re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=7092019-08-02T12:20:14.513936+00:00Gilets Jaunes - Zwischen Widerspruch und Hoffnung2019-06-28T09:26:41.827655+00:002019-08-02T12:20:14.513936+00:00Timo Brym und Tina Habermalzredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/gilets-jaunes-zwischen-widerspruch-und-hoffnung/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Gilets Jaunes - Zwischen Widerspruch und Hoffnung</h1>
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<span class="content-copyright">Christophe Becker | CC-BY-NC-ND 2.0</span>
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<div class="rich-text"><p>Die Gilets Jaunes, die sogenannten<a href="https://revoltmag.org/articles/unterwegs-mit-den-rebellinnen-die-bewegung-der-gilets-jaunes/">„Gelbwesten“</a>, und die wöchentlichen Riots auf den Straßen Frankreichs liefern jede Woche aufs Neue Bilder eines rebellischen Frankreichs von Paris bis Lyon. Doch dass Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus, dass Banlieu-Kids, die Basis der Gewerkschaften und Abgehängte, von Schüler*innen bis Rentner*innen dort in einer Revolte zusammenfließen, scheint weite Teile der deutschen radikalen Linken bislang kalt zu lassen. Dies kritisierte schon der Artikel <a href="https://revoltmag.org/articles/die-gelbe-weste-und-wir/">„Die gelbe Weste und Wir“</a>, der im Februar im re:volt magazine erschien. Darin wird nicht nur ein Umdenken eingefordert, was die Rolle der radikalen Linken in sozialen Kämpfen anbelangt, sondern einhergehend damit, Antifa-Strategien erneut zu überdenken. Als Zeichen der Solidarität mit den französischen Genoss*innen beziehen die Autor*innen Position für ein aktives Einmischen hierzulande. Es solle darum gehen, Rechte mittels der eigenen Intervention aus Strukturen zu drängen und dadurch eine linke Deutungshoheit zu gewinnen. Im Gegensatz dazu sehen sie Blockaden hiesiger Gelbwesten-Demonstrationen als eine falsche Haltung an, da diese ein falsches Bild auf die französischen Kämpfe werfe. In der Folge entstand eine Debatte, in der sich auch kritische Stimmen zur vorgestellten Position <a href="https://revoltmag.org/articles/unkenrufe-von-der-klassenfront/">zu Wort meldeten</a>.</p><p>Es ist aus unserer Sicht zu begrüßen, dass die radikale Linke sich mit den Gilets Jaunes auseinandersetzt und sich auch positiv zu diesen positioniert. Dass auch Rechte in Frankreich immer wieder bei diesen Protesten in Erscheinung treten, ist kein Grund, sich abzuwenden. Die Berichte, nach denen im Zuge der Europawahl bei <a href="https://www.huffingtonpost.fr/entry/resultats-europeennes-2019-pour-qui-ont-vote-les-gilets-jaunes_fr_5ceaf34ee4b00e0365707bc5">einer Befragung</a> der Gilets Jaunes-nahen Bevölkerung über vierzig Prozent den „Rassemblement National“ (ehemalig „Front National“) gewählt hätten, müssen kritisch eingeordnet werden: Zunächst einmal ist die Bewegung keine homogene Gruppe, über die sich so einfach generalisierende Aussagen machen lässt. Weiter bleibt unklar, wer bei einer solchen Befragung überhaupt antwortetet und wer nicht. Zudem bezieht diese nur diejenigen mit ein, die überhaupt noch Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung durch Wahlen haben. Diese Ambivalenzen bedeuten für uns vielmehr, den Genoss*innen vor Ort, die wöchentlich die antifaschistische Auseinandersetzung suchen, aktiv beizustehen. Gleichzeitig ist die Situation und Verfasstheit der Proteste in Frankreich aber dann doch nicht so einfach zu verstehen. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen, wie sich diese Revolte beschreiben lässt. Was können wir aus ihr lernen? Wie können wir unsere Genoss*innen vor Ort unterstützen? Und wie gehen wir mit von Rechten dominierten „Gelbwesten“-Demonstrationen in Deutschland um?</p><h2>Die Revolte aus dem Nichts</h2><p>Was sich gerade in Frankreich zuträgt, widerspricht allen Regeln der etablierten Demonstrationskultur. Die Bewegung der Gilets Jaunes zeichnet sich durch immer wiederkehrende wilde, unangemeldete, normbrechende Demos aus. Ursprünglich einem Protest gegen die Erhöhung der Benzinsteuer entsprungen, verselbstständigte sich die Bewegung rasant. Schüler*innen, Arbeiter*innen, Rentner*innen, Kids aus den Pariser Vororten und viele mehr treffen im Herzen von Paris aufeinander und widersetzen sich der etablierten Demonstrationskultur - etwa einer angemeldeten Demonstrationsroute oder einer gewerkschaftlichen Laufordnung. Eine Menge, die mit verschiedenen Aktionsformen und Parolen unkontrolliert durch die Straßen zieht, dabei Banken, Autos und Geschäfte zerstört, sich vor der Polizei verteidigt, oder diese aktiv angreift. Währenddessen wählen wieder andere friedliche Aktionsformen. Diese Widersprüchlichkeit und Spontanität der Bewegung, ihre Unkontrollierbarkeit und der Umstand, dabei keine gemeinsame Forderung zu haben außer ihrer geteilten Wut. Das zeichnet die Gilets Jaunes aus und macht sie gleichzeitig auch so schwer zu fassen.</p><p>Eine Revolte oder ein Riot ist in seinem Kern erst einmal weder gut noch schlecht, sondern lebt durch seine Spontanität. Es handelt sich um eine Gemengelage, in der sich auch revolutionäres Potenzial finden lässt. Sie (die Revolte) ist nicht ausschließlich unten gegen oben, sondern von zahlreichen Widersprüchen geprägt, da diverse Akteur*innen mit verschiedenen sozialen und politischen Hintergründen teilnehmen. Es gibt eben keine Adressat*innen, lediglich die Forderung nach Veränderung, die sich zumeist erst einmal in einer umfassenden Ablehnung gesellschaftlicher Verhältnisse ausdrückt. Es gibt zwar einen „offiziellen” Katalog an Forderungen, aber die Bewegung geht in ihren Bezugnahmen weit darüber hinaus. Dabei scheint es oft keinen anderen Weg zu geben als die Zerstörung. Die Spontanität und Widersprüchlichkeit der Revolte zeichnen aber auch die Stärke der Gilets Jaunes-Bewegung aus. Die Revolte lebt genau durch diese Widersprüchlichkeiten und durch die Missverständnisse, die sich unter den einzelnen Akteur*innen immer wieder zeigen, und die Bearbeitung erfahren. Die Aufgabe der radikalen Linken muss es demnach sein, sich einzumischen und Partei zu ergreifen. Wohin sich die Bewegung entwickeln wird, lässt sich schwer vorhersagen. Und auch deshalb stehen unsere französischen Genoss*innen jede Woche auf der Straße, um den emanzipatorischen Charakter der Bewegung zu stärken.</p><p>Welche Schrecken diese Revolte für den französischen Staat birgt, zeigt die massive Repressionswelle gegen die Gilets Jaunes. Der französische Polizei- und Justizapparat geht immer hemmungsloser und willkürlicher gegen diese vor. Emmanuel Macron und seine Regierung haben die Demonstrationsrechte massiv eingeschränkt, die Polizei setzt alles ein, was ihr an Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen zu Verfügung steht und nimmt damit wissentlich Tote in Kauf. Nach bisherigen Angaben gibt es bislang sechs Tote, hunderte Schwerverletzte – mit abgesprengten Armen, dem Verlust von Augen und schweren Kopfverletzungen. Und zwischenzeitlich Tausende, die die französischen Knäste füllen. Als am 16. März in Paris auf der Champs Elysées die Situation eskalierte, Luxusgeschäfte geplündert wurden und ein enormer Sachschaden entstand, mobilisierte der Staat für die darauf folgende Woche das Militär, um die Stadt zu besetzen. Davon ließen sich die Menschen jedoch nicht abbringen auf die Straße zu gehen. Es kam am 23. März zu einer größeren Beteiligung, als in der Woche zuvor. Auch die massiven Angriffe seitens der Polizei am 1. Mai oder bei jeder anderen Aktion in Frankreich haben nicht zu einem Einbrechen der Bewegung geführt. Der Staat zittert weiter vor dem Gespenst der Gelben Weste und versucht alles, um den Widerstand zu ersticken. Die Wut und Hoffnungslosigkeit der Menschen scheinen größer zu sein, als die Angst vor schweren Verletzungen, Knast oder Schlimmerem. Seit über einem halben Jahr, trotz all dieser Repression, findet in Frankreich eine Massenrevolte statt, die die bürgerliche Klasse und den Staat weiter in Angst und Schrecken versetzt.</p><p>Welche Stärke die Bewegung im Moment genau hat und zukünftig haben wird, ist nicht abzusehen. Nach der anhaltenden Repression und den Europawahlen finden die großen Aktionstage nicht in derselben Intensität wie vor einigen Monaten statt. Gleichzeitig kommt es jedoch regelmäßig zu kleineren Aktionen, wie Mautstellenbesetzungen und Blockaden von Fährterminalen. Hier könnte sich ein Strategiewechsel der Aktivist*innen ankündigen.</p><h2>Antifa in Frankreich und in Deutschland</h2><p>In Teilen der Antifa in der Bundesrepublik trifft man dennoch einzig auf das Argument, bei den Gilets Jaunes liefen und randalierten auch Rechte und Faschist*innen mit. Aus diesem Grund könne es sich nicht um eine emanzipatorische Bewegung handeln. Richtig ist: Nicht alle Forderungen der Gilet Jaunes sind emanzipatorisch oder progressiv. Und dabei geht es nicht nur um die Forderungen der Rechten in der Bewegung. In der laufenden Revolte steckt Wut und Ausweglosigkeit, aber auch die Hoffnung auf eine positive Veränderung der sozialen Verhältnisse. Die Bewegung der Gilets Jaunes hat eine Situation hervorgebracht, die eine gesellschaftliche Veränderung gegen die Politik des Kapitals und eine sich zuspitzende autoritäre Formierung zumindest möglich erscheinen lässt. Diesen Aspekt gilt es hervorzuheben, zu unterstützen und zu stärken. Auf der anderen Seite liefern beziehungsweise lieferten sich die Genoss*innen in Frankreich wöchentlich Auseinandersetzungen mit Faschist*innen auf der Straße und versuchten, diese aus der Bewegung zu drängen. Hier muss sich die kritische deutsche Antifa-Linke mit ihren Beißreflexen die Frage gefallen lassen, ob nicht vielmehr dort, im Kampf um Deutungshoheit in der Bewegung, der wichtigste und effektivste antifaschistische Kampf geführt wird.</p><p>Anders jedoch stellt sich die Situation in anderen Ländern dar, in denen die Gelbwesten im Moment keine massenhafte gesellschaftliche Bewegung darstellen. Hier werden die französischen Proteste unterschiedlich aufgenommen. Während in Ägypten der Verkauf von gelben Westen eingeschränkt wurde, demonstrierten in Dublin Personen damit gegen hohe Mieten. In England und Deutschland entwickelte sich der Protest hingegen bis jetzt auch verstärkt zu Mobilisierungen von rassistischen und nationalistischen Organisationen. Wie also mit diesen Bewegungen als Antifaschist*innen umgehen? In Deutschland wurden die Proteste unter anderem von der „Aufstehen-Bewegung“, die mit gelben Westen vor dem Kanzleramt demonstrierte, sowie in Stuttgart in Demonstrationen gegen das Dieselfahrverbot aufgegriffen. Dazu gesellte sich eine Demonstration in Wiesbaden, die explizite Schnittstellen zur rechten und nationalistischen Szene hat. In England, wo die Gelbwestenproteste vornehmlich von der rechtspopulistischen UKIP dominiert werden und im Zeichen des „Brexit“ stehen, hat sich die Antifa-Bewegung bereits auf den Sprachgebrauch der „Yellow Pest“ verständigt. Das soll auf der einen Seite gegen diese rechten Demonstrationen mobilisieren und auf der anderen Seite auch eine klare Abgrenzung zu dem ziehen, was sich in Frankreich als soziale Revolte vollzieht. Im Sinne von „das hier sieht nur so aus, aber ist etwas ganz anderes“. Doch ganz so einfach kann die Strategie aus unserer Sicht nicht sein. Was in den jeweiligen Ländern unter dem Stichwort der „Gelbwesten“ passiert, prägt auch, wie der Kampf unserer Genoss*innen in Frankreich wahrgenommen wird.</p><p>Wichtig für uns ist dabei zu beachten, dass wir eben „leider“ in Deutschland und nicht in Frankreich leben und aktiv sind. Gesellschaftliche Verhältnisse, oder eine bestimmte Demonstrationskultur, lassen sich nicht einfach von einem Land auf das andere übertragen. Sie können Inspiration sein, einen Stein ins Rollen bringen, Diskurse anstoßen und so weiter, lassen sich aber nicht wie eine Blaupause auf die hiesige Situation übertragen. Es bedarf für unsere Zwecke einer Analyse der Verhältnisse in Deutschland, die eben nun einmal andere sind, als die in Frankreich. Eine Massenbewegung entsteht, wie der Name schon sagt, aus einer Masse heraus und kann nicht einfach durch einen gesamtgesellschaftlich gesehen marginalen Prozentsatz einiger radikaler Linker angestoßen werden. Ein möglicher Akt der Solidarität gegenüber den französischen Genoss*innen wäre es aus unserer Sicht daher, die Rechten hierzulande daran zu hindern, die Gelbwesten-Bewegung für sich politisch zu vereinnahmen.</p><h2>Die Intervention in Wiesbaden</h2><p>Am 9. Februar 2019 versuchten einige Genoss*innen in Wiesbaden, den dortigen Protest der „Gelbwesten“ zu unterwandern und diesen mit antirassistischen, antifaschistischen und antikapitalistischen Parolen zu übernehmen. Dieser Versuch kann nicht als Erfolg gewertet werden. Hier muss viel mehr gesehen werden, dass diese Taktik gescheitert ist. Die meisten antifaschistischen Teilnehmer*innen wurden nach 15 Minuten durch die Polizei aus der Demonstration gedrängt und erhielten Platzverweise. Die Demonstration der rechten „Gelbwesten“ konnte, nach diesem Vorfall, ihren Weg ungestört fortsetzen. Was sollte mit dieser „Unterwanderungspraxis“ schlussendlich erreicht werden? Ging es um die Verhinderung der nachfolgenden Aufmärsche rechter „Gelbwesten“? War es ein symbolisches Zeichen der Solidarität mit den französischen Genoss*innen? Oder der Aufbau einer eigenen Gelbwesten-Bewegung? Letzteres muss als illusorisch abgetan werden, denn es gelingt sicher nicht aus einer rechts-dominierten Demonstration heraus, mit gerade einmal einigen hundert Teilnehmer*innen. Erschwerend hinzu kommt die in Deutschland vorherrschende Organisierungsschwäche.</p><p>Dennoch können wir auch hierzulande versuchen, in entstehende Gelbwesten-Proteste zu intervenieren. Es gilt allerdings, dabei kreativer zu werden. Das „Unterwandern“ dieser Bewegung könnte eine Möglichkeit sein, wenn es gelingt, sich zuvor ein klares politisches Ziel zu setzen, was damit in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht erreicht werden soll. Dadurch können andere Bilder in der Öffentlichkeit entstehen, die mediale Aufmerksamkeit kann sich ändern und im Optimalfall kommt es zu einem politischen Diskurs in unserem Sinne. Diese Form der Intervention wird allerdings nicht die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und noch viel weniger die Gelbwesten in Deutschland zu einer emanzipatorischen Massenbewegung machen können. Wir sollten uns als antifaschistische Linke davor hüten, uns auf eine Aktionsform zu versteifen. Antifaschismus lebt von kreativen, vielfältigen Aktionen auf unterschiedlichsten Aktionsfeldern. Es sollte sich situationsbedingt immer die Frage gestellt werden, wie wir mit rechten Mobilisierungen umgehen und hier auch immer das gesamte Aktionsfeld – von Blockaden, über Unterwanderung, bis hin zu offensiveren Formen – in Betracht gezogen werden. In jedem Fall sollte es uns in Bezug zu den Gelbwesten-Protesten darum gehen, in Solidarität mit den kämpfenden Menschen in Frankreich, Rechte daran zu hindern, sich des Symbols der Gelbwesten zu bemächtigen. Wie wir das schaffen, ist derzeit noch offen und muss weiter erprobt werden.</p><h2>Solidarität und Selbstorganisation</h2><p>Es bleibt wichtig festzuhalten, dass es nicht an unserem fehlenden Elan hängt, dass in Deutschland keine massenhafte Bewegung, wie die der Gelbwesten auftritt. Es wäre fatal, davon auszugehen, dass dieser Fakt lediglich unser Verschulden ist. Unsere Aufgabe als radikale Linke ist es aber, die Voraussetzungen für eine soziale Massenbewegung von links zu schaffen. Das bedeutet, gesellschaftlich andere Möglichkeiten des Zusammenlebens zu erschaffen und aufzuzeigen, Strukturen aufzubauen und uns mit Fragen von Herrschaft, Hegemonie, sozialen Kämpfen, Klassenkämpfen und so weiter zu beschäftigen. Damit bauen wir ein Fundament auf, das Vorstellungen eines alternativen, solidarischen und gemeinschaftlichen Zusammenlebens überhaupt erst ermöglicht.</p><p>Schon jetzt scheint ein Umdenken in der radikalen Linken in Deutschland stattzufinden. Es findet wieder eine Diskussion über Klassenpolitik und Basisarbeit statt. Es gründen sich Stadtteilzentren, Mieter*innenorganisationen und Stadteilgruppen. Viele Gruppen versuchen, sich von einem identitären Fokus zu lösen und sich aus einem Szenesumpf weg hin zu „Normalbürger*innen“ und ihren bzw. gemeinsamen Problemen zu öffnen. Inwieweit genau das ein Projekt des Erfolgs ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Der Prozess an sich ist allerdings positiv und begrüßenswert und bedarf weiterer Intensivierung.</p><p>Oft bewegt sich die radikale Linke selbst in ihrem eigenen Umfeld und mobilisiert ein akademisches, links-liberales Milieu. Dagegen ist im Grunde ja auch nichts einzuwenden. Aus der Warte vieler Beteiligter heraus muss jedoch die eigene Politik auch für einen selbst nachhaltiger gestaltet sein, um weiter aktiv zu bleiben zu können. Entscheidend ist hier, uns immer vor Augen zu halten, dass wir in den Prozessen Leute radikalisieren wollen. Es kann also nicht darum gehen, uns am Ende selbst zu befrieden und für die Schaffung von Ansprechbarkeit dann schließlich unsere Radikalität aufzugeben.</p><p>Dazu gehört zum Beispiel auch, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Wir müssen uns die Frage stellen, wer geeignete Bündnispartner*innen sein könnten, um unsere Ausgangssituation soweit zu verbessern, dass Situationen, wie sie gerade in Frankreich stattfinden, auch hier möglich werden. Die Brände in den Pariser Vororten von 2005 zeigen, dass eine (Massen-)Revolte, ausgehend von einem Stadtteil, die höchste Stufe der Basisorganisierung ist. Das ist Teil der Stärke der heute stattfindenden Revolte in Frankreich. Menschen in den Vororten von Paris und anderen ausgeschlossenen Stadteilen französischer Städte fingen an, sich zu organisieren. Es entstanden informelle Zusammenschlüsse und es wurde Kontakt zu Genoss*innen aufgebaut, welche sich dort einbringen. Es handelt es sich um Menschen, die aufgrund von Rassismus und ihrer „Überflüssigkeit“ für das Kapital komplett aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Die Klasse des Surplus-Proletariats, also jene Klasse der für das Kapital „Überflüssigen“ und Nicht-Verwertbaren, wird auch in Deutschland entscheidender und zu einer immer größeren sozialen Gruppe. Diesen Menschen wird tagtäglich vor Augen geführt, dass sie keine Möglichkeit mehr haben, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. Sie beginnen schließlich ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und sich zu organisieren, wie dies hierzulande etwa schon beim G-20-Gipfel in Hamburg geschehen ist. Im Hamburger Schanzenviertel haben, abgesehen von organisierten militanten Autonomen und einem Party-Publikum, auch junge Migrant*innen mitrandaliert. Es handelt sich hier nicht zwangsläufig um eine gesellschaftliche Klasse mit emanzipatorischen Zielen. Radikalen Linken sollte aber klar sein, dass hier Menschen zumindest anfangen, sich zum Beispiel gegen die Polizei zu wehren und Fähigkeiten entwickelt haben, sich abseits des Staates zu organisieren, ohne wöchentlich zum linken Plenumsritual anzutreten. Hier könnte die Möglichkeit für eine radikale Linke in Deutschland sein, sich mit diesen Menschen zu organisieren und sich auch selbst diese Fähigkeiten anderer Formen der Organisierung anzueignen.</p><h2>Praktisch werden!</h2><p>Unsere Solidarität mit den französischen Genoss*innen muss lauten, Rechte daran zu hindern, die Gelbwesten in Deutschland für sich zu vereinnahmen, praktische Solidarität zu üben, über die Bewegung aufzuklären, Soliaktionen zu organisieren und sie in Frankreich auf der Straße zu unterstützen. Dabei gilt es, nicht zu vergessen, auch über politische Strategien und Ziele der Bewegung, die sich durch ihre (Weiter-)Entwicklung verändern, in Frankreich kritisch zu diskutieren. Gleichzeitig muss Solidarität auch bedeuten, Strukturen aufzubauen, die in der Zukunft auch hierzulande Situationen möglich machen, in der die gesellschaftliche Hegemonie in Frage gestellt werden kann. Wir müssen darüber hinaus diskutieren, mit wem wir uns weiter organisieren wollen. Ist eine vermeintliche Zivilgesellschaft der richtige Akteur oder müssen wir über unseren eigenen Tellerrand schauen und neue Möglichkeiten der Organisierung finden, auch wenn dies bedeutet, unsere Komfortzone zu verlassen und Widersprüche auszuhalten?</p></div>
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Unkenrufe von der Klassenfront2019-04-14T12:10:59.356421+00:002019-04-14T12:10:59.356421+00:00Antifa Kritik & Klassenkampfredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/unkenrufe-von-der-klassenfront/
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<div class="rich-text"><p>Obwohl in der deutschsprachigen Linken der Klassenkampf wieder diskutiert und die „soziale Frage“ mit viel Kongress-, Vortrags- und Schreibtätigkeit bedacht wird, könnte man den Eindruck gewinnen, dass mit den <i>buzzwords</i> von „sozialer Frage“ und „Neue Klassenpolitik“ die grassierende Ideen- und Perspektivlosigkeit kommunistischer Politik eher verdeckt, als gehaltvoll bearbeitet wird. Dabei kam die „Neue Klassenpolitik“ aus gutem Grund auf die Tagesordnung. Spätestens in den 90er Jahren wurde in der radikalen Linken eine Perspektive populär, die sich vor allem auf Ideologiekritik konzentrieren wollte. Andererseits zwangen erstarkende und aggressiver auftretende neonazistische Kräfte die antifaschistische Aktion in Form von direktem Abwehrkampf auf die Tagesordnung linksradikaler Praxis. Die soziale Lage der Ausgebeuteten geriet damit aus dem Blickfeld.</p><p>Dieser Marxismus ohne Klassenkampf mündete in seiner Konsequenz schließlich zu Beginn der 2000er Jahre in einem verhängnisvollen Fehler. Die rot-grüne Regierung setzte das um, wofür sich der bürgerliche Staat am liebsten Sozialdemokrat*innen hält: die Zerschlagung aller Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung. Mit Hartz IV setzte sie einen vorläufigen Höhepunkt der Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse der BRD. Währenddessen beschränkten sich große Teile der linksradikalen Szene auf die Zuschauerrolle [1]. Anstatt sich aktiv einzumischen, ging es vielen eher darum, aufgrund rechter Parolen und der nicht klar klassenkämpferisch-emanzipatorischen Linie des Proletariats, dessen Proteste in Gänze als rechts zu denunzieren. Spätestens mit dem manifesten Ausbruch der Krise des Kapitals im Jahre 2008 und der Erfahrung der Wirkungslosigkeit der jahrelangen Krisenproteste wurde diese Haltung hinterfragt und eine breite Diskussion über eine Bezugnahme der Linken auf die Kämpfe der lohnabhängigen Klasse geführt.</p><p>Gut gemeint ist jedoch noch lange nicht gut gemacht. Das hat nun ein Mitte Februar 2019 im <i>re:volt</i> <i>mag</i> veröffentlichter Text mit dem Titel <a href="https://revoltmag.org/articles/die-gelbe-weste-und-wir/">„Die gelbe Weste und Wir“</a> deutlich gemacht. Der Text baut zunächst auf ebendem Befund auf, dass die deutschsprachige Linke sich in der Vergangenheit allzu ferngehalten hat von sozialen Auseinandersetzungen – soll heißen: konkreten Kämpfen um Lebens- und Arbeitsbedingungen. Es ist jedoch an Absurdität schwer zu überbieten, sich deswegen einer Demonstration von Faschist*innen anzuschließen, die mit den „Gilets jaunes“ gerade mal die gelben Westen gemein hat, und sich daraus eine klassenkämpferische Bewegung oder gar Revolte herbei zu phantasieren. Ihrer Kampagnenlogik verhaftet, halten die Autor*innen jede Demo schon für einen sozialen Kampf, der mit den aktuellen Auseinandersetzungen in Frankreich vergleichbar wäre. Es ist die Tragik der Verfasser*innen, die sich in ihrem Übereifer, jetzt endlich alles besser zu machen und soziale Kämpfe nicht mehr rechts liegen zu lassen, auf die erstbeste „Bewegung“ aufspringen und so auf einer Demo von organisierten Rechten landen.</p><p></p><h3><b>Eine Kartoffel – keine Birne</b></h3><p>Dem Vorschlag, an Gelbwesten-Demonstrationen, wie denen von Wiesbaden, teilzunehmen, um „klar zu machen, dass die soziale Frage im Kern eine linke Frage ist und sein muss“ fehlt es sowohl an einer Analyse des konkreten Phänomens dieser Wiesbadener „WirSindVielMehr“- „Bewegung“, als auch an einem Begriff von Klassenkampf. Die Unbestimmtheit, mit der die Autor*innen davon reden, dass „Sachen losgehen, mit denen wir nicht gerechnet haben“, verweist darauf, wie diffus die als Strategie feil gebotene Mischung aus praktischer Hilflosigkeit und hoffnungsvoller Projektion inhaltlich ausfällt. Eine genauere Begründung fehlt daher auch, warum gerade die „Gelbwesten“ in Wiesbaden der strategisch richtige Anknüpfungspunkt sein sollen, an dem die nun als „Ritualkiste“ beschriebene antifaschistische Politik sich plötzlich als falsch erweist.</p><p>Eine Diskussion über die Bewegung der „Gelbwesten“ wäre auch aus unserer Sicht spannend. Zu Beginn ihres Textes treffen die Autor*innen durchaus einige Aussagen zu der französischen Bewegung, die lohnend kritisch diskutiert werden könnten. Das Problem ist: das gelbe Häufchen Volk in Wiesbaden hat mit den „Gelbwesten“ gerade mal ein Stück Sicherheitsbekleidung gemein. Die Autor*innen tappen also in die Falle, die ihnen von den aufrufenden Faschist*innen gestellt wurde. Eine mit gelben Westen verkleidete Demonstration in Wiesbaden in eins mit der Bewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich zu setzen. Das führt dann dazu, die Strategien der französischen Linken im Umgang mit ihr auf die BRD übertragen zu wollen. Aber keine der Eigenschaften, die zu Beginn des Textes den „Gilets jaunes“ zugeschrieben werden und die Autor*innen dazu veranlassen, die „Revolte“ in Frankreich als „im Kern links“ zu beschreiben, trifft auf die Proteste in Wiesbaden zu.</p><p>Es handelt sich bei den Aktionen in Wiesbaden nicht um eine „militante Revolte“, die sich an einem konkreten politischen Vorhaben spontan und überraschend entzündet und die an eine selbstbestimmte und kämpfende Subjektivität erinnert. Es handelt sich um rechte Symbolpolitik. Überhaupt gibt es keine wesentlichen Gemeinsamkeiten in der politischen Form zwischen Wiesbaden und Frankreich. Es haben schlicht ein paar Leutchen in Wiesbaden die Symbolik der „Gelbwesten“ gekapert. Deshalb hat auch der als „Unkenruf“ abgestempelte Einwand Hand und Fuß und ist keineswegs Ausdruck von „Verunsicherung“. Einzig darüber besteht Verunsicherung, wie man auf die Idee kommen kann, die Aktion als Paradebeispiel einer neuen Strategie zu propagieren. Etwa indem die Autor*innen sagen: „Auch wir müssen (wie die Genoss*innen in Frankreich) in die Gelbwesten-Bewegung intervenieren und die trifft sich in Wiesbaden“. Mit dieser Feststellung gestehen sie den dortigen Organisator*innen zu, dass sie die legitimen Gelbwesten Hessens sind. Sie bestätigen diese also gerade in der Aneignung der Symbolik, anstatt darauf hinzuweisen, dass es in Wiesbaden um etwas ganz anderes geht, als in Frankreich. In Abgrenzung dazu müsste klar gemacht werden, worum es in einer klassenkämpferischen Bewegung eigentlich gehen müsste. Dieser Einwand hat nichts mit Verunsicherung zu tun, sondern mit der Gewissheit, dass die Aktion in Wiesbaden im besten Fall wenig durchdacht war. Im schlechteren Fall verweist sie auf gravierende theoretische, wie praktische Abgründe von Teilen der radikalen Linken.</p><p></p><h3><b>Deutsche Antworten auf Klassenfragen</b></h3><p>Die Autor*innen entlarven sich dabei selbst. An keiner Stelle wird auf die inhaltlichen Forderungen der Faschist*innen in Wiesbaden verwiesen und dargelegt, wieso diese sich nun inhaltlich mit denen der „Gelbwesten“ Frankreichs decken sollen, oder warum sie unabhängig davon interessant und der Unterstützung wert seien. Vielleicht aus gutem Grund.</p><p>Die faschistische Zusammensetzung der Wiesbadener „Bewegung“ ist nämlich gut recherchiert und dokumentiert. Bereits am 11. Januar hat die Recherchegruppe Wiesbaden und Umgebung diese Aufgabe dankenswerterweise übernommen [2]. Wie es die Autor*innen spätestens bei solchen Redebeiträgen noch auf einer Demonstration ausgehalten haben, für deren ungehinderten Zug man sich den von Genoss*innen blockierten Weg von der Polizei freiräumen ließ, erschließt sich uns nicht. Hier kann mitnichten davon gesprochen werden, dass irgendwelche Rechte auf einen Zug aufspringen, oder man es mit dem Problem von vereinzelten rassistischen Kleingrüppchen innerhalb einer aufkommenden, (noch) unorganisierten Revolte zu tun hätte. Aufrufe, Reden, Transparente offenbaren den völkischen, nationalistischen und verschwörungsideologischen Charakter der „Gelbwesten Wiesbaden“. Dass die Demonstration Rechte und organisierte Nazis anzieht, ist nur Resultat und Ausdruck ihrer politischen Ausrichtung. Es ist irreführend, dabei rein über Quantitäten zu diskutieren. Eine Handvoll Linke auf einer rechten Demo machen die Demo noch nicht links. Und auch 50, 80, 100 linke Teilnehmer*innen, die auf der Veranstaltung mitlaufen tun das nicht. Die Frage nach der politischen Ausrichtung einer Demonstration, wie jeglicher Praxis, ist eine qualitative. Selbstverständlich werden die Inhalte wiederum von praktisch sich beteiligenden Personen beeinflusst, entziehen sich damit aber auch zu einem gewissen Grad dem Zugriff. Dennoch spielen jene Personenkreise eine entscheidende Rolle, die ausgestaltende Funktionen einnehmen, die die materiellen Bedingungen einer Demonstration bestimmen: Organisieren, mobilisieren, die Infrastruktur kontrollieren. Im Fall der „Gelbwesten Wiesbaden“ eben von Gruppen mit hübschen Namen wie „Abendland Deutschland“ und AfD-Nazis wie Ralph Bühler. Vereinzelte Teilnehmer*innen mit linker Gesinnung verhelfen unter diesen Umständen vielleicht zu dem der Demo nicht unbedingt schädlichen Querfront-Ambiente, aber sicher nicht dazu, dass die Organisator*innen-Nazis „schnell lernen, dass dort kein Platz für sie ist“.</p><p>Vor allem aber verweist die Fehleinschätzung der Situation, die es ermöglicht, die eigene Unterstützung einer solchen Demo als „Intervention“ schön zu reden, auf ein tiefer gehendes Problem. Scheinbar blind geworden vor Freude, endlich die sich massiv aufdrängende Klassenfrage für sich entdeckt zu haben und vor Übereifer, die Fehler der 2000er jetzt wieder so richtig gut zu machen, verkennen die Autor*innen, dass deutsche Antworten auf Klassenfragen immer noch deutsch sind. Die Diskussionen über Schmarotzer*innen, die Unterscheidung von „guten“, also verwertbaren, und „schlechten“ Flüchtlingen, die Abschottung Europas durch Frontex seit 2005. All das begleitete die sogenannten „Reformen“, wie Hartz IV, das Tarifeinheitsgesetz, die organisierten Angriffe auf die arbeitende Klasse durch das Kapital. Die (bewussten, wie unbewussten) Formen der Krisenbearbeitung sind wie eh und je: Sexismus und Antifeminismus, Nationalismus, Rassismus und offener, wie verdeckter Antisemitismus.</p><p></p><h3><b>Die soziale Frage, Klassenkampf und (Anti-)Faschismus</b></h3><p>Wenn von den Autor*innen des Gelbwesten-Textes festgestellt wird, dass die „soziale Frage“ im Kern eine linke Frage ist und sein muss, dann ist das richtig und falsch zugleich. Die „soziale Frage“ war immer schon die Frage einer verunsicherten bürgerlichen Klasse auf der Suche nach Antworten auf die Macht der Arbeiter*innenbewegung. Ihre Lösungen beschränkten sich seit jeher auf Integration durch Sozialpolitik oder Unterdrückung durch die Gewaltherrschaft des Faschismus. Elend, Mangel und Armut sind Erscheinungen einer auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft und müssen daher als Klassenfragen begriffen werden.</p><p>Richtig ist, dass die einzig gute und notwendige Antwort auf die soziale Misere der bürgerlichen Gesellschaft, die einzige Option, die eine Aussicht auf ein Besseres zu eröffnen vermöchte, selbstredend nur links sein kann. Sie wäre das, was wir als Klassenkampf begreifen. Der Kampf um die Aneignung der gesellschaftlichen Bedingungen der Bedürfnisbefriedigung, im Bewusstsein des Widerspruchs zwischen den Bedürfnissen des eigenen Lebens und den Reproduktionsbedingungen des Kapitals – an die alltäglichen Erfahrungen dieses Widerspruchs wäre anzusetzen [3]. Auch wenn lange Zeit nicht mehr von Klassenkampf geredet wurde, blieb der Klassenkonflikt ja dennoch bestehen - die Produktion des nationalen Reichtums im Billiglohnland BRD basiert auf der täglich erfahrenen Ausbeutung der Lohnabhängigen in Produktion und Reproduktion.</p><p>Ein aus dieser Erfahrung erwachsender Klassenkampf, wie wir ihn verstehen, wäre eine Antwort auf die soziale Frage, die sowohl anti-bürgerlich, als auch anti-faschistisch ist und damit faschistischen Antworten diametral entgegen gesetzt wäre. Dass die soziale Demagogie des Faschismus auf soziale Ängste eingeht, Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen adressiert und ideologisch zur autoritären Revolte kanalisiert, ist nun wirklich nicht neu. „Der Faschismus sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen“ [4]. Dass nicht jede Bewegung, die sich aus den Leiderfahrungen von Elend und Mangel speist, in Richtung Emanzipation weist, ist eine Erkenntnis der Geschichte, hinter die zurückzufallen von dumpfer Ignoranz zeugt.</p><p>Als radikale Linke an diese Leiderfahrungen anzuknüpfen, den Konflikt der eigenen Bedürfnisse mit denen des Kapitals konkret aufnehmen und angehen, das bedeutet auch, sich dessen zu vergewissern, wie sich der Unterschied einer emanzipatorischen Antwort zur reaktionären in der Praxis konkret niederschlagen muss. Auf dieser Grundlage können Strategien erarbeitet und beurteilt werden, was geeignete Orte und Wege der Anknüpfung sind. Doch diese Grundlage scheint zu fehlen, wenn man die Wiesbadener Patriot*innen, Migrationspakt-Gegner*innen und NPD-Freund*innen zur sozialen Bewegung adelt und es als linke Strategie verkauft, sich unter das dortige Publikum zu mischen.</p><p>Soziale Bewegungen entstehen nicht in den Wunschträumen voluntaristischer Linker, die sich in völliger Selbstüberschätzung zur Avantgarde des kommenden Aufstands stilisieren. Sie entzünden sich an den materiellen Kämpfen um die Bedürfnisse, die in einen Widerspruch mit der Logik des Kapitalverhältnisses treten. Das Engagement, das sich Hineinbegeben in soziale Kämpfe, die <i>eigenen</i> Leiderfahrungen in soziale Kämpfe zu überführen, bedeutet etwas anderes, als die narzisstische Selbstdarstellung der Verfasser*innen des Gelbwestentextes, die vor revolutionärem Pathos und maskulinen Überlegenheitsgefühlen nur so strotzt. Anstatt uns in blindem Aktionismus zu verrennen, müssten wir unsere Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten auf der Grundlage konkreter Analysen von Form und Inhalt aufkommender Bewegungen austarieren.</p><p></p><h3><b>Anmerkungen: </b> </h3><p><b>[1]</b> Bei aller notwendiger Selbstkritik darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass es einige Ansätze gab: Neben der FAU, die gegen Hartz IV gekämpft hat, gab es die bundesweite Kampagne „Agenturschluss“, in der auch eine Reihe post-autonomer Gruppen mitgemacht haben. Es gab Gruppen, die zum Thema Prekarisierung gearbeitet haben etc.</p><p><b>[2]</b> <a href="https://rewiu.noblogs.org/post/2019/01/11/gelbe-westen-in-wiesbaden-hand-in-hand-und-wir-sind-viel-mehr/">https://rewiu.noblogs.org/post/2019/01/11/gelbe-westen-in-wiesbaden-hand-in-hand-und-wir-sind-viel-mehr/</a> </p><p>Die Auswertung der zweiten Demonstration der Wiesbadener Gelbwesten, auf der die Verfasser*innen von „Die gelbe Weste und Wir“ sich an einer Intervention versuchten, ist hier zu finden:</p><p><a href="https://rewiu.noblogs.org/post/2019/02/11/angekommen-im-extrem-rechten-netzwerk-zur-entwicklung-der-gelbwesten-in-wi/">https://rewiu.noblogs.org/post/2019/02/11/angekommen-im-extrem-rechten-netzwerk-zur-entwicklung-der-gelbwesten-in-wi/</a></p><p>Die Inhalte dieser besagten Demo vom Februar können unter anderem den Reden der Anmelderin entnommen werden, die der AfDler Henryk Stöckls dokumentiert hat:</p><p><a href="https://www.youtube.com/watch?v=n4KT2DOXfAM&feature=youtu.be&fbclid=IwAR2TykW3VoaXig0L3VAfDwgLw26HMPon-8hRWbzYmIGJ5ySeckXHpgX3N7E">https://www.youtube.com/watch?v=n4KT2DOXfAM&feature=youtu.be&fbclid=IwAR2TykW3VoaXig0L3VAfDwgLw26HMPon-8hRWbzYmIGJ5ySeckXHpgX3N7E</a> (ab 1:58) </p><p>oder auch hier:</p><p><a href="https://www.facebook.com/henrykstoeckl3/videos/258930718339081/">https://www.facebook.com/henrykstoeckl3/videos/258930718339081/</a></p><p><b>[3]</b> Vgl. hierzu unser Papier <a href="http://akkffm.blogsport.de/images/DerkommendeAufprall.pdf">„Der kommende Aufprall“</a>, sowie den Text „Krise – Klassenkampf – Organisierung“ in: Peter Nowak (2015): „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht“.</p><p><b>[4]</b> Walter Benjamin (1963) In: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“</p></div>
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„Nach und nach haben sich mehr Antifas mobilisiert und die Faschos aus den Demos gejagt“ - Gelbwesten in Frankreich2019-04-07T13:06:47.830516+00:002019-04-07T15:17:27.950908+00:00Felix Brozredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/nach-und-nach-haben-sich-mehr-antifas-mobilisiert-und-die-faschos-aus-den-demos-gejagt-gelbwesten-in-frankreich/
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<div class="rich-text"><p><i>Autor Felix Broz traf vor Kurzem die antifaschistische Aktivistin Sarah Berg von der französischen Gruppe</i> <a href="http://lahorde.samizdat.net/"><i>La Horde</i></a><i> zum Interview, um aus antifaschistischer Perspektive mehr über den aktuellen Stand der Gelbwesten-Bewegung zu erfahren.</i><br/></p><p><b>In den deutschen Medien erscheint die Bewegung der Gelbwesten inzwischen als eher marginale politische Kraft in Frankreich. Die Berichterstattung fokussiert sich derzeit vor allem auf Paris. Wie ist der aktuelle Stand der Bewegung aus eurer Sicht?</b></p><p></p><p><b>Sarah:</b> Die Menschen außerhalb Frankreichs nehmen hauptsächlich die Bilder aus Paris wahr. Und klar, ist es besonders wichtig in der Hauptstadt zu demonstrieren, insbesondere um die staatlichen Symbole anzugreifen. Das bedeutet jedoch nicht, dass in anderen Städten nichts passieren würde. Gerade außerhalb von Paris haben sich die Gelbwesten gut organisiert. In der Hafenstadt Caen, in der Normandie, haben sich beispielsweise umgehend anarchistische Kräfte aus einem selbstorganisierten Stadtteilzentrum eingebracht. Sie haben Flyer verteilt, sind schnell mit Aktiven ins Gespräch gekommen und kamen schließlich zusammen. Als zweites Beispiel kann ich noch die ostfranzösische Kleinstadt Commercy nennen. Dort haben die Menschen gleich ein Manifest erarbeitet, in dem sie klar stellen, dass sie mehr wollen, als die Senkung der Steuern auf Benzin. Sie wollen leben, nicht nur überleben. Ein generelles Problem der Bewegung ist die Repräsentation durch Personen. Am Anfang waren es vor allem drei Menschen, die insbesondere über Facebook Werbung für die Proteste machten. Nach und nach wurde die Bewegung dann aber größer. Derzeit können die Aktiven sich nicht darauf einigen, wer ihre Inhalte nach außen tragen soll - was zu begrüßen ist. Im Französischen sagt man, dass die Bewegung „horizontal“ organisiert ist. Gleichzeitig stellt das auch ein Problem dar, z.B. wenn Forderungen Gehör finden sollen.<br/>Es wird derzeit versucht, eine Kontinuität zwischen den Samstagen, an denen die Demonstrationen stattfinden, zu schaffen. Viele der Leute, die auf die Straße gehen, können es sich jedoch nicht leisten, in der Woche zu streiken. Sie fahren samstags zur Demo und sonntags wieder in ihre Stadt zurück. Montags müssen sie dann zur Arbeit. Es gab zwar auch einen Aufruf zum Generalstreik, jedoch können viele nicht streiken, da sie in der Privatwirtschaft arbeiten und sofort ihre Arbeitsplätze verlieren würden. Ich habe nun den Eindruck, dass einige Aktive beginnen, sich politisch zu organisieren. Im November und Dezember des vergangenen Jahres <i>[die beiden ersten Monate der Gelbwesten-Bewegung - Anm. F.B.]</i> äußerten viele Aktive, dass sie keinerlei Vertrauen gegenüber Gewerkschaften, politischen Parteien oder sogar nur Leuten, die politisch organisiert sind, haben. In Frankreich gibt es jedoch eine lange, historische Streiktradition, vor allem bei Lehrer*innen, Beamt*innen, Angestellten oder bei der Post. Aktuell ist es jedoch schwer zusammenzufinden. Die spezifischen Forderungen von Lehrer*innen, Krankenpfleger*innen etc. überwiegen. Schnittmengen werden noch gesucht. Am Anfang haben die Gewerkschaftsspitzen ausgegeben, dass ihre Mitglieder kein Vertrauen zu den Gelbwesten haben sollten. Diese hätten keine politischen Forderungen und seien gewalttätig. Nach und nach wurde ihnen dann aber wohl bewusst, dass die von ihnen Kritisierten die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sie selbst aufhören sollten, die braven Schüler*innen der Macron-Regierung zu sein. Teile der Gewerkschaftsführungen, beispielsweise die CGT oder Solidaires, wollen nun auf die Bewegung zugehen.</p><p><b>Am 16. März 2019 kam es in Paris beim Brand eines Finanzinstitutes auf der Demonstrationsroute zu einem Zwischenfall. Die Flammen griffen auf ein Wohnhaus über, elf Menschen wurden dabei verletzt. Präsident Macron nahm dies erneut zum Anlass, härtere Strafen für „militante Gelbwesten“ anzukündigen. Mit welchen Formen der Repression reagiert der Staat?</b><br/></p><p><b>Sarah:</b> Repression gibt es bereits von Anfang an. Vor allem seit dem 17. November 2018, als die Demonstration in Paris am Triumphbogen war und dieses „heilige Symbol“ angegriffen wurde. Seitdem herrscht bei jeder Demo Polizeigewalt. Es wird sehr viel Tränengas und LBD 40 eingesetzt. Das Letzte, der „Lanceur de Balle de Défense“, ist ein Gewehr für Gummigeschosse, das nicht tödlich sein soll. Dennoch wurden bisher 17 Menschen im Gesicht teilweise schwer verletzt und mehrere Personen haben sogar ihre Augen verloren. [1] Außerdem finden aktuell viele Prozesse statt. Zahlreiche Angeklagte werden sofort verurteilt und gehen ohne Bewährung ins Gefängnis - vierzigjährige Familienväter genauso wie jüngere Leute. Deswegen sehen jetzt alle die Macht und die Regierenden, wie sie eigentlich sind. Macron versucht, die Gesetze weiter zu verschärfen. So soll nun verboten werden, dass bestimmte Leute an Demonstrationen teilnehmen dürfen. Sie sollen schon im Vorfeld festgenommen werden. Außerdem will die Regierung eine einheitliche Führung der Polizei durchsetzen. Nach dem 16. März 2019 hieß es, dass gegen die Demonstrant*innen nun richtig vorgegangen werden müsse. Die Demonstrationen seien angeblich nur noch pure Gewalt und hätten keinen politischen Inhalt. Der Premierminister Édouard Philippe unterstrich diese Auffassung kürzlich. Das ist völlig falsch. Zunächst weil vor allem die Polizei schon immer äußerst gewalttätig gewesen ist. Gleichzeitig ist der politische Inhalt hauptsächlich links, sodass Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Zentrum stehen. In Paris finden wir jedoch auch vereinzelt Faschist*innen auf den Demos und ihre Sprühereien in deren Nähe. In deutschsprachigen Medien wird häufig geschrieben, dass sich die Bewohner*innen der Straßen<i> [z.B. Avenue des Champs-Élysées- Anm. F.B.]</i> vor den Demonstrant*innen fürchten würden. Aber wer wohnt dort und kann sich eine Miete von 5000 Euro leisten? Die wenigen Leute, die dort eine Wohnung haben, wohnen anderswo in luxuriösen Villen.<br/></p><p><b>Immer wieder mussten faschistische Strukturen von den Protesten vertrieben werden. Nicht selten griffen Nazis antifaschistische und linke Demoteilnehmer*innen direkt an. Wie steht es gerade um die Präsenz rechter Strukturen bei den Gelbwesten? Welche antifaschistischen Strategien gegen eine rechte Unterwanderung sind erfolgreich?</b></p><p></p><p><b>Sarah:</b> Von Anfang an waren faschistische Strukturen und Persönlichkeiten anwesend. Sie haben versucht die „Forderungen der kleinen Leute, der Franzosen“ für sich zu nutzen. Sie versuchen, die Bewegung in ihrem Interesse zu politisieren. Am Anfang blieben viele Antifas, darunter auch ich, den Gelbwesten-Demonstrationen fern. Sie hatten keine Lust, auf eine Demonstration zu gehen, auf der die französische Fahne getragen und die „Marseillaise“ gesungen wird. Glücklicherweise sind andere aber hingegangen. Sie haben die Faschisten fotografiert. Sie haben aufgedeckt, wer versucht, diese Bewegung zu unterwandern. Es wurden u.a. bekannte Antisemit*innen, wie beispielsweise Dieudonné M’bala M’bala [2] gesehen. Rechte ergingen sich in Verschwörungstheorien und brachten z.B. die Steuererhöhungen durch Macron mit seiner Tätigkeit für das Bankhaus Rothschild in Verbindung. Auf einigen Demonstrationen tauchten Rechte mit eigenen Fahnen und Transparenten auf. Nach und nach haben sich mehr Antifas mobilisiert und die Faschos aus den Demos gejagt. Das hat gut funktioniert - nicht nur in Paris, sondern auch in Toulouse, Bordeaux, Angers, überall. Seitdem versuchen sie, immer wieder zu kommen und griffen beispielsweise Genoss*innen der Partei Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) <i>[linksradikale, sozialistisch-trotzkistische Partei- Anm. F.B.]</i> an. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass es landesweit so viele sind. In Paris sind es kleinere rechte Gruppen, wie die „Les Zouaves“, die als Bande eher der Hooliganszene zuzuordnen sind. Diese haben Leute der NPA angegriffen.<br/></p><p><b>In Frankreich gibt es eine lange Tradition des Widerstands von beispielsweise schwarzen Jugendlichen gegen rassistische Polizeigewalt in den Banlieues. Sind diese in der Bewegung aktiv?</b></p><p></p><p><b>Sarah:</b> Ich sehe bei den Protesten in Paris nicht so viele aktive Migrant*innen. In Marseille mobilisieren sich da deutlich mehr, weil es vor der ersten Gelbwesten-Demonstration dort einen schweren <a href="https://www.tagesschau.de/ausland/hauseinsturz-marseille-101.html">Unfall</a> gab. Drei baufällige Häuser sind eingestürzt und viele Menschen dabei gestorben. [2] Die Stadtverwaltung von Marseille und ihre Wohnungspolitik wurden hierfür von den Menschen verantwortlich gemacht. Sie hatte zugelassen, dass diese Wohnungen trotz ihres maroden Zustands weiter vermietet wurden. Zu den Demonstrationen in Paris kommen vorwiegend Personen von außerhalb, die keine Angst haben, zu demonstrieren. In Deutschland wurde ja u.a. das schlimme <a href="https://www.youtube.com/watch?v=eQ7v43omodA">Video</a> aus der Stadt Mantes-La-Jolie bekannt. Hier hatten Polizist*innen migrantische Jugendliche nach Protesten gezwungen, sich zu ergeben. Es sah in dem Video so aus, als ob sie hingerichtet werden sollten. Die demütigende Behandlung von Jugendlichen schockierte die französische Gesellschaft. Diese Jugendlichen wissen genau, dass es für sie extrem gefährlich ist, in Paris zu demonstrieren. Viele haben Angst vor der Polizei. Wegen der Kontrollen würde Gruppen von Jugendlichen, die zusammen zu einer Demonstration gehen wollen, nicht mal in Paris ankommen. Die würden vorher kontrolliert oder sogar festgenommen. Derzeit darf man nicht mal mit einem Schal oder einer Mütze zu einer Demonstration gehen. Die Situation ähnelt stark der, bei den Protesten gegen das Arbeitsgesetz („loi travail“). [3]<br/><br/><b>Der Staat dämonisiert die Bewegung und versucht die Proteste damit politisch und juristisch zu diskreditieren. Wie sehen aus deiner Sicht die Perspektiven der GelbwestenProteste aus und inwieweit beeinflussen sie andere sozialen Kämpfe von links?</b><br/></p><p><b>Sarah:</b> Aktuell handelt es sich um eine ganz andere Bewegung. Im November und Dezember habe ich noch die Meinung vertreten, dass die Bewegung nach Weihnachten einschlafen wird. Aber das war eine Fehleinschätzung. Die Aktiven sind immer noch begeistert dabei und möchten weitermachen. Wohin die Bewegung geht, weiß auch ich nicht. Diese Unklarheit finde ich einerseits super, andererseits aber auch gefährlich, da viele Teilnehmende eben nicht genau sagen können, was sie wollen. In Frankreich ist es in der Regel so, dass Dinge, die im März passieren, signalisieren, dass etwas Größeres ansteht. Bislang hatte die Bewegung der Gelbwesten Ausdauer, was bei anderen Protesten sonst nicht so war. Es gibt momentan nahezu keine politische Debatte, keine politische Veranstaltung in Frankreich, bei der die Bewegung und ihre Proteste nicht Thema sind. Die Bewegung ist politisch wirklich zentral geworden.<br/></p><p><b>Wann wäre eine Gelbwesten-Bewegung Deiner Meinung nach erfolgreich?</b><br/></p><p><b>Sarah:</b> Wenn sich die Leute politisch organisieren. Macron versteht sich, wie alle Präsidenten der Fünften Republik, als König. Das teilt er mit seinem Amtsvorgänger François Hollande. Sie denken, und das stimmt auch, dass sie alles machen können. Ich denke nicht, dass die Gelbwesten aufhören würden, wenn Macron zurücktreten würde, da damit nur ein Teil der Forderungen erfüllt wäre. Die Präsidenten wechseln sich an der Spitze nur ab. Es ist unerträglich, dass eine Person an der Spitze des Landes sagt: „Ihr seid einfach scheiße.” Die Leute haben den Eindruck, sie werden nur noch verarscht. Im Jahr 1995 wurde etwas geschafft. Wir haben einen Monat gestreikt. Frankreich war völlig lahm gelegt. [4] Wir brauchen meiner Meinung nach wieder einen solchen Generalstreik, sonst wird es schwierig, die Bewegung richtig politisch zu strukturieren.<br/></p><p></p><hr/><h3>Anmerkungen</h3><p><br/>[1] Laut einer unabhängigen Dokumentation über Polizeigewalt haben seit November 2018 23 Personen ihr Augenlicht zum Teil verloren, fünf Personen musste aufgrund der Verletzungen durch die von der Polizei eingesetzten Gasgranaten eine Hand amputiert werden. Eine Übersicht befindet sich <a href="https://twitter.com/davduf/media?lang=de">hier</a>.<br/></p><p>[2] Dieudonné M’bala M’bala ist ein bekannter französischer Komiker mit familiären Hintergründen in der Region Bretagne und dem westafrikanischen Kamerun. Seit über 20 Jahren fällt er immer wieder durch antisemitische Äußerungen und einer Nähe zu faschistischen Parteien, beispielsweise dem ehemaligen Front National auf.<br/><br/> [3] Im Jahr 2016 fanden aufgrund der neoliberalen Novellierung des Arbeitsgesetzes landesweit Platzbesetzungsaktionen statt. Eine empfehlenswerte Dokumentation aus solidarischer Perspektive zur Bewegung „Nuit Debout“ vom Medienkollektiv Left Report findet sich <a href="https://leftreport.org/paris-rebelle-twischen-rechtsruck-und-revolte/">hier</a>.<br/></p><p>[4] Im November und Dezember 1995 streikten Arbeiter*innen der Nationalen Eisenbahngesellschaft Frankreichs (SNCF) sowie Postarbeiter*innen, die Lehrer*innen, die französische Telekom, die nationale Stromgesellschaft und Arbeiter*innen im Gesundheitssektor gegen die Renten- und Sozialversicherungsreform vom damaligen Premierminister Alain Juppé.</p></div>
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Die gelbe Weste und Wir2019-02-17T10:47:35.732604+00:002019-02-17T10:47:35.732604+00:00Einige umherschweifende Gelbwestenredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-gelbe-weste-und-wir/
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<div class="rich-text"><p>In ganz Frankreich kracht und knallt es: Streiks, Blockaden, Demonstrationen und Riots bestimmen die französische Politiklandschaft. Das Gespenst der Gilet Jaunes, der Gelbwesten, spukt seit Wochen durch die internationalen Medien und politischen Diskurse. Und das aus gutem Grund: Die Kontinuität der Kämpfe, ihre inhaltlichen Ausformungen und die Stärke linksradikaler Kräfte innerhalb dieser Kämpfe hatten in den letzten Monaten zur Folge, dass sich aus einem Protest gegen eine Steuerreform eine Revolte gegen die Regierung Macron entwickelt hat. Bisher stellt sich die Bewegung als unregierbar heraus und all die altbekannten politischen Rezepte versagen. Denn die aktuelle Revolte ist Ausdruck einer tiefen Krise der politischen und mittlerweile auch gewerkschaftlichen Tradition. </p><p>Die Frage der Organisation der Bewegung wird sich den Aufständischen in jedem Fall stellen, ob sie das nun wollen oder nicht. Dass dabei alle progressiven Menschen in der Planung und Gestaltung mitzureden haben – oder die Organisierung zentral mitgestalten – bleibt zu hoffen. Die Genoss*innen in Frankreich haben schon jetzt alle Hände voll zu tun; und das nicht „nur“ mit der Organisation der sozialen Kämpfe gegen Staat und Kapital. Denn es ist wie bei jeder Revolte: Immer dann, wenn ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ins Wanken gerät, versuchen alle politischen Fraktionen Kapital daraus zu schlagen. Seien es Kommunist*innen, Bürgerliche oder eben auch Faschisten.</p><p></p><h3><b>Vehemenz und Subversion</b></h3><p>Ja, es waren und sind unter den Gelbwesten auch Rechte und Faschisten. Wie könnten sie es auch nicht sein? Schließlich wurde hier nicht von organisierten politischen Kräften eine Demo geplant, sondern es haben hunderttausende Menschen entschieden, die Verhältnisse so wie sie sind, nicht mehr zu hinzunehmen. Diese anhaltende Revolte verweist auf etwas, das wichtiger und entscheidender ist als der Blick darauf, ob Rechte auf den Zug aufspringen. Sie hat mit Vehemenz die soziale Ungerechtigkeit wieder erlebbar gemacht – und einen Willen, diese nicht weiter hinzunehmen. Sie hat die Erinnerung an eine selbstbestimmte und kämpfende Subjektivität, an Praxen und Organisationsformen, die die Linke in Frankreich antizipiert, wieder für Viele auf den Plan gerufen. Für uns ist sie daher im Kern links. Auch ohne, dass es dafür der alten Parolen, Banner und eingeübten Verhaltensweisen bedarf. Es ist die wichtigste Revolte im kontinentalen Europa der letzten Jahrzehnte. Sie hat die Träume von einer Subversion abseits der Regeln des politischen und staatlichen Betriebs wieder vorstellbar gemacht.</p><p>Die Frage danach, in welche Richtung sich innerhalb dieser Revolte die Bewegung entwickelt, ist somit zentral. Sie ist es, die viele aus der deutschen radikalen Linken wahrscheinlich umtreibt, wenn sie darauf verweisen, dass dort auch Faschisten am Start sind, und sie sich deshalb davon distanzieren. Es bringt nichts, sich vorzugaukeln, dass sich die Gelbwesten automatisch in eine emanzipatorische Richtung entwickeln würden. Dass Rechte versuchen, in den Protesten Terrain zu gewinnen, ist natürlich eine Bedrohung. Wie groß diese jedoch wird, liegt auch an der Vehemenz und der Sichtbarkeit der emanzipatorischen und antifaschistischen Kräfte. Sie stehen in Frankreich glücklicherweise nicht naserümpfend daneben, sondern sind mitten drin, leisten wortwörtlich Kritik im Handgemenge.</p><p>Immer wieder wird die antifaschistische Konfrontation gesucht und oft auch gewonnen. Immer wieder wurde zusammen mit ganz unterschiedlichen Menschen an den Barrikaden gekämpft. Immer wieder wurde die soziale Frage ins Zentrum gestellt. Nicht ohne Grund schlossen sich nach den Riots der ersten Wochen die Schüler*innen den Kämpfen an und überführten sie in Streiks; ebenso die Arbeiter*innen in den Fabriken und Betrieben. Die Erzählung hat sich geändert und die Gelbwesten wurden zu einer Bewegung mit revolutionären Zielen und Strukturen. Unser Platz ist dabei nicht abseits der Kämpfe, die allerorts stattfinden, sondern direkt <i>in</i> ihnen: Auf der Straße und in den Versammlungen.</p><p></p><h3><b>Was machen wir hierzulande eigentlich?</b></h3><p>Dass in der deutschsprachigen Linken die Debatten um die Kämpfe der französischen Gelbwesten so zögerlich geführt werden, offenbart zweierlei: Eine deutliche Unwissenheit über selbige sowie eine generelle Verdrossenheit, was soziale Auseinandersetzungen angeht. Statt sich die unterschiedlichen Positionierungen der Akteur*innen anzusehen, wird sich zuallererst an faschistischen und rassistischen Kleingrüppchen innerhalb der Proteste abgearbeitet.</p><p>Ist diese Haltung bei internationalen Kämpfen eher neu und nicht ganz so verbreitet, so scheint sie für die Analyse der deutschen Zustände zu gelten wie ein biblisches Gebot. Hierzulande sind wir, im Gegensatz zu den lautstarken „klaren Urteilen“ über die Gilets Jaunes, bei den allermeisten sozialen Themen und Kämpfen überraschend leise. Einzig punktuell gelingt es linken Organisationen hierzulande, in diese einzugreifen. Die Gelbwesten in Frankreich hingegen haben in kürzester Zeit all das vereint, wonach sich viele hier immer die Finger lecken: Eine militante soziale Revolte, getragen aus den vielschichtigen und unterschiedlichsten Milieus der französischen Gesellschaft. Am Ende des Tages bleiben nicht die einzelnen Nazis in Erinnerung, sondern die hunderten Kids aus den Banlieus, die mit protestieren, den Eisenbahner*innen, die mit Barrikaden errichten und der unfassbare Mut den die Demonstrant*innen aufbringen gegenüber einer hochgerüsteten Repressionsmaschinerie.</p><p>Es handelt sich um eine Bewegung, welche sicherlich umkämpft ist, von rechts, von links und auch von der Mitte. Tatsächlich haben es unsere französischen Genoss*innen aber geschafft, vielerorts die Handlungsmöglichkeiten von rechten Gruppen massiv einzuschränken und konnten viele handfeste Auseinandersetzungen gewinnen. In vielen Städten ist es Rechten nicht mehr möglich, offen aufzutreten oder zumindest nicht ohne handfeste antifaschistische Gegenwehr, etwa wie in Lyon.</p><p></p><h3><b>Die gelben Westen in Wiesbaden</b></h3><p>Es war abzusehen, dass das Symbol der gelben Warnwesten auch hier aufgenommen werden würde. Und so gab es schon Ende letzten Jahres die ersten deutschen Gelbwesten-Gruppen. Manchmal aus einfach nur wütenden Dieselbesitzer*innen, Unzufriedenen oder auch direkt von organisierten Rechten. Sowieso schon beflügelt durch AfD-Wahlerfolge und Rechtsruck in Staat und Gesellschaft, war es für die Letzteren hierzulande ein leichtes, sich an die Spitze zu stellen und die Unentschlossenen hinter sich laufen zu lassen.</p><p>So auch in Wiesbaden. „Gelbwesten“ unter dem Motto #wirsindvielmehr riefen nun schon zum zweiten Mal zu einer Demonstration auf. Da wir wussten, wer kommen würde, wollten wir es uns ansehen und den Rechten von AfD über „besorgte Bürger“ bis zu Verschwörungstheoretiker*innen nicht das Feld überlassen. Wir sind der Ansicht, dass die sozialen Verwerfungen auch hierzulande irgendwann zu einer Revolte führen können. Vielleicht auch wie in Frankreich aus einer Nichtigkeit heraus, die niemand im Vorfeld ahnen konnte, und vielleicht an einem Ort, der zunächst nicht danach aussieht.</p><p>In gelber Weste, mit Anti-Rassismus-Transparent und roten Fahnen bezogen wir auf der Auftaktkundgebung am Wiesbadener Hauptbahnhof Stellung. Unsere Intervention war kläglich besucht, dem vorherigen Aufruf an Freund*innen folgte eigentlich niemand. Zu groß war die Verunsicherung. Die Freund*innen entgegneten uns: „Das sind doch nur Rechte! Das ist doch zu klein und unbedeutend! Ihr helft ihnen mit eurer Aktion!“. Die Unkenrufe aus dem Szenesumpf von „Querfront“ und einem „weißwaschen“ der Rechten ließen nicht lange auf sich warten. </p><p>Es ist an Absurdität schwer zu überbieten, auf einer Demo zu sein, die vorne von den eigenen Genoss*innen blockiert wird. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass dort viele organisierte Rechte dabei waren - aber eben nicht nur. Wir sind davon überzeugt, dass eine linke und antifaschistische Intervention dann von Erfolg gekrönt ist, wenn wir die sozialen Kämpfe bestimmen und beeinflussen, statt sie zu blockieren. Nazis werden dabei schnell lernen, dass dort für sie kein Platz ist, entweder in weiser Voraussicht oder durch direkte antifaschistische Aktion. Mal ganz ehrlich: Eben das, was die Gilets Jaunes aufs Tablett bringen, haben wir zu lange vernachlässigt. Die soziale Frage und unsere Strategien im Umgang damit – gerade wenn Sachen losgehen, mit denen wir nicht gerechnet haben. Es ist uns bewusst, dass zeitgleich das, was wir als linke Praxis jahrelang ritualisiert auf die Straße gebracht haben, nicht einfach aufhört oder aufhören muss. Blockaden von Nazidemos etwa sind richtig und wichtig. Doch unsere Aktionen müssen wir auch genau an diesem Punkt hinterfragen. Ab wann sind es reine Rituale? An welchen Stellen machen sie Sinn und wo stehen wir uns damit selbst im Weg?</p><p>In Wiesbaden hat es für uns keinen Sinn gemacht, in die Antifa-Ritualkiste zu greifen. Wir können nun wirklich nicht behaupten, wir wären sehr erfolgreich damit gewesen, den Laden zu übernehmen und dort den sozialen Kampf auf die Straße zu tragen. Aber es hat uns zu dieser Diskussion verholfen, die wir an dieser Stelle mit euch teilen wollen.</p><p></p><h3><b>Die Ausrichtung unserer Kämpfe neu justieren</b></h3><p>Wir haben selber viele Nazidemonstrationen blockiert und wir werden es auch weiter tun, wo immer es nötig ist. Aber es ist doch interessant, dass die einzige antifaschistische Strategie auch in anders gelagerten Situationen – etwa den Protesten in gelb - die der Blockade sein soll. Die Gretchenfrage wäre hier: Ist die Demonstration/Bewegung noch bündnisfähig im Klassenkampf, haben wir Potential die Hegemonie zu erringen, um so dem rechten Spuk ein Ende zu bereiten? Oder geht es um rechtsdominierte Bündnisse, die an sich bekämpft werden müssen, wie die Genoss*innen der Antifa Wiesbaden meinen? </p><p>Wenn wir also über Strategien reden, dann gehören dazu auch antifaschistische Praktiken, die in Situationen sozialer Umwälzungen vielleicht auch anders bestimmt werden müssen. Wir hätten es in diesem konkreten Fall für richtiger gehalten, klar zu machen, dass die soziale Frage im Kern eine linke Frage ist und sein muss. Das hätte zu den ersten Aufrufen passieren müssen, gerade als die Rechten noch nicht so zahlreich waren. Innerhalb von drei Wochen haben sich die Teilnehmer*innen verdreifacht und die Rechten darin verdoppelt – obwohl die Linke allein zahlenmäßig dem sehr schnell einen Riegel hätte vorschieben können. Ein anderer Zugang zu den Protesten in Wiesbaden wäre also ein wertvolles Experiment neuer antifaschistischer Strategien gewesen. Wir fragen uns: Was wäre passiert, wenn wir mit 50 Genoss*innen dort aufgetaucht wären? Mit 80? Mit 100?</p><p>Selbstkritisch müssen wir festhalten, dass wir unsere Strategie nicht ausreichend im Vorhinein in den lokalen Gruppen und Bündnissen eingebracht haben. Es fehlte an Vermittlung und breiter Mobilisierung. Daher ist dieser Text nicht als Vorwurf, sondern als Anregung für einen Strategiewechsel in Zukunft zu verstehen. </p><p>Denn es handelt sich nicht nur um eine Frage nach den klassenkämpferischen Strategien, sondern auch um eine Frage für die antifaschistische Linke, wie man rechten Formierungen und Einflussnahmen in Deutschland und darüber hinaus erfolgreich begegnet. Besser spät als nie wollen wir über die Ausrichtung unserer Kämpfe gemeinsam diskutieren. Und da wir nicht nur in der Kistengröße von Nationalstaat denken wollen, sehen wir uns in einer weiteren Hinsicht verpflichtet, die Gelbwesten nicht den Rechten zu überlassen: aus Solidarität und Respekt gegenüber den französischen Genoss*innen. Im Zeichen des Internationalismus sind wir es ihnen schuldig, das Symbol der gelben Weste vor einer rechten Vereinnahmung zu schützen. Denn diese haben entschieden, um dieses Symbol zu kämpfen.</p><p></p><h3><b>Wir könnten gewinnen...</b></h3><p>Wir könnten das Symbol der gelben Weste auch hier zu einem progressiv-revolutionären machen, wenn wir die notwendigen sozialen Kämpfe unterstützen und vor rechter Vereinnahmung schützen. Dafür sollten wir aber auch nicht auf abgenutztes Vokabular und einseitige Darstellungen zurückgreifen. Es wäre ein Zeichen der Solidarität gegenüber unseren Genoss*innen, denen wir sicherlich keinen Gefallen tun, wenn wir die in deutschen Medien häufig verbreitete, mitunter gezielte Deklarierung der Gelbwesten-Proteste als „Gelbe Westen = Braune Meinung“ einfach so übernehmen. Auch das oft beschworene „Aber in Frankreich ist die politische Realität eben anders“ hilft uns an dieser Stelle nicht, wenn wir selbst die Akteur*innen sind, die die politische Realität ändern können.</p><p>Viel wichtiger ist aber wäre auch das Zeichen an uns selbst: Wir stehen den rechten Entwicklungen nicht machtlos gegenüber. Das ist kein Automatismus, kein leeres Wort, sondern ein Postulat, deren Erfüllung wir immer wieder in der Praxis beweisen müssen. In den letzten Jahren hat die Linke in Deutschland viele wichtige Debatten und Kurskorrekturen hinter sich gebracht, um sich wieder vermehrt der Klassenfrage zu widmen. Wir müssen das Prinzip der Revolte von „unten gegen oben" wieder selbstbewusst beanspruchen und sollten die aktuellen Entwicklungen nicht an uns vorbeiziehen lassen. Es gibt keine Abkürzungen. Eine Revolte wird nicht darauf warten, bis alle Antifa-Standards erfüllt wurden. Das müssen wir schon selber tun.</p></div>
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