhaftungen von Frauen* und einschüchternden Kontrollen während den Demonstrationen versucht, die Forderungen zu marginalisieren und delegitimieren.</p><p>Die Bewegung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, die Räume des politischen Handelns und insbesondere den öffentlichen Raum zu besetzen und von der staatlichen Kontrolle zu befreien. Nach zehn Jahren Bürgerkrieg und nach zwanzig Jahren Bouteflikismus, die Passivität und Marginalität produziert und gestärkt haben, stellt die <a href="https://www.youtube.com/watch?v=R9SjhObk1x8">Befreiung von Sprache und Kultur</a> einen Moment der Emanzipation dar. Die Menschen verlangen nicht mehr die Erlaubnis der staatlichen Behörden, um sich zu äußern, sondern sie tun dies unabhängig und selbstorganisiert. Dies offenbart das soziale Begehren nach einer kollektiven Solidarität, welche als einzige Verteidigungsmöglichkeit gegen die alltägliche Gewalt des Regimes verstanden wird. Waren die „Räume der Solidarität“ vor den Massendemonstrationen die <a href="https://www.monde-diplomatique.fr/2019/05/CORREIA/59835">Fußballstadien</a>, hat nun der Hirak neue Räume geschaffen, die für alle zugänglich sind. Die Ultras nutzten diesen Raum der Teilnahme, um ihre Lieder und Rituale auf die Straßen zu bringen. Mit der Besetzung der Straßen durch die Menschen wurden dieses Solidaritätsbeziehungen verallgemeinert.</p><p>Die Ursachen für die Explosion der Bewegung sind also vielfältig, aber sie lassen sich in einer Kombination aus einem korrupten und autoritären Regime und der Blockade der sozioökonomischen Entwicklung zusammenfassen – einer Kombination, die systemische soziale Probleme für die Mehrheit der algerischen Gesellschaft geschaffen hat. Die fundamentalen Forderungen drücken dies auch aus: ein unabhängiges Justizsystem, die Gleichstellung von Frauen und Männern und die soziale Gerechtigkeit – also mehr Rechte für Arbeiter*innen, mehr gewerkschaftliche Rechte und so weiter.</p><h2><b>Was steht heute auf dem Spiel?</b></h2><p>Die algerische Bewegung ist das Ergebnis eines so genannten <a href="https://alencontre.org/afrique/algerie/le-long-printemps-arabe-et-la-place-actuelle-des-soulevements-en-algerie-et-au-soudan.html">langen revolutionären Prozesses</a>, der 2011 in der gesamten nordafrikanischen Region und im Nahen Osten begann. Der demokratische Übergang benötigt kollektive politische Lern- und Reifeprozesse, die sich in keiner Weise an den vom Machtapparat auferlegten Rhythmen orientieren können. Es ist die organisierte Kraft der Straße selbst, die daraus eine Roadmap erstellen wird – und eine genauere Zielsetzung davon artikulieren werden, wohin der Weg nun geht.</p><p>In den letzten Wochen hat sich eine weitere Forderung eingereiht: die Freilassung aller politischen Gefangenen. Tatsächlich nahm die Repression in den letzten Wochen zu, und auch Spaltungsversuche seitens des Regimes wurden lanciert. <a href="https://www.elwatan.com/a-la-une/discours-virulent-de-gaid-salah-inquietant-20-06-2019">In einer öffentlichen Rede</a> warnte der Armeechef Gaïd Salah davor, mir der berberischen Flagge auf die Straßen zu gehen, da diese die „nationale Kohäsion“ in Frage stellen würde. Die algerische Staatsbildung basierte besonders seit dem Befreiungskampf gegen die französische Kolonialherrschaft auf die muslimische und arabische Identität. Die berberische Kulturbewegung kämpft aber seit jeher für die offizielle Anerkennung ihrer kulturellen Besonderheiten. Vor allem während den in den Jahren 1980 und 2001 ausgebrochenen Massenproteste der berberischen Bevölkerung reagierte das algerische Regime mit Gewalt und Verhaftungen. Die berberische Flagge stellt somit ein Symbol des Widerstandes gegen die Autorität dar. Die Antwort der Bewegung auf die Ankündigungen von Gaïd Salah war beeindruckend: Seit Protestausbruch prägen Transparente und Sprüche gegen das Regime und algerische, palästinensische und berberische Flaggen die Straßen. Im Zeichen dafür, dass sich die Bewegung nicht aufgrund von Identitätsfragen spalten lässt, nahmen die berberischen Flaggen massiv zu.</p><p>Aktivist*innen und <a href="https://www.elwatan.com/edition/actualite/le-forum-des-journalistes-libres-denonce-des-menaces-contre-les-medias-algeriens-23-06-2019">Journalist*innen</a> wurden vermehrt festgenommen, viele sitzen heute noch in Haft. Die Repression löste jedoch eine weitere Welle der Solidarität aus. Messaoud Leftissi, ein Menschenrechtsaktivist, der am 21. Juni verhaftet wurde, leitete <a href="https://www.elwatan.com/edition/actualite/solidarite-avec-les-manifestants-incarceres-pour-port-du-drapeau-amazigh-liberez-les-detenus-liberez-la-justice-25-06-2019">folgende Nachricht</a> an seine Anwältin Aouicha Bekhti weiter: „Anwältin, bitte, ich bestehe darauf! Teilen sie den Algerier*innen draußen auf der Straße mit, dass ich entschlossener denn je bin. Frei sein in einem Land, das vom Regime als Geisel genommen wird, ist sinnlos. Sagen sie den Algerier*innen, sie sollen das ganze Land befreien.“ (Übersetzung des Autors)</p><p>Nach den wichtigen ersten Etappensiegen des algerischen Hirak (der Rücktritt von Bouteflika, die Absage der für April und Juli geplanten Wahlen, die zunehmende Organisierung unterschiedlicher Bevölkerungsteile, auch in neuen öffentlichen Räumen) – Siege, die immer dank der politischen Entschlossenheit und Gewaltlosigkeit der Bewegung gereift sind – geht es derzeit vor allem um die politische Frage. Es ist die Frage danach, ob das autoritäre Regime bestehen bleibt oder ob eine Möglichkeit auf einen echten demokratischen Wandel besteht. Wenn sich das Regime weiterhin für Wahlen in Einklang mit der herrschenden Verfassung entscheidet oder höchstens irrelevante Sozialreformen durchführt, wird sie zwangsläufig mit einer ständigen Ablehnung der vorgeschlagenen Änderung konfrontiert sein. Nimmt die Repression noch weiter zu, wird es nur zwei mögliche Entwicklungen geben: eine demokratische Revolution oder eine Militärdiktatur.</p></div>
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Protestieren wie in Algier2019-05-31T13:39:19.604234+00:002019-05-31T13:59:27.832360+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/protestieren-wie-algier/
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<h1>Protestieren wie in Algier</h1>
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<span class="content-copyright">Kamar Idir</span>
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<div class="rich-text"><p>Am 8. Mai 1945 besiegten die Alliierten Nazi-Deutschland und der Zweite Weltkrieg ging zu Ende. In vielen Ländern Europas wird der Tag der Befreiung vom Faschismus bis heute gefeiert. In Frankreich gilt der 8. Mai auch gleichzeitig als Moment der Konstruktion einer nationalen Identität: „Viele Franzosen sind für den Frieden in Europa gestorben“ wird etwa die Fernsehübertragung der diesjährigen Gedenkfeier und der Besuch des Präsidenten Emmanuel Macron vor der Statue von General De Gaule in Paris <a href="https://www.youtube.com/watch?v=EXzlq3t6OJU">kommentiert</a>. Dort haben sich Staats- und Armeevertreter*innen für die Feierlichkeiten zusammengefunden.</p><p>Zur gleichen Zeit versammeln sich bei der Porte d'Aix in Marseille rund 200 Menschen zu einer etwas anderen Gedenkfeier: Während Europa vom Nazi-Faschismus befreit wurde, blieb Algerien – sowie viele weitere Länder Afrikas – weiterhin der französischen Kolonialherrschaft unterworfen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges hätte auch für sie eine Befreiung sein sollen. Über 135.000 algerische Soldaten kämpften zwischen 1942 und 1945 als Fremdenlegionäre auf der Seite der Alliierten gegen deutsche Soldaten. „Den Algerier*innen wurde die Unabhängigkeit und die Rückgabe ihres Landes versprochen, falls sie mit den Franzosen in den Krieg ziehen würden“, so der algerische Aktivist Aziz Bensadek des <a href="http://fuiqp.org/"><i>front uni des immigrations et des quartiers populaires</i></a> [Einheitsfront der Immigration und der popularen Quartiere, Anm. MC] am Mikrofon.</p><p>Doch die Geschichte ging anders aus: Als am 8. Mai die Algerier*innen auf die Straßen gingen, um das Ende des Krieges und die erhoffte Unabhängigkeit Algeriens zu feiern, schossen französische Soldaten auf sie, weil sie algerische Flaggen mit sich trugen. Innerhalb von 20 Tagen wurden nach <a href="https://algeria-watch.org/?p=19384">US-amerikanischen Dokumenten</a> 40.000 Algerier*innen, vor allem in den ostalgerischen Städten Setif, Guelma und Kherrata, gefoltert und getötet. Der französische Staat hingegen spricht von maximal 1.000 Toten, das Massaker an die Algerier*innen wird heute immer noch nicht anerkannt. Der 8. Mai 1945, so beschreibt es Bensadek, sei ein Wendepunkt für den politischen Kampf in Algerien gewesen: „Nach dem nicht eingehaltenen Versprechen der Unabhängigkeit verstand die algerische Bevölkerung, dass der friedliche Weg der Integration eigentlich keinen Weg der Befreiung darstellte. Im Mai 1945 wurde die Perspektive des bewaffneten Befreiungskrieges geboren.“</p><p>An der Gedenkfeier nehmen einige wichtige Gesichter teil, die sich noch immer unermüdlich für die Freiheit und Unabhängigkeit Algeriens einsetzen – zwischenzeitlich aus der Diaspora. Für sie ist nicht nur die Gedenkfeier ein Anlass, auf die Straße zu gehen, sondern auch die Solidarität mit den derzeitigen Protesten in Algerien, die den alten Kampf um Freiheit und Demokratie in Algerien wieder neu aufflammen lassen.</p><h2><b>Die Stimme der Diaspora</b></h2><p>Die Anfang diesen Jahres ausgebrochenen <a href="https://revoltmag.org/articles/was-ist-los-algerien/">politischen Proteste in Algerien</a> läuteten einen Wendepunkt für die Algerier*innen ein: Zum ersten Mal nach der Befreiung vom Kolonialismus 1962 gehen die Menschen massenweise, friedlich und im ganzen Land auf die Straße, um einen radikalen Wandel zu fordern. Das weckt auch in der algerischen Diaspora alte wie neue Träume und Hoffnungen. Sabrina Chebbi, eine 31-jährige Dokumentarfilmemacherin algerischer Herkunft, die an der Gedenkfeier teilnimmt, kam als vierjähriges Kind zu Beginn der <i>décennie noire</i>, dem algerischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre, mit ihrer Familie nach Frankreich. „Für mich kommt es heute nicht in Frage, nach Algerien zurückzukehren“, erzählt sie. „Doch mein Vater, ein Aktivist der berberischen Kulturbewegung MCB [Mouvement Culturel Berbère, Anm. MC] wollte schon vor fünf Jahren in die Kabylei zurückkehren. Die Revolution hat diesen Wunsch noch verstärkt.“</p><p>Nun entdeckt auch Chebbi dank dem algerischen <i>Hirak,</i> wie die soziale Bewegung bezeichnet wird, eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen den zwei Ufern des Mittelmeeres zu bauen: „Ich verspüre vermehrt die Lust und eine gewisse Dringlichkeit, mich wieder meiner Kultur und meiner Sprache anzunähern. Dank der Revolution bin ich wieder daran, mir die Sprache anzueignen und mich über mein Herkunftsland zu informieren.“ Chebbi engagiert sich in der antikolonialen Bewegung von Marseille, die für sie eine Form der Solidarität mit der Protestbewegung in Algerien darstellt: „Ich weiß, dass unsere Situation [als Migrant*innen, Anm. MC] abhängig ist von der Position Algeriens. Solange Afrika auf den Knien ist, solange also Algerien von Frankreich beherrscht wird, solange werden wir hier nicht als gleichwertige Menschen angesehen und weiterhin erniedrigt.“</p></div>
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<img alt="kamar idir-marseille1.jpg" height="3456" src="/media/images/10_Kamar_Idir.original.jpg" width="5184">
<span class="content-copyright">Kamar Idir</span>
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<p>Protestierende auf den Straßen in Marseille</p>
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<div class="rich-text"><p>Kamar Idir verfolgt die ebenfalls politischen Aktivitäten der Algerier*innen in Marseille. Wie Chebbi ist er Anfang der 1990er Jahren nach Marseille gezogen und nun als freier Journalist und Fotograf tätig. Zurzeit arbeitet er als Redakteur für <a href="https://radiogalere.org/"><i>Radio Galère</i></a><i>,</i> dem freien Radio der Hafenstadt, in dem er auch selber wöchentlich auf Sendung ist. Sein Programm trägt den Namen <i>Les Harragas</i>. Harraga bedeutet auf arabisch wörtlich <i>diejenigen, die ihre Einwanderungspapiere verbrennen</i>. In Algerien wird der Begriff zur Bezeichnung junger Erwachsener verwendet, die aufgrund der mangelnden Zukunftsperspektiven dazu gedrängt werden, mit allen möglichen Mitteln und unter prekären Bedingungen das Land zu verlassen. „Ich habe mit der Sendung Anfang der 1990er Jahre begonnen, in einer Zeit, als viele Algerier*innen gezwungen waren, das Land zu verlassen“, erzählt er uns. Idir ist an allen Platzkundgebungen und Demonstrationen mit Tonaufnahmegerät und Fotokamera anzutreffen. „Ich verstehe meine Rolle darin, den zahlreichen und auch sehr unterschiedlichen Stimmen der Algerier*innen in Marseille als Sprachrohr zu dienen. Für mich findet so der <i>Hirak</i> auch hier jeden Tag statt.“</p><p>Die Solidarität der algerischen Diaspora geht weit über individuelle Initiativen hinaus. Viele hier versammeln sich in politischen Kollektiven von Algerier*innen. Der 43-jährige Wirtschaftslehrer Yahia Hadji ist im CADSA Marseille organisiert, dem <i>Collectif pour une Alternative Démocratique et Sociale en Algérie</i> [Kollektiv für eine demokratische und soziale Alternative in Algerien, Anm. MC]. Das Kollektiv existierte schon vor dem Ausbruch der Proteste im Februar, doch seither gehört es zu den Initiator*innen der sonntäglichen Solidaritätsdemonstrationen in Marseille. „Die Freitagsdemonstrationen sind in Algerien ein Ritual geworden, in Marseille demonstrieren wir sonntags.“ Hadji reist regelmäßig nach Algerien, um direkt an den Protesten teilzunehmen und sich ein Bild der Situation zu machen. Die Bewegung dort erhofft sich eine wichtige Unterstützung von der algerischen Diaspora. „Die Genoss*innen in Algerien wiederholen ständig: Wenn morgen ein wirklich demokratischer verfassungsgebender Prozess angestoßen wird, kann dies nicht ohne die Teilnahme der algerischen Diaspora geschehen.“ Das Kollektiv wurde mit dem <i>Hirak</i> zudem in eine neue politische Rolle katapultiert, berichtet Hadji. Er führt aus: „Wir versuchen gerade unter dem Namen Libérons l'Algérie eine <a href="https://www.elwatan.com/edition/actualite/mobilisation-de-la-diaspora-plaidoyer-pour-un-processus-constituant-21-05-2019">Koordination</a> der progressiven Vereine und Organisationen und beratende Versammlungen in Frankreich und europaweit auf die Beine zu stellen“.</p><p>Saïd Belguidoum, Professor für Soziologie und Urbanismus an den Universitäten von Algier und Aix-Marseille, stimmt der Analyse der algerischen Genoss*innen zu: „Die algerische Immigration hat historisch und in wichtigen Momenten der Veränderung in Algerien stets eine avantgardistische Rolle gespielt. Und sie wird es auch in dieser Bewegung tun.“ Tatsächlich wurde die erste unabhängige algerische politische Partei, der <i>Étoile nord-africaine</i> [Nordafrikanische Stern, Anm. MC] 1926 in Paris von algerischen Arbeitsmigrant*innen gegründet; die <i>Fédération de France du FLN</i> [französische Föderation der Nationalen Befreiungsfront FLN, Anm. MC], 1955 während des algerischen Befreiungskrieges gegründet, beeinflusste Intellektuelle, Öffentlichkeit und das gesamte politische Milieu Frankreichs und organisierte, vom Exil aus, militärische Operationen in Algerien. Und bei den algerischen Präsidentschaftswahlen 1995 gingen die Algerier*innen in Frankreich massenhaft für den Kandidaten Liamine Zeroual wählen: „Die Algerier*innen standen stundenlang Schlage, um ihren Stimmzettel für den Frieden in Algerien und gegen den islamistischen Terror des Front Islamique du Salut FIS [Islamische Heilsfront, Anm. MC] einzuwerfen. Das hat die Wahlen in Algerien selbst stark beeinflusst.“</p><p>Für Belguidoum spielen auch in der aktuellen Protestbewegung die Auslandsalgerier*innen eine wesentliche Rolle. Den großen Demonstrationen am 22. Februar gingen fünf Tage zuvor zwei wichtige lokale Demonstrationen voraus, die als Auslöser der Massenproteste bezeichnet werden können: eine in der kalybischen Stadt <a href="https://www.youtube.com/watch?v=UzDO_-TCVl8">Kherrata</a> und eine in <a href="https://www.youtube.com/watch?v=UH7QJA5FYbc">Paris</a>. Belguidoums Beschreibung dieses Moments macht die Verbindung dieser Orte und ihre Bedeutung deutlich: „Innerhalb weniger Tage haben auf Facebook tausende Menschen ihre Teilnahme an der Versammlung auf der Place de la République zugesichert. Am 17. Februar versammelten sich dann auch tatsächlich rund 6.000 Algerier*innen in Paris. Die Bilder zirkulierten auf den sozialen Medien bis nach Algier.“</p><h2><b>Die ökonomischen Interessen der Armee</b></h2><p>In Algerien selbst konnten dank den schon sechzehn Wochen andauernden Massenprotesten wichtigen Erfolge für die Bewegung verzeichnet werden: Die Wahlen im April wurden abgesagt und der amtierende Präsident Abdelaziz Bouteflika wurde <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1116018.abdelaziz-bouteflika-algerien-kann-kurz-durchatmen.html">zum Rücktritt gezwungen</a>. Allerdings sind die neu eingesetzten Figuren der Übergangsregierung, allen voran Interimspräsident Abdelkader Bensalah und Premierminister Noureddine Bedoui, kein Ausdruck des Willens der Straße, auf der die Menschen <i>dégagez tous!</i> [haut alle ab!] fordern. Im Gegenteil, durch ihre Einführung wurde klar, wer <i>de facto</i> das Zepter übernommen hat, nämlich der General, Stabschef der algerischen Armee und stellvertretender Verteidigungsminister Gaïd Salah. In seinen öffentlichen Auftritten unterstrich dieser bislang die Bemühungen, einen Übergang im Rahmen der aktuellen Verfassung zu organisieren und die einstmals versprochenen Wahlen am 4. Juli durchzuführen – auch wenn diese weder <a href="https://www.elwatan.com/edition/actualite/election-presidentielle-du-4-juillet-elle-nest-realisable-ni-techniquement-ni-politiquement-14-05-2019">technisch realisierbar</a> noch im Sinne der politischen Forderungen der Protestierenden sind. Belguidoum erläutert: „Sowie nach den ersten Großdemonstrationen im Februar und März klar war, dass die Wahlen im April obsolet wurden, so gilt das noch mehr für die Wahlen am 4. Juli.“ Die Haltung von General Salah sei, so Belguidoum, „regelrecht grotesk“. Tatsächlich werden diese <a href="https://www.huffpostmaghreb.com/entry/presidentielle-impossible-vide-constitutionnel-cinq-choses-a-retenir_mg_5cea63fde4b0512156f3004b">Wahlen nun auch annulliert</a>, da innerhalb der gegebenen Frist keine Bewerbungen eingereicht wurden.</p></div>
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<span class="content-copyright">Kamar Idir</span>
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<p>"Gaïd Salah faut dégager" - Salah soll abhauen, und seine mafiöse Posse gleich mit, fordert diese Frau..</p>
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<div class="rich-text"><p>Die Gründe für das Festhalten des Generals Salah an der Machtposition liegen indes in den ökonomischen Interessen des algerischen Militärs. Um seine Position an der Spitze dieses politischen Übergangs zu legitimieren, versucht Salah vordergründig, den Forderungen der Bewegung entgegenzukommen. So hat er nach der Absetzung von Bouteflika die Operation <i>saubere Hände</i> eingeleitet und im Namen des Kampfes gegen die Korruption und den Klientelismus einige wichtige Persönlichkeiten festnehmen lassen, die dem Bouteflika-Clan zuzuordnen sind, darunter auch der Bruder des früheren Präsidenten, Saïd Bouteflika, und der Vorsitzende des algerischen Arbeitgeberverbandes Ali Haddad. Die algerischen Protestierenden nehmen ihm diese Strategie allerdings nicht ab: „Es handelt sich dabei schlicht um eine Abrechnung innerhalb des Machtapparates und um den Versuch, sich an der Spitze des algerischen Staates zu behaupten“ meint der Aktivist Hadji.</p><p>In die gleiche Kerbe schlägt der Soziologe Belguidoum, für den es bei diesen Konflikten um die Aneignung von Marktanteilen geht. Algerien stand 2018 auf Platz fünf der weltweiten <a href="http://armstrade.sipri.org/armstrade/page/values.php">Waffenimporteure</a>, 80 Prozent des Handels wird mit Russland abgewickelt. „Die Armee besitzt seine eigenen Einkünfte und Marktanteile, da der Waffenhandel direkt vom Militär abgewickelt wird. In der Regel rechnet man mit 10 Prozent Beratungskosten, das sind also unglaublich hohe Summen, die direkt in die Kassen des Militärs fließen und mit denen sich ein ganzer Clan die Taschen füllt.“ Algerien gehört auch zu den <a href="https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7938/">ersten Abnehmern</a> der deutschen Waffenproduktion und vermehrt werden deutsche Werke zur Produktion von Rüstungsgütern in Algerien eröffnet.</p><p>Das gleiche gilt für die Einnahmen des Erdöl- und Erdgasverkaufs, welche 97 Prozent aller algerischen Exporte und rund 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen. Aktuell verschieben sich die Kräfteverhältnisse und Marktanteile multinationaler Unternehmen auch in diesem Sektor. Der französische Gigant Total <a href="https://www.huffpostmaghreb.com/entry/total-veut-racheter-les-actifs-danadarko-en-algerie_mg_5cd025c8e4b04e275d4d6509">ist daran</a>, Bestände der US-amerikanischen Erdöl-Gruppe Anadarko im Wert von 8.8 Milliarden US-Dollar aufzukaufen und somit zum wichtigsten Player auf dem afrikanischen Kontinent zu werden. „Es ist die Aufgabe der algerischen Diaspora, über die ausländische Interessen und ihre Einmischung in Algerien zu sprechen. Wir müssen vermehrt über die Position Algeriens in der Weltwirtschaft nachdenken. Denn für die ausländischen Interessen in Algerien bedarf es keiner großen Anstrengung, um Algerien zu destabilisieren und die Bewegung zu unterdrücken, damit das Regime an seinem Platz bleibt und ihre Interessen verteidigt“, resümiert Hadji.</p><h2><b>Der demokratische Übergang</b></h2><p>Während die Armee weiterhin versucht, eine Art politische Stabilität wiederherzustellen, wächst gleichzeitig die Repression gegen die soziale Bewegung. Nebst einem massiveren Aufgebot an Polizei und Militär an den Demonstrationen werden auch oppositionelle Stimmen durch Festnahmen mundtot gemacht. Am 9. Mai wurde die Vorsitzende der Arbeiter*innenpartei [Parti des travailleurs, PT, Anm. MC] Louisa Hanoune festgenommen und unter der lächerlichen <a href="http://www.rfi.fr/afrique/20190510-algerie-louisa-hanoune-incarceree-complot-contre-autorite-etat">Anklage</a> „Verschwörung gegen die Staatsautoritäten“ vor das Militärgericht gestellt. <a href="http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article48775">Festnahmen</a> nehmen auch unter Demonstrationsteilnehmer*innen zu.</p><p>Der Widerspruch zwischen den Forderungen der sozialen Bewegung und der Reaktion des Machtapparates wird immer größer. Die Zeit drängt: „In den nächsten Tagen muss der Hirak notwendigerweise starke Vorschläge formulieren und die Armee zwingen, sich zurück zu ziehen“ meint Belguidoum. Ziel sei eine verfassungsgebende Versammlung, in der alle progressiven politischen Parteien und Repräsentant*innen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Auch Hadji stellt sich hinter dieses Ziel. Für ihn ist klar: „Es sollen all jene politischen und sozialen Kräfte daran teilnehmen, die drei Grundprinzipien anerkennen: die Unabhängigkeit der Justiz, die Gleichheit zwischen Frauen und Männern und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Das sind die Prinzipien, unter denen sich die popularen Kräfte in einem neuen Gesellschaftsvertrag versammeln und den demokratischen Übergang organisieren müssen.“</p><p>Die Algerier*innen in Marseille haben nicht nur ein klares Bild davon, wie der demokratische Übergang zu organisieren ist, sie spielen in diesem Übergang auch eine wichtige Rolle. Doch eine demokratische und soziale Transition ist ein harter Weg. Zehn Jahre Bürgerkrieg und zwanzig Jahre Bouteflikismus haben die algerische Gesellschaft in die Passivität gedrängt und zivilgesellschaftliche Akteur*innen unterdrückt und marginalisiert. Die junge Generation beweist allerdings, dass auch aus der Position der Passivität und Marginalisierung Perspektiven der Veränderungen entstehen können. „Was ich in Algerien beobachten kann, ist eine unglaubliche Fähigkeit zu Selbstorganisation. Die soziale Bewegung hat einen gesellschaftlichen Knall verursacht und so ist alles ins Laufen gekommen: Die Menschen gehen auf die Straße, befreien ihre Wörter, befreien die Kultur. Für eine Bevölkerung, die all diese Zeit regelrecht eingesperrt war, ist das eine unglaubliche Befreiung“ sagt Chebbi.</p><p>In Algerien liegt eine alte Welt trotz Gegenwehr der Armee im Sterben und eine neue Welt ist noch nicht ganz geboren. Doch „in revolutionären Zeiten werden kollektive Lernprozesse und politische Reife der Menschen beschleunigt. Unter diesem Blickwinkel befinden wir uns gerade Mitten in einer Revolution“, so Hadji – also keine Zeit der Monster, wie Gramsci schon sagte, sondern eine Zeit der großen Hoffnung auf tiefgreifende Veränderungen.</p><p></p><hr/><p><b>Algerier*innen in Marseille: Doppelte Abwesenheit</b></p><p>Mit über 250.000 Algerier*innen gehört Marseille zu den wichtigsten algerischen Städten außerhalb Algeriens. Die geografische Nähe (750km) zum <i>bled</i> [auf Deutsch Kaff, Provinznest, Anm. MC], wie Algerien von den Auslandsalgerier*innen bezeichnet wird, bedeutet noch lange nicht, dass eine kulturelle und gesellschaftliche Nähe zum Herkunftsland besteht. Gerade bei derjenigen Generation von Algerier*innen, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren nach Marseille arbeiten gegangen ist, dominiert eine <i>double absence</i>, eine doppelte Abwesenheit, wie es der algerische Soziologe Bourdieu'scher Schule Abdelmalek Sayad in seinem <a href="https://jugurtha.noblogs.org/files/2018/02/La-Double-Absence-de-Abdelmalek-Sayad.pdf">Hauptwerk</a> bezeichnet und der <a href="https://www.youtube.com/watch?v=-vydzIckx2c">Dokumentarfilm</a> <i>Les Chibanis oubliés</i> von Rachid Oujdi illustriert hat. Die Illusionen der Emigration haben sich zu regelrechten Leiden in der Immigration verwandelt. In den Beschreibungen aus dem Leben in der Diaspora zeigt sich, dass diese Widersprüchlichkeit auf ähnliche Weise auch von den jüngeren Generationen erlebt wird. Viele Algerier*innen spüren heute noch die gesellschaftlichen Widersprüche, die tief in der migrantischen Existenz liegen: Sie sind abwesend im Herkunftsland und daher abwesend von ihren Familien und von ihren Dörfern und werden von Schuldgefühlen dominiert; sie sind aber auch im Ankunftsland Frankreich abwesend, ausgegrenzt und einzig als billige Arbeitskraft behandelt. Die erhoffte Rückkehr hat sich schlussendlich in einen unerfüllten Traum verwandelt.</p><hr/><p></p></div>
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<span class="content-copyright">Maja Tschumi</span>
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<p>Die algerische Diaspora in Marseille</p>
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