re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=7782023-05-18T14:41:20.835366+00:00Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?2023-05-17T22:46:37.991060+00:002023-05-18T14:41:20.835366+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/den-gordischen-knoten-zerschlagen-aber-wie/
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<h1>Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?</h1>
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<span class="content-copyright">Johanna Bröse</span>
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<div class="rich-text"><p>Um es von Anfang an unmissverständlich zu sagen: Die Ergebnisse der Doppelwahl in der Türkei vom 14. Mai 2023 – für Parlament und Präsidentschaft – waren ein relativer Sieg für den amtierenden türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdoğan und ein relativer Misserfolg der Opposition, sowohl der linken als auch der rechten. Selbst wenn das Präsidentschaftsrennen noch nicht entschieden ist – keiner der Kandidaten konnte die für den Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erforderlichen 50 %+1 der Stimmen für sich verbuchen, so dass am 28. Mai eine zweite Runde anberaumt ist – können wir schon jetzt einige wichtige analytische Schlussfolgerungen ziehen und Perspektiven diskutieren. Nicht zuletzt gibt es auch genügend Gründe, den Kampf um den Sieg über Erdoğan am 28. Mai nicht aufzugeben. Nähern wir uns dem vertrackten gordischen Knoten Schritt für Schritt.</p><h2><b>Die Beständigkeit des institutionalisierten autoritären Populismus an der Macht</b></h2><p>Die Wahlergebnisse der ersten Runde zeigen einen relativen Sieg von Erdoğan. Klar, autoritäre Repression, stark ungleiche Ausgangsbedingungen im Vorfeld und am Wahltag sowie Wahlbetrug in einer erneut von mysteriösen Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahlnacht sind wie gehabt sehr wichtige Elemente, die diesen relativen Sieg ermöglicht haben. Es gibt bereits deutliche Anzeichen dafür, dass sich der Wahlbetrug vor allem darauf konzentriert hat, Stimmen für die linke, pro-kurdische Grüne Linkspartei (<i>Yeşil ve Sol Partisi,</i> YSP) in Stimmen für die rechtsextreme nationalistische Partei, die Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi,</i> MHP), den wichtigsten Verbündeten von Erdoğan, umzuwandeln (siehe z. B. den Hashtag #YeşilSolPartininOylarıNerede – „Wo sind die Stimmen für die YSP?“ – auf Twitter). Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, ist das Ausmaß des Betrugs noch nicht klar und auch nicht, ob dieser entscheidende Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben wird. Die Entwicklungen sind, wie so oft in der Türkei, hochdynamisch. Dennoch: Der Betrug kann an sich nicht die enorme Unterstützung der Bevölkerung für Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten und sein regierendes Bündnis, die Volksallianz (<i>Cumhur Ittifakı</i>, CI) erklären.</p><p>Erdoğan kam nach den offiziellen (staatlichen) Zahlen mit bisher 49,50 % der Wähler:innenstimmen (gegenüber 52,60 % und einem Sieg in der ersten Runde im Jahr 2018) knapp an den Sieg in der ersten Runde des Präsidentschaftsrennens heran, während sein Konkurrent, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (<i>Cumhuriyetçi Halk Partisi,</i> CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der auch das wichtigste bürgerliche Oppositionsbündnis, die Allianz der Nation (<i>Millet Ittifakı</i>, MI), anführt, etwas weniger als 45 % der Wähler:innenstimmen auf sich vereinte. Obwohl Erdoğans CI mit einer Wähler:innenunterstützung, die nahe an der von Erdoğan liegt (49,46 % gegenüber 53,60 % im Jahr 2018 nach den bisherigen Zahlen), etwas weniger als die absolute Mehrheit gewonnen hat, verfügt die CI aufgrund der Wahlarithmetik mit 322 von 600 Abgeordneten immer noch über die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Obwohl die CI und Erdoğan Stimmenanteile verloren haben und Erdoğan es nicht geschafft hat, in der ersten Runde zu gewinnen, sollte die Tatsache, dass die MI und der zweite, linke Oppositionsblock, das Bündnis für Arbeit und Freiheit (<i>Emek ve Özgürlük Ittifakı,</i> EÖI) unter Führung der YSP, es nicht geschafft haben, die Macht der CI im Parlament zu brechen, sowie die Tatsache, dass Kılıçdaroğlu die erste Runde des Präsidentschaftswahlkampfs weder gewonnen noch angeführt hat, eindeutig als relativer Sieg für Erdoğan verstanden werden. Warum?</p><p>Im Gegensatz zu liberal-demokratischen Behauptungen über das starke Abschneiden der Opposition in der Türkei, wenn man sie mit der Opposition in Russland und Ungarn vergleiche (ein ausgezeichneter Artikel entlang dieser Argumentationslinie findet sich <a href="https://www.journalofdemocracy.org/seven-lessons-from-turkeys-effort-to-beat-a-dictator/">hier</a>), sollte man den entscheidenden Unterschied des autoritären Regimes in der Türkei im Vergleich zu den genannten betonen, der das Wahlergebnis zu einem relativen Sieg für das Regime macht: Es ist nämlich im Verhältnis zu den tiefen und vielfältigen Krisen zu sehen, in die das Regime das Land gestürzt hat. Die Türkei befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit über 20 Jahren (zumindest für die breite Masse der Bevölkerung), wobei das Schlimmste wahrscheinlich erst noch bevorsteht. Das Land hat bei der Pandemie im Bereich der öffentlichen Gesundheit sehr schlecht abgeschnitten und Anfang diesen Jahres die schlimmsten Erdbeben in der modernen Geschichte der Türkei durchlebt, für deren fatale Auswirkungen die Regierung eine <a href="https://revoltmag.org/articles/das-staatsbeben-in-der-t%C3%BCrkei/">große Verantwortung</a> trägt. Trotz alledem behält das Erdoğan-Regime die Oberhand. Und dies, im Übrigen, <a href="https://www.dwturkce.com/tr/erdo%C4%9Fan-deprem-b%C3%B6lgesinde-ilk-s%C4%B1rada-%C3%A7%C4%B1kt%C4%B1/a-65631057">auch im Erdbebengebiet</a>, wo der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-hangi-parti-ve-ittifak-ne-kazandi-ne-kaybetti-hangi-surpriz-sonuclar-var,40007">Rückgang der Unterstützung</a> für die CI und insbesondere für die AKP zwar nicht zu vernachlässigen ist, sie aber trotzdem weitab vorne liegen, während Erdoğan als Präsidentschaftskandidat <a href="https://substackcdn.com/image/fetch/f_auto,q_auto:good,fl_progressive:steep/https://substack-post-media.s3.amazonaws.com/public/images/13bcf876-0874-4b2f-832c-41200a25096d_795x566.jpeg">kaum Verluste</a> hinzunehmen hat im Vergleich zu 2018. Keines der etablierten rechtsautoritären Regime weltweit durchlebte bisher auch nur im Entferntesten derartig tiefe Krisen wie dasjenige unter Führung von Erdoğan.</p><hr/><h4><b>Dies führt zu einer ersten wichtigen theoretischen Schlussfolgerung, die auch im globalen Maßstab relevant ist: Ein institutionalisierter autoritärer Populismus an der Macht und seine Mechanismen der polarisierten Identitätsbildung können selbst angesichts tiefer und massiver Krisen hartnäckig Bestand haben.</b></h4><hr/><p>Einem Großteil der schockierten Reaktionen auf die Wahlergebnisse scheint ein liberaler, aufklärungsphilosophischer Ansatz zugrunde zu liegen, der davon ausgeht, dass niemand aus rationalen Gründen ein Regime wählen würde oder sollte, das die Bevölkerung – erneut aus vermeintlich rationalen Gesichtspunkten betrachtet – immer wieder im Stich lässt. Diese Argumentation war und ist erkenntnistheoretisch und ontologisch offensichtlich unangemessen, um zu verstehen, was in der jetzigen Wahl geschehen ist und was seit Jahren geschieht.</p><p>Erdoğan und die AKP konnten zunächst auf der Welle eines „eingebetteten Neoliberalismus“ reiten, das heißt, den Neoliberalismus in Mechanismen der minimalen Gesundheitsversorgung und oft recht paternalistische und klientelistische Formen der Umverteilung integrieren. Dies ging einher mit Diskursen und Praktiken, die das Gefühl einer umfassenden sozialen Teilhabe vermittelten. Diese waren wiederum vermittelt durch Subjektivierungsmechanismen nach konservativem Muster und einer nur restriktiven, das heißt nicht-strukturellen Ermächtigung der subalternen Teile ihrer Unterstützer:innenbasis. Diese gesellschaftliche Verankerung von Erdoğan und der AKP ist der Schlüssel zum Verständnis, wie es Erdoğan gelungen ist, seinen verschwörungstheoretisch-autoritären Diskurs und seine Politiken der Polarisierung so zu verankern, dass er ein veritables Maß an gesellschaftlicher Zustimmung auf sich vereinen und ein Bündnis mit extrem nationalistischen Kräften wie der MHP schmieden konnte. Ohne diesen tiefenanalytischen Hintergrund bleibt man schlicht an der Oberfläche der Ereignisse kleben, wie so viele <a href="https://www.gmfus.org/news/erdogan-just-short-another-victory-election-not-over-until-its-over">politikwissenschaftliche Analysen</a>, die beispielsweise die Polarisierungstaktiken oder den ökonomischen Populismus von Erdoğan hervorheben, aber nicht erklären können, warum das bei Erdoğan seit Jahren trotz tiefen Krisen klappt, bei Trump, Bolsonaro und Johnson aber nicht.</p><p>Der Erfolg, sich als Führer und die AKP als führende Partei zu präsentieren, die die Anliegen des Volkes vorantreibt entlang der oben genannten Linien und des oben genannten historischen Hintergrunds, verlieh der Anziehungskraft von Erdoğan/CI auch in Krisenzeiten eine gewisse Beständigkeit und verhinderte eine massive Abnahme der Zustimmung unter der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft. Hinzu kommt die reale und symbolische Selbst-Erhebung, die die Unterstützer:innen durch die Annahme des autoritären Angebots, Teil des von Erdoğan/CI vertretenen „nationalen Willens“ (<i>millî irade</i>) zu sein, erlangen. Auch die Auswirkungen der populistischen Wirtschaftspolitik im Vorfeld der Wahlen dürfen nicht unterschätzt werden: Deckelung der Mieten, Erhöhung des Mindestlohns, Ausweitung der Rentenansprüche und Erhöhung der Renten, Energieverbrauchssubventionen, Versprechen, das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, Versprechen, die Hälfte der Kosten für neue Wohnungen im Erdbebengebiet zu finanzieren und so weiter. Nichts von alledem dürfte nachhaltig sein. Aber die Versprechungen förderten das bereits bestehende erfolgreiche Führerimage. Eine typische Erdoğan/CI-Wähler:inmentalität, die in den letzten Wochen häufig zu sehen und zu hören war, besteht in der Klage über viele Dinge, etwa die Wirtschaft; gekoppelt aber mit dem Glauben, dass immer noch Erdoğan/CI die beste/einzige Option zur Lösung der Probleme sei.</p><p>Es ist also auch die Unzufriedenheit innerhalb der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft groß, was sich in den Stimmenverlusten für Erdoğan und die CI im Vergleich zu 2018 und in bestimmten qualitativen Feldstudien und öffentlichen Umfragen widerspiegelt. Warum ist es der Opposition dann nicht gelungen, diese Unzufriedenheit stärker als bisher von Erdoğan/CI weg zu kanalisieren?</p><h2><b>Die Grenzen eines halbherzigen progressiven Neoliberalismus</b></h2><p>Wie bereits mehrfach von kritischen Stimmen hervorgehoben wurde, ist der wichtigste bürgerliche Oppositionsblock eher schwach darin, eine überzeugende alternative Vision für Staat und Gesellschaft zu präsentieren – und noch weniger gut darin, eine solche Perspektive in sozialen Praktiken zu verankern, die mit den Menschen in Verbindung stehen. Ihre politökonomische Perspektive beinhaltet die Restauration eines klassischen neoliberalen Akkumulationsregimes, möglicherweise mit einem developmentalistischen Einschlag. Sie stehen damit für ein Akkumulationsregime, das hauptsächlich verantwortlich ist für ein Wachstum ohne Beschäftigungszuwachs (<i>jobless growth</i>), die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zerstörung der Organisation der Arbeiter:innenklasse – und damit für ein Akkumulations, das die Grundlage bot und bietet für die Bündelung der Unzufriedenheit auf reaktionäre Weise, wie es Erdoğan tat und weiterhin tut.</p><hr/><h4><b>Auch in dieser Hinsicht ähnelt der Fall der Türkei dem globalen Trend einer vorherrschenden innersystemischen Dialektik zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus vor dem Hintergrund einer tiefen und vielschichtigen Krise der globalisierten neoliberalen Weltordnung. In der Türkei jedoch mit einer noch weniger ausgeprägten „Progressivität“ auf der neoliberalen Seite der Dialektik als etwa bei Macron in Frankreich, Biden in den USA oder der „Fortschrittskoalition“ in Deutschland. Wie und warum ist das so?</b></h4><hr/><p>Die Forderung der MI nach Demokratie bleibt recht unbestimmt, da vor allem die innerstaatliche Dimension der Demokratisierung von der Hauptopposition dargelegt wird im Rahmen einer Perspektive hin zu einem gestärkten parlamentarischen System. In den einschlägigen Dokumenten der MI finden sich viele gute Vorschläge, zum Beispiel in Bezug auf das Justizwesen. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass das derzeitige Präsidialregime in der Türkei nicht mit dem Fallschirm vom Himmel auf die Erde gesprungen ist, sondern sich aus eben einem parlamentarischen System heraus entwickelt hat – genauer gesagt dadurch, dass Erdoğan/CI gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert haben, um vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise den Übergang zu einem autoritären Präsidialregime zu forcieren. In dieser Hinsicht bleibt die Forderung der Hauptopposition nach Pluralismus in den gesellschaftlichen Beziehungen weit weniger detailliert, da hoch umstrittene Themen wie die kurdische und alevitische „Frage“ und das Thema der LGBTQI+-Rechte umgangen werden. Positive Verweise auf historische Institutionen ausgrenzender religionsbasierter Politik wie das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) finden sich bei der CHP, aber auch bei anderen Parteien der MI. Ebenso finden sich positive Verweise auf neuere symbolische und institutionelle Elemente des Rechtsnationalismus und Autoritarismus, etwa auf die Einleitung und die ersten vier Paragraphen der vom Militär auferlegten und immer noch gültigen Verfassung von 1982. Diese beinhalten ein ethnisch-ausgrenzendes Verständnis der türkischen Nation und einen autoritären „Atatürkismus“. Elemente wie diese, gepaart mit einem starken Fokus auf aggressiven Nationalismus und patriarchale Werte, waren die Schlüsselthemen, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert wurden, um auf dem Weg zum aktuellen Präsidialsystem auf Zustimmung zu drängen. Und sie bleiben die Schlüsselelemente, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert werden, um aktuell den autoritären Konsens zu konsolidieren. Nicht zuletzt ähnelte die Mobilisierung der Hauptopposition jener von Erdoğan/CI: Das hieß, die Menschen kleinzuhalten und zu demotivieren, selbst aktiv zu werden oder auf die Straße zu gehen, indem sie sie vor schlimmen Dingen warnen, die sonst passieren könnten. Sie setzen darauf, dass die Menschen demobilisiert bleiben oder nur auf eine paternalistische und kontrollierte Weise mobilisiert werden.</p><p>Ein ausgrenzender (extremer) Nationalismus, eine ausgrenzenden religionsbasierten Politik sowie die einem autoritären Staatsglauben und der Staatssicherheit eingeräumte Vorrangstellung gegenüber der selbsttätigen Aktivität der Massen und der popularen Demokratie sind zentrale Themen der herrschenden Blöcke seit der Gründung der modernen Republik Türkei. Nichts davon war und ist unangefochten und unverändert. Ein Intermezzo großer sozialer Auseinandersetzungen 1960-80 stellte diese autoritären Grundlagen der Republik in Frage. Diese wurden jedoch von der Militärjunta des Staatsstreichs vom 12. September 1980 und ihrer autoritären Verfassung in modifizierter Form wiederhergestellt.</p><p>Seitdem ist das zunehmende Erstarken eines rechtsgerichteten Konservatismus zu verzeichnen, der Nationalismus und Islamismus einschließt. Er wird von den wichtigsten bürgerlichen Parteien und dem Militär propagiert und instrumentalisiert und füllt das Vakuum, das die zerstörte revolutionäre Linke hinterlassen hat. Stärkere oder schwächere Alternativ- oder Gegentrends gab und gibt es nach wie vor, wie der kurzlebige Aufstieg der Sozialdemokratie in den frühen 1990er Jahren, die illusionären Versuche eines „progressiven Neoliberalismus“ unter der frühen AKP und in jüngerer Zeit vor allem der Gezi-Aufstand von 2013 gezeigt haben. Die Republikaner und die republikanische Linke haben es jedoch vermieden und vermeiden es weiterhin, Gegentendenzen zu einer umfassenden nicht-neoliberalen Alternative zu formulieren, während die revolutionäre Linke nach 1980 viel zu schwach blieb und bleibt oder in Teilen liberal wurde. Das ist der Hauptgrund, warum es seit geraumer Zeit eine unabhängige dritte, linke und pro-kurdische Koalition in der Türkei gibt.</p><p>Dass der wichtigste Oppositionsblock heute ebenfalls versucht, auf der dominierenden Welle des Konservatismus zu reiten, sollte daher nicht überraschen. Noch weniger, wenn man bedenkt, dass im Grunde alle Parteien innerhalb der MI neben der CHP Abspaltungen von der AKP (Davutoğlus GP, Babacans DEVA) oder der MHP (Akşeners IYI) sind, außerdem eine Nachfolgepartei der Vorgängerpartei der AKP (Karamollaoğlus SP) und eine Partei, die in der Haupttradition der rechten Mitte in der Türkei steht (Uysals DP). Es handelt sich also um Parteien der rechten Seite des politischen Spektrums, weswegen die manchmal zu vernehmende Rede von einer „großen, parteienübergreifenden Koalition“ in Bezug auf die MI schlicht falsch ist.</p><p>Es gibt keine offene Zusammenarbeit mit der YSP oder dem EÖI, diese wird von fast allen Parteien innerhalb der MI außer der CHP rundweg abgelehnt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die YSP und ihre Vorläuferin, die Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP) bei den Kommunalwahlen 2019 maßgeblich zum Erfolg der Opposition beigetragen haben und jetzt wieder dazu beitragen, den Stimmenanteil von Kılıçdaroğlu zu erhöhen. In der Tat erzielte Kılıçdaroğlu in den überwiegend kurdischen Gebieten der Türkei die höchsten Werte, oft weit über 60 % der Stimmen. Im Gegensatz dazu hört man oft Aufrufe aus dem liberalen Lager an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich zugänglich gegenüber konservativen und nationalistischen Wähler:innen zu zeigen, um eine erfolgreiche demokratische Koalition zu schmieden und die Macht von Erdoğan/CI über diese Wähler:innenschaft zu brechen. Ähnliche Aufrufe an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich der HDP/YSP oder dem EÖI anzunähern, gibt es allerdings kaum. Offensichtlich ist die MI nicht nur aus pragmatischen Gründen der Ansicht, dass ein Einlenken gegenüber einer scheinbar dominanten konservativen Strömung ihr die Oberhand bei den Wahlen verschaffen würde. Der Schluss ist naheliegend, dass die Mehrheit der MI auch aktiv davon überzeugt ist, dass der Konservatismus die „richtige“ Art und Weise ist, zu regieren und die Gesellschaft zu gestalten. Gerade dieses Appeasement an den rechtskonservativen Trend machte es schon vor den Wahlen fragwürdig, wie weit eine Demokratisierung unter Führung der MI gehen könnte.</p><p>Allerdings scheint diese Anpassung an den dominanten rechtskonservativen Trend als Alternative gar nicht erst überzeugend genug zu sein, um einen Wandel in der Legislative einzuleiten, wie schon vor den Wahlen oft kritisch angemerkt wurde: Die MI blieb bei den Parlamentswahlen im Wesentlichen bei ihren Stimmenanteilen von 2018 (damals 33,94%, jetzt 35%), wobei die IYI etwas weniger (jetzt 9,7% gegenüber 9,96% 2018) und die CHP etwas mehr als bei den letzten Wahlen (25,33% gegenüber 22,65%) erzielte. Da die CHP jedoch nur durch die viel gepriesene Taktik, mit allen MI-Mitgliedern außer der IYI mit gemeinsamen Listen in den Wahlkampf zu ziehen, mehr Abgeordnete gewinnen konnte, werden sich diese Gewinne in Verluste verwandeln, da die CHP mehr Sitze an MI-Mitglieder abgeben wird, als sie gewonnen hat. Man fragt sich schon, ob die Taktik, eine Mitte-Rechts-Koalition zu schmieden, um das demokratische Potenzial gegen den Autoritarismus zu kanalisieren, doch nicht so gut aufgegangen ist und ob ein alternatives Mitte-Links-Bündnis, etwa mit der CHP und der HDP im Kern, bei guter Durchführung, nicht erfolgreicher gewesen wäre.</p><p>Die Lehren aus dem relativen Scheitern der Opposition sind meines Ermessens daher diese hier: Ohne eine umfassende alternative gesellschaftliche Vision, inklusive einer alternativen politökonomischen Vision, plus einer Praxis, die sich im Alltag und in der sozialen Praxis der Menschen mit diesen verbindet, um die Alternative tatsächlich zu verankern und die Menschen umfassend handlungsfähig subjektiviert und daher die reaktionären Subjektivierungsmechanismen ersetzt, wird es kaum gehen. Oder es wird gehen zu einem immer stärker steigenden Preis, das heißt auf dem Hintergrund von immer schwereren Krisen, deren Materialität dann irgendwann die Materialität und Superstruktur des Erdoğanismus brechen wird, allerdings dann mit einer Stoßrichtung, die radikal offen bleibt in alle Richtungen, fortschrittlich wie reaktionär.</p><hr/><h4><b>Schlimmer jedoch als die nur mittelmäßige Performance der MI ist,</b> <b>dass das Einlenken gegenüber dem Rechtskonservatismus, um dessen extremste autoritäre Form, nämlich das faschistoide Regime unter Erdoğan, zu stürzen, dazu beigetragen hat – wohl unbeabsichtigt, nehme ich an, aus der Sicht der Mehrheit der Republikaner:innen –, die steigende Flut des rechten (extremistischen) Konservatismus zu stärken. Auch das war eine große Gefahr, vor der kritische Analysen schon seit geraumer Zeit gewarnt haben.</b></h4><hr/><h2><b>Der Aufstieg des extremen Rechtskonservatismus</b></h2><p>Der heimliche Gewinner der Wahlen in der Türkei vom 14. Mai 2023 scheint derzeit der (extreme) Rechtskonservatismus zu sein, der als allgemeine Tendenz bündnisübergreifend erstarkt und verschiedene Unterströmungen wie extremen Nationalismus und extremen Islamismus umfasst. Zählt man die (rechtsextremen) nationalistischen Parteien aus der Regierungskoalition wie die MHP, aber auch aus der Opposition wie die bereits erwähnte IYI, aber auch die rasend flüchtlingsfeindliche Partei des Sieges (<i>Zafer Partisi</i>, ZP), die ihrerseits eine Abspaltung der IYI ist, zusammen, ergibt sich für diese Strömung ein Gesamtstimmenanteil von etwa 24-25 %. Das große bisher ungelöste Rätsel in dieser Gleichung ist die starke Performance der MHP. Waren ihr im Durchschnitt aller Umfragen vor den Wahlen 6-7% der Stimmen vorhergesagt worden, konnte sie mit knapp über 10% der Stimmen ihre Zustimmungswerte von 2018 im Allgemeinen fast ohne Verluste verteidigen. Eine ähnliche massive Fehlvorhersage fast aller Wahlumfrageinstitute für das Abschneiden der MHP war schon 2018 aufgetreten.</p><p>Auf der anderen Seite, während die AKP als Partei, obwohl sie immer noch die stärkste Partei bleibt, der große Verlierer dieser Wahlen ist (35,58% im Vergleich zu 42,56% im Jahr 2018), werden die extremen Islamisten von Erbakans Neuer Wohlfahrtspartei (<i>Yeniden Refah Partisi,</i> YRP) mit 2,82% der Stimmen als Teil der CI fünf Mitglieder ins Parlament schicken. Darüber hinaus sind vier Abgeordnete der kurdisch-islamistischen Partei der Freien Sache (<i>Hür Dava Partisi,</i>HÜDA-PAR) über die AKP-Listen ins Parlament eingezogen. Die YRP wurde der CI hinzugefügt, um deren Anziehungskraft im islamistischen Lager zu verstärken, während die HÜDA-PAR dem Bündnis hinzugefügt wurde, um die Anziehungskraft unter konservativen Kurd:innen zu erhöhen. Während HÜDA-PAR in der Tradition der türkischen Hizbullah steht, die in den 1990er Jahren für barbarische Massaker und Fälle brutaler Folter verantwortlich war, pflegen sowohl HÜDA-PAR als auch YRP eine aggressive Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen und Frauen*rechten. Wie der erfahrene republikanische Journalist Murat Yetkin zu Recht <a href="https://yetkinreport.com/2023/05/16/turkiyenin-en-milliyetci-ve-muhafazakar-meclisi-kuruldu/">feststellt</a>, ist das derzeitige Parlament auf dem besten Wege, das nationalistischste und islamistischste Parlament in der Geschichte der modernen Türkei zu werden. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der rechtsextrem-nationalistische Kandidat Sinan Oğan, der sich ebenfalls von der IYI abgespalten hat und sich für das im Rennen um das Parlament an sich unbedeutende ATA-Bündnis (wortwörtlich „Bündnis der Vorfahren“) aufstellen ließ, mit einem Gesamtstimmenanteil von 5,17 % entscheidend dazu beigetragen, dass das Rennen nun in eine zweite Runde geht.</p><p>Auch wenn wir noch nicht über wissenschaftlich fundierte Analysen der Wähler:innenströme verfügen, können wir vorläufig davon ausgehen, dass verärgerte AKP-Wähler:innen für Parteien innerhalb desselben Bündnisses (wie etwa die YRP) und in geringem Maße für Parteien außerhalb der Regierungskoalition, die dieser ideologisch nahe stehen, gestimmt haben.</p><p>Es zeichnet sich ab, dass nationalistisch orientierte Neuwähler:innen und verärgerte Wähler:innen anderer Parteien, <a href="https://turkiyeraporu.com/arastirma/cumhurbaskani-adaylari-hangi-parti-secmenlerinden-oy-aldi-15309/">insbesondere</a> diejenigen, die IYI gewählt haben, Sinan Oğan ihre Stimme gaben. IYI-Parteichefin Meral Akşener scheint durch das Wahlergebnis nicht so sehr aus der Fassung gebracht zu sein zu sein wie die Republikaner oder die Linke; sie hat sich in der Wahlnacht und bis zum jetzigen Zeitpunkt (Mittwoch, 17. Mai) überhaupt nicht zu den Wahlergebnissen geäußert. Man kann nur vermuten, dass ein extremer Nationalist aus der gleichen Tradition wie Akşener als mutmaßlicher Königsmacher in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sie ebenso erfreut wie das allgemein starke Abschneiden des (extremen) Nationalismus bei den Wahlen.</p><hr/><h4><b>Zusammenfassend haben die jahrelange Dämonisierung der relativ zentristischen CHP und insbesondere der HDP/YSP als terroristisch von einem extrem nationalistischen Standpunkt aus ebenso wie das Fehlen einer Alternative zum Rechtskonservatismus und die Beschwichtigung desselben durch den wichtigsten Oppositionsblock zu diesen Ergebnissen geführt.</b></h4><hr/><p>Das heißt, Politik hat zu dieser Situation beigetragen und nicht irgendeine mysteriöse allgemeine Soziologie der Türkei, derzufolge reaktionärer Konservatismus/Nationalismus irgendwie ein fester Bestandteil der türkischen Nation seit ehedem sei. Dennoch: Wie beispielsweise Cihan Tuğal <a href="https://www.bbc.com/turkce/articles/c3gpj1p1e7eo">hervorgehoben</a> hat, werden diese strukturellen Verschiebungen in der allgemeinen Wähler:innenstimmung und der Identitätsbildung in den wenigen Tagen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen höchstwahrscheinlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können, auch wenn Kılıçdaroğlu das wollte (was er, übrigens, offensichtlich nicht tut; siehe weiter unten). Bevor ich mich der Wahlnacht und den Perspektiven für den zweiten Wahlgang zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf den Zustand der Linken werfen.</p><h2><b>Revolutionäre Fehlzündungen</b></h2><p>Nach den aktuell vorliegenden offiziellen Ergebnissen bleibt das Abschneiden des linken EÖI mittelmäßig. Sie könnte sogar Stimmenanteile verloren haben (10,54 % jetzt gegenüber 11,70 % für die HDP im Jahr 2018). Dies gilt insbesondere für die YSP (jetzt 8,81 %), unter deren Dach die HDP kandidierte, da letztere mit einem politisierten Schließungsverfahren vor dem Verfassungsgericht konfrontiert ist. Da sich die Diskussionen um Wahlbetrug jedoch speziell auf die Stimmen für die YSP und in geringerem Maße für die Arbeiterpartei der Türkei (<i>Türkiye Işçi Partisi,</i>TIP), die Teil des EÖI ist, konzentrieren, werden detaillierte Diskussionen über den Wahlerfolg oder das Scheitern des EÖI warten müssen, bis sich der Nebel des Krieges gelichtet hat. Dennoch lassen sich bereits jetzt einige allgemeinere Aussagen treffen.</p><p>Der bereits erwähnte Betrug und die autoritäre Repression sowie der allgemeine Anstieg des Rechtskonservatismus der letzten Jahre haben den Aktionsradius des EÖI eingeschränkt. Dennoch bleibt das EÖI eine wichtige Kraft, mit der man rechnen muss, und zwar seit Jahren. Das Bündnis stellt den einzigen wirklichen Garant für die Demokratisierung in der Türkei dar, und aufgrund der sozialistischen und linken Tendenzen innerhalb des EÖI auch für die Möglichkeit einer sozialen Perspektive für die Türkei über den Neoliberalismus hinaus. Das ist einer der Gründe für die Dämonisierung des EÖI und insbesondere der HDP/YSP durch die meisten Parteien des politischen Spektrums: Sie wollen diese Ausrichtung einer Alternative für die Türkei auf die Kurd:innen und einige marginalisierte Elemente der Linken beschränken, da der Rechtskonservatismus von den dominierenden politischen Parteien als soziale Vision für die Türkei bevorzugt wird.</p><p>Das EÖI wurde erst kurz vor den Wahlen gegründet und bezog noch mehr sozialistische Parteien als zuvor in ein strategisches Bündnis mit den pro-kurdischen linken Kräften ein. Dies war ein wichtiger Schritt, da es die Reichweite eines strategischen Bündnisses von Sozialist:innen und pro-kurdischen Linken um diejenigen Parteien und Organisationen erweiterte, die früher in relativer Distanz zur kurdischen Bewegung standen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man über gemeinsame Listen unter dem Dach der HDP/YSP oder über verschiedene Listen in den Parlamentswahlkampf eintreten sollte, zu schwerwiegenden Reibereien innerhalb des Bündnisses. Letztendlich entschied sich nur die TIP aus den Reihen des EÖI, über eine unabhängige Liste neben der HDP/YSP anzutreten, während alle anderen sozialistischen Parteien über HDP-Listen kandidierten. Positiv am Wahlergebnis für das EÖI ist die Tatsache, dass die TIP aus dem Stand heraus vier Abgeordnete mit 1,73% der Stimmen gewinnen konnte, das ist die gleiche Anzahl an Abgeordneten wie bei und nach ihrer ersten Kandidatur 2018 über HDP-Listen. Dies ist prinzipiell zu begrüßen, da es zeigt, dass eine sozialistische Partei in strategischer Allianz mit der HDP/YSP in der Lage ist, selbst als Newcomer im parlamentarischen Wettbewerb Stimmen und Sitze zu gewinnen. Auch hier liegt bislang keine klare Analyse der Wähler:innenströme vor, so dass nicht genau festgestellt werden kann, woher die Stimmen für die TIP kamen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass TIP Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen, bisherigen Nichtwähler:innen und HDP/YSP-Wähler:innen erhalten hat. Sollte die TIP mehr Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen und Nichtwähler:innen als von HDP/YSP-Wähler:innen erhalten haben, könnte man davon ausgehend argumentieren, dass die eigenständigen Listen der TIP im Prinzip zum Wachstum des Gesamtstimmenanteils des EÖI beigetragen hat.</p><p>Wie auch immer die Wähler:innenströme im Einzelnen aussehen mögen: Auf der negativen Seite des Wahlergebnisses für das EÖI steht die Tatsache, dass die Kandidatur über getrennte Listen nach einigen Berechnungen für das EÖI aufgrund der Spaltung der linken Wähler:innenschaft in bestimmten Wahlbezirken zu einem Verlust von <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-ittifak-politikalari-ne-kazandirdi-ne-kaybettirdi-tip-in-ayri-listesi-hangi-illerde-sonucu-etkiledi,40029">etwa vier Abgeordneten</a> führte (Berechnungen über potenzielle Verluste von Parlamentssitzen bleiben noch provisorisch). Während ein Zusammenschluss mit dem vorrangigen Ziel, mehr Abgeordnete zu erhalten – und damit der Verzicht auf unabhängige Organisation und Propaganda – in normalen Zeiten als eine autoritäre Perspektive des Ausbügelns von Differenzen um des stärksten Teils der Einheit willen aus rein pragmatischen Gründen (= mehr Abgeordnete) angesehen und kritisiert werden muss, war die Türkei am 14. Mai nicht auf normale Wahlen eingestellt: Die absolute Mehrheit der CI im Parlament zurückzudrängen und Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten zu schlagen, war und bleibt der Schlüssel, um den konsolidierten Autoritarismus an diesem kritischen historischen Punkt empfindlich zu treffen. Darum ging es am 14. Mai. Der Zeitpunkt der TIP-Initiative, mit eigenen Listen anzutreten und auch dort separat zu kandidieren, wo dies absehbar zu einem Verlust von Abgeordneten für das EÖI insgesamt führen würde, muss daher als grober Fehler gewertet werden, der die gemeinsame Dynamik des Bündnisses beschädigte und als solcher scharf kritisiert werden sollte.</p><p>Andererseits hat der Geist der Debatten über die Listenfrage und die Perspektive nach den Wahlen zuweilen die Grenzen des legitimen Wettbewerbs und der Kritik innerhalb eines Linksbündnisses verlassen und war auch für den Geist des Bündnisses äußerst destruktiv. Wenn wir die bisherigen offiziellen Ergebnisse für bare Münze nehmen (und dabei immer den Betrugsvorbehalt im Hinterkopf behalten), hat die HDP/YSP mehr Stimmen <a href="https://t24.com.tr/haber/hdp-ve-yesil-sol-parti-den-secim-sonuclarina-iliskin-aciklama,1110004">verloren</a> als die TIP gewonnen hat, <a href="https://twitter.com/alkanfrkan/status/1658036982721675264">selbst</a> in Gebieten, in denen die TIP nicht parallel zur HDP/YSP antrat, wie in (Teilen von) Izmir, Ankara, Bursa, Aydın, Kocaeli und Manisa. Die Beschädigung des Bündnisgeistes könnte zu einer Demoralisierung und folglich zu einem Verlust von Stimmenanteilen insgesamt beigetragen haben. Eine nüchterne Selbstreflexion und -kritik ist notwendig, um die Gründe für den relativen Verlust von Stimmenanteilen zu finden. Innerhalb des Bündnisses stehen an den beiden extremen Polen der Debatte die Klage des TIP-Abgeordneten Ahmet Şık über „kurdische Faschisten“ und die Behauptung der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan, jede Stimme für eine andere Partei innerhalb des EÖI als die HDP/YSP sei eine Stimme für Erdoğan (beide entschuldigten sich später). Auch nach der Wahlnacht ging die Suche nach einem Sündenbock innerhalb des EÖI viral. Dies ist keine akzeptable Form, eine bündnisinterne Debatte zu führen.</p><hr/><h4><b>Die EÖI-Mitglieder und -Mitgliedsparteien sollten sich rasch wieder auf die Wiederherstellung des Bündnisgeistes besinnen, ohne sich dabei berechtigte Kritik zu verkneifen. Gerade jetzt sind alle Kräfte notwendig, um die seit der Wahlnacht einsetzenden allgemeinen Demoralisierungstendenzen umzukehren, um auf dem steinigen Weg zum 28. Mai wieder die Initiative zu ergreifen.</b></h4><hr/><p>Man kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich so schnell wie möglich auf die zweite Wahlrunde vorzubereiten. Zudem: Mittel- bis langfristig, unabhängig von den Ergebnissen des 28. Mai, ist eine starke und geeinte EÖI notwendig, um dem Aufstieg des Rechtskonservatismus entgegenzuwirken, mehr Kräfte für eine Demokratisierung der Türkei mit einer starken sozialen Perspektive zu sammeln und das Kräftegleichgewicht in eine solche Richtung zu bewegen. Dies wird der EÖI nicht gelingen, wenn sie in eine Psychologie der Niederlage zurückfällt, die die destruktiven Energien nach innen lenkt, anstatt sie in positive Energien nach außen zu wenden.</p><h2><b>Ein harter Kampf steht bevor</b></h2><p>Momente und Elemente, die keine zentralen Bestandteile von Strukturen oder von mittel- bis langfristigen Tendenzen darstellen, können dennoch kurzfristig von großer Bedeutung sein. Sie werden historisch entscheidend, wenn das Kurzfristige selbst ein kritischer historischer Kreuzungspunkt ist.</p><p>Die Wahlnacht bleibt nach wie vor geheimnisumwittert, da die Veröffentlichung neuer Daten zum Wahlergebnis durch alle relevanten Instanzen, einschließlich des von CHP und MI konstruierten alternativen Systems, mitten in der Nacht für einige Stunden gestoppt wurde. Selbst die sonst sehr lautstarken CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş, die die offizielle Auszählung und die AKP-Blockademanöver am Abend und in der Nacht angefochten hatten, verstummten ohne jede Erklärung. Dabei hatte Imamoğlu bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 die ganze Nacht hindurch die offizielle Auszählung in ganz ähnlicher Weise angefochten, was als entscheidendes Element für den Sieg der CHP gegen den versuchten Wahlbetrug durch die AKP angesehen wird. Was ist dieses Mal passiert? Drei Tage danach gibt es immer noch keine befriedigende Erklärung. Es gibt viele Gerüchte und Anzeichen – wie den Rücktritt der Person, die innerhalb der CHP für die Wahlsicherheit und die Wahlberichterstattung zuständig ist –, die darauf hindeuten, dass innerhalb der CHP etwas grundlegend schief gelaufen ist. Aber die breite Bevölkerung wird über Details im Unklaren gelassen und dadurch demobilisiert. Hinzu kommt, dass Wahlbetrug, dessen Ausmaß nach wie vor hoch <a href="https://twitter.com/alicanuludag/status/1658580790773440514?t=RD_k8mk4GHrW0UesNWklkw&s=35">umstritten</a> ist, bereits zwei Tage nach den Wahlen aufgedeckt wurde. Vielleicht ist es reiner Zufall und die hohe analytische Begabung des Innenministers Süleyman Soylu (AKP), dass er das Wahlergebnis am Wahltag fast <a href="https://www.sabah.com.tr/yazarlar/ovur/2023/05/16/secimin-kazanani-kaybedeni-ve-surprizi">exakt genau</a> vorhersagte (49,50% für Erdoğan, 320-325 Sitze für CI). Oder vielleicht auch nicht.</p><p>Selbst wenn der Betrug die immer noch hohe Wähler:innenunterstützung für Erdoğan und die CI nicht erklärt: Wenn Betrug das Wahlergebnis auch nur um 1-3% zugunsten von Erdoğan und der MHP und gegen Kılıçdaroğlu und die YSP verändert hat, wird er entscheidend für den Moralfaktor im Vorfeld der zweiten Runde des Präsidentschaftsrennens sein. Was in der Wahlnacht vor aller Augen geschah – zahllose Einwände von AKP-Militanten gegen die Auszählung von Wahlurnen in Istanbul und Ankara – könnte dann als Ablenkungsmanöver interpretiert werden, um Aufmerksamkeit, Zeit und Energie von den Wahlurnen abzulenken, wo der eigentliche Betrug stattfand. Die Entlarvung dieses möglichen Wahlbetrugs wird Kılıçdaroğlu höchstwahrscheinlich keinen Sieg in der ersten Runde bescheren und vermutlich auch nicht die absolute Mehrheit der CI im Parlament zunichte machen. Aber das unerwartet starke Abschneiden der MHP im Parlament und der Beinahe-Sieg von Erdoğan in der ersten Runde waren die beiden Schlüsselelemente der weit verbreiteten Demoralisierung in und nach der Wahlnacht. Sicherlich tragen auch die von den politischen Parteien genährten überzogenen Erwartungen ihren Teil der Verantwortung für diese Demoralisierung. Dennoch würde eine Verringerung des Stimmenanteils der MHP und von Erdoğan durch die Aufdeckung dieser Betrugsfälle die Moral erheblich stärken.</p><hr/><h4><b>Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, den genauen Umfang des Wahlbetrugs so gut wie möglich zu ermitteln und die Ergebnisse so schnell wie</b> <b>möglich zu kippen, um die</b> <b>allgemeine Stimmung auf dem steinigen Weg zum 28. Mai zu ändern. Trotzdem: Auch ohne die Aufdeckung des Betrugs ist der selbst in manchen kritischen Analysen festzustellende Defätismus im Hinblick auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen von vornherein ein falscher Ansatz.</b></h4><hr/><p>Sinan Oğan und die rund 5 % der Stimmen, die er auf sich vereinigen konnte, sind entscheidend geworden für den 28. Mai. Oğan hat erklärt, er werde mit beiden Seiten sprechen und seine Forderungen für eine Unterstützung seinerseits am 28. Mai vorlegen. Diese lassen sich im Wesentlichen auf die Forderung reduzieren, dem extremen türkischen Nationalismus und der Anti-Geflüchteten-Hetze Respekt zu zollen. Oğan scheint im Moment dazu zu tendieren, Kılıçdaroğlu am 28. Mai zu unterstützen, während er bereits mit vorgezogenen Neuwahlen in zwei bis drei Jahren rechnet – unabhängig davon, wer gewinnt, da er, nicht ganz zu Unrecht, eine instabile Situation nach dem 28. Mai voraussieht. Andererseits ist der Charakter von Oğans Wähler:innenschaft noch nicht wirklich klar. Sie sind offensichtlich in Opposition zu Erdoğan und durch nationalistische Gefühle motiviert, zugleich aber auch auf Distanz zu Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu kann sich entscheiden, dem türkischen Nationalismus noch mehr Zugeständnisse zu machen, als er ohnehin schon gemacht hat, um die Oğan-Wähler:innen für sich zu gewinnen. Hierdurch läuft er jedoch Gefahr, die Unterstützung der Linken und der Kurd:innen zu verlieren. Oder er setzt auf die Betonung der anti-Erdoğan und antifaschistischen, pro-demokratischen Perspektive, die von Teilen der Oğan-Wähler:innen geteilt zu werden scheint – und riskiert, im Gegenzug die Unterstützung der Hardcore-Nationalist:innen zu verlieren. Mit Stand heute (Mittwoch, 17. Mai) scheint er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-vatanimizi-birakmayacagiz-dedi-10-milyon-duzensiz-multeciyi-icimize-soktular,1110466">ersteres zu bevorzugen</a> und beginnt mit einer aggressiven Anti-Geflüchteten-Hetze sowie einem Lob auf das Vaterland und den nationalistischen Militarismus.</p><p>Wie dem auch sei, ein Sieg von Kılıçdaroğlu wäre der Schlüssel zur Schwächung von Erdoğan und der CI, da das autoritäre Präsidialsystem dem Präsidenten die Möglichkeit gibt, die gesamte Regierung und einen großen Teil der oberen Bürokratie zu bestimmen, unabhängig davon, wer das Parlament kontrolliert. Eine Situation der Doppelherrschaft, in der ein Block den Präsidenten und der andere das Parlament kontrolliert, würde also nicht automatisch zu einem Verwaltungschaos führen, wie manche meinen. Die Exekutive und die Bürokratie unter Kılıçdaroğlu, einschließlich der Sicherheitsapparate, der wirtschaftspolitischen Institutionen und großer Teile der oberen Gerichtsbarkeit, könnten so agieren, dass sie die absolute Mehrheit der CI im Parlament umgehen. Aus hegemonialer Sicht wäre eine solche Situation jedoch höchstwahrscheinlich nicht für längere Zeit haltbar, insbesondere angesichts des Versprechens der MI, das Präsidialsystem zu beenden.</p><p>Die Opposition gegen den Faschisierungsprozess in der Türkei hat auf dem steinigen Weg zum 28. Mai einen schweren Stand. Zwar hat die partielle Aufdeckung des Betrugs, dessen Ausmaß nach wie vor umstritten ist, die Moral bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, doch haben Erdoğan und die CI nach wie vor die Oberhand, und es sieht aus heutiger Sicht wahrscheinlicher aus, dass sie den 28. Mai gewinnen werden. Das ist jedoch keine ausschließliche Notwendigkeit, und es besteht eine realistische Chance, dass auch Kılıçdaroğlu gewinnt. Dies sollte nicht leichtfertig abgetan werden, da der Erfolg oder Misserfolg des Kampfes gegen die Demoralisierung und die Wiedererlangung der Initiative mit darüber entscheidet, ob Erdoğan am 28. Mai besiegt wird oder nicht. Der Erfolg oder Misserfolg am 28. Mai ist nicht nur eine intellektuelle, erkenntnistheoretische Übung der rationalen Analyse dessen, was mehr oder minder wahrscheinlich geschehen wird, sondern eben auch eine Frage der Praxis, die den Ausgang der Wahl mit entscheidet. Nichts anderes bedeutet es in praktischer Hinsicht, von Möglichkeiten statt von Notwendigkeiten zu sprechen. Defätismus à la „Erdoğan hat eh schon gewonnen, ich mach mir überhaupt keine Hoffnungen“ ist eine Luxusware aus der Sicht all jener oppositionellen und dissidenten Menschen, die im Falle eines Erdoğan/CI-Doppelsieges keine realistische Perspektive haben, aus dem Land zu fliehen. Die Depression, die aus der Wahrnehmung einer ausweglosen Perspektive von weiteren fünf Jahren Erdoğan in Koalition mit der Hizbullah entstanden ist, hat schon jetzt die 20-jährige Kübra Ergin <a href="https://sendika.org/2023/05/kadin-savunmasi-genc-kadinin-intihar-ettigi-yenikapi-marmaraya-cicekler-birakti-685070/">in den Freitod</a> getrieben. Die Verbreitung einer solchen Wahrnehmung der Ausweglosigkeit lässt sich stoppen, das sind wir Kübra Ergin und vielen anderen schuldig. Alle Kräfte müssen jetzt gebündelt werden, um für eine Niederlage von Erdoğan am 28. Mai zu kämpfen. Nur so besteht die Möglichkeit, dass der faschistische Ansturm kurzfristig etwas nachlässt, was notwendig ist, um die Grundlagen für den Aufbau einer sozialen Kraft und einer Vision zu schaffen, die den gordischen Knoten durchschlagen könnte. All dies natürlich ohne der Illusion zu verfallen, dass eine Präsidentschaft von Kılıçdaroğlu der Türkei Demokratie und Sozialismus bringen wird, umso weniger, wenn Konzessionen ultranationalistischer Art an Oğan damit einhergehen. Die Alternative ist jedoch, dass die Tore der Hölle sperrangelweit geöffnet werden. Dann kann man sich die revolutionären mittel- bis langfristigen Perspektiven vermutlich auch erst mal gründlich abschminken. Darüber sollte man sich schon im Klaren sein, bevor man in einen bequemen Pessimismus verfällt oder sich umgekehrt in einen <a href="https://umutgazetesi42.org/arsivler/98701">revolutionären Ultralinksradikalismus</a> stürzt.</p></div>
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„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“? Hegemoniekämpfe in der Türkei2022-05-05T18:38:01.852883+00:002022-05-06T11:02:42.616042+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kartoffeln-zwiebeln-auf-wiedersehen-erdo%C4%9Fan-hegemoniek%C3%A4mpfe-in-der-t%C3%BCrkei/
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<div class="rich-text"><p>Nach dem <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">Inferno des vergangenen Sommers</a>, als die größten Waldbrände der Geschichte der modernen Türkei ganze Landstriche verwüsteten, folgte ein langer Winter im Land. Im Januar 2022 legte ein heftiger Schneesturm das gesamte Leben Istanbuls lahm. Hunderte Autos und Busse blieben im hohen Schnee auf den Hauptverkehrsachsen stecken, keine Fähren fuhren mehr, die Menschen übernachteten improvisiert in den Vierteln, in denen sie der Schneesturm erwischt hatte. Zwei Monate später waren Stadt, Gouverneursamt und Bevölkerung besser vorbereitet. Erneut zogen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im März heftige Schneestürme über Istanbul hinweg und bedeckten die Stadt mit eisigem Frost.</p><p>In diesem langen Winter fegte jedoch nicht nur der Schnee über Istanbul, sondern mit <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">fast 70 Prozent</a> auf seinem bisherigen Gipfel (April 2022) auch die höchste Inflationsrate seit 20 Jahren über die Türkei hinweg. Lebensmittel, Strom, Gas zum Heizen und Kochen – viele Grundgüter des modernen Lebens wurden zu fast unbezahlbaren Luxusgütern. Die Preise steigen teils wöchentlich. Menschen kaufen wenige und schlechtere Lebensmittel ein und beginnen, alles mögliche auf Vorrat im Sonderangebot zu kaufen. Ladenbesitzer*innen sitzen in dicken Mänteln, Schals und Polarhandschuhen in ihren Läden, weil die Heizkosten explodieren. Der Winter kann als eine lange, niederschmetternde Depression für den Großteil der Bevölkerung bezeichnet werden. Aber ganz oben wird weiterhin das altbekannte makabre Theater der Hybris gespielt: Die Türkei <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-oncu-gostergelerimiz-cok-iyi-2302041">erringe</a> „einen [wirtschaftlichen] Erfolg nach dem anderen“ (Wirtschafts- und Finanzminister Nureddin Nebati), sie werde zu „einem der mächtigsten Länder der Welt“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-yatirimcilar-turkiye-ye-gelsin-diye-kosacagiz-2302140">ebenfalls</a> Nebati); „wir gehören zu denen, die am besten wissen, wie man Inflation bekämpft“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-burokratik-engeller-cikaranlarin-onunde-duracagiz-2302054">wieder</a> Nebati); „die Türkei ist so stark wie noch nie in den letzten 300 Jahren“ (Innenminister Süleyman <a href="https://www.birgun.net/haber/soylu-nun-hedefinde-kilicdaroglu-ve-6-parti-var-bildiriyi-hangi-buyukelcilige-duzeltmeye-gonderdin-382037">Soylu</a>).</p><p>Wer auf Regimeseite die beinharten Realitäten nicht mehr ignorieren konnte, versuchte diese <a href="https://www.yeniakit.com.tr/yazarlar/abdurrahman-dilipak/goz-gore-gore-37197.html">verschwörungsideologisch</a><a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/ibrahim-karagul/biden-o-an-ne-dusundu-chp-hdp-turkiyeyi-boler-o-mudahale-yapilmali-ic-komplo-da-cokecektir-2060036">zu prozessieren</a>. Das heißt zum Beispiel, Wirtschaftskrise und politische Instabilität als großes Spiel böser Mächte gegen „die Türkei“ darzustellen (Abdurrahman Dilipak, Ibrahim Karagül), die – selbstredend von der AKP betriebene – <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/yusuf-kaplan/hem-kendimizle-hem-de-batiyla-yuzlesmeden-asl-2060760">Polarisierung</a> der Gesellschaft als Ergebnis früherer Verwestlichung zu beklagen (Yusuf Kaplan), oder <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3205516-millet-ittifaki-kopruden-onceki-son-cikisa-dikkat-etmeli">Existenzängste</a> vor einem bevorstehenden Generalzusammenbruch der Türkei zu schüren, sollten Regierung und Opposition nicht zusammenarbeiten (Nagehan Alçı). Ihr verschwörungstheoretisches Vorbild haben sie in Recep Tayyip Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-erken-secim-yapmak-ilkel-kabilelerin-isidir,995442">höchstpersönlich</a>: „Hinter allen Ereignissen der letzten acht Jahre in unserem Land […] steht ein Plan, ein Szenario, eine Falle“. Wie seit geraumer Zeit so funktionieren auch heute regimetreue Verschwörungsideologien in dem Sinne, dass sie die Objektivität der Hegemoniekrise dethematisieren und die Menschen der rationalen Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse berauben, damit sie, in Angst und Panik versetzt, handlungsunfähig werden.</p><p>Aber mit dem langen Winter der Depression kommt auch der Frühling des Widerstands: Eine <a href="https://emekcalisma.files.wordpress.com/2022/03/eccca7t_2022-grev.pdf">Welle an Streiks</a> fand in den beiden ersten Monaten des Jahres 2022 über über die gesamte Türkei verteilt statt – noch größer als die bisher größte Streikwelle der AKP-Ära, dem <a href="http://diebuchmacherei.de/produkt/partisanen-einer-neuen-welt-eine-geschichte-der-linken-und-arbeiterbewegung-in-der-tuerkei/">„Metallsturm“ von 2015</a>. In der gesamten Türkei inklusive der AKP-Hochburg der östlichen Schwarzmeerregion protestierten Menschen gegen die exorbitanten (Strom-)Preise (unter dem Slogan <i>geçinemiyoruz!</i> - Wir kommen nicht mehr über die Runden!), Studierende gegen den Mangel an Wohnheimen (<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-university-students-camp-parks-protest-rent-hikes"><i>barınamıyoruz!</i></a> – Wir kommen nicht mehr unter!); Werktätige des Gesundheitssektors gingen in zahlreichen Weißen Märschen (<a href="https://sendika.org/2021/11/beyaz-yuruyus-suruyor-eskisehirde-hekimler-polis-engelini-tanimadi-638464/"><i>beyaz yürüyüş</i></a>) in vielen Städten der Türkei gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf die Straßen. Trotz einer tiefgreifenden Änderung im Wahlprozedere der Anwaltskammern zugunsten des Regimes <a href="https://yetkinreport.com/2021/12/06/barolar-birligi-secimi-kaybeden-yalniz-feyzioglu-olmadi/">gewann</a> der kämpferische Oppositionskandidat Erinç Sağkan die Wahl und kündigte ein Ende der Appeasementpolitik seitens der Spitze der Anwaltskammern gegenüber dem Regime an. Der 8. März und Newroz, das kurdische Frühjahresfest, wurden gegen alle Verbote auf den Straßen und den Plätzen mit Hunderttausenden Beteiligten gefeiert. Und tatsächlich, es kam wieder so etwas wie ein Geist von Gezi und die darin ausgedrückte kreative Lebensfreude auf: <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531"><i>Patates, soğan, güle güle Erdoğan</i></a> – „Kartoffeln und Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan!“, wurde zu einem gängigen Slogan gegen die Preisexplosion und deren politischen (Mit-)Verursacher. Wie immer in den letzten Jahren wurden auch diesmal alle diese legitimen sozialen Kämpfe und ihre Forderungen seitens der Regierung mit „<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-students-continue-protests-despite-arrests-erdogans-accusations">Terrorismus</a>“ <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-yurt-bahanesiyle-eylem-yapanlar-teror-baglantili,984434">in Zusammenhang</a> gebracht; oder in kontrafaktischer Hybris davon fabuliert, die Regierung löse alle Probleme – oder diese gäbe es eigentlich gar nicht erst: „Wir haben <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-vatandasi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-2298681">nicht zugelassen</a>, dass unsere Bürger von der Inflation erschlagen werden, und werden dies auch weiterhin nicht tun“, so Erdoğan; fast <a href="https://haberglobal.com.tr/ekonomi/bakan-nebati-hic-kimseyi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-166939">wortgleich</a> der Wirtschafts- und Finanzminister Nebati.</p><p>Während das Regime mit altbekannten und neuen Tricks versucht, aus seiner bis dato tiefsten Hegemoniekrise mittels eines wiederaufgenommenen Prozesses der autoritären Konsolidierung herauszukommen, versammeln sich die Hauptoppositionsparteien des bürgerlichen Blocks, um den wachsenden Unmut für einen restaurierten Neoliberalismus zu vereinnahmen. Der Ausgang der tiefen Hegemoniekrise bleibt bislang offen und umkämpft zwischen den Kräften der autoritären Konsolidierung, der neoliberalen Restaurationsperspektive und den popularen Kräften. <b>[1]</b></p><h2><b>Mit Vollgas in die Sackgasse: Die Verschärfung der Wirtschaftskrise</b></h2><p>Leser*innen <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">früherer Artikel</a> von mir wissen um die wirtschaftspolitische Taktik der permanenten Kehrtwenden beziehungsweise „Erdoğans Zickzackkurs“, der seit geraumer Zeit die politische Ökonomie des Landes bestimmt: Um sich eine politische Basis unter den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und ihrer Arbeiter*innen zu erschaffen, beziehungsweise zu konsolidieren, schlägt das Regime um Erdoğan regelmäßig eine nicht der neoliberalen Orthodoxie entsprechende Wirtschaftspolitik der Niedrigzinsen und der Kreditexpansion ein. Dies führt jedes Mal zu einem weiteren Fall des Wertes der Lira und wegen der hohen Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft damit zu einer sehr hohen Inflationsrate. Um diese Folgen dann wieder abzudämpfen, reagiert das Regime um Erdoğan daher immer wieder mit einer Kehrtwende in Richtung orthodoxer Wirtschaftspolitik: Eine Hochzinspolitik gegen die Inflation – einerseits, um ausländisches Kapital anzuziehen (weil Zinsen höher als die Inflation Gewinne garantieren), andererseits, um die Kreditexpansion und damit die durch erhöhten Konsum bedingte Inflation zu drosseln. Damit im Zusammenhang stehen dann regelmäßig auch andere kontraktive Maßnahmen.</p><p>Ein Ausweg aus diesem Zickzackkurs schien unmöglich, solange der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei fest in die transatlantische neoliberale Weltordnung integriert blieb. Denn dies macht die türkische Wirtschaft abhängig von Kapital- und Produktionsgüterimporten und volatil angesichts der Situation der Weltwirtschaft insgesamt, in der nach den Krisenzeiten um 2008/09 und insbesondere nach 2013 die Kapitalzuflüsse in (semi-)periphere Länder abnahmen oder stark schwankten. Die aus dieser Volatilität hervorgehende wirtschaftliche Instabilität sowie die Erschöpfung des semi-peripheren Akkumulationsmodells in der Türkei (unter Anderem wegen dem Erreichen der Grenzen der Lohndrückerei im internationalen Vergleich sowie wegen dem fehlenden technologischen Upgrade der türkischen Wirtschaft) sorgten schon ganz von selbst ohne Erdoğans Autoritarismus und der zunehmend heterodoxen Wirtschaftspolitik für eine Verlangsamung des türkischen Wirtschaftswachstums. Letztgenannte wirken nur – zugegebenermaßen immer stärker – verschärfend auf diese Krise des semi-peripheren Neoliberalismus in der Türkei.</p><p>Dieser Zickzackkurs scheint mittlerweile aber verlassen worden zu sein zugunsten eines einseitigen Fokus auf die heterodoxe Seite. Wie schon im Artikel „Türkisches Inferno“ erwähnt, wurde im März 2021 erneut ein heterodox agierender, Erdoğan-treuer Zentralbankchef, Şahap Kavcıoğlu, von Erdoğans Gnadentum eingesetzt. Dieser konnte aber über Monate hinweg wegen der drastischen Reaktion der Märkte die Zinsen nicht senken. So blieb der Zentralbankzins bei 19 Prozent – nur ganz leicht über der damaligen Inflationsrate. Eine Inflationsrate von etwas weniger als 19 Prozent, zwischenzeitlich undenkbar. Die Schockstarre hielt selbstredend nicht lange an: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/bowing-erdogans-pressure-turkish-central-bank-makes-risky-rate-cut">Von Ende September</a> <a href="https://www.bloomberght.com/merkez-bankasi-faiz-kararini-acikladi-2290205">bis</a> Anfang Dezember 2021 wurde der Leitzins unter dem neuen Zentralbankchef auf 14 Prozent gesenkt, während die (offizielle) (Verbraucherpreis-)Inflationsrate <a href="https://www.bloomberght.com/tufe-yuzde-20-ye-dayandi-ufe-19-yilin-zirvesinde-2291219">sukzessive</a> von <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyonda-yayilim-2021-zirvesinde-2289021">fast 20 Prozent</a> im September und Oktober <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Enflasyon+Verileri/Tuketici+Fiyatlari">auf</a> 36 Prozent im Dezember 2021, über 48 Prozent im Januar 2022, über 54 Prozent im Februar, 61 Prozent im März und zuletzt auf fast 70 Prozent im April (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) stieg. Mitarbeitende der Zentralbank (<i>Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası</i>, TCMB), die sich gegen diesen Kurs stellten, <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/turkeys-erdogan-overhauls-cenbank-mpc-appoints-two-new-members-2021-10-13/">wurden gefeuert</a>, de facto <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasinin-eski-yoneticilerine-surgun-gibi-gorevlendirmeler-670265">strafversetzt</a> und durch regime-treue Personen <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasi-meclisinde-sessiz-sedasiz-kritik-bir-degisiklik-670403">ersetzt</a>. Zudem wurde der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Lütfi Elvan, der ebenfalls eher für eine orthodoxere Gangart stand und die Wirtschaftspolitik <a href="https://www.bloomberght.com/elvan-her-bir-kurum-uzerine-dusen-gorevi-yapmali-2292111">immer offener</a> kritisierte, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/sahi-hazine-ve-maliye-bakani-elvan-nerede,32854">noch handlungsunfähiger</a> gemacht, als er es sowieso schon war. Schon im November 2021 <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bakan-lutfi-elvanin-istifa-ettigi-iddia-edildi-berat-albayrak-ismi-yeniden-gundemde-1882173">sickerte durch</a>, dass Elvan seinen Rücktritt eingereicht hatte, weil er anderer Meinung war als der (damals noch) stellvertretende Minister Nebati, der noch zu Zeiten des Wirtschaftsministeriums unter Erdoğans Schwiegersohn Albayrak 2018ff. eingesetzt wurde und die heute verfolgte heterodoxe Negativzinspolitik verteidigte. Elvan hatte versucht, diesen aus dem Amt zu entfernen, was ihm misslang; zugleich sank sein Einfluss in der Ministerialbürokratie immer weiter. Im November wurde Elvans Rücktrittsgesuch, so die Gerüchte, noch abgelehnt von Erdoğan. Am 2. Dezember hingegen war es soweit: Sein „Gesuch auf Entbindung von Aufgaben/Verantwortung“ (<i>görevinden af dileği</i>), wie es im euphemistischen Jargon des Regimes neuerdings bei ordinären Ministerentlassungen durch Erdoğans Hand teils ohne vorherige Kenntnis der jeweiligen Minister heißt, wurde <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakanligina-nureddin-nebati-atandi-2293417">stattgegeben</a>, anstatt seiner der schon bekannte Nebati eingesetzt.</p><h4><i>Die Krisendynamik</i></h4><p>Entsprechend dieser Geldpolitik wuchs der Negativrealzins, also der Leitzins der Zentralbank minus die Inflationsrate. Vor allem in Banken gehaltene Lira (<i>Türk Lirası</i>, TL)-Guthaben wurden damit de facto sukzessive entwertet, Devisen und Gold wurden zu Vehikeln der Vermögensabsicherung und -steigerung, was nebst dem Negativrealzins den Druck auf die Lira erhöhte. Über das Jahr 2021 gerechnet verloren so <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">laut dem Statistischen Institut (</a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570"><i>Türkiye İstatistik Kurumu</i></a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">, TÜIK</a>) Lira-Einlagenbesitzer*innen 22,75 Prozent (real, also gegen die Inflation gerechnet) an Wert, Investor*innen in türkische Staatsanleihen dagegen 32,69 Prozent, während Investor*innen in US-Dollar, Euro und Gold jeweils 23,08 Prozent, 14,45 Prozent und 19,70 Prozent an Wert gewannen. Gekoppelt mit der Unvorhersehbarkeit, die diese aus Sicht neoliberaler Orthodoxie heterodoxe und irrationale Geldpolitik repräsentierte, führte diese unmittelbar zur massiven Entwertung der Lira, damit zur Erhöhung der Importkosten und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft zur erwähnten rasenden Erhöhung der Inflation. Die Schere zwischen (inländischer) Erzeugerpreis- und Verbraucherpreisinflationsrate mit im April 2022 über 50 Prozent nimmt mittlerweile historische Ausmaße an – die Erzeugerpreisinflationsrate liegt derzeit bei <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45853">über 120 Prozent</a>. Wegen der hohen Inflationsrate werfen mittlerweile alle vom TÜIK erfassten regulären finanziellen Anlagen real <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Mart-2022-45572">Verluste ab</a> (Januar-März 2022).</p><p>Der wegen der Billigkreditschwemme angekurbelte <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">Binnenkonsum</a> trug zum einen zwar wesentlich zum <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/turkeys-economy-11-growth-brings-risk">11 Prozent BIP-Wachstum 2021</a> bei (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bireysel-kredi-kullanimi-35-milyona-yaklasti-15-milyonluk-istanbulda-13-milyon-kisi-kredi-borclusu-haber-1534894">fast die Hälfte</a> der Bevölkerung der Türkei ist verschuldet mit individuellen Bedarfskrediten; in Istanbul sogar etwa 80 Prozent der Bevölkerung; das Kreditvolumen <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-inflation-hits-61-fallout-ukraine-war-continues#ixzz7PWQd6Oey">wuchs</a> um etwa 44 Prozent aufs Jahr gerechnet). Aber gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben für die Staatsbanken im Jahr 2021 exorbitant an: Deren <a href="https://www.dunya.com/finans/haberler/konut-sektoru-faiz-kampanyalarla-yuzde-1in-altina-inerse-doping-olur-haberi-637634">politisch bestimmte</a> <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-25/turkish-state-banks-follow-rate-gamble-by-pledging-cheaper-loans">Niedrigzinspolitik</a> führte wegen der galoppierenden Inflation zu hohen Verlusten, die dann vom zentralstaatlichen Budget <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2022/03/ayrntl-butce-analizi.html">beglichen werden</a> mussten. Aber all diese und andere Maßnahmen – wie beispielsweise die klassisch neoliberal-populistische vorübergehende <a href="https://www.bloomberght.com/yeni-enflasyon-tedbirleri-paketi-aciklandi-2298721">Senkung der Mehrwertsteuern</a> auf Grundnahrungsgüter und Strom auf 1 Prozent, die (mittlerweile von der Inflation längst überholte) <a href="https://www.bloomberght.com/2022-icin-asgari-ucret-4-bin-250-tl-oldu-2294450">Erhöhung des Mindestlohns</a> um 50 Prozent auf 4250 Lira Netto (weniger als 300 Euro) im Dezember 2021 seitens Erdoğans, die Durchführung von <a href="https://www.cnnturk.com/ekonomi/istanbuldaki-marketlerde-es-zamanli-fiyat-ve-etiket-denetimi">Preiskontrollen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/rekabet-kurumu-zincir-marketlere-ceza-yagdirdi-2291000">heftige Strafen</a> für Supermärkte mit „Wucherpreisen“ und die Einführung <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/tarim-kredi-marketleri-gida-fiyatlarini-dusurebilir-mi/635714">staatlich subventionierter</a> Märkte (wie schon 2019) <b>[2]</b> – konnten die mit 70 Prozent galoppierende Inflation und ihre Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse nicht oder nur sehr schwach bremsen. Hinter der durchschnittlichen Inflationsrate von 70 Prozent – unabhängige Berechnungen gehen sogar <a href="https://enagrup.org/">von über 155 Prozent</a> aus – verstecken sich exorbitante Preiserhöhungen von Gütern des alltäglichen Bedarfs. Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke stiegen <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">um fast 90 Prozent</a> (April 2022 gegenüber Vorjahreszeitraum) <a href="https://t24.com.tr/haber/disk-ar-yoksulun-gida-enflasyonu-yuzde-131-6,1032242">beziehungsweise</a> sogar <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/enflasyonla-mucadelede-tcmb-olmadiysa-tuik-verelim/653964">vermutlich noch mehr</a>, der Preis von <a href="https://t24.com.tr/haber/son-bir-yilda-benzine-yuzde-166-motorine-yuzde-235-zam-geldi,1019585">Benzin</a> stieg um 166 Prozent und der von Diesel um sagenhafte 235 Prozent (Anfang März 2022 gegenüber dem Vorjahr), <a href="https://tr.euronews.com/next/2022/03/29/akaryak-t-dogal-gaz-elektrik-turkiye-de-ve-avrupa-ulkelerinde-enerji-fiyatlar-ne-kadar-art">Energiepreise im Allgemeinen</a> (also inklusive Erdgas und Strom) um fast 100 Prozent (Februar 2022 gegenüber dem Vorjahr) und somit etwa drei mal so viel wie im EU-Durchschnitt. Die <a href="https://betam.bahcesehir.edu.tr/2022/04/sahibindex-kiralik-konut-piyasasi-gorunumu-nisan-2022/">Mietpreise explodierten</a> um durchschnittlich 123,5 Prozent türkeiweit (März 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat); <a href="https://haber.sol.org.tr/haber/kira-krizinin-arka-plani-neden-ev-bulamiyoruz-313611">unter anderem</a> deshalb, weil einige gutbetuchte Menschen ihre Geldvermögen in Immobilien stecken, um weiterhin hohe Gewinne zu garantieren, während gleichzeitig das Wohnungsangebot wegen der – <a href="https://artigercek.com/haberler/limak-holding-in-patronu-nihat-ozdemir-yabanci-sermaye-turkiye-ye-sadece-tatile-gelir">teils</a> ebenfalls durch die hohe Inflation hervorgebrachte – <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Krise des</a> <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Immobiliensektors</a> in Städten wie Istanbul <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/konutta-fiyat-artisi-surecek-mi-gelir-adaletsizligi-fiyat-dengesini-bozdu,32689">kaum mehr steigt</a>.</p><p>Die reale, weit gefasste Arbeitslosigkeitsrate bleibt <a href="http://disk.org.tr/2022/03/genis-tanimli-issiz-sayisi-salgin-oncesine-gore-1-milyon-103-bin-artti/">immer noch</a> bei über 20 Prozent, die eng gefasste weiterhin bei über 10 Prozent. Die Folgen der Corona-Pandemie sowie des Ukrainekrieges (vor allem erhebliche Lieferstörungen sowie Preisschocks in Grundgütern) kamen noch weiter verschärfend hinzu, insbesondere was die Energiepreise angeht. Sie können aber genau so wie die abhängige Integration der Türkei in die Weltwirtschaft nicht (allein) erklären, warum die Inflation in Grundgütern in der Türkei und die <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/iyimser-enflasyon-beklentileri,34827">Geldentwertung im internationalen Vergleich</a> so sehr hervorsticht. Es ist die heterodoxe Wirtschaftspolitik unter Erdoğan <i>bei der gegebenen Art der Integration der Türkei in die Weltwirtschaft</i>, die dafür verantwortlich ist, dass die durch die Struktur und Krise des Akkumulationsregimes sowieso schon schwierige Situation so dermaßen außer Rand und Band gerät.</p><p>Auf der Spitze der Zinssenkungsspirale im November-Dezember 2021 stürzte die Türkei daher erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise: Terminverkäufe oder Verkäufe überhaupt in mehreren Wirtschaftssektoren <a href="https://www.bloomberght.com/gubre-ve-zirai-ilac-satislari-gecici-olarak-durdu-2292667">wurden</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/dolar-10-24-tl-yi-de-gecti-bircok-sektorde-vadeli-satislar-durdu-bazi-ureticiler-siparis-iptaline-gitti,993724">ausgesetzt</a>, da die Entwertungs- und Inflationsspirale belastbare Preiskalkulationen verunmöglichte; der Verkauf von Kaffee, Zucker und Fett in Supermärkten wurde aus denselben Gründen <a href="https://www.haberler.com/marketler-yag-ve-sekerden-sonra-kahve-satisini-14549070-haberi/">quotiert</a>. Im Textilsektor pochten Rohstoffproduzent*innen auf <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/odemelerde-bize-tl-gondermeyin-6794788/">Vorauszahlung in Devisen</a>, die Istanbuler Börse musste an einem Tag <a href="https://t24.com.tr/haber/borsa-gunu-yuzde-8-52-dususle-kapatti,1001670">zwei mal schließen</a> wegen zu hohen Kursverlusten. Vom 1. bis zum 17. Dezember intervenierte die TCMB – dieses mal offen und nicht unter der Hand wie 2020-21 (s. „Türkisches Inferno“) – <a href="https://foreks.com/haber/detay/61d7f62d5908010001235169/PICNEWS/tr/tcmb-17-aralik-ta-2-1-milyar-dolar-satti-5-mudahale-miktari-7-3-milyar-dolar-oldu">insgesamt</a> fünf mal in den Geldmarkt und verkaufte 7,3 Milliarden US-Dollar, um den Wert der Lira zu stützen, was zu aller Überraschung zum x-ten mal scheiterte. Sukzessive entwertete die Lira bis zum historischen Tiefpunkt von <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/dolar-ve-euroda-bas-donduren-oynaklik-tl-yuzde-20-deger-kazandi-6838793/">zeitweise</a> über 18 Lira auf den Dollar und über 20 Lira auf den Dollar am 20. Dezember 2021 (zum Vergleich: Anfang 2021 lag der Wert des Dollar bei etwa 7,5 Lira, der des Euro bei etwa 9,10 Lira). Die Börse musste<a href="https://www.bloomberght.com/borsa-yeni-haftaya-sert-dususle-basladi-2294744">erneut</a> zwei mal im Laufe des Tages schließen wegen zu hohen Kursverlusten, die von der <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/12/lira-rallies-erdogan-unveils-new-financial-scheme-jitters-prevail">Devisenklemme</a> des verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde, das Großkapital war in heller Panik: Die Wirtschaft stand vor dem unmittelbaren Kollaps.</p><h4><i>Kaninchen aus dem Zauberhut?</i></h4><p>Am selben Tag verkündete Erdoğan ein <a href="https://www.bloomberght.com/erdogandan-ekonomik-onlem-paketi-aciklamasi-2294809">großes Maßnahmenpaket</a>, dessen wichtigstes Element das sogenannte <i>Kur Korumalı TL Mevduatı</i> (KKM, devisenabgesicherte TL-Einlagen) darstellte. Das Paket beinhaltete allerdings (unter bestimmten Umständen und Laufzeiten) auch <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-1-ay-vadeli-tl-uzlasmali-doviz-ihalesine-talep-gelmedi-2298408">Wechselkursgarantien</a> für kleine und mittlere Exporteure, was teils die begeisterte Aufnahme des Pakets bei Teilen des Kapitals zu erklären helfen vermag (siehe Abschnitt „Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise“).</p><p>Zuerst aber noch einige Worte zum KKM: Nutzt ein Kunde diese von allen Großbanken zur Verfügung gestellte Einlagenform, dann erhält er eine staatliche Garantie gegen die Lira-Entwertung, insofern ihm bei einer Entwertung der Lira gegenüber dem Dollar in einem bestimmten Zeitraum die Differenz zum Zins, den ihm eine normale Bankeinlage in diesem Zeitraum abwerfen würde (grob 17 Prozent aufs Jahr gerechnet), zusätzlich zu eben jenem von der jeweiligen Bank zu zahlenden Zins vom Staat auf die KKM-Einlage überwiesen wird. Prompt wertete die Lira innerhalb von 24 Stunden wieder auf auf grob 12 Lira auf den Dollar und 13 Lira auf den Euro. Wohlgemerkt: Das beste Ergebnis betreffs des Lira-Kurses, das mit dem KKM bisher und das auch nur für sehr kurze Zeit (um den 24. Dezember 2021 herum) erreicht wurde, bewegte sich mit 10 bis 11 Lira auf den Dollar beziehungsweise 12 Lira auf den Euro auf dem Niveau von Mitte November 2021 – dem Monat also, als sich schon Quotierungen im Einzelhandel, Probleme in der Produktion wegen Verunmöglichung der Preiskalkulation und massenweise Beschwerden vom Kapital eingestellt hatten.</p><p>Freilich <a href="https://www.dw.com/tr/d%C3%B6vize-m%C3%BCdahalede-imza-krizi-bakanl%C4%B1kta-o-gece-neler-ya%C5%9Fand%C4%B1/a-60240402">kam</a> <a href="https://halktv.com.tr/makale/ekonomi-mucizesi-mi-ikinci-128-milyar-dolar-mi-657879">im Nachhinein</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/arka-kapidan-doviz-satisinin-donusu,33564">heraus</a>, dass vermutlich sechs bis sieben Milliarden Dollar <a href="https://www.ft.com/content/ac397d03-d738-42ca-8a59-4a2179a6f8b4">von der TCMB selbst</a> am 20. und 21. Dezember in Lira umgewechselt wurden; sowie <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/20-aralik-operasyonu-kur-ve-dolarlasma,33788">vermutlich insgesamt</a> 20 Milliarden Dollar von den öffentlichen Banken vom 20. bis zum 22. Dezember (natürlich wird dies von offizieller Seite <a href="https://www.reuters.com/article/turkey-economy-minister-idUSA4N2DB02M">bestritten</a> und zwecks Herstellung eines ideologischen Mythos behauptet, das Volk habe quasi von selbst in Scharen Devisen eingetauscht). Mittlerweile ist es <a href="https://t24.com.tr/haber/eski-ziraat-bankasi-genel-mudur-yardimcisi-babuscu-doviz-mevduatlarinin-yuzde-10-unu-kkm-ye-donusturmeyenlere-komisyon-cezasi-geliyor,1025758">Pflicht für Banken</a> geworden, 10 bis 20 Prozent ihrer Deviseneinlagen in KKM umzuwandeln und ansonsten eine Strafe an die TCMB zu zahlen.</p><p>Da der Staat die Differenz zwischen Einlagenzins und Lira-Entwertung zahlt, ist das eine <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59736185.amp">de facto Erhöhung der Zinslast</a>auf das Staatsbudget. <a href="https://www.bloomberght.com/butce-2021-de-acik-yazdi-2296726">Das Staatsdefizit</a> wird daher wegen der erneut in Gang gesetzten Lira-Entwertung in die Höhe schießen, was zusätzlich zur de facto Erhöhung der Zinslast auf das Staatsbudget durch das KKM die <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/12/faizi-dusurdukce-faiz-yukseliyor.html">sowieso schon steigenden</a> unmittelbaren Zinsen auf die Verschuldung des Staates <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/ankaras-interest-liabilities-balloon-dizzying-heights">schon jetzt</a> <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/hazineden-2-milyar-dolarlik-borclanma-7018099/">weiter erhöht</a> und damit auch den Druck auf die Lira, und somit – gekoppelt mit den anderen weiter fortwirkenden Ursachen für die Lira-Entwertung wie die Negativrealzinspolitik und die generelle nicht-orthodoxe Wirtschaftspolitik – den Wechselkurs erneut in die Höhe treibt: Ende März 2022 lag der Wechselkurs wieder bei grob 14,80 Lira auf den Dollar und 16,30 Lira auf den Euro; bis Anfang Mai ist der Euro dann wieder auf 15,60 Lira gefallen, allerdings hauptsächlich wegen den Auswirkungen des Ukrainekrieges und der Aufwertung des Dollars wegen den Zinssteigerungen der us-amerikanischen Zentralbank. Deshalb wird freilich – entgegen den offiziellen Verlautbarungen – <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59751684">ebenfalls die Inflation</a> in die Höhe getrieben. Wegen der absehbaren Folgen wurde dieser – wie später herauskam <a href="https://www.reuters.com/markets/europe/turkey-launched-rescue-plan-when-lira-crossed-red-line-sources-2021-12-22/">schon 2018 entworfene</a> – Plan früher und auch noch unter dem ehemaligen Finazminister Elvan unter Verweis auf sehr hohe Risiken und Belastung des Staatsbudgets verworfen. Dennoch erklärten <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-acikladigimiz-program-amacina-ulasmistir-2295062">Erdoğan</a> wie <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-turkiye-geliyor-son-19-yilda-yaptigi-hamleyle-orta-koydu,1002546">Nebati</a> innerhalb von nur ein bis zwei (!) Tagen den vollen Erfolg ihres Programms. Ähnliches erlebte die Türkei in den 1970ern mit den von den Rechtsregierungen populistisch ausufernd ausgeweiteten<a href="https://tr.euronews.com/2021/12/21/dovize-cevrilebilir-tl-mevduat-hesaplar-dcm-nedir-daha-once-kullan-ld-m-sonuclar-ne-oldu"><i>Dövize Çevirilebilir Mevduat</i></a> (DÇM, devisenkonvertible Einlagen), die unter anderem zum Staatsbankrott Ende der 1970er führten und deren Zahlungslast noch bis in die 1990er-Jahre hinein schwer auf dem Staatsbudget lastete. Das ist ein monetärer Neokolonialismus sowie eine epische Zinserhöhung aus den Händen eines Regimes, das im Namen von Nation und Vaterland Gift und Galle spuckt gegen die gesamte Opposition im Land und geradezu einen Jihad gegen die „Zinslobby“ ausgerufen hat. Die Flexibilität und Halsverrenkungen des autoritären Populismus sind bemerkenswert.</p><p>Jedenfalls bringt die Devisen-Indexierung von Lira-Konten dem Großteil der Bevölkerung beziehungsweise der Kleinanleger*innen nicht viel. Für den Fall der Fälle, dass Ersparnisse vorliegen, werden diese vermutlich weiterhin in Devisen gehalten werden, da das neue Instrument nicht mehr als das bietet – oder sogar weniger, da das KKM nicht gegen Inflation absichert. Zudem beinhaltet es bestimmte Mindestlaufzeiten (à drei, sechs, neun oder 12 Monate), bei deren Unterschreitung die Einlegerin ihr Anrecht auf (den zusätzlichen) Zins verliert und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/kur-korumali-hesapta-anaparadan-olma-riski-de-var/643738">potenziell sogar Verluste</a> auf die Stammeinlagensumme machen kann, falls der Wechselkurs bei nicht laufzeitgerechter Auflösung des Instrumentes niedriger liegt als bei der Beanspruchung des Instruments. Dagegen können Devisen zu jeder Zeit problemlos flüssig gemacht werden. Die Lira-Einlagen, die für die laufenden Ausgaben von kleinen Bankeinlagenbesitzer*innen gebraucht werden, das heißt alltägliche Konsumausgaben und ähnliches, die bei Menschen mit kleinen Einkommen und/oder Vermögen immer den allergrößten Großteil der Ausgaben ausmachen, werden durch die Mindestlaufzeit von drei Monaten gar nicht abgesichert. <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/eriyen-tasarruflar-doviz-sinirlamalari-ve-endeksleme,33881">Etwa 90 Prozent</a> der bisherigen Devisen- wie Lira-Einlagen im türkischen Bankensystem haben eine verbindliche Laufzeit, die kürzer ist als drei Monate (also beispielsweise Tagesgeldkonten, wie es für uns Normalsterbliche üblich ist, auf die täglich zugegriffen und die täglich aufgelöst werden können). So blieb denn der Erfolg des neuen Instruments anfangs auch recht beschränkt, wurde daher ausgeweitet auf Unternehmer*innen sowie im Ausland lebende oder registrierte (türkische und nicht-türkische) Personen und Unternehmer*innen. Zusätzlich wurde <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/erdogan-saglam/kur-korumali-tl-mevduat-katilim-hesaplarindan-elde-edilen-gelirlerin-vergilendirilmesi,33613">eine Steuerbefreiung</a> für KKM-Einlagen verkündet. Letzteres macht das KKM besonders attraktiv für Vermögende, die nicht auf tägliche Verfügbarkeit ihres Vermögens angewiesen sind. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass bis Mitte April 2022 <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">vor allem</a> Devisen-Konten mit verbindlichen Laufzeiten in das KKM-Format konvertiert wurden und kaum Devisen-Konten ohne Laufzeiten.</p><p>Obwohl die Datenlage wegen der notorischen Intransparenz der Regierung und der eigentlich zur Transparenz strikt verpflichteten staatlichen Institutionen schlecht ist, lässt sich Ende März 2022 grob folgende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/turkish-taxpayers-outraged-cost-lira-protection-scheme">vorläufige Bilanz</a> des KKM-Instruments <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/halinin-altina-supurulen-enkaz,34700">ziehen</a>: Nur grob 9 Prozent aller Bankeinlagen in der Türkei (591 Milliarden Lira oder etwa 40 Milliarden Dollar) wurden in KKM angelegt und nur etwa 57 Prozent dieser Einlagen durch Eintauschen von Devisen gegen Lira. Der Rest besteht aus normalen Lira-Einlagen, die zu KKM-Einlagen konvertiert wurden. Es wurden eine Million KKM-Einleger registriert, davon 30.000 Unternehmenskonten. Zwar konnte die Dollarisierung der Privateinlagen (Anteil von Devisen/Dollar-Einlagen an allen Privateinlagen) etwas gesenkt werden, allerdings von einem sehr hohen Niveau von 71 Prozent kurz vor Deklarierung des KKM auf immer noch sehr hohe 64 Prozent. Da die Lira seit Einführung des Instruments erneut grob 30 Prozent ihres Wertes auf den Dollar verloren hat, muss der Staat etwa 25 Prozent Zinsen an KKM-Einleger der ersten Stunde einzahlen (gerechnet auf eine Drei-Monats-Einlagendauer bei einem Jahreszins auf normale Bankeinlagen von 17 Prozent, so dass der anteilige Zins, den die Bank auf die drei Monate auszuzahlen hat, um die 4,25 Prozent beträgt). Entgegen den Verlautbarungen des Regimes bleibt also die Beteiligung beim KKM überschaubar, die Kosten hingegen recht hoch. Zudem konnten weder Lira-Entwertung noch die Inflation gebremst werden, ganz im Gegenteil.</p><p>Der Chef der rechtsnationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi</i>, MHP) und derzeitiger Hauptverbündeter von Erdoğan, Devlet Bahçeli kann sich daher noch so sehr in seinen Tiraden gegen „ökonomische Putschisten“ und „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-kilicdaroglu-nereye-giderse-gitsin-milli-nefesimiz-ensesinde-olacaktir,996086">Wechselkursbombenattentäter</a>“ überschlagen, Erdoğan kann so viel gegen den ihm loyalen Zentralbankchef oder den Wirtschafts- und Finanzminister <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/exclusive-erdogan-is-cooling-his-latest-central-bank-chief-sources-say-2021-10-08/">poltern</a><a href="https://t24.com.tr/haber/erdal-saglam-bakan-nebati-nin-gorevden-alinacagi-konusuluyor-yerine-getirilmek-istenen-belli,1022768">; ihnen</a> drohen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/erdogan-ne-dedi-bakanlar-kurulunda-nebatinin-zor-anlari-1913885">und verlangen</a>, <a href="https://www.dw.com/tr/kulis-erdo%C4%9Fan-bakan-nebatiye-neden-k%C4%B1zg%C4%B1n/a-60379828">dass diese</a> ihre Versprechungen bezüglich eines Wirtschaftsaufschwungs gekoppelt mit einer Stabilisierung des Wertes der Lira auf niedrigem Niveau und der Senkung der Inflationsrate aber mit heterodoxen/expansiven Mitteln <i>bei gegebener Integration in die Weltwirtschaft</i> einhalten: Dieser versprochenen und eingeforderten Quadratur des Kreises sind schlicht objektive Grenzen gesetzt. Auch die dahinter stehende <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogana-ekonomiden-hayir-yok-makale-1558212">ideologische Konstruktion</a> zur Abwehr der Verantwortung für die Malaise – <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-fiyatlar-konusunda-vatandaslarimizin-asina-goz-dikenleri-acimayacagiz,1025168">es sind ja</a> die „geldgierigen Wucherer“ (<a href="https://t24.com.tr/haber/stokculuga-agir-yaptirim-getiren-yasa-teklifi-tbmm-de-kabul-edildi,1001419">Erdoğan</a>), die uns das Problem der Inflation einbringen; wir bekämpfen diese mit Strafen und helfen dem Volk mit Steuersenkungen – mag kaum mehr jemanden überzeugen (siehe Abschnitt „Restauration oder populare Demokratie?“). <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nabati-den-elektrik-sorusuna-yanit-bu-gunlerde-indirim-soz-konusu-degil,1022476">Allen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/merkez-bankasi-baskani-kavcioglu-enflasyondaki-baz-etkilerin-ortadan-kalkmasiyla-dezenflasyonist-surecin-baslayacagini-ongormekteyiz,1024205">realitätsfernen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakani-nebati-bloomberg-ht-haberturk-ortak-yayininda-2298653">verzweifelt übersteigerten</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Verlautbarungen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyon-yuzde-48-i-asti-2298052">Beschwichtigungen</a> zum Trotz ist die politökonomische Situation festgefahren.</p><p>Wozu dann also das Ganze?</p><h2><b>Neoliberale ISI oder Rekonsolidierungsversuch des Krisenmanagements?</b></h2><p>Ob der wirtschaftspolitische Zickzackkurs nun endgültig verlassen wurde zugunsten einer vereindeutigten heterodoxen Wirtschaftspolitik und wenn ja, zu welchen Zwecken; das ist eine große Streitfrage unter kritischen Theoretiker*innen in Fortsetzung der zuvor und auch weiterhin geführten Debatten um den (Klassen-)Charakter der heterodoxen Wirtschaftspolitik.</p><p>Schaut man sich die Verlautbarungen des Regimes und seiner wichtigen Wortführer an, dann wurde tatsächlich ein neuer politökonomischer Weg eingeschlagen. <a href="https://www.hurriyet.com.tr/gundem/erdogan-ekonomide-yol-haritasini-anlatti-cin-de-boyle-buyudu-41952854">Erdoğan selbst</a> legte mit seinen expliziten Verweisen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nahe, vom „chinesischen Modell“ zu sprechen. Das war offensichtlich nicht „national“ genug. Daher wurde wenig später vom damals neuen Wirtschafts- und Finanzminister Nebati das „<a href="https://www.bloomberght.com/hazine-tum-kurumlar-yeni-ekonomi-modeli-ni-destekleyen-adimlar-atacak-2294578">Türkische Wirtschaftsmodell</a>“ deklariert. Der Grundgedanke ist recht simpel und lässt sich als <i>neoliberale importsubstituierende Industrialisierung(sstrategie)</i> (ISI) begreifen: Teure Devisen (bzw. eine abgewertete Lira) sollen wegen hoher Preise Importe hemmen und zur Ersetzung von Importen durch einheimische Produktion anhalten, Exporte hingegen (wegen niedrigen Preisen durch die entwertete Lira) fördern und somit auch die Investition in (Export-)Sektoren, da diese höhere Profite versprechen. Die Niedrigzinspolitik soll parallel hierzu die kostengünstige Investition in die importsubstituierenden Sektoren anregen. Die reduzierte Importabhängigkeit solle sodann das Leistungsbilanzdefizit und <a href="https://t24.com.tr/haber/hazine-ve-maliye-bakan-yardimcisi-nebati-salginin-yol-actigi-arz-enflasyonunu-azaltmak-icin-faizlerin-dusurulmesi-gerekmektedir,996256">damit die Auslandsschulden senken</a>, durch erhöhte Exporte <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">sogar einen Leistungsbilanzüberschuss</a> <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">erzeugen</a>. Damit würde sich der durch die Importabhängigkeit ergebende Druck auf die TL und somit auf die Inflation <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/11/hukumetin-yeni-ekonomi-politikas.html">senken</a> und zugleich die Notwendigkeit einer Hochzinspolitik zur Stabilisierung des Wechselkurses und Attraktion von Kapitalimporten entfallen, sodass sich das Modell selbst tragen würde. Der Teufelskreislauf aus hohen Zinsen und hohen Leistungsbilanzdefiziten würde ersetzt werden durch niedrige Zinsen, hohe Beschäftigung und Produktion – so der <a href="https://www.bloomberght.com/kavcioglundan-piyasa-prensiplerine-baglilik-mesaji-2292947">TCMB-Chef Kavcıoğlu</a>. <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-bu-ekonomik-kurtulus-savasindan-zaferle-cikacagiz-2292587">Ähnlich</a> Erdoğan. Sein Finanzbüroleiter Göksel Aşan benennt das Modell daher auch <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskanligi-finans-ofisi-baskani-asan-cok-buyuk-ihtimalle-nisanda-cari-fazlayi-goruruz,1004674">explizit</a> als eine ISI. Und Nebati meint, es sei eine <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Unabhängigkeit</a> der Türkei in Energie und Landwirtschaft anvisiert. Das Türkische Wirtschaftsmodell, eine eierlegende Wollmilchsau.</p><p>Das ganz große Problem ist: Das Modell wird nicht im entferntesten in dieser Form realisiert. Das liegt daran, dass ganz wesentliche Elemente einer klassischen ISI <a href="https://haber.sol.org.tr/yazar/patron-akademisyen-bakan-yeni-turkiyenin-ruhu-320124">fehlen</a>, was gemeinsam mit der Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse den genuin neoliberalen Charakter des „Türkischen Wirtschaftsmodells“ ausmacht: In der historischen ISI war die staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens zentral, genauso die staatliche Kontrolle über den Kapitalmarkt und die Führungsfunktion von Staatsbetrieben durch Investition in für Privatkapital unprofitable, aber für die ISI wesentliche Sektoren und/oder durch Bereitstellung von billigen Zwischengütern für die privatwirtschaftlichen ISI-Betriebe. Ohne aktive staatliche Intervention wird sich die investitions- und exportfördernde Geldpolitik, zumal in einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld der Krise, nicht in importsubstituierende Investitionen umsetzen, sondern vielmehr in der Aufrechterhaltung des laufenden Geschäfts oder Investitionen in Immobilien und nicht-produktive Anlagen zwecks Vermögenswahrung/-mehrung angesichts der Inflation niederschlagen. Dies wird auch von einigen <a href="https://www.bloomberght.com/sadece-ihracata-yonelik-ekonomi-politikasi-olamaz-2294187">Industrie- und Handelskapitalisten</a> (etwa der Industrie- und Handelskammer Mersin) und den <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-da-orhan-turan-donemi-2302687">führenden Fraktionen des Kapitals</a> kritisch festgehalten. Denn auch die Ersetzung von Importen durch den Aufbau von importsubstituierenden Produktionskapazitäten geht ja nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern bedarf mehrerer Jahre, unter Umständen sogar Dekaden. Zudem beinhaltet sie – unter kapitalistischen Bedingungen – ein gewisses Risikos seitens der jeweiligen individuellen Investoren, da die Erfolgsaussichten der neuen Produktionskapazitäten unter anderem wegen noch fehlender Konkurrenzfähigkeit fraglich sind. Kein individueller Privatkapitalist wird ein solches Risiko eingehen, ohne mehr staatliche Unterstützung als bloß billige Kredite zu bekommen. Diese müsste auch Elemente einer protektionistischen Zollpolitik beinhalten, die die importsubstituierenden Produktionssektoren gegenüber der in der Aufbauphase wettbewerbsfähigeren ausländischen Konkurrenz schützt. Ganz zu schweigen von dem Hauptproblem der ISI: Jeder bisherige Versuch eines Aufbaus importsubstituierender Kapazitäten bedurfte <i>teils erheblicher</i> Importe, nämlich Importe von Kapitalgütern (Produktionsmittel, Technologien) zumindest bis zu dem Punkt, an dem eine Volkswirtschaft die Grundlagen für eine selbständige Hochtechnologiegüter- und Wissensproduktion errichtete. In der Türkei wurde letzteres – im Unterschied zu beispielsweise Südkorea – bis zum heutigen Tag nicht erreicht, weswegen ihr Status innerhalb der Weltwirtschaft immer noch semi-peripher ist. Daher würde die Türkei auch bei einem erneuten, diesmal neoliberalen Anlauf zu einer (vertieften?) ISI zumindest noch eine Weile lang von wichtigen Importen abhängig bleiben. Es ist daher mehr als fraglich, ob die Vorteile einer massiv entwerteten Lira aus Perspektive einer solchen neoliberalen ISI die Nachteile derselben aufwiegen würden (Vorteile: billigere und daher mehr Exporte; Nachteile: massiv verteuerte und für die Produktion notwendige Importe).</p><p>Der quasi-Cheftheoretiker des neuen Kurses, Şefik Çalışkan, <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/modelin-ozeti-uretim-ve-istihdami-korumak-haberi-642732">verteidigt</a> mit ganz viel populistischem Pseudo-Antiimperialismus gewürzt nicht nur eine neoliberale ISI durch die Kombination aus Negativzins- und Liraentwertungspolitik. Er ist zudem der Überzeugung, dass der daraus entstehende enorme Druck auf die Lira, den Binnenmarkt und -konsum sowie die massive Dollarisierung gut sei, weil der Zwang zum Export die Deviseneinkommen der Unternehmen, damit die Einkommen der in diesen Unternehmen Beschäftigten und des Staates sowie wegen der hohen Dollarisierung allgemein das Einkommen aller Bevölkerungsteile steigern würde. Damit wäre im Namen des Anti-Imperialismus de facto eine vollständige Kopplung der Lira an den Dollar vollzogen, ohne die Lira formell abzuschaffen. Wie die türkische Wirtschaft, die jetzt schon mit den Problemen der Entwertungs- und Inflationswelle kämpft (Unmöglichkeit der kurzfristigen Preis- und Zahlungs- und damit der Investitionsplanung und der wirtschaftlichen Tätigkeit überhaupt), ein solches Programm tragen soll, das bei Implementierung eine bisher noch nie gesehene rasende Entwertungs- und Inflationsspirale lostreten würde, taucht im Phantasiekonstrukt des Şefik Çalışkan nicht als Problem auf. Dem Narren erscheint die Welt als ein einfaches Spiel.</p><h4><i>Das große Durchwurschteln</i></h4><p>Letztlich zeigt ja die Einführung des KKM-Instruments, dass auch dem Regime klar ist, dass es ein Limit gibt, ab dem die Lira-Entwertung(sspirale) für die türkische Wirtschaft untragbar wird. Weitere im Verlauf der letzten Monate implementierte Maßnahmen unter dem Schlagwort der „<a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">Liraisierungsstrategie</a>“ (<i>liralaşma stratejisi</i>) dienen ebenfalls dem Ziel, den Wert der Lira durch Reduzierung der Dollarisierung beziehungsweise durch Erhöhung der Devisenreserven der TCMB (<a href="https://t24.com.tr/haber/kulis-merkez-bankasi-dovizi-tutabilmek-icin-aylik-10-12-milyar-dolar-satiyor,1031630">oder Verkauf</a> derselben gegen Lira) zu stabilisieren (40 Prozent der Devisenerlöse von Exporteuren <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-yeni-duzenlemesi-turizm-sektoru-icin-sikinti-olusturmuyor-2304453">müssen</a> an die Zentralbank verkauft werden; Devisennutzung bei kommerziellen Transaktionen im Inland wird immer stärker <a href="https://www.bloomberght.com/menkul-satislarinda-tl-ile-odeme-zorunlulugu-2304504">beschränkt</a>/<a href="https://halktv.com.tr/makale/dovizle-odeme-yasagi-1970lere-geri-donduk-673451">verboten</a>; zusätzliche Anreize für <a href="https://www.bloomberght.com/dovizini-tl-ye-ceviren-sirketlere-vergi-istisnasi-geliyor-2304060">Unternehmen</a> und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/o-ilk-dugme-yok-mu-ilk-dugme-yanlis-iliklenen/656089">Banken</a>, das KKM-Format zu nutzen, werden geschaffen).</p><p>Wahrscheinlicher ist es daher davon auszugehen, dass der derzeit eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs der x-te erneute Versuch des Krisenmanagements und der autoritären Konsoliderung darstellt anstatt des Übergangs zu einem neuen Akkumulationsregime. Die expansive Wirtschaftspolitik und insbesondere das KKM zielen offensichtlich darauf ab, die negativen Effekte der Wirtschaftskrise auf die Breite der Bevölkerung und der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) abzufedern und damit Zeit zu gewinnen, vermutlich bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (regulär im Sommer 2023). Derzeit sind weitere Maßnahmen und Finanzinstrumente angedacht, die ebenfalls darauf abzielen die Effekte der Inflation auf die Breite der Bevölkerung abzudämpfen (<a href="https://www.hurriyet.com.tr/ekonomi/ak-parti-calismalara-basladi-20-kalem-urunun-fiyati-sabitlenecek-mi-42037781">Preiskontrollen bei Grundgütern</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-den-enflasyon-mesaji-2303277">inflationsindexierte Finanzinstrumente</a>). Zudem wurde <a href="https://www.bloomberght.com/150-milyar-liralik-kredinin-fonlamasi-tcmbden-2304335">wieder ein Kreditpaket</a> für importsubstituierende Unternehmen (Produktionsmittelproduktion) und Exporteure zu sehr günstigen Konditionen (neun Prozent Zinsen) deklariert. Freilich geht all dies massiv zulasten des Staatsbudgets und ist wegen der symptomatischen Herangehensweise notwendig transitorischer Art. Sowieso ist es fragwürdig, ob die Rechnung des Regimes aufgeht – siehe Inflation. Die Probleme akkumulieren sich so immer mehr und ihre im kapitalistischen Sinne produktive Lösung wird weiter vertagt.</p><p>Dieser Versuch der Rekonsolidierung des Krisenmanagements bringt auch einen Kampf um hegemoniale Strategien mit sich, der nicht so einseitig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist daher genauer zu analysieren.</p><h2><b>Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise</b></h2><p>Es wurde zur Genüge und <a href="https://www.calismatoplum.org/makale/doviz-kuru-politikalarinin-ekonomi-politigi">detailreich</a> festgehalten, dass die heterodoxe/expansive Wirtschaftspolitik die Stabilisierung der Akkumulation binnenmarktorientierter oder weniger importabhängiger aber exportorientierter KMUs und des Binnenmarktkonsums, das heißt des Konsums der breiten Bevölkerungsmasse anvisiert. Betrachtet man die Reaktionen auf das „Türkische Wirtschaftsmodell“ und das KKM, kann man sehen, dass es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/istikrar-enflasyon-yatirim-ve-adalet-haberi-644447">tendenziell</a> die führenden Fraktionen des Kapitals (<a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-baskani-kaslowski-bunlar-dogru-adimlar-ise-neden-enflasyon-bu-denli-siddetli-yukseliyor,1006005">TÜSIAD</a>) und die Industriellen (Istanbuler Industriekammer, <a href="https://www.bloomberght.com/iso-baskani-bahcivan-dan-tcmb-yi-saskinlikla-izliyoruz-cikisi-2294653">ISO</a>) sind, die diese Maßnahmen scharf kritisieren. <a href="https://sendika.org/2021/12/musiad-erdogandan-pasi-aldi-turkiye-ekonomisi-yalnizca-doviz-kuruna-indirgenerek-degerlendirilemez-640906/">Umgekehrt</a> sind es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiaddan-10-maddelik-manifesto-haberi-643751">tendenziell</a> binnenmarktorientierte und/oder <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">exportorientierte</a> KMUs, die die Maßnahmen <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-yeni-modele-destek-2294913">teils</a> <a href="https://www.bloomberght.com/tim-baskani-gulle-model-ihracat-ekseninde-buyume-modeli-bundan-memnuniyet-duyuyoruz-2294946">mit</a> glühendem Eifer begrüßen.</p><p>Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Sache aber als etwas komplizierter: Einerseits beschweren sich die mit dieser Wirtschaftspolitik vom Regime anvisierten Kapitalfraktionen öfter, als auf den ersten Blick erscheint, über die Folgen der Wirtschaftskrise und des Krisenmanagements, andererseits profitiert das Großkapital mehr vom derzeitigen Regime, als <a href="https://birartibir.org/muharebenin-dugumu-para-politikasi/">die These</a> vom „Kampf zwischen international orientiertem Großkapital und binnenmarktorientierten/importschwachen aber exportorientierten KMUs“ nahelegt.</p><p>Der Reihe nach. <a href="https://sendika.org/2021/10/guncel-kriz-dinamikleri-ve-sosyalist-stratejiyi-tartismak-634684/">All die</a> als Hauptprofiteure der heterodoxen/expansiven Wirtschaftspolitik analysierten Kapitalfraktionen beziehungsweise Verbände haben sich im vergangenen halben Jahr eben so oft über die Wirtschaftspolitik und ihre Folgen beschwert, wie sie diese hochgelobt haben. So kritisierten die Union der Kammern und Börsen der Türkei (<i>Türkiye Odalar ve Barolar Birliği</i>, TOBB) und die Istanbuler Handelskammer (ITO) die <a href="https://www.bloomberght.com/tobbhisarciklioglu-kurlarin-artmasi-reel-sektorumuzu-tedirgin-etmektedir-2290340">Zinssenkungsentscheidungen</a>, die massive Entwertung der Lira über die dadurch gewährten kompetitiven Vorteile <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-faiz-yorumu-2292358">hinaus</a>, die <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">dadurch entstehende</a>wirtschaftliche Unvorhersehbarkeit und die Verunmöglichung der Preiskalkulation. Sie verlangten <a href="https://www.bloomberght.com/tobb-dan-piyasa-istikrari-icin-onlem-cagrisi-2294660">dringende Maßnahmen</a>, um die wirtschaftliche Stabilität wieder herzustellen. Der als Flaggschiff der AKP-nahen Kapitalfraktionen geltende Verband Unabhängiger Unternehmer (<i>Müstakil Sanayici ve İş Adamları Derneği</i>, MÜSIAD) benannte noch <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/musiad-baskani-mahmut-asmalidan-yil-sonu-dolar-tahmini-1888851">Ende November</a> und <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiad-baskani-asmali-kurdan-etkilenmiyorum-diyen-sanayici-dogru-soylemiyordur-haberi-642150">Anfang Dezember</a> 2021 ebenfalls alle diese Probleme als gewichtig. Der MÜSIAD-Vorsitzende Mahmuat Asmalı hielt einen Dollar-Kurs von 8 bis 9 Lira für vernünftig und kompetitiv, nicht jedoch darüber. <a href="https://www.bloomberght.com/musiad-baskani-asmali-politika-faizi-maalesef-reel-sektore-yansimadi-2296055">Noch Anfang des Jahres</a> beschwerte sich der MÜSIAD darüber, dass sich der niedrige Leitzins nicht auf die Zinsen für kommerzielle Kredite niederschlage. Eines der wichtigsten Ziele der heterodoxen Wirtschaftspolitik ist es ja gerade, Kredite zu niedrigen Zinsen für binnenmarktorientierte Unternehmen bereitzustellen. Die Inflation, die <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59332074">ökonomische Unsicherheit</a> und freilich die Macht der Banken erschwert diese Absicht allerdings.</p><p>Dass sich auch die binnenmarkt- und/oder exportorientierte KMUs beschweren, hat gute Gründe. Zu stark steigende Preise importierter Inputs sind ein riesiges Problem, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">wie</a> auch die Vereinigung Istanbuler Konfektionskleidungsexporteure (<i>İstanbul Hazır Giyim ve Konfeksiyon İhracatçıları Birliği</i>, IHKIB) <a href="https://www.dunya.com/sektorler/tekstil/hazir-giyimde-yaza-yuzde-80-zam-yolda-haberi-654097">oder</a> der Verband der Kleidungsunternehmer (<i>Türkiye Giyim Sanayicileri Derneği</i>, TGSD) <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">betonen</a>, da sie die durch eine Lira-Entwertung entstehenden preislichen Wettbewerbsvorteile hinsichtlich des Exports gleich wieder revidieren beziehungsweise die inländischen Verkaufspreise stark erhöhen. So ist es dann auch der Fall, dass der Auslandserzeugerpreisindex (die Preise, die Hersteller für Güter verlangen, die für den Export bestimmt sind) mit <a href="https://www.bloomberght.com/uc-haneli-yurt-disi-uretici-enflasyonu-suruyor-2304593">knapp über 105 Prozent</a> im März 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Mart-2022-45852">genau so exorbitant</a> stieg wie der Inlandserzeugerpreisindex (fast 115 Prozent). Die wellenförmige Steigerung der Inflationsrate und die Entwertung der Lira in sehr kurzen Zeiträumen erschwert bis verhindert durch die Unvorhersehbarkeit und die Unmöglichkeit der robusten Preiskalkulation auch das Geschäft der KMUs, wie diese ja selbst festhalten. So autark und unabhängig von Importen ist kein Betrieb, dass er von diesen Entwicklungen nicht betroffen wäre. Umgekehrt würde eine von der neoliberalen Orthodoxie vorgesehene Kreditkontraktion und eine immense Erhöhung der Zinsen zwecks Stabilisierung des Lira-Kurses und der erneuten Attraktion von ausländischem Kapital ziemlich sicher zum Bankrott vieler KMUs führen. Sie befinden sich daher <i>objektiv</i> in einer Zwickmühle, aus der es derzeit keinen gemütlichen Weg raus gibt. Daher sind auch objektiv <i>unterschiedliche Strategien</i> mit unterschiedlichen Risiken als Lösungsversuch der Krise und Fortsetzung der Akkumulation möglich.</p><h4><i>Wirtschaftspolitik als Teil des Kampfes um hegemoniale Strategien</i></h4><p>Die Wirtschaftspolitik des Regimes muss daher konzeptionell klarer gefasst werden als <i>Teil eines allgemeineren Hegemoniekampfes, der Kämpfe um die dominante ökonomische Strategie und ihre politische Führung inkludiert</i>, und nicht als eine eins-zu-eins Repräsentation prä-strategisch gegebener ökonomischer Interessen in der politischen Sphäre. In der Kalkulation des Regimes ist eine Rückkehr zu orthodoxer neoliberaler Wirtschaftspolitik – wegen der dann zu erwartenden Bankrottwelle und des (zumindest vorübergehend) noch massiveren Einbruchs des Haushaltskonsums als derzeit – mit viel höheren politischen Kosten verbunden als eine Wirtschaftspolitik, die versucht, sich inmitten der Wirtschaftskrise durchzuwurschteln und die Kriseneffekte auf KMUs und Binnenkonsum so weit wie möglich abzufedern. Dabei versucht das Regime an die Existenzängste vieler KMUs anzuknüpfen und durchzusetzen, dass diese ihr unmittelbares Überleben oder ihre unmittelbare Akkumulation als strategisches Primat ansehen – und das Regime als jene politische Führung, die dieses strategische Primat einzig umzusetzen in der Lage ist. Es ist aber objektiv überhaupt nicht absehbar, ob die vom Regime verfolgte Strategie allein noch das Überleben vieler KMUs garantieren kann, oder ob sie nicht viel eher die Krisendynamik und damit auch den Druck auf jene KMUs verschärft, was derzeit als objektiv wahrscheinlich erscheint.</p><p>Es sind aber auch andere strategische Perspektiven möglich. So könnten leistungsstarke KMUs, die den kompetitiven Druck einer orthodoxen Geldpolitik aushalten können, dafür optieren, gemeinsam mit den führenden Fraktionen des Kapitals für eine Re-Integration der Türkei in die globale Weltwirtschaft auf erweiterter Stufenleiter zu streiten und Länder wie China dadurch in den Lieferketten abzulösen. Wie Hakkı Özdal in Bezug auf die Wahl des neuen TÜSİAD-Präsidenten Orhan Turan, ehemals Präsident der TÜSIAD-nahen Vereinigung von kleinen und mittleren Kapitalisten (TÜRKONFED), im März 2022 <a href="https://mavidefter.net/sermayenin-yeni-vitrini-aklin-zekati-ve-bir-hediye-fotograf/">ganz richtig festhie</a>lt, gibt es derzeit in der Türkei kein Monopol (mehr?) auf die politische Repräsentation der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es wird vielmehr um diese Repräsentation gerungen, was auch bedeutet, um unterschiedliche ökonomische Strategien zu kämpfen. Wir werden in nächster Zeit vermutlich sehen, wie der oppositionelle Restaurationsblock versuchen wird, eine alternative ökonomische Strategie auch für KMUs zu entwerfen. Es ist nicht allein die objektive Stellung im Produktionsprozess im Allgemeinen wie im Besonderen (in einem bestimmten Akkumulationsregime zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung desselben), die die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen determiniert, denn aus deren Stellungen im Produktionsprozess heraus sind objektiv unterschiedliche Perspektiven möglich. Diese und damit die Interessen der Kapitalfraktionen werden daher co-determiniert von politischen Kämpfen um ökonomische und gesamtgesellschaftliche Strategien.</p><p>Den ökonomisch führenden Fraktionen des Kapitals geht es indes viel besser, als ihre für kapitalistische Verhältnisse lautstarke Kritik an der Politik des Regimes glauben lassen würde. Die führenden Großunternehmen der Türkei erzielten teils exorbitante Profite (Metall, Automobil, Getränke, Kommunikation, bis <a href="https://t24.com.tr/haber/bilancolar-sirket-karlarinin-rekor-oranda-arttigini-gosteriyor-vatandas-yoksullasirken-ozel-sektor-buyuyor,991093">Ende 2021</a>; Bankensektor: +57 Prozent, <a href="https://www.bloomberght.com/bankacilik-sektorunun-kri-2021-de-yuzde-57-artti-2297790">2021</a> im Vergleich zum Vorjahr, +323 Prozent, <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">Januar-Februar 2022</a> im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Die Negativzinspolitik der Zentralbank <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">hebt</a> die Zinseinkommen der (Privat-)Banken, anstatt sie zu senken, da diese die niedrigen Zinsen nicht so an Kreditnehmer*innen weitergeben und die wachsende Differenz als steigende Profite einkassieren (der <a href="https://evds2.tcmb.gov.tr/index.php?/evds/portlet/K24NEG9DQ1s=/tr">Zins auf Kredite</a> lag Ende März 2022 je nach Art des Kredits bei 20 bis 30 Prozent gegenüber 14 Prozent Zentralbankleitzins und 16 bis 17 Prozent Einlagenzins; dazu kommen noch die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen). Das ist es letztlich, worüber sich der MÜSIAD noch Anfang des Jahres beschwerte. <a href="https://www.perspektif.online/fare-delige-sigmamis-bir-de-kuyruguna-kabak-baglamis/">Zudem</a> sorgt die hohe Verschuldung des Staates an türkische Banken in Devisen oder inflationsindexierten Staatsanleihen für die exorbitant steigenden Bankenprofite. Die größte Unternehmensgruppe der Türkei, Koç, die politisch klar oppositionell zum Regime eingestellt ist, <a href="https://www.bloomberght.com/ali-kocbatarya-yatirimi-kuresel-rekabet-avantaji-saglayacak-2301442">tätigt derzeit</a> mit Unterstützung von Präsident Erdoğan große Investitionen in die E-Fahrzeug- und -Batterien-Produktion. Eines der Flaggschiffe der Koç-Gruppe, Ford Otosan, erhöhte seine Profite 2021 <a href="https://www.bloomberght.com/ford-otosan-in-kri-beklentileri-asti-2298934">um fast 100 Prozent</a>; die gesamte Unternehmensgruppe berichtet von einer Zunahme der konsolidierten Gewinne von <a href="https://www.bloomberght.com/rahmi-m-koc-yatirimlarimiza-kararlilikla-devam-edecegiz-2303047">89 Prozent</a>.</p><p>So sehr die derzeitige Wirtschaftspolitik und politische Ökonomie der Türkei auch von konkurrierenden (bzw. sich in Krise befindenden) Strategien und Hegemonieprojekten gekennzeichnet ist, behält sie bei allen Differenzen und Widersprüchen doch ein grundlegendes <a href="https://ozgurorhangazi.com/2021/11/23/faiz-doviz-meselesi-3-sermayeler-arasi-savas-mi-ya-da-niyet-neydi-akibet-ne-olacak/">Element der Einheit</a> bei, namentlich, dass sie hinsichtlich der Distributionsverhältnisse eindeutig zulasten des Großteils der Werktätigen und zugunsten des Kapitals im Allgemeinen geht: <a href="https://www.birgun.net/haber/ayni-gemide-degilmisiz-379585">So sank</a> die Lohnquote sukzessive von 35,1 Prozent im Jahre 2019 auf 33,1 Prozent im Jahr 2020 und letztlich 30,2 Prozent im Jahr 2021, während die Gewinnquote in der selben Zeit von 47 Prozent auf 52,6 Prozent zulegte. Die <a href="https://www.birgun.net/haber/isci-enflasyonun-altinda-ezildi-371579">realen durchschnittlichen Bruttolöhne</a> gingen zwischen 2016 und 2020 um sagenhafte 42,2 Prozent zurück (Inflation!); auch der Haushaltskonsum ging, trotz Kreditstützen in den letzten Jahren, <a href="https://mavidefter.net/tusiadin-krizden-cikis-recetesi-halki-daha-da-yoksullastirmak/">zurück</a> von 65 Prozent im Jahr 2012 auf 56 Prozent im Jahr 2021 (im Verhältnis zum BIP). Dabei verdeckt die permanente Erhöhung des Mindestlohns einerseits, dass dieser dennoch sehr niedrig bleibt (wieder: Inflation!), andererseits, dass sich die Durchschnittslöhne <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2020/09/D%C4%B0SK-AR-12-Eyl%C3%BCl-RAPOR-SON.pdf">seit 1980</a> <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/Pandeminin-Ikinci-Yilinda-Iscilerin-Durumu-KONSOLIDE-son-son.pdf">zunehmend</a> dem Mindestlohn anpassen, dass also eine Abwärtsspirale und nicht eine Aufwärtsspirale der Löhne stattfindet, und zwar <a href="https://www.birgun.net/haber/memur-yoksullasti-memur-sen-buyudu-383711">auch im öffentlichen Sektor</a> und damit in der Beamtenschaft. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/akp-ve-kabine-asgari-ucret-ile-ikramiye-artisinda-ters-dustu-1925634">Zugleich</a> wird derzeit eine weitere Erhöhung des Mindestlohns wegen des davon ausgehenden „inflationären Drucks“ abgelehnt, was natürlich reichlich grotesk ist angesichts einer Wirtschaftspolitik, die auch schon ohne Lohnerhöhungen zu einer historisch hohen Inflationsrate führt, und zugleich Abermilliarden für Unternehmen und Vermögende bereitstellt. Aber das Argument des „inflationären Drucks“, das gegen die Mindestlohnerhöhung genutzt wird, ist natürlich nur Ideologie zwecks Rationalisierung einer klar pro-kapitalistischen Politik. Insofern ist nichts „groteskes“ dran, denn es ist knallharte Interessenpolitik. Einen grundlegenden Bruch mit wichtigen Prinzipien des Neoliberalismus in der Türkei (Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse, kein produktiver Staatssektor), seinen ökonomisch dominanten Akteuren und der Integration desselben in die Weltwirtschaft hat das Regime bei allen Abweichungen von bestimmten Prinzipien (bspw. von der neoliberal-orthodoxen Geldpolitik) – noch? – nicht vollzogen. Während sich also der politische Autoritarismus nicht einfach aus dem Neoliberalismus (und seiner Krise) ableiten lässt, ist es allerdings umgekehrt auch nicht der Fall, dass der politische Autoritarismus den Neoliberalismus einfach vollständig destruiert. Das Verhältnis beider ist also dialektisch als ein inneres, aber widersprüchliches zu verstehen, egal, ob man die Situation nun als „autoritärer Neoliberalismus“, „autoritärer Etatismus im Neoliberalismus“ oder „neoliberaler Etatismus“ verbegrifflicht.</p><h4><i>Die alternative Perspektive der führenden Fraktionen des Kapitals</i></h4><p>Aus all diesen Gründen ist es auch unter den heutigen Bedingungen schlicht nicht richtig, <a href="https://www.birgun.net/haber/erdogan-buyuk-sermayeye-istedigini-veremedi-374329">davon zu sprechen</a>, dass es zu einem <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/anadolu-burjuvazisi-simdi-ne-dusunuyor,33150">großen Bruch</a> zwischen Großbourgeoisie und der AKP gekommen ist. Richtiger ist es, festzustellen, dass es große Konflikte und daher Hegemoniekämpfe um die zu befolgenden Strategien gibt, die umfassenderer Natur sind als jährliche Profitmargen, wobei diese Hegemoniekämpfe aber keinen „großen Bruch“ darstellen.</p><p>Der TÜSIAD beschwert sich dabei schon seit Jahren über die heterodoxe Wirtschaftspolitik und ihre Folgen und verlangt eine orthodoxe Rejustierung derselben. <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-genel-kabul-gormus-iktisat-bilimi-kurallarina-hizla-donulmeli-2294704">So auch</a> <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/tusiad-baskani-dunyaya-konustu-faiz-indiriminde-sabir-gerektiren-kritik-surece-giriyoruz-haberi-632294">in den letzten Monaten</a>. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbaren Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals wie beispielsweise die mittels orthodoxer Geldpolitik und Institutionen prognostizierte erneut einsetzende Attraktion von großen Summen an ausländischem Kapital für große Investitionen und die von fast allen Kapitalfraktionen geteilte Forderung nach Stabilisierung von Wechselkurs und Inflation zwecks Vorhersehbarkeit und robuster Preiskalkulation. Der TÜSIAD visiert offensichtlich auch eine spezifische hegemoniale und ökonomische Strategie an: Hegemonial betrachtet herrscht aufseiten des TÜSIAD die Sorge vor, <a href="https://t24.com.tr/haber/omer-m-koc-tum-belirsizliklere-ve-olumsuzluklara-ragmen-memleketimizin-gelecegine-inaniyoruz-esasli-bir-reform-ajandasina-sarilarak-ulke-riskimizi-azaltmak-zorundayiz,985931">dass</a> die massive ökonomische Ungleichheit und die Krise des politischen Autoritarismus <a href="https://yetkinreport.com/2022/03/14/rusya-ukrayna-savasinin-tetikledigi-donusumler/">starke sozial destabilisierende Effekte</a> haben könnte. (Die ITO ist dieser Problematik gegenüber übrigens <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">auch nicht vollständig blind</a>.) Daher die wiederholte Forderung von „pluraler Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheiten“ einerseits, einer anti-inflationären Wirtschaftspolitik andererseits. Freilich findet sich in den Aussagen und Publikationen des TÜSIAD wenig Konkretes zur Veränderung des Arbeitsmarktes oder zur Institutionalisierung sozialer Rechte. Die Hoffnung liegt klar auf einem sich selbst tragenden neoliberalen Wachstumsmodell mit Produktivitätsfortschritten, aus dem ohne große Verrechtlichung der Marktbeziehungen im Sinne der Werktätigen und ohne allzu großen Veränderungen der Distributionsverhältnisse genug für die Werktätigen abspringt, damit diese befriedet sind.</p><p>Gleichzeitig ist der TÜSIAD der Meinung, dass die kurzfristige Orientierung der Wirtschaftspolitik die kapitalistische Entwicklung der Türkei blockiere, insofern es mit ihr nicht möglich sei, einen Aufstieg der türkischen Wirtschaftsstruktur im System der internationalen Arbeitsteilung zu erlangen. Das heißt, der TÜSIAD visiert mittel- bis langfristig eine ganz andere hegemoniale ökonomische Strategie an, als in der derzeitigen vom Krisenmanagement dominierten Wirtschaftspolitik des Regime enthalten ist. Letztere ist notgedrungen kurzfristig angelegt und enthält derzeit wenig Potenziale für eine kapitalistische Akkumulation auf qualitativ erweiterter Stufenleiter. Diese ökonomische wie auch politisch-regulative hegemoniale Strategie hat der TÜSIAD nun Ende letztes Jahres <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-iktidari-ozneyi-soylemeden-elestirdi-omer-koc-acemoglu-nun-demokrasideki-gerilemeyi-anlattigi-sunumu-notlar-alarak-dinledi,986791">zu einem Bericht</a> mit dem unmissverständlichen Titel <a href="https://tusiad.org/tr/basin-bultenleri/item/10854-tusi-ad-dan-yeni-bir-anlayisla-gelecegi-i-nsa-raporu"><i>Yeni Bir Anlayışla Geleceği İnşa</i></a>, übersetzt in etwa „Mit einer neuen Vision die Zukunft gestalten“ synthetisiert und der Öffentlichkeit präsentiert. Murat Sabuncu <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-akp-turkiyesi-ne-yeni-bir-gelecek-hayaliyle-itiraz-ediyor,986818">hält ganz richtig fest</a>, dass sich dieser Bericht nicht allein an Unternehmer*innen, sondern an die Breite der Gesellschaft wendet, sprich einen hegemonialen Anspruch hat. Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus geht also in eine neue Runde.</p><h2><b>Altbekannte und (scheinbar) neue Taktiken der autoritären Konsolidierung</b></h2><p>In diesem Kampf um die Krise des Neoliberalismus, in dem das Regime um seinen politischen Machterhalt kämpft, sind die Kampfmethoden natürlich nicht bloß ökonomischer Art. Die altbekannten und scheinbar neue Taktiken der autoritären Konsolidierung werden ebenfalls fortgesetzt. Diese visieren, wie ehedem, Unterdrückung, Zermürbung, Spaltung und Integration der Opposition aber auch die Etablierung einer popularen Legitimationsbasis für den Autoritarismus an. Weiterhin werden <a href="https://t24.com.tr/haber/engelli-web-raporu-2020-sonu-itibariyla-467-bin-web-sitesi-erisime-engellendi,972358">Hunderttausende Webseiten</a> <a href="https://www.dokuz8haber.net/turkiyede-internet-ozgurlugu-uc-yildir-dususte">blockiert</a>, weitflächig Druck und Repression <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">gegen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">Medien</a> und Oppositionelle <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/international-domestic-groups-ring-alarms-human-rights-turkey">ausgeübt</a> sowie <a href="https://www.dw.com/tr/sosyal-medya-yasas%C4%B1-neler-getirecek/a-60815430">an einem Gesetz</a> zur weiteren Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auf Social Media-Plattformen unter dem Vorwand der Bekämpfung von „fake news“ gearbeitet. Erdoğan selbst <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ozgurlugun-sembolu-olarak-nitelenen-sosyal-medya-gunumuz-demokrasisi-icin-ana-tehdit-kaynaklarindan-birine-donusmustur,1000034">deklarierte jüngst</a><i>social media</i> als „einer der größten Gefährdungsquellen für die heutige Demokratie“. <a href="https://tihv.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/TIHV_covid_hak_ihlalleri_rapor_Mart_2022.pdf">Über 200</a> Kundgebungen und Demonstrationen wurden unter vorgeschobenen Gründen des Infektionsschutzes während der Pandemie verboten (während vom Regime wohlwollend betrachtete Massenereignisse natürlich erlaubt und sogar gefeiert wurden). Auch sonst geht die mehr oder minder verdeckte (<a href="https://www.dw.com/tr/akpnin-lin%C3%A7-giri%C5%9Fimi-videosu-soru-i%C5%9Faretleri-yaratt%C4%B1/a-59647524">Androhung von) Gewalt</a> gegen (führende) Oppositionelle und <a href="https://t24.com.tr/haber/orhan-pamuk-sezen-aksu-hepimizin-gururudur-sanatcisini-ezen-bir-devlet-ve-millet-olmayacagiz,1010074">Kulturschaffende</a> ungebrochen weiter. Die Türkei bleibt das nach Russland dasjenige europäische Land, in dem sich proportional zur Bevölkerung die meisten Menschen <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-60981073">im Gefängnis</a> befinden. Den protestierenden und streikenden Ärzt*innen wurde von Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/doktorlara-gidiyorlarsa-gitsinler-diyen-erdogana-tepki-yagdi-1914317">vorgeworfen</a>, sie hätten Luxusprobleme und sollten das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt (nur um <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ulkemizi-kuresel-saglik-sistemi-icinde-mumkun-olan-en-iyi-yere-getirmek-istiyoruz,1020848">ein Tag danach</a> die selben Ärzt*innen in den Himmel zu loben und einer Reihe ihrer Forderungen nachzugeben).</p><p>Offensichtlich als Teil des de facto schon begonnenen Wahlkampfs wurde die Repression kürzlich noch einmal besonders verschärft: Zum Abschluss eines jahrelangen Schauprozesses gegen einige in den Gezi-Protesten 2013 involvierte wichtige zivilgesellschaftliche Akteur*innen wurden Ende April 2022 <a href="https://t24.com.tr/haber/gezi-davasinda-karar-durusmasi,1030116">drakonische Strafen</a> verhängt, darunter auch gegen den großbürgerlich-liberalen Mäzen Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen (<i>ağırlaştırılmış müebbet</i>) verurteilt wurde. Gleichzeitig lancierte der türkische Staat eine <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">großangelegte Militäroffensive</a> gegen Teile der als PKK-Stützpunkte genutzten Kandilberge im Irak, wobei diese parallel – und vermutlich zuvor mit der Türkei abgestimmt – <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">begleitet wurde</a> von einer Offensive der Truppen der irakischen Regierung gegen das PKK-nahe ezidisch dominierte Schengal.</p><p>Islamisierung und autoritäre heteronormativ-familiale Geschlechterpolitik bilden weiterhin eine wichtige Grundlage für den Versuch, einen autoritären Konsens herzustellen als Legitimationsbasis für das autoritäre Regime. Die Kriminalisierung und Repression von <a href="https://www.duvarenglish.com/copies-of-british-authors-book-being-sold-in-envelopes-in-turkey-after-ministry-finds-it-obscene-for-including-gay-character-news-58959">LGBTQI+-Identitäten</a> wird weiterhin konstant betrieben. Der Chef der Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, kann eine umfassende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-powerful-top-cleric-called-tone-down-or-resign">Kritik am Laizismus</a> lancieren und die Forderung aufstellen, Korankurse für 4-6jährige Kinder nicht mehr als Wahl-, sondern <a href="https://t24.com.tr/haber/diyanet-ten-zorunlu-kur-an-kursu-aciklamasi,979450">als Pflichtfach</a> einzuführen. Die Forderung nach einem „religiösen“ Grundgesetz (ehemaliger <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/eski-meclis-baskani-ismail-kahramandan-dindar-anayasa-aciklamasi-sozlerim-carpitildi-1874529">Parlamentssprecher Ibrahim Kahraman</a>, AKP) wird wieder en vogue. Der Freitod eines jungen Studierenden, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/turkish-teen-suicide-revives-secular-pious-debate">Enes Kara</a>, der die unerträglichen Verhältnisse in einem religiösen Wohnheim nicht mehr aushielt, befeuerte erneut die Debatte um die Schließung religiöser Heime.</p><p>Auch die scheinliberalen Versuche und Reförmchen zur Einbindung der Hauptoppositionsparteien gehen weiter: So wurde hinter den Kulissen darüber diskutiert, das Präsidialsystem dahingehend <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58734677">zu modifizieren</a>, dass die Minister nicht mehr wie bisher von Präsidenten ernannt, sondern vom Parlament gewählt werden und das Parlament wieder das Recht auf Anfragen und ähnliches eingeräumt bekomme. Natürlich wäre das nur eine Scheinliberalisierung gewesen, da derzeit ja auch das Parlament noch von AKP-MHP dominiert wird. Zudem war die „Konzession“ verbunden mit dem Vorschlag, die Auflage einer absoluten Mehrheit (über 50 Prozent der gültigen Wahlstimmen) für den erfolgreichen Sieg in der ersten Runde einer Präsidentschaftswahl abzuschaffen. Offensichtlich halten es auch AKP-MHP für wahrscheinlich, dass Erdoğan nicht mehr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. Denn konträr zur nach außen kommunizierten Hybris ist den AKP-Entscheidungsträgern <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58965213">intern</a> natürlich klar, dass die <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bulent-arincin-ekonomi-ve-sandik-mesajina-akplilerden-destek-1927234">wirtschaftliche Krise</a> und „Mängel im Präsidialsystem“ (aka Willkür, Repression insbesondere gegenüber Kurd*innen, politisierte Justiz) die Gründe für den (prognostizierten) Stimmenverlust sind und dass die Opposition gewonnen werden muss für eine (leichte) Modifikation des Präsidialsystems (wobei klar ist, dass am Prinzip des Präsidialsystems nichts geändert werden soll). Später, im März 2022, als die Novellierung des Wahlgesetzes eigentlich schon als sicher galt (siehe ein paar Absätze weiter unten), <a href="https://www.korkusuz.com.tr/erdoganin-yeni-oyun-plani.html">sickerte durch</a>, dass AKP und MHP zu einer weiteren Senkung der Wahlhürde auf drei Prozent bereit seien. Sie verlangten dafür aber ein Ende der von der Opposition geführten Diskussion, ob Erdoğan laut geltendem Gesetz überhaupt erneut zu einer Kandidatur antreten dürfe. <b>[3]</b></p><p>Mittlerweile wurden auch zahlreiche „Menschenrechtsaktionspläne“ oder „Justizreformpakete“ – angeblich zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation – verkündet. Freilich bleiben Selahattin Demirtaş, Figen Yüksedağ oder Osman Kavala <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-bahceli-tercihlerimiz-kim-oldugumuzun-isaretidir,988449">weiterhin</a> teils lebenslänglich inhaftiert und werden als „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-cumhur-ittifaki-ciftci-dostudur-esnaf-sevgisiyle-doludur,986731">Terroristen</a>“ oder „Soros-Anhänger“ verschrien. Angesichts der weiter oben ausgeführten ununterbrochen fortgesetzten Repression gegen fast alle oppositionellen Teile der Gesellschaft ist klar, dass diese „liberalen Reförmchen“ eh schon kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Aber sogar das war und ist zu viel für die Hardliner innerhalb des Regimes, wie die von Bahçeli wiederholt vorgebrachte Forderung nach der Schließung des Verfassungsgerichtes (AYM) und der Rücktritt des Justizministers Gül (siehe unten) zeigen.</p><p>Es wird auch weiterhin die Handlungsfähigkeit der oppositionsgeführten Städte untergraben, um die – auf erfolgreiche Bereitstellung städtischer Dienstleistungen als materieller Grundlage basierende – Hegemoniepolitik der Opposition zu torpedieren: Beispielsweise bleiben <a href="https://www.birgun.net/haber/metrolari-ibb-ye-devretmeyecekler-358362">weiterhin</a> zentrale Metrolinien <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">oder</a> <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">Bezirke</a> Istanbuls in der Hand zentralstaatlicher Ministerien oder werden in diese überführt; es werden weitere Metroprojekte durch die Stadt oder eine grundlegende Änderung des maroden Taxi-Systems auf die lange Bank geschoben oder <a href="https://www.dw.com/tr/muhalefetin-y%C3%B6netimindeki-projelere-onay-engeli/a-61165248">zahlreiche andere</a> kommunale Projekte in oppositionsgeführten Städten durch AKP-MHP oder zentralstaatliche Apparate gebremst oder gestoppt. Gegen mehr als 500 Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung lancierte das Innenministerium zudem eine <a href="https://t24.com.tr/haber/imamoglu-erdogan-ve-soylu-ya-gonderdigi-mektupta-ne-yazmisti,1003777">„Terrorismus“-Untersuchung</a>, Bahçeli <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-den-bahceli-ye-ibb-yaniti-secimlerde-abdullah-ocalan-in-mektubuna-bel-baglamis-bir-ittifaksiniz-bu-suclamayi-yoneltmek-size-birkac-gomlek-buyuk-gelir,1004578">kündigte daraufhin</a> eine mögliche Amtsenthebung des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu an. Sogar die Schneestürme in Istanbul wurden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/istanbul-residents-get-stuck-snow-politicians-throw-blame-each-other">instrumentalisiert</a> im Hegemoniekampf zwischen Regimekräften und Hauptoppositionparteien, indem sich beide Seiten wechselseitig Unfähigkeit vorwarfen und jeweils ihre eigenen Leistungen hervorhoben.</p><h4><i>Die neuesten Manöver</i></h4><p>Nicht zuletzt sind zwei wichtige Entwicklungen zu nennen, die der Spaltung und Schwächung der Opposition dienen: Zum einen die Änderung des Wahlgesetzes, zum anderen die politische Rückkehr einer Mitterechts-Hardlinerin der 1990er-Jahre, Tansu Çiller.</p><p>Das Wahlgesetz war zuletzt 2018 grundlegend geändert worden, um die Bildung von Wahl-Koalitionen zu erlauben. Es bildeten sich die bis heute bestehenden zwei Koalitionen: Das Bündnis des Volkes (<i>Cumhur İttifakı</i>) des Regimes und das Bündnis der N<i>ation (Millet İttifakı</i>), der bürgerliche Hauptoppositionsblock. Für Parteien, die Teil einer solchen Wahl-Koalition waren, galt die 10 Prozent-Hürde nicht; sie galt nur für die Koalition als Ganze. Der Stimmanteil der Koalition war maßgeblich für den Anteil der Parlamentssitze, die die Koalition als Ganze erhielt; erst in einem zweiten Schritt wurden diese dann entsprechend des Stimmanteils der Koalitionsparteien unter diesen aufgeteilt wurden. Die Wahlgesetzänderung von 2018 war ganz offensichtlich eine Maßnahme, um der AKP-Partnerin MHP den Einzug ins Parlament zu garantieren, da damalige Umfragen die MHP unter der 10 Prozent-Wahlhürde sahen (am Ende bekam sie allerdings doch 11 Prozent).</p><p>Auch die jetzt im Frühjahr 2022 erfolgte <a href="https://t24.com.tr/haber/secim-barajini-dusuren-tekliften-ittifak-hamlesi-cikti-yeni-teklif-en-cok-akp-ye-yariyor-muhalefeti-strateji-belirlemeye-zorluyor,1020850">grundlegende Änderung des Wahlgesetzes</a> dient <a href="https://t24.com.tr/haber/il-ve-ilce-secim-kurullarinin-tamami-ile-ysk-nin-bes-uyesi-sandikta-yargi-guvencesinin-budandigi-tartismasi-esliginde-degisiyor,1021100">unmittelbar politischen Kalkülen</a> des Regimes. Zwar wurde die Wahlhürde jetzt auf 7 Prozent abgesenkt, um das Ganze als „Demokratisierung“ verkaufen zu können. Aber einerseits ist wegen der Möglichkeit der Koalitionsbildung die Wahlhürde derzeit de facto nicht mehr wirklich ein Hindernis, da alle relevanten Parteien entweder in Koalitionen organisiert sind oder, wie die linke und pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP), auch ohne Koalition über die 10 Prozent-Wahlhürde kommen. Zum anderen wurde vor allem die Parlamentssitzverteilung grundlegend geändert. Es entscheidet bei koalierten Parteien zwar immer noch der Stimmenanteil der gesamten Koalition, ob die Wahlhürde überwunden und prinzipiell der Einzug ins Parlament geschafft wird oder nicht; bei der Sitzverteilung wird allerdings nicht mehr dem Stimmanteil der jeweiligen Koalitionen entsprechend aufgeteilt. Stattdessen wird von Anfang an der Stimmenanteil der einzelnen Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken genommen und ausschließlich daran die Sitzverteilung der einzelnen Parteien ausgemacht. <a href="https://bianet.org/english/politics/259162-turkey-s-election-law-tweak-explained-will-it-save-erdogan-from-losing-majority-in-parliament">Einer wahlarithmetischen Berechnung zufolge</a> hätte eine solche Form der Sitzverteilung bei den Wahlen 2018 zu knapp 36 mehr Sitzen für die Regime-Koalition und 44 weniger Sitzen für die Hauptoppositionskoalition geführt. Jetzt bedroht es zudem vor allem die Kleinstparteien, die mit dem Szenario konfrontiert sind, im Rahmen einer Oppositionskoalition zwar über die Wahlhürde zu kommen, aber wegen jeweils sehr kleinen Stimmanteilen gar keine Parlamentarier*innen stellen zu können – außer sie stellen ihre Kandidat*innen auf den Listen der beiden großen mitte-rechts Hauptoppositionsparteien (die Republikanische Volkspartei CHP und die Gute Partei IYI) auf. Aber auch die IYI hätte nach dem jetzt gültigen Wahlsystem, so die erwähnte Berechnung, trotz mehr als 10 Prozent der gültigen Wahlstimmen 2018 keine einzige (!) Parlamentarier*in gestellt.</p><p>Gegen die Möglichkeit gemeinsamer Listen ist das Kalkül von AKP-MHP, dass einerseits der <a href="https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-ruling-parties-draft-law-suggesting-vote-more-likely-next-year-2022-03-14/">Parteienegoismus</a> der Kleinstparteien dieses Vorgehen verhindern könnte. Und – für den Fall der Fälle, dass dies nicht passiert – dass dann die Wähler*innenklientel der betreffenden Kleinstparteien, die ideologisch-kulturell hauptsächlich aus dem konservativ-islamischen Spektrum kommt, insbesondere die CHP nicht wählt. Diese wurde und wird im Zuge des Kulturkampfes des politischen Islams als repressiv antiislamisch und verwestlicht dämonisiert. AKP-MHP bauen also darauf, dass das Machtstreben der einzelnen Parteien sowie die polarisierte Identitätsbildung mit dieser Veränderung des Wahlgesetzes zum entscheidenden Nachteil für die Opposition und Vorteil für das Regime wird, auch wenn ein potenzielles Wahlklientel des Regimes von vier bis sieben Prozent aller gültigen Stimmen (Summe der Stimmen der Kleinstparteien laut aktuellen Umfragen) von AKP-MHP wegbricht. Eine weitere Alternative für die Opposition wäre die Bildung einer rechtskonservativen Koalition um IYI und die Kleinstparteien und somit die Bildung einer genuin rechtskonservativen Blockalternative unabhängig von der CHP. Es ist wahrscheinlicher, dass die Wähler*innen der Kleinstparteien deren Kandidat*innen auf Listen der IYI wählen statt auf Listen der CHP. Die Rechnung des Regimes geht bezüglich dieser Alternative dahingehend, dass die Aufspaltung des Hauptoppositionsblocks in zwei Koalitionen die Friktionen zwischen den jeweiligen Blöcken und Parteien insbesondere entlang der „kurdischen Frage“ stärkt und ihr einheitliches Vorgehen erschwert. Zudem gibt es, wie erwähnt, das Problem, in einer solchen Konstellation überhaupt Parlamentarier*innen entsenden zu können. Oder aber der Hauptoppositionsblock hält im Rahmen der <i>Millet İttifakı</i> zusammen und gleichzeitig werden die Kandidat*innen der Kleinstparteien auf den Listen von IYI platziert (aber auch da bleibt das Problem bestehen, ob die IYI überhaupt Parlamentarier*innen entsenden kann). <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-61171442">Wie man es dreht und wendet</a>, macht es diese Wahlgesetzesänderung <i>prima facie</i> den Hauptoppositionsparteien die Rechnung schwerer als sie sonst wäre und das ist auch der hauptsächliche Grund für die jetzt erfolgte Wahlgesetzänderung.</p><p>Zudem spielen vermutlich auch <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Friktionen zwischen AKP und MHP</a> für die Gesetzesänderung eine Rolle: Nicht nur können sich so beide Parteien <a href="https://halktv.com.tr/makale/bahceli-istifa-ediniz-hsk-uyesi-basustune-650666">für den eventuellen Niedergang des jeweils anderen</a> die Option offen halten, in Zukunft in anderen Konstellationen weiterhin eine wichtige politische Rolle zu spielen oder bei geschwächtem Partner mehr Macht innerhalb des Regimes einzufordern. Die Senkung der Wahlhürde auf sieben Prozent ist insofern ein Sieg der MHP, insofern sie bei einer erfolgreichen Überwindung der Hürde – und dies erscheint derzeit als wahrscheinlich, wenn auch knapp – im Regime-internen Kampf um Macht mehr Gewicht bekommt, da sie es dann erneut ohne Garantie der Koalitionsform ins Parlament geschafft haben wird. Neben den unmittelbaren Machtansprüchen der beiden Parteien gab es immer wieder auch inhaltliche Konflikte, vor allem in der sogenannten „kurdischen Frage“ und angesichts der (vor allem syrischen) Geflüchteten im Land. Während die MHP eine bedeutend härtere Gangart gegen die Kurd*innen vertritt, versucht die AKP immer wieder, auch die militarisierte Politik oberflächlich mit integrativen Balanceakten zu versehen. Ein Grund dafür ist, dass die AKP immer noch Wahlpotenzial unter konservativen Kurd*innen besitzt, während die türkistische MHP nie kurdisches Wahlpotenzial besaß. Gegenüber Geflüchteten vertritt die MHP – wie ein Großteil der Bevölkerung auch – eine stark ablehnende Haltung, während die AKP (neben der HDP als einzige Partei im Parlament und aus anderen Gründen als die HDP) eine positive Haltung dazu einnimmt.</p><p>Das erneute Auftauchen von Tansu Çiller auf der politischen Arena ist Teil des Versuchs, die mitte-rechts Opposition zu spalten. Çiller ist die wichtigste Persönlichkeit aus der Tradition des rechten Liberalkonservatismus in der Türkei, die seit 2018 ihre Unterstützung für die AKP ausgesprochen hat. Unter ihrer Ministerpräsidentschaft fand die <a href="https://www.dw.com/tr/tansu-%C3%A7iller-aktif-siyasete-d%C3%B6n%C3%BCyor/a-61099019">Ausweitung des extralegalen Kriegsführung</a> (paramilitärisch, mafiös und mittels offizieller staatlicher Sicherheitsapparate) gegen die Kurd*innen in den 1990ern statt. Meral Akşener, die derzeitige Chefin der IYI und ehemals Innenministerin unter Çiller, ist derzeit die einzige wichtige Persönlichkeit aus dieser Traditionslinie, die sich in der Opposition befindet. Alle anderen öffentlich auftretenden wichtigen Persönlichkeiten dieser Tradition sind entweder direkt an der Regierung beteiligt wie der Innenminister Soylu oder unterstützen das Regime offen wie der ehemalige Innenminister Mehmet Ağar (dazu ausführlicher im Artikel „Türkisches Inferno“). Çiller hat <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2022/03/09/son-dakika-tansu-cillerden-cok-carpici-cikis-koalisyonlar-darbeden-beterdir">erst kürzlich</a> die Perspektive der Rückkehr zum parlamentarischen System als „Verrat an der Nation“ gebrandmarkt, in der Verteidigung des Präsidialsystems Koalitionsregierungen absurderweise als schlimmer als Militärputsche bezeichnet (absurd auch deshalb, weil ja fast alle Parteien in Koalitionen zur Wahl antreten, inklusive AKP-MHP) und eine Rückkehr zur Politik angekündigt. In welcher Form diese erfolgt, ist noch nicht ganz fix: <a href="https://www.birgun.net/haber/tansu-ciller-in-partisinin-ismi-kulislere-sizdi-380168">Vermutlich</a> wird sie an die Spitze einer wiederbelebten alten Partei treten. Jedenfalls geht es ihr <a href="https://halktv.com.tr/makale/cilleri-ve-erdogani-birlestiren-hedef-meral-aksener-668649">explizit darum</a>, das potenzielle Wähler*innenpotenzial der IYI abzugraben und wieder für das Regime zu gewinnen.</p><h2><b>Die dezisionistisch-polykratische Struktur</b></h2><p>Ich hatte schon in „Türkisches Inferno“ analysiert, dass die politische Struktur in der Türkei zunehmend dezisionistisch und polykratisch ist. Dezisionistisch, insofern Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen Regeln und Gesetze bestimmen, anstatt dass diese im Rahmen konstitutioneller und institutioneller Schranken ausgehandelt werden; polykratisch, insofern sich unter der Spitze der Macht, dem Präsidenten, eine Reihe an ebenfalls dezisionistisch agierenden Machtakteur*innen hervortun, die miteinander um Macht und Einfluss ringen, wobei Erdoğan als Schiedsrichter letzter Instanz über dem Kampfplatz thront. Diese Struktur ist eine Herrschaftsform <i>sui generis</i> und sollte als eine solche analysiert, nicht jedoch auf dem normativem Hintergrund eines konstitutionell-liberalen Regimes als defizitär abgetan werden. Eruptive und nicht objektiv-institutionell vermittelte Austragungen von Differenzen und Konflikten sind nur unter bestimmten Bedingungen dysfunktional für ein solches System, ansonsten aber Formen der Reproduktion desselben. Sich daher darauf zu verlassen, dass ein solches System <i>per se</i> instabil ist und zum Zusammenbruch neigt, ist eine gefährliche objektivistische Fehleinschätzung.</p><p>Wie zuvor gab Erdoğan in der dezisionistisch-polykratischen Struktur nicht nur durch seine Praxis, sondern auch durch öffentliche Ermunterung zu dezisionistischem Handeln den Ton an: „Wir sind vorangeschritten indem wir die Bürokratie Schritt um Schritt zerstört haben. Wenn nötig, müsst ihr das auch tun“, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/20-yildir-iktidarda-olan-erdogan-hala-valilerden-kaymakamlardan-yoneticilerden-sikayetci-1916979">so</a> Erdoğan jüngst zu AKP-Parlamentarier*innen, die sich über Hindernisse in der Verwaltungsbürokratie beschwerten. <a href="https://halktv.com.tr/ekonomi/nebati-fransiz-yatirimciya-vadetti-burokrasiyi-alasagi-ederiz-cumhurbaskani-668454h">Ganz ähnlich</a> tönte sein Wirtschafts- und Finanzminister Nebati im März 2022 zu Investoren: „Wenn ihr ein Problem habt, könnt ihr uns sofort kontaktieren. Das Thema, das mir am leidigsten ist: Regularien oder Bürokratie, die den Investoren Probleme bereiten. Lasst uns gemeinsam kämpfen, wir werden die Bürokratie zertrümmern. Seid beruhigt, der Präsident steht hinter uns. Die Regularien verändern wir auch, im Rahmen des Präsidialsystems schreiten wir schnell voran.“</p><p>Vor allem im Kampf um die Justiz hat es in der dezisionistisch-polykratischen Struktur in den letzten Monaten wichtige Veränderungen gegeben. Wie in den Jahren zuvor pochte auch jüngst der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes, Zühtü Arslan, auf liberal-konstitutionelle Elemente im Staat, wie beispielsweise auf eine aufklärerische und unter allen Umständen <a href="https://t24.com.tr/haber/anaya-mahkemesi-baskani-arslan-idari-mali-ve-bilimsel-ozerklik-universite-ozerkliginin-ayrilmaz-unsurlaridir,986536">freie Universität</a>. Dies ist natürlich <a href="https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2022/01/21/resistance-to-erdogans-encroachment-at-turkeys-top-university-one-year-on/">angesichts des Kampfes</a> um den von Erdoğan eingesetzten, aber von der gesamten Universität abgelehnten Rektors an der Boğaziçi-Universität sehr brisant. Zugleich benannte Arslan, ebenfalls wie schon in den Jahren zuvor, die hohe Anzahl an Verletzungen des Rechts auf faires Gerichtsverfahren als <a href="https://t24.com.tr/haber/anayasa-mahkemesi-baskani-zuhtu-arslan-adil-yargilanma-hakkiyla-ilgili-bir-meselemiz-var,1006985">großes Problem</a>. Seit der Beförderung des glühenden Erdoğan-Anhängers Irfan Fidan zum Verfassungsrichter – ein ehemaliger Istanbuler Generalstaatsanwalt, der <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/yazarlar/ismail-saymaz/bestepe-hukuk-burosu-6192101/">sehr offen</a> zu politischen Zwecken und daher mittels eines sehr durchschaubar politischen Verfahrens eingesetzt wurde –, <a href="https://gazeteoksijen.com/turkiye/15-bin-200-liralik-cezanin-9-yillik-hazin-oykusu-150857">kippte das Kräfteverhältnis</a> innerhalb des AYM aber zunehmend zugunsten des politischen Blocks, der in Grundsatzfragen über Menschen- und Freiheitsrechte ablehnend und im Sinne der (Staats-)Sicherheit entscheidet. Es wird gemunkelt, dass Erdoğan Fidan als AYM-Chef haben möchte und bloß mehr das Ende der Amtszeit von Arslan abwartet.</p><p>Auch zeichnete sich schon gegen Oktober letzten Jahres ab, dass der Justizminister Abdülhamit Gül <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/680-fading-fa%C3%A7ades-abd%C3%BClhamit-g%C3%BCl-the-rule-of-law-and-the-power-struggles-within-the-erdo%C4%9Fan-regime.html">im Machtkampf</a> mit dem Innenminister Suleyman Soylu <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/adalet-bakani-abdulhamit-gulun-gorevden-alinacagi-iddia-edildi-1880459">unterliegt</a>. Gül wurde vom nationalistisch-autoritären Block im Staat <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/baris-pehlivan/polis-aracinda-esrarla-yakalanan-akpli-1881346">als Blockade</a> für die beabsichtigte zunehmende Repression sowie ihrer Kaderpolitik angesehen. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/akpde-kavga-buyuyor-abdulhamit-gulden-soyluya-sert-tepki-1883035">Einer</a> der Streitpunkte der letzten Monate war das von Soylu offen von Ortsvorsteher*innen eingeforderte dezisionistische Handeln, ohne auf Gerichtsprozesse und -entscheidungen zu warten (es ging um das Abreißen von angeblich rechtswidrig errichteten Gebäuden). Gül betonte hier den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit. Ebenfalls <a href="https://www.birgun.net/haber/partisinden-bile-destek-alamadi-371064">stellte sich Gül gegen</a> die erwähnten „Terrorismus“-Untersuchungen von Soylu gegenüber der Istanbuler Stadtverwaltung und andere rechtswidrige Vorgehensweisen. Ende Januar 2022 wurde letztlich seinem angeblichen „Gesuch auf Enthebung von Verantwortung“ statt gegeben, das heißt er wurde seitens Erdoğans von seinem Amt enthoben. Dem war ein Machtverlust des Blocks um Gül in der Hohen Justiz gegen den nationalistisch-autoritären Block <a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">voraus</a><a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">gegangen</a>. Akteure wie Abdülhamit Gül oder Zühtü Arslan repräsentieren weniger eine bürgerlich-demokratische Opposition gegen die dezisionistisch-polykratische Struktur denn eine Nuancierung innerhalb derselben. Sie befürchten einen zu starken Hegemonieverlust, wenn der Dezisionismus außer Rand und Band gerät und visieren daher eine partielle Rücknahme oder Schwächung der allerextremsten Formen des Dezisionismus an. Offensichtlich hat der gemäßigte Flügel innerhalb der dezisionistisch-polykratischen Struktur mit der Amtsenthebung von Gül eine empfindliche Niederlage erlitten. Dem neu eingesetzten Bekir Bozdağ, der schon zwei Mal Justizminister in der AKP-Ära war, gab Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/siyaset-kulisi-hareketli-bekir-bozdaga-ilk-talimat-1903947">angeblich die Anweisung</a>, die unter Abdülhamit Gül eingesetzten religiösen Kader zu säubern und eine Einheit der Justiz unter Führung der Konservativen und Nationalisten, aber auch einiger Sozialdemokraten herzustellen. Letzteres soll vermutlich dem Eindruck entgegenwirken, die Justiz würde von der AKP kontrolliert und dient damit der Beschwichtigung und Integration der bürgerlichen Opposition.</p><p>Mit der Amtsenthebung von Gül verbunden war <a href="https://t24.com.tr/haber/tuik-te-gorev-degisimi-erdal-dincer-gorevden-alindi-yerine-erhan-cetinkaya-atandi,1011302">auch</a> die Amtsenthebung des Vorsitzenden des Statistikinstituts TÜIK, Sait Erdal Dinçer. Anfang 2022 <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-erdogan-tuik-baskanina-tepkili/">wurde bekannt</a>, dass Erdoğan wütend auf ihn sei, weil das von ihm geführte Institut zu hohe Inflationszahlen veröffentlichte. Erdoğan monierte, das TÜIK hebe in seinen Publikationen nicht klar genug hervor, dass die Inflation „künstlich“ und „von außen verursacht“ sei. Dabei steht das TÜIK seit langem von allen seriösen und unabhängigen Beobachter*innen in der Kritik; Grund dafür sind laut Kritiker*innen gezielt zu niedrige Zahlen. Der Amtsenthebungsentscheidung waren eine Reihe kleinerer Entscheidungen vorhergegangen, die alle eine politisch motivierte Manipulation mit makroökonomischen Zahlen beinhalteten: Neben den ständigen Ersetzungen der jeweiligen Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Zentralbankgouverneure sickerten zum einen seit geraumer Zeit <a href="https://www.diken.com.tr/tuik-yoneticisi-enflasyon-rakaminin-nasil-hazirlandigini-anlatti/">Informationen</a> durch, wonach sich angeblich einige Mitarbeitende des TÜIK gegen die Zahlenmanipulationen des TÜIK stellten und dafür gefeuert wurden. Zum anderen wurde, ähnlich wie bei den Inflationszahlen vor einigen Jahren, die Berechnung der Auslandsschulden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkeys-external-debt-drops-25-billion-stroke">kosmetisch geschönt</a>, wobei die betreffenden Eckdaten dennoch schlecht blieben. Aber trotz aller Bemühungen um eine autoritäre Konsolidierung bleibt die populare Unterstützung für das Regime mangelhaft.</p><h2><b>Restauration oder populare Demokratie?</b></h2><p>Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und seinen Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse sowie dem Erfolg der Opposition in den neu gewonnenen Stadtverwaltungen spitzt sich der Hegemoniekampf zwischen Regime und Opposition zu. Der arithmetische <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_parliamentary_election">Durchschnitt</a> aller Wahlumfragen der letzten Monate zeigt, dass die Wahlstimmung eindeutig zuungunsten der AKP-MHP-Koalition gekippt ist (obzwar weniger verlässlich, kippen auch die Umfragen zur anstehenden <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_presidential_election">Präsidentschaftswahl</a> gegen einen Sieg Erdoğans). Selbst AKP-<a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/mehmet-acet/ak-partinin-son-anketlerinde-vaziyet-neyi-gosteriyor-2059800">interne</a> bzw. -<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/optimar-anketi-erdogan-acik-ara-onde-galeri-1537428?p=2">nahe</a> Umfragen zeigen, dass der AKP-MHP-Block, beziehungsweise Erdoğan als Präsidentschaftskandidat, bei den anstehenden Wahlen nur sehr knapp gewinnen könnten. Die Opposition ist daraufhin mutiger geworden: Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, tritt zwischenzeitlich offensiver auf als gewohnt. Er besuchte mehrere staatliche Institutionen und wichtige Machtakteur*innen wie <a href="https://www.bloomberght.com/chp-lideri-kilicdaroglu-tcmb-baskani-ile-gorusecek-2289832">die Zentralbank</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/kilicdaroglu-tuike-gidiyor-2293565">das TÜIK</a>, das <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-nun-gelisi-oncesi-meb-in-kapisina-kilit-vuruldu,1004618">Bildungsministerium</a> (<i>Millî Eğitim Bakanlığı</i>, MEB), die staatliche <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-randevu-talebine-yanit-verilmeyen-et-ve-sut-kurumu-genel-mudurlugu-onunde,1026424">Fleisch- und Milchinstitution</a> (<i>Et ve Süt Kurumu</i>) oder den TOBB, um Rechenschaft oder menschenwürdige Preise einzufordern und Hegemoniepolitik zu betreiben. Der <a href="https://yetkinreport.com/2021/11/16/kilicdaroglu-merkez-bankasindan-sonra-tobb-hamlesi/">Besuch bei TOBB</a> war ein erster ernsthafter Versuch, die historisch AKP-nahen KMUs jetzt auf die Seite der Opposition zu ziehen. Gleichzeitig kündigte er zum ersten Mal an, rechtswidrig oder parteiisch vorgehende Bürokrat*innen bei Machtantritt <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-kim-fakir-fukaranin-hakkini-yerse-karsisinda-olacagim-yaninda-erdogan-dahi-olsa,986276">zu bestrafen</a>. AKP’ler*innen berichten davon, dass ihnen <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-kilicdaroglunun-cikisi-sonrasi-burokraside-direnc-basladi/">seit</a> <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/3240950-kilicdaroglunun-hedefi">dieser Erklärung</a> mehr Widerstand seitens der Bürokratie geleistet wird. Kılıçdaroğlu selbst berichtet davon, dass der Opposition seitdem <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-yolsuzluklarla-ilgili-belge-yagiyor,1010817">immer mehr interne Unterlagen</a> zu staatlich betriebener Korruption und klientelistischer Ressourcenverschwendung zugeschickt würden. Eine Serie an türkeiweiten Kundgebungen unter dem Titel „Stimme der Nation“ (<i>Milletin Sesi</i>) wurde, nach einem Auftakt in der südtürkischen Hafenstadt Mersin im Dezember 2021, bis auf weiteres verschoben, soll aber nach Ramadan (April-Mai 2022) mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen fortgesetzt werden. Auch in sonstiger Hinsicht gibt es Neuerungen: Zum ersten Mal seit Jahren hat die CHP die parlamentarische Unterstützung für die Verlängerung des Mandats für militärische Auslandseinsätze in Syrien und Irak über zwei Jahre <a href="https://t24.com.tr/haber/ankara-da-suriye-irak-tezkeresi-tartismasi-chp-neden-hayir-dedi,988647">verweigert</a>, weil sie befürchtet, dass es im Vorlauf zu den anstehenden Wahlen (Sommer 2023) zu einem erneuten Kriegsszenario für die innenpolitische Mobilisierung kommen könnte. Zudem haben CHP und teils auch IYI nun öffentlich die HDP als <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-opposition-parties-drop-hints-future-cooperation">legitime kurdische Repräsentation</a> im Parlament zur Lösung der „Kurdischen Frage“ anerkannt.</p><h4><i>Angepasster Hauptoppositionsblock</i></h4><p>Dennoch: Die Taktik des bürgerlichen Hauptoppositionsblockes bleibt seiner Grundausrichtung nach paternalistisch und teilweise angepasst an den Autoritarismus und das autoritäre Erbe der Türkischen Republik. Eine Perspektive, die über die Restauration des Neoliberalismus hinausgeht, ist nicht anvisiert.</p><p>Inhaltlich betrachtet werden weiterhin Elemente des türkischen Nationalismus und Chauvinismus bedient: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Hetze</a> gegen syrische Geflüchtete und die <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-hepimiz-sakin-olmaliyiz-afganlari-demokratik-yollarla-gondermek-zorundayiz,971595">oft geäußerte Absicht</a>, diese (alle!) „mit <a href="https://www.dunya.com/gundem/chp-lideri-kilicdaroglu-esad-ile-anlasmamiz-lazim-haberi-631961">Pauken und Trompeten</a>“ oder „auf demokratischen Wegen“ in ihre Heimatländer zurückzusenden, sollte der Oppositionsblock an die Macht kommen, gehören zum politischen Alltag des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks. Dies trifft problematischerweise auf sehr hohe Zustimmung (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/son-secim-anketi-imamoglu-18-yavas-15-puan-fark-atiyor-galeri-1531954">mehr als 80 Prozent</a> der Bevölkerung laut einer Umfrage). Mit dem Chef der faschistoiden MHP, Bahçeli, streitet Kılıçdaroğlu darüber, wer der <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-herkes-turkiye-nereye-dogru-savruluyor-diye-endise-icinde,988519">echtere Nationalist</a> ist. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Regierung wegen der abhängigen Finanzialisierung der Türkei dafür kritisiert, „<a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-genclere-seslendi-sorunlarinizi-cozmeyi-ahdettik-sizleri-universite-bitirdikten-sonra-issiz-birakan-duzeni-tepe-taklak-yikacagiz,995465">anti-national</a> und anti-autochton“ zu sein – dabei visiert der Hauptoppositionsblock die Restauration des Neoliberalismus und damit eben dieselbe abhängige Finanzialisierung an. Eine Stärkung von sozialen und Arbeiter*innenrechten inklusive der grundlegenden Revision der repressiven arbeitsrechtlichen und -organistorischen Bestimmungen (bzgl. Gewerkschaften oder des Streikrechts) findet sich bei diesen Parteien so selten wie im oben erwähnten Bericht des TÜSIAD. Noch bei einer der banalsten und simpelsten Protestformen, die Kılıçdaroğlu lancierte, namentlich über einige Tage hinweg seine Stromrechnung nicht zu bezahlen in Solidarität mit all jenen, die unter der massiven Erhöhung des Strompreises litten, machten die anderen mitte-rechten Oppositionsparteien nicht mit, weil sie den Protest <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkish-opposition-leader-loses-electricity-he-protests-high-prices">angeblich</a> zu „linkspopulistisch“ fanden. Ein erst vor eineinhalb Monaten deklariertes Manifest des Hauptoppositionsblocks für die Perspektive eines sogenannten „verstärkten parlamentarischen Systems“ <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/riza-turmen/guclendirilmis-parlamenter-sistem-ve-yeni-turkiye,34622">bekundet zwar</a> die Absicht der Zerschlagung des dezisionistischen Präsidialsystems, beinhaltet dafür aber weder einen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, noch auf die Probleme der Kurd*innen oder Alevit*innen, geschweige denn ein zum Neoliberalismus der 2000er-Jahre alternatives ökonomisches Programm.</p><p>Die Anerkennung der „Kurdischen Frage“ und der HDP bleibt auf sehr problematische Art und Weise inkonsequent (was Mesut Yeğen in seiner <a href="https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question">Auflistung</a> der wohlwollenden Bezüge der Hauptopposition zur HDP nicht hinreichend berücksichtigt): Einerseits dient diese „Anerkennung“ dazu, Abdullah Öcalan und die PKK als Verhandlungspartner*innen grundlegend abzulehnen. „Nennt mich nicht Kılıçdaroğlu, wenn ich dieses Nest Kandil [Kandilgebirge im Grenzgebiet Türkei-Irak-Iran, mutmaßliches Hauptquartier der PKK; Anm. d. Aut.] nicht dem Erdboden gleich mache“, <a href="https://www.haberturk.com/kilicdaroglu-kandil-i-yerle-yeksan-etmezsem-kilicdaroglu-demesinler-3241622">so Kılıçdaroğlu</a>. Er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-sinir-otesi-operasyon-yapan-tsk-ya-allah-bu-mubarek-ayda-mehmetcigimizin-ayagina-tas-degdirmesin,1028645">verteidigt</a> daher auch die derzeit laufende großangelegte Militäroffensive gegen das Kandilgebirge. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die PKK militärisch besiegt werden kann. Zudem genießen sie und Öcalan eine sehr hohe Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung. Auf die Kriegsoption zu setzen – wie es derzeit ja auch das Regime tut – wird daher nur den ewigen Krieg blutig fortsetzen und sicherlich nicht zu einem gesellschaftlichen Frieden beitragen. Andererseits ist aber auch die Anerkennung der HDP selbst nur halbherzig: IYI-Chefin Akşener <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-bugun-turkiye-de-kadin-hayir-dediginde-onun-iradesini-koruyacak-bir-hukuk-yok,990478">betont</a>, dass sie die HDP an der Seite der PKK sehen und die Nutzung des Worts „Kurdistan“ auf die „Terrororganisation“ (also die PKK) zurückgehe (was natürlich Humbug ist). CHP wie IYI unterstützten erneut die <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-hdp-li-semra-guzel-in-dokunulmazliginin-kaldirilmasina-evet-diyecegiz,1009164">Aufhebung der Parlamentsimmunität</a> einer HDP-Parlamentarierin wegen angeblicher „Terrorpropaganda“; die Kleinstpartei <i>Gelecek Partisi</i> (Zukunftspartei, GP) verteidigt <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bis heute aktiv</a> die früher getätigten Aufhebungen der Parlamentsimmunitäten von HDP-Abgeordneten. Einer eventuellen Schließung der HDP wegen terroristischer Aktivität macht Akşener die Forderung zur Kondition, dass dann auch der Partei der Prozess gemacht werden müsse, die mit ihr den „Friedensprozess“ geführt habe – also die AKP –, anstatt den Verbotsprozess grundlegend abzulehnen. Und <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/tusiad-baskani-merkez-bankasi-nin-attigi-faiz-indirimi-adimlari-ne-gercekten-piyasa-faizlerine-ne-de-ekonomiye-olumlu-yansiyor,33182">auch</a> der TÜSIAD ist der Meinung, dass Türkisch weiterhin Amts- und Schulsprache bleiben, das heißt, Kurdisch nicht offiziell als gleichwertig zu Türkisch gelten solle. Da war sogar der <a href="https://tusiad.org/tr/yayinlar/raporlar/item/1797-turkiyede-demokratiklesme-perspektifleri">TÜSIAD-Demokratiebericht 1997</a> weiter, da er die „Kurdische Frage“ als solche benannte und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht anerkannte. Wie sich die Akteur*innen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mit solchen Haltungen vorstellen, die „Kurdische Frage“ gelöst zu bekommen, bleibt fraglich. Da ist dann auch die „Anerkennung“ der HDP nicht viel wert und mehr oder minder nur ein Feigenblatt für die Fortsetzung des türkischen Nationalismus. Letzterer ist nicht gottgegeben, sondern veränderbar: <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bekir-agirdir-cozum-surecine-destek-yuzde-40-seviyesinde-hazirlanmamiz-lazim-haber-1561575">Eine</a> Metastudie des Meinungsforschungsinstituts KONDA <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/istanbulda-kurt-sorunu-tartisildi-kurtler-ayri-devlet-mi-istiyor-haber-1561536">konnte aufzeigen</a>, dass die Zustimmung zum „Friedensprozess“ in der Bevölkerung der Türkei innerhalb des letzten Jahrzehnts großen Schwankungen unterlag mit zeitweisen Spitzenwerten von bis zu 60 Prozent Zustimmung für denselben. Die AKP war einst mutiger als die heutige Opposition: Sie begann den „Friedensprozess“ in einer Zeit, als die Zustimmung zu diesem laut KONDA bei 30 Prozent lag. Sich stattdessen an den historisch und politisch erneut bewusst geförderten türkischen Nationalismus und Chauvinismus anzubiedern wie es die heutige Opposition teilweise tut, ist daher eine bewusste politische Entscheidung und ein bewusstes politisches Kalkül, aber keine objektive Notwendigkeit.</p><p>Formal betrachtet wird weiterhin Appeasement geübt an die ominöse „Einheit des Staates“ im Allgemeinen, an das Präsidialsystem im Besonderen:</p><p><a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/dikkat-ceken-gorusme-meral-aksener-chp-genel-merkezine-geldi-1878236">Absurderweise</a> stellten sich CHP wie IYI <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/dahiyane-bir-formul-41925619">direkt</a> <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-59028607">auf Regierungsseite</a>, als im Herbst letzten Jahres zehn Botschafter*innen die Türkei dazu ermahnten, sich bezüglich des Gerichtsverfahrens gegen den liberalen Mäzen Osman Kavala an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu halten. Dieser forderte nämlich eine sofortige Haftentlassung. Dabei hatte doch die Türkei aus eigener Entscheidung heraus die Entscheidungen des EGMR als oberstes Gericht vertraglich akzeptiert. Osman Kavala blieb weiterhin aus purer autoritärer Willkür – nämlich zwecks Abschreckung großbürgerlich-liberaler Opposition – inhaftiert und die eigentlich recht zahnlose Erklärung der Botschafter*innen wurde gezielt zu einem riesigen Theater seitens des Regimes aufgeblasen, um mal wieder chauvinistisch-pseudoantiimperialistisch Stärke zu demonstrieren. Mittlerweile ist Kavala zu lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt worden. Gewollt oder ungewollt hat die Opposition mit solchen Verhaltensweisen diesem politischen Urteil zugespielt.</p><p>Dabei eiern die Hauptoppositionsparteien teils immer noch sogar beim ganz banalen Minimalpunkt der Bekämpfung des Regimes herum, gemeint ist die Abschaffung des Präsidialsystems. Der Chef der <i>Saadet Partisi</i> (Glückseligkeitspartei, SP), die aus derselben politischen Tradition kommt wie einst die AKP, hielt es unter bestimmten Umständen <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogandan-karamollaogluna-sistem-iyi-bir-tek-501-mahsurlu-haber-1541538">nicht für absolut ausgeschlossen</a>, dass sie das Präsidialsystem unterstützen könnten; GP-Chef Davutoğlu <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bekundet</a>, dass sie sich natürlich mit der AKP an einen Tisch setzen würden, wenn diese „ihre Meinung ändert“. Derselbe Kılıçdaroğlu, der rechtswidrig/parteiisch agierende Bürokrat*innen mit Verfolgung bei Machtübernahme bedrohte, sprach zugleich davon, dass er sich ganz allgemein und umfassend „<a href="https://www.dw.com/tr/k%C4%B1l%C4%B1%C3%A7daro%C4%9Flundan-yeni-helalle%C5%9Fme-a%C3%A7%C4%B1klamas%C4%B1/a-59835688">aussöhnen</a>“ (<i>helalleşmek</i>) möchte. Dass sich diese Aussöhnung nicht, wie von führenden CHP-Kadern behauptet, ausschließlich auf eine Versöhnung der polarisierten Massen der Bevölkerung ausrichtete, sondern durchaus auch die Entschärfung des popularen Antagonismus zu Staat und Erdoğan beinhaltete, wurde kurz darauf deutlich. Als die CHP ausnahmsweise mal <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531">eine Massenkundgebung</a> veranstaltete, namentlich in Mersin im Rahmen der <i>Milletin Sesi</i>-Kundgebungen mit zehntausenden Beteiligten, da warnte Kılıçdaroğlu die kämpferische Menge davor, gegen das Statistische Amt zu wettern und einen Rücktritt Erdoğans zu fordern. Er hielt fest, dass jetzt nicht die Zeit des Kämpfens und des Konflikts sei, sondern die der Einheit und der Vereinigung. Aber wann sonst, wenn nicht in einer autoritär-faschistoiden Spirale und einer tiefen Wirtschafts- und Hegemoniekrise wäre denn die Zeit des Kämpfens?</p><p>Generell bleibt die Herangehensweise der beiden (mitte-)rechten Hauptoppositionsparteien weiterhin so, dass sie <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-den-erdogan-a-sokaga-dokulme-yaniti-nereden-baksaniz-acayiplik-sacmalik-derhal-bir-psikiyatriste-gorunmesini-tavsiye-ediyorum,1005907">explizit</a> Mobilisierungen auf die Straßen <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-erdogan-a-beyefendi-bizim-sokaga-cikmamizi-istiyor-cikmayacagiz-catisma-alani-yaratmak-istiyorlar-o-tuzaga-dusmeyecegiz,1005896"><i>ablehnen</i></a>. Hierzu äußerte sich CHP-Chef Kılıçdaroğlu <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">erst kürzlich</a> erneut ganz unmissverständlich: „Effektive Opposition ist das eine, ins Feld gehen etwas anderes. […] Ich möchte nur das eine: unser Volk soll entspannt bleiben, zumindest bis zu den Wahlen. Wir werden sowieso alle schwerwiegenden Probleme lösen, sobald wir an der Macht sind. […] Jetzt, kurz vor den Wahlen, dürfen wir uns nicht vom Palast [Erdoğans Präsidentenpalast; A. K.] provozieren lassen.“ Es war daher auch eine – freilich bisher einmalige – <a href="https://artigercek.com/haberler/deva-dan-sokaga-cikin-cagrisi">Überraschung</a>, als die Diyarbakır-Sektion der oppositionellen Kleinstpartei <i>Demokrasi ve Atılım Partisi</i> (Partei für Demokratie und Fortschritt, DEVA) im Oktober 2021 eine Kundgebung organisierte – mit dem Verweis, dass nur der Protest auf der Straße etwas bringe, nicht der in den eigenen vier Wänden.</p><h4><i>Das strategische Kalkül hinter der angezogenen Handbremse</i></h4><p>Alle diese Dinge stellen nicht Schwächen oder Mängel der Hauptopposition dar, sondern ein klar durchdachtes politisches Kalkül. Es ist offensichtlich, dass Massenmobilisierungen für die Opposition nur in Frage kommen, wenn sie <i>paternalistisch gegängelt und kontrolliert</i> werden können, damit sie den hegemoniepolitischen Rahmen, der vom Hauptoppositionsblock eng abgesteckt wird, nicht verlassen. Der Hauptoppositionsblock <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/685-conservatism-as-solution-can-the-nation-alliance-solve-turkey%E2%80%99s-problems">visiert</a> die Restauration des neoliberalen Regimes auf ökonomisch erhöhter Stufenleiter minus seiner derzeitigen dezisionistischen Struktur an, wobei aber autoritäre und nationalistische Ideologieelemente sowie eine die Bevölkerung nicht als aktives Subjekt anrufende politische Praxis beibehalten werden sollen. Diese sollen deshalb beibehalten werden, damit die Subalternen nicht selbständig und als aktive, gesellschaftsverändernde Subjekte gegenüber den Herrschenden auftreten können. Wo sich Nationalismus und Autoritarismus etabliert haben, erweisen sie sich neben ihrer repressiven Funktion gegen gegen-hegemoniale Akteur*innen als nützliche Formen, <i>subalternen Konsens für ansonsten intern extrem ungleiche und entrechtende Regime</i> herzustellen. Die ominöse und allseits beschworene Einheit des Staates, die nichts anderes als die Verewigung der Gängelung relativ selbständiger Politik und sozialer Kämpfe ist, gereicht zwar dem jeweils dominanten politischen Regime am meisten zum Vorteil, da es auch das Terrain bürgerlich-oppositioneller Politik enger absteckt. Die Opposition kann aber immer darauf hoffen, selbst eines Tages diese Ressource anzapfen zu können. Von selbst auf die hegemonialen Ressourcen von Nationalismus, Autoritarismus und Staatsfetischismus zu verzichten, das mag derzeit offensichtlich niemand im bürgerlichen Hauptoppositionsblock der Türkei.</p><p>(Links-)Liberale Analytiker*innen sind daher oft <a href="https://www.justsecurity.org/79306/might-the-turkish-electorate-be-ready-to-say-goodbye-to-erdogan-after-two-decades-in-power/">allzu vorschnell</a> in ihrer <a href="https://www.politikyol.com/turkiyenin-gelisen-yeni-modeli/">Begeisterung</a> für das <a href="https://pomed.org/opposition-leaders-unveil-plan-to-democratize-turkey/">Demokratisierungspotenzial</a> des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks und seiner <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Erfolgsaussichten</a>. Die <a href="https://mavidefter.net/joachim-beckerle-roportaj-macaristan-secimleri-ve-altili-muhalafetin-basarisiz-sinavi/">kürzlich</a> erfolgte vernichtende Niederlage des <a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/orban-victorious">restaurativ-neoliberalen ungarischen Hauptoppositionsblocks</a>, der als Vorbild des Blocks in der Türkei diskutiert wurde, hätte ein Weckruf sein können. Aber CHP-Chef Kılıçdaroğlu ist der Meinung, dass es <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">keine Ähnlichkeiten</a> mit der Situation in Ungarn gäbe, weil dort die Opposition hauptsächlich aus linken Parteien bestünde und die Wirtschaft in einem guten Zustand sei. Was sonst folgt daraus als dass die Hauptoppositionspartei eben auf eine rechte Politik und die Tiefe der Wirtschaftskrise vertraut als Garanten für einen Wahlsieg? Die <a href="https://sendika.org/2021/09/direnis-fraksiyonu-630629/">Beschränkung der Kritik</a> durch den Hauptoppositionsblock in der Türkei auf eine „Regierungs-/Verwaltungsunfähigkeit“ des Regimes und das Klientelkapital bei Übernahme nationalistischer und autoritärer Muster dient exakt der Dethematisierung der neoliberal-autoritären Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsformation in der Türkei. Es bleibt sehr fraglich, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/bekir-agirdir/yeni-ak-parti-olmak-meseleyi-cozer-mi,33003">ob</a> eine solche Perspektive, die kaum einen positiven Entwurf für die Türkei – außer der Behebung der als Mängel wahrgenommenen autoritären Züge des Präsidialsystems – beinhaltet, die Menschen tatsächlich positiv begeistern und damit die Identifikation mit den Regimeparteien zugunsten eines neuen Konsens brechen kann.</p><p>Denn <a href="https://yetkinreport.com/2021/08/16/akpden-kopan-secmen-neden-beklemede/">a</a>uch wenn die „negative Identitätsbildung“ bei AKP-MHP-Wähler*innen abnimmt (also Identifizierung mit AKP und/oder MHP aufgrund der Abgrenzung gegenüber den Oppositionsparteien), <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-12-puanlik-akp-ve-mhp-secmeni-kararsiz,1021981">bleibt</a> der Anteil der unter anderem trotz Abwendung oder Infragestellung von AKP/MHP <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-kararsizlarin-erdogan-a-oy-verme-egilimi-nasil,1022661">unsicher oder schwankend</a> verbleibenden Wähler*innen mit <a href="https://tr.euronews.com/2021/10/12/2023-cumhurbaskanl-g-secimleri-son-anketler-ne-diyor">um die 20 bis 25 Prozent</a> Anteil an allen Wahlberechtigten <a href="https://tr.euronews.com/2021/09/21/turkiye-raporu-anketi-ak-parti-nin-oylar-yuzde-30-un-alt-na-geriledi">hoch</a>. Eine Wähler*innenbewegung setzt, wenn überhaupt, dann zur rechtsnationalistischen IYI ein. Dabei ist die <a href="https://t24.com.tr/haber/orc-arastirma-son-secimde-erdogan-a-oy-verenlerin-yaklasik-yuzde-40-i-erken-secimin-ihtiyac-oldugunu-soyledi,980001">Unzufriedenheit</a> bei AKP- bzw. Erdoğanwähler*innen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/carpici-ekonomi-arastirmasi-10-kisiden-9unun-gorusu-ayni-1916355">insbesondere</a> angesichts der vertieften Wirtschaftskrise – so <a href="https://t24.com.tr/haber/ipsos-arastirmasi-turkiye-de-vatandaslarin-yuzde-82-si-ekonomi-kotu-diyor,1031825">wie im Rest</a> der Bevölkerung <a href="https://www.bloomberght.com/her-10-kisiden-dordu-ailesinden-maddi-destek-aldi-2304784">auch</a> – vergleichsweise hoch, das Wirtschaftsmanagement wird von (<a href="https://t24.com.tr/haber/mak-arastirma-baskani-herkes-ekonomi-kotu-yonetiliyor-diyor-hukumet-bunu-hic-uzerine-almiyor,1024330">über</a>) <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/metropollden-ekonomi-anketi-ak-parti-ve-mhp-secmeni-iktidar-ekonomiyi-yonetemiyor-galeri-1540308">80 Prozent</a> als schlecht bewertet. Auch wird weiterhin über das <a href="https://www.dw.com/tr/konda-y%C3%BCzde-69-adalete-g%C3%BCvenmiyor/a-59436393">marode Justizsystem</a> und die <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-75-i-oy-almak-icin-dinin-siyasette-kullanilmasini-onaylamiyor,984192">Nutzung der</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-72-si-diyanetin-ve-din-adamlarinin-siyasetle-ugrasmalarini-yanlis-buluyor,984405">Religion zu politischen Zwecken</a> Unzufriedenheit geäußert. Eine <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-secmenlerin-84-5-i-hayat-pahaliliginin-artmaya-devam-edecegini-dusunuyor,990462">pessimistische Sicht</a> auf die Zukunft, insbesondere <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/iste-devletin-yaptirdigi-en-buyuk-secim-anketi/649485">unter Jugendlichen</a>, nimmt stark zu. Dennoch ist insbesondere unter AKP-Wähler*innen weiterhin der Glaube stark, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/10/will-turkeys-opposition-blow-golden-opportunity-beat-erdogan">dass es</a> die Opposition <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/mak-anketi-secmenin-yuzde-41-i-oy-verdigi-partiyi-degistirecek-secmenin-yuzde-42-si-erdogan-a-asla-oy-vermem-diyor,13531/3">nicht besser</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-halkin-muhalefetin-ekonomik-sorunlari-cozecegine-dair-guveni-gittikce-azaliyor,994774">kö</a>nne, beziehungsweise bei einem potenziellen Machtantritt „erneut“ <a href="https://yetkinreport.com/2022/01/18/sadece-ekonomik-kriz-iktidara-secim-kaybettirir-mi/">massive Repression</a> betreiben würde (in der Ideologie der AKP ist die Opposition Schuld an der Unterdrückung muslimischer Identitäten in der Vergangenheit). <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-halkin-yuzde-46-si-muhalefet-liderlerinin-28-subat-ta-duzenledigi-toplantidan-habersiz,1024225">Fast die Hälfte</a> der Bevölkerung weiß gar nicht, dass sich die bürgerlichen Oppositionsparteien auf einer gemeinsamen Konferenz zum Beschluss einer gemeinsamen politischen Strategie getroffen haben. Die teils auf Polarisierung, Chauvinismus, Angst und Panikmache basierende und von der AKP und Erdoğan aktiv hergestellte Identität unter ihren Wähler*innen hält, zumindest angesichts der Tiefe der Wirtschafts- und allgemeinen Hegemoniekrise, weiterhin <a href="https://yetkinreport.com/en/2021/10/26/how-do-the-low-income-akp-voters-get-poorer-but-not-flee/">erstaunlich gut</a>. Sie ist daher weiterhin ein Beleg für die relative Autonomie des Politischen und der dem Politischen immanenten Vergegenständlichungen (Identitäten, Polarisierungen, Subjektivierungsformen etc.). Nur das Erkämpfen realer Handlungsmacht auf Grundlage einer positiven, inklusiven Perspektive und einer alternativen politischen Ökonomie für die Zukunft der Türkei kann jene Identität vollumfänglich aufbrechen und sie grundlegend durch neue ersetzen.</p><h4><i>Sanfter Übergang oder radikaler Bruch?</i></h4><p>Aber angenommen, die an das Bestehende angepassten Taktiken des Hauptoppositionsblocks würden aufgehen und die Wahlen von diesem Block gewonnen werden: Mit der geplanten Restauration des Neoliberalismus und der Fortsetzung autoritärer und chauvinistischer Elemente, ja vielleicht sogar mit einer nur halbgaren Abrechnung mit dem alten System werden all die hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit eines erneuten autoritären <i>backlashs</i> reproduziert.</p><p>Es ist ein bekannter oppositioneller Akademiker, der ohne Scham offen ausspricht und einfordert, was unausgesprochen als reale Möglichkeit im derzeitigen Vorgehen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mitschwingt: Namentlich bei einem (Wahl-)Sieg über Erdoğan diesem und seiner Familie <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Amnestie zu gewähren</a>, um einen „sanften Übergang“ zu gewährleisten. Ein paar Linke seien bestimmt gegen diese besonders gewiefte Taktik, aber sie sei schon die wirklich vernünftige. Das Militär könne ja diesen Übergang überwachen. Die ungeheuerlichen Folgen, die eine solche Absegnung autoritärer Willkürherrschaft und des Klientelismus durch eine siegreiche Opposition dazu noch unter erneuter Gängelung des Militärs mit sich bringen würde, ist jenem Akademiker augenscheinlich nicht einen Gedanken wert. Man fragt sich: Ist es denn keine Lektion gewesen, dass die Straflosigkeit der Akteur*innen des „Tiefen Staates“ der 1990er jetzt dazu führt, dass derselbe brutalisierte Chauvinismus wieder um sich greift und zentrale Akteur*innen jenes „Tiefen Staates“ – Sedat Peker, Mehmet Ağar, Süleyman Soylu, Tansu Çiller und andere – heute wieder fröhliche Urstände feiern? Ganz zu schweigen davon, was die Jahrzehnte der Dominanz des Militärapparats innerhalb des Staates an Schaden angerichtet hat. Müsste man nicht gerade als Liberaler weit über das Präsidialsystem Erdoğans hinaus die konsequenteste und umfassendste Abrechnung mit dem nicht-liberalen Erbe der Türkei fordern, „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war“ (Fritz Bauer in Anlehnung an Henrik Ibsen), damit sich das Inhumane nie wieder wiederhole? Aber hier scheinen eben die Grenzen dieses angepassten Liberalismus auf.</p><p>In der Türkei gibt es indes genug Kämpfe und soziale Dynamiken, die das Potenzial haben, weit über die Dialektik zwischen autoritärer Konsolidierung und neoliberaler Restauration hinauszuweisen. Gerade der Zermürbung, Atomisierung und Zerschlagung dieses Potenzials dienen solche Entwicklungen wie die drakonischen Strafen im Zuge des Gezi-Prozesses. Eben deshalb ist die Massenmobilisierung und der aktive politische Kampf wichtig, um der Zermürbung und der Demoralisierung Einhalt zu gebieten. Denn das Potenzial jener sozialen Dynamiken und Kämpfe kann sich, auf Grundlage gemeinsamer Handlungsmacht und zu erkämpfenden Errungenschaften, durchaus mit den progressiven und demokratischen Elementen/Tendenzen in der AKP-MHP-Wähler*innenbasis verbinden und deren widersprüchliches Alltagsbewusstsein klarer von seinen reaktionären und chauvinistischen Elementen befreien. Damit können die Grundlagen für eine popular-demokratische Perspektive geschaffen werden. Das wird aber nicht klappen, wenn man sich opportunistisch oder gar aus Überzeugung an die rückständigsten und reaktionärsten Tendenzen innerhalb der Bevölkerung anpasst, statt in erster Linie das schon vorhandene und sich in jahrelangen Kämpfen bildende Oppositions- und Demokratisierungspotenzial zu schützen und aufzubauen. Dafür und für eine Ausstrahlung jenes Potenzials auch auf die Regimebasis bedarf es einer starken, koordiniert kämpfenden revolutionären Linken im Bündnis mit der kurdischen Bewegung. Die Stärkung dieses Bündnisses und seiner Beteiligten ist die einzige Garantie für die Demokratisierung der Türkei. Alles andere beherbergt die Gefahr der Fortsetzung oder Wiederholung der Tragödie.</p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Ich danke Axel Gehring und Johanna Bröse für viele, viele Rückmeldungen, Korrekturvorschläge und Kritiken.</p><p><b>[2]</b> Im übrigen zeigen die klassisch neoliberal-populistischen „Gegenmaßnahmen“ der Regierung gegen die Auswirkungen der Inflation, dass die Regierung gegen alle ideologische Hybris sowie „Terrorismus“-Gedröhn angesichts sozialer Proteste sehr wohl weiß, wie drängend die sozialen und ökonomischen Probleme, die ja erst zu jenen Protesten führen, für einen Großteil der Bevölkerung geworden sind. Die Maßnahmen sind klassisch neoliberal-populistisch, weil sie nur sehr milde Elemente von Fiskalpolitik zwecks überschaubarer Umverteilung beinhalten, die zudem die Kapitalseite nicht berühren, anstatt auf kollektive Rechte oder gar Veränderungen in der Arbeitswelt zu setzen oder die Menschen selbst als aktive, gestaltende Subjekte anzurufen.</p><p><b>[3]</b> Laut geltendem Gesetz darf ein Präsidentschaftskandidat nur zwei mal das Präsidentschaftsamt innehaben, außer er selbst löst das Parlament während einer seiner Amtszeiten auf und forciert vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, wobei dann parallel dazu auch der Präsident neu gewählt wird. Erdoğan wurde 2014 zum Präsidenten gewählt und 2018 nochmal, aber zwischen beiden Wahlen fand die das Präsidialsystem einführende Verfassungsänderung statt. Daher wurde Erdoğan laut seinen Verteidiger*innen bisher nur ein mal gewählt nach derjenigen Verfassung, die die Auflage der zwei Amtsperioden beinhaltet, und kann daher noch einmal antreten. Die Kritiker*innen hingegen sind der Meinung, dass die Verfassungsänderung nichts am Tatbestand ändert, dass Erdoğan schon zwei mal Präsident war/ist und daher nicht erneut zur Wahl antreten kann.</p></div>
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<div class="rich-text"><p>Gestern entschied die Hohe Wahlbehörde der Türkei (YSK) mit sieben gegen vier Stimmen, dass die Wahlen zum Bürgermeisteramt der Großstadt Istanbul annulliert und am 23. Juni wiederholt werden müssen. Gewonnen hatte die Wahl der Kandidat der Hauptoppositionspartei CHP, Ekrem Imamoğlu, der zugleich von fast allen oppositionellen Parteien unterstützt wurde.</p><p>Diese Entscheidung wurde begründet mit der Behauptung, dass einige Wahlurnenvorsitzenden keine Beamten gewesen seien. Angesichts all der Irregularitäten bei jeder Wahl in der Türkei – von denen in den letzten Jahren bisher keine wiederholt wurde – ist das eine lachhafte Begründung. Noch absurder wird diese Entscheidung durch die Tatsache, dass bei der Wahl am 31. März vier verschiedene Stimmzettel im selben Kuvert in die selbe Wahlurne geworfen wurden (Großstadt, Bezirk, Stadtparlament und Nachbarschaftsvorstand). Wie ist es dann zu erklären, dass nur eine dieser vier unterschiedlichen Wahlen annulliert wurde, nämlich die Wahl zum Oberbürgermeisteramt der Großstadt Istanbul? Und wieso wurden davor schon alle Anträge der HDP in anderen Provinzen, die mit nur minimalem Unterschied entschieden wurden und wo es offensichtlichere Beweise für Fälschung gibt, abgelehnt? Außerdem waren auch in früheren Wahlen nicht alle Wahlvorsitzenden Beamte. Es ist also völlig klar, dass diese Entscheidung der YSK keine „technische“ oder „juristische“ ist, sondern eine eminent politische. Und diese Entscheidung sollte als das benannt werden, was sie ist: ein ziviler Putschversuch Erdoğans und seiner Verbündeten.</p><p><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">In unserer Analyse direkt nach den Lokalwahlen</a> haben wir darauf hingewiesen, dass die Wahlen – besonders in Istanbul – umkämpft blieben. Es ging dabei freilich nicht nur darum, wer den nächste Oberbürgermeister von Istanbul stellen wird. Es ging um die Zukunft der Türkei und um die Zukunft des bestehenden AKP-MHP Regimes und ihrer Verbündeten in Staat und Gesellschaft.</p><p>Die Entscheidung des YSK wird vermutlich zu einer Vertiefung der Hegemoniekrise des Regimes führen. Die Entscheidung fiel in einer ohnehin schon von multiplen Krisen durchzogenen Situation statt. Die offensichtlichste und drängendste Krise ist <a href="https://www.jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">die ökonomische Krise</a>. Die Lage hat sich nach den Wahlen nicht verbessert, ganz im Gegenteil: das Schlimmste steht wohl erst bevor. Die offiziellen Statistiken sind aufgrund eigenwilliger Berechnungsmethoden mit Vorsicht zu gebrauchen, aber selbst gemäß der offiziellen Daten hat die Arbeitslosigkeit im Januar 2019 14,7 Prozent erreicht, die Jugendarbeitslosigkeit sogar 26,9 Prozent. Die Lira hat weiter an Wert verloren und stürzte in den letzten Tagen nochmal besonders ab. Anzeichen auch auf nur eine leichte Erholung im produktiven Sektor gibt es nicht.</p><p>Weiters gibt es einen fortdauernden Kampf um die Position der Türkei im Weltsystem. Das Verhältnis zur USA und zur NATO ist wieder einmal angespannt, nachdem die Türkei nicht von der Entscheidung zurücktrat das russische S-400 Raketensystem zu kaufen. US Vizepräsident <a href="https://www.rt.com/news/455485-turkey-must-choose-between-remaining/">Mike Pence meinte daraufhin harsch</a>, dass sich die Türkei zwischen Russland und der NATO entscheiden müsse. Außerdem steht die Einführung der Iran-Sanktionen auch für die Türkei an.</p><p>Ein weiteres wichtiges Ereignis ereignete sich nur wenige Stunden vor der Erklärung der YSK. Nach etwa acht Jahren durfte Abdullah Öcalan, der inhaftierte ehemalige Vorsitzende der PKK, zum ersten Mal von Anwält*innen auf der Gefängnisinsel Imralı besucht werden. Öcalan und drei weitere Inhaftierte gaben eine kurze <a href="https://t24.com.tr/haber/ysk-nin-istanbul-secimiyle-ilgili-karar-oturumu-basladi,819884">Erklärung</a> ab, die von den Anwält*innen verlesen wurde. Diese Erklärung wurde von manchen Beobachter*innen als Aufruf zu einer Rückkehr zum Lösungsprozess zwischen türkischem Staat und kurdischer Bewegung verstanden. Die zeitliche Koinzidenz führte einige dazu zu behaupten, dass sich die Kurd*innen mit Erdoğan arrangiert hätten. Davon fand sich jedoch nichts in der Erklärung und ein Friedensprozess mit dem momentanen Regime scheint ohnehin undenkbar. Die PKK-Inhaftierten erklärten entgegen des Statements von Öcalan die <a href="http://sendika63.org/2019/05/aclik-grevindeki-mahpuslar-talebimiz-kabul-edilinceye-kadar-eylemimiz-surecek-546894/">Fortführung</a> ihres Hungerstreiks – Öcalan bevorzugte ein Ende desselben –, die HDP gab kund, dass sie dieselbe Strategie verfolgen werde wie am 31. März – sie hatte in Istanbul und anderen Städten die CHP unterstützt und wurde somit zum Königsmacher – und lud zu einem gemeinsamen Kampf „<a href="http://sendika63.org/2019/05/hdp-dun-ne-yaptiysak-yarin-da-onu-yapmaya-devam-edecegiz-546857/">gegen den Faschismus</a>“ ein.</p><h2><b>Herrschender Block im Widerstreit</b></h2><p>Was also waren die wirklichen Gründe für die Annullierung der Wahlergebnisse in Istanbul?</p><p>Zum einen hatten schon direkt nach der Wahl Kräfte innerhalb der AKP die Gültigkeit der Wahlergebnisse mit fadenscheinigen Gründen angezweifelt. Es hat fast drei Wochen gedauert, bis die Stimmen in vielen Bezirken Istanbuls auf Antrag der AKP wegen „Irregularitäten“ ausgezählt wurden. Am Endergebnis konnten sie nichts ändern. Also musste sich die AKP einen neuen Vorwand ausdenken.</p><p>Der herrschende Block hatte allerdings von Anfang an keine einheitliche Position oder Strategie nach den Wahlen. Es gab auch Kräfte in und nahe der AKP, die die Ergebnisse akzeptieren wollten und die AKP zur Selbstkritik aufriefen.</p><p>Es ist offensichtlich, dass die unterschiedlichen Teile des Regimes in Panik gerieten wegen den Wahlergebnissen und insbesondere wegen dem Möglichkeitshorizont, der sich damit für oppositionelle Kräfte öffnete. Die anfängliche Unsicherheit über den Umgang mit den Ergebnisse spiegelte sich auch in Erdoğan höchstpersönlich wider. Er oszillierte schon in der Wahlnacht zwischen einer selbstbewussten Akzeptanz der Wahlergebnisse und einer aggressiven Angriffshaltung. Es dauerte bis zum 4. Mai, bis er sich klar und <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-48160753">eindeutig</a> positionierte indem er den YSK dazu aufrief, die Wahlen in Istanbul wegen Wahlbetrugs zu annullieren und neue anzuberaumen. Damit kündigte er im Prinzip schon den gestrigen Beschluss an.</p><p>Ein besonders aktiver Akteur in der Phase nach den Wahlen war der TÜSIAD, die Lobbyvereinigung des Großkapitals in der Türkei schlechthin. Schon in der Wahlnacht rief der TÜSIAD zu wichtigen ökonomischen Reformen auf. Es fiel auf, dass Erdoğan dieselbe Rhetorik verfolgte in seinen Wahlnachtansprachen. Der TÜSIAD wies mehrmals darauf hin, dass der Wahlzyklus nun vorbei ist und sich alles um die Wirtschaft drehen müsse. Symbolschwer besuchte der TÜSIAD Erdoğan in seinem 1.150-Zimmer Palast zum Internationalen Arbeiter*innenkampftag, dem 1. Mai. Gleichzeitig aber besuchte der Chef der Koç-Gruppe – die größte finanzkapitalistische Gruppe der Türkei – Ekrem Imamoğlu am Tag der YSK-Entscheidung zu den Wahlen in Istanbul. Nach der YSK-Entscheidung gab der TÜSIAD zu verstehen, dass er die Entwicklung „<a href="http://sendika63.org/2019/05/tusiad-secim-ortamina-donmek-kaygi-verici-546737/">besorgniserregend</a>“ finde.</p><p>Während das Großkapital extrem besorgt ist um die sich verschärfende Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit der Hegemoniekrise, ist Istanbul offensichtlich zu wichtig für das Regime, um darauf verzichten zu können. Neben seiner kulturellen, historischen und symbolischen Bedeutung ist Istanbul vor allem das Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt 20 Prozent der Bevölkerung der Türkei.</p><p>Zweitens zeichnete sich die AKP-Herrschaft in Istanbul durch ausufernde Korruption aus, die die Opposition jetzt aufdecken könnte. Sowas würde höchstwahrscheinlich zu einem noch schwereren Reputationsverlust der AKP führen. Als Ekrem Imamoğlu die Kopie aller Datenbanken der Munizipalität der letzten Jahre zwecks Überprüfung orderte, wurde dies dementsprechend umgehend gerichtlich <a href="https://ahvalnews.com/ekrem-imamoglu/turkish-court-halts-new-istanbul-mayors-order-copy-municipality-database">unterbunden</a>.</p><p>Und nicht zuletzt ließ sich eine Veränderung der allgemeinen Mentalität wahrnehmen, nachdem die AKP die größten Städte bei den Wahlen verlor. Angesichts des Grades der Faschisierung des derzeitigen Regimes und auf dem Hintergrund der Wirtschaftskrise besitzt dasselbe offensichtlich keine Flexibilität mehr, um eine potenziell neu entstehende Welle der Hoffnung in der Bevölkerung auf Veränderung einzuhegen.</p><h2><b>Rückkehr des Horrors?</b></h2><p>Es ist im mindesten naiv anzunehmen, das Regime habe Neuwahlen in Istanbul erzwungen, um dann „hoffentlich“ ein besseres Ergebnis einzufahren. Sie werden ganz sicher einen Plan haben, wie sie dieses Ziel aktiv herbeiführen. Das heißt aber nicht, dass ihr Plan auch aufgehen wird. Viel wird davon abhängen, was die Opposition und insbesondere die popularen Kräfte dem entgegenzusetzen haben.</p><p>Das Land machte schon einmal einen ähnlichen Prozess durch, nämlich als die AKP im Juni 2015 die Mehrheit verlor. Auch damals schon optierte die AKP für Neuwahlen, die dann im November 2015 stattfanden. In der Zwischenzeit wurde das Land in Blut getränkt, Krieg und Bomben dominierten den Alltag. <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-secim-yenilenirse-istanbul-u-aliriz,819245">Tatsächlich</a> verwies Erdoğan höchstpersönlich vor ein paar Tagen auf diese Periode hin, als er argumentierte sie würden Istanbul wieder gewinnen im Fall von Neuwahlen. Sie werden vermutlich alles auf die Karte setzen, die Opposition über die „Kurdenfrage“ und den „Kampf gegen den Terrorismus“ zu spalten. Und eventuell werden wieder die Bomben hochgehen.</p><p>Ein Beispiel für die „Wahlkampfstrategie“ des Regimes wurde am 22. April 2019 gegeben, als der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu von einem Mob fast <a href="https://bianet.org/english/politics/207710-attack-against-chp-chair-kemal-kilicdaroglu-at-the-funeral-of-a-soldier">gelyncht</a> wurde auf einem Soldatenbegräbnis bei Ankara. Es waren kaum Sicherheitskräfte vor Ort. Hulusi Akar, der ehemalige Generalstabschef und derzeitiger Verteidigungsminister, war vor Ort und richtete sich an den Mob mit den <a href="https://bianet.org/english/politics/207710-attack-against-chp-chair-kemal-kilicdaroglu-at-the-funeral-of-a-soldier">Worten</a>: „meine verehrten Freunde“, und meinte: „ihr habt eure Botschaft gegeben“. Der Lynchversuch war organisiert, einige Teilnehmer stellten sich später als AKP-Mitglieder heraus – und wurden nach kurzer Zeit wieder aus der Haft entlassen.</p><p>Die „Botschaft“ ist in der Tat klar: Das Regime kann und wird seine paramilitärischen Kräfte und den Mob im Vorlauf zu den Wahlen nutzen. Der Faschisierungsprozess ist irreversibel vom Standpunkt des derzeitigen Regimes. Jede populare Opposition muss sofort unterdrückt werden, denn sonst könnte ziemlich schnell ein neuer Wind wehen. Aber die Notwendigkeit zur verschärfteren Repression ist zugleich ein weiterer Verlust der Fähigkeit ohne Gewalt zu regieren, so dass dem Regime nur mehr die Option bleibt, den Faschisierungsprozess noch weiter voranzutreiben.</p><h2><b>Populare Macht gegen den Faschismus</b></h2><p>Auf die Entscheidung des YSK folgten Massenproteste in vielen Bezirken Istanbuls. Der Bürgermeister der Stadt, Ekrem Imamoğlu, hielt eine Ansprache in derselben Nacht. Diesmal änderte er seinen bisherigen Stil und seine Rhetorik, wurde kämpferischer und agierte allgemein so, wie es ein Führer einer popularen Massenbewegung tut. Er wird erneut als CHP-Kandidat am 23. Juni antreten. Die CHP entschied sich also aktiv gegen einen Wahlboykott, was auf Grundlage der Stimmung in der Bevölkerung zwar möglich gewesen wäre, aber sicherlich ein Risiko beinhaltet, das die CHP als Staatspartei einzugehen nicht bereit ist.</p><p>Während wir nicht genau vorhersehen können, was jetzt passiert, können wir mit Sicherheit festhalten, dass die Annullierung der Wahlen ein hochriskantes Manöver von Erdoğan und seinen Verbündeten war, um die Kräfteverhältnisse in ihrem Sinne zu biegen. Abhängig von der Reaktion und Aktion der anderen Akteure kann diese Aktion aber auch nach hinten losgehen und das Regime in eine noch tiefere Krise stürzen.</p><p>Die spontanen Massenproteste der Menschen auf den Straßen, die die Slogans und Symbole des Gezi-Aufstandes 2013 wiederbelebten, sind eine positive Entwicklung, die von den popularen und demokratischen Kräften verstärkt werden muss. Der Ausgang der derzeitigen Kämpfe wird von den popularen Kräften entschieden werden. Wenn sie die Initiative übernehmen und den Erfolg des zivilen Putschversuch des Regimes verhindern können, dann erst kann sich ein Demokratisierungsprozess in der Türkei einstellen.</p></div>
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