re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=6712019-11-19T11:01:14.399776+00:00„Seit Jahren sind die Rechten in Polen in der Offensive“2019-11-18T17:20:03.749529+00:002019-11-19T11:01:14.399776+00:00Felix Brozredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/seit-jahren-sind-die-rechten-in-polen-in-der-offensive/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>„Seit Jahren sind die Rechten in Polen in der Offensive“</h1>
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<div class="rich-text"><p><b>Die Politik der rechten Partei PiS (</b><b><i>Prawo i Sprawiedliwość</i></b><b> , Recht und Gerechtigkeit) grenzt stark von der EU ab und fährt einen nationalkonservativen Kurs. Wie sieht der Wandel aus, der sich unter dem Vorsitzenden Vorsitzendem Jaroslaw Kaczyński vollzieht?</b><br/></p><p><b>PostKom:</b> Polen hat nach dem EU-Beitritt 2004 einen sehr starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Zum einen sind EU-Gelder zur Verbesserung der Infrastruktur geflossen, Polens Ökonomie profitierte also stark von europäischen Investitionsprogrammen. Gleichzeitig darf man nicht auch nicht vergessen, dass der EU-Beitritt sehr vielen polnischen Menschen ermöglicht hat in den Westen auszuwandern, vor allem Richtung Großbritannien. Wir sprechen hierbei von etwa zwei Millionen Auswander*innen. Das Geld, dass diese häufig in prekären Jobs verdient haben, wurde und wird zur Unterstützung ihrer Familien nach Polen geschickt. Was die aktuelle EU-Politik von PIS betrifft, wird ein widersprüchlicher Kurs gefahren. Im Gegensatz zu der deutschen AfD, die mit dem Gedanken gespielt hat, die EU irgendwann zu verlassen, setzt Kaczyński auf die Strategie, den Nationalstaat zu bewahren. In diesem Zusammenhang wird häufig vom ‚Europa der Vaterländer‘ gesprochen. Auf anderem Gebiet wie der Sicherheitspolitik tritt die Regierung wiederum für eine deutlich stärkere Zusammenarbeit mit der EU ein. Das betrifft leider auch den Bereich der Grenzsicherung. Man darf nicht vergessen, dass die Grenzschutzagentur Frontex in Warschau ihren Sitz hat und Polen für die Ostflanke der NATO sowie für die Grenzsicherung der EU im Osten zuständig ist.<br/></p><p><b>Das Land zeichnete sich in der Vergangenheit durch niedrige Beteiligungen an Wahlen an, vor allem bei europaweiten Urnengängen. Bei der vergangenen EU-Wahl im Mai sollten dann viele Nichtwähler*innen von neuen linken und (neo-)liberalen Parteien zur Wahl mobilisiert werden. Wer sind diese Kräfte und wofür stehen sie?</b><br/></p><p>Die polnische Gesellschaft ist weitestgehend gespalten. Im Grunde genommen ist es ein Konflikt, der seit Jahren in der polnischen Gesellschaft zwischen liberalen, kosmopolitischen und proeuropäischen Kräften (<i>Koalicja Obywatelska</i>), die auf ein weltoffenen modernes Polens setzen, und auf der anderen Seite zwischen einem ebenso großen Lager aus antimodernistischen, nationalistischen und rassistischen Kräften gärt und ausgetragen wird. Letztere werden etwa von der PIS erfolgreich mobilisiert und für ihre Zwecke genutzt. Sie sind patriotisch, katholisch und hauptsächlich von einer Angst vor Veränderung und vor Fremden geprägt. Gleichzeitig nähert sich die polnische Gesellschaft immer stärker der westeuropäischen an. Es gibt viele, die im Ausland studieren oder im Ausland gearbeitet haben. Diese Kräfte führen einen erbitterten Kampf. Die polnische Gesellschaft verändert sich und ist sehr stark polarisiert. Die Polarisierung führt aber auch zu einer Aktivierung der Bürger*innen. So entsteht – sehr langsam, aber systematisch – so etwas wie eine linke polnische Zivilgesellschaft, die eine Art Gegenblock zu der rechten Hegemonie aufbauen könnte. Die Beteiligung an den Wahlen wächst. Bei den letzten Wahlen betrug sie fast 60 Prozent. Für polnische Verhältnisse ist das hoch.<br/></p><p><b>Die (proto-) faschistische Bewegungen organisieren sich inner- wie außerparlamentarisch in ganz Europa. Das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Rechten sowie FaschistInnen ist jedoch angespannt. Könnt ihr einschätzen, wie sich die politischen Beziehungen darstellen?</b><br/></p><p>Die Rechten sind in Polen seit Jahren in der Offensive. Auch jenseits der Rechtskonservativen hat sich eine breite Bewegung etabliert, die nicht nur zahlreiche Aktivitäten im kulturellen und im Jugendbereich unternimmt, sondern auch am 13. Oktober 2019 mit der extrem rechten „Konföderation“ mit knapp sieben Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen den Einzug ins polnische Parlament geschafft hat. Da Kaczyńskis PiS-Partei sich in Richtung gesellschaftlichem Zentrum bewegt und in ihrer Wahlrhetorik auf polarisierende Positionen, etwa zu Abtreibung, verzichtet hat, ist auf der rechten Seite eine offene Flanke entstanden. Diese wird von der extremen Rechten erfolgreich bewirtschaftet. Für die parlamentarische Arbeit der extremen Rechten sind zurzeit polarisierende gesellschaftliche Themen zentral: das totale Abtreibungsverbot, der Kampf gegen Migration, Antisemitismus und so weiter. Im Westen werden häufig rechte Bewegungen aus Westeuropa mit osteuropäischen zusammengeworfen. Aus unserer Sicht ist das falsch. Bei den Nationalist*innen in Polen, spielen zum Beispiel Religion und Glaube eine sehr große Rolle – im Gegensatz zu vielen westeuropäischen Nationalist*innen, wo dieser Aspekt einer unter vielen ist. Es liegt in der deutsch-polnischen Geschichte der letzten 200 Jahre begründet, dass sich die deutsche Rechte und die Pol*innen immer als eine Art Erbfeinde betrachtet haben. Die Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg und die Umsiedlung der Deutschen führten (kurz gesagt) dazu, dass trotz einiger Versuche einzelner Aktivist*innen, auf beiden Seiten Kontakte zu knüpfen, diese aus unserer Sicht noch relativ wenig ausgeprägt sind. Anders als beispielsweise bei den Kontakten der deutschen Rechten nach Tschechien. Aufgrund der ideologischen Unterschiede – die starken Bezüge der polnischen Rechten auf Religion und der antipolnischen Ressentiments bei den deutschen Rechten, um zwei zu nennen – ist ein dauerhaftes Bündnis (zum Glück) noch eine Zukunftsvision. Das zeigt sich auch am Beispiel der AfD. Während diese zuletzt deutlich machte, dass sie Kontakte zur PIS sucht und unter anderem in Berlin aktiv um polnische Wähler*innen geworben hat, griff sie bei den Landtagswahlen in Brandenburg aber wiederum auf antipolnische Ressentiments zurück.<br/></p><p><b>In den vergangenen Monaten standen die LGBTIQ*-feindlichen Proteste und Übergriffe gegen polnische Pride Parades und queere Menschen in der Weltöffentlichkeit. Die Angriffe auf die Parade in der Stadt Bialystok stehen exemplarisch für eine traditionsreiche homo- und transfeindliche Stimmung in weiten Teilen der Gesellschaft. Welche Rolle spielen die katholische Kirche sowie die Regierungspartei in dieser aufgehetzten Stimmung?</b><br/></p><p>Im letzten Wahlkampf im Sommer dieses Jahrs gab es zwei Hauptthemen. Einerseits waren das die sozialen Themen, die die PIS geschickt nach vorne gerückt hat. Konkret soll der Mindestlohn nächstes Jahr deutlich erhöht werden. Auf der anderen Seite versuchen sich PIS und andere rechts gerichtete Gruppen, als die Verteidiger der polnischen traditionellen Werte wie der Familie darzustellen. Bestürzend ist, dass die Kirchenoberen, obwohl sie sich mit klaren Äußerungen eher zurückgehalten haben, ganz deutlich auf die Seite homophober Kräfte gestellt haben: So kann der Krakauer Erzbischof Marek Jedraszewski ohne Konsequenzen die LGBT-Bewegung als die neue „rote Pest“ darstellen. <b>[1]</b> Offenbar haben sich die Kirchenoberen ganz klar für die homophob rechte Fraktion entschieden. Das ist paradox, da unserer Einschätzung nach diese klare Positionsnahme pro rechter Kräfte langfristig der Kirche eher schaden wird. Zum einen ist es so offensichtlich ein Ablenkungsmanöver und soll von den Missbrauchsskandalen innerhalb der Kirche ablenken und zum anderen stört es die Menschen, dass sich die Kirche in die polnische Politik einmischt. Die Kirche spielt nach wie vor eine sehr große Rolle in Polen. Die Zahl der Kirchengänger*innen ist zwar leicht zurückgegangen, dennoch ist die Kirche vor allem in ländlichen Gegenden eine mächtige Akteurin.<br/></p><p><b>Klingt nach dringend notwendigen widerständigen Perspektiven. Welche Kämpfe führen linke und radikale Linke, parlamentarisch wie außerparlamentarisch, in Polen? Welche sozialen Bewegungen von links bestehen aktuell?</b><br/></p><p>Die polnische Linke konnte bis vor kurzem im Parlament keine Kämpfe führen, weil sie nicht vertreten war. Erst die Wahlen am 13. Oktober bewirkten, dass eine linke Koalition unter der Führung der postkommunistischen Linken mit einem guten Ergebnis von zwölf Prozent den (Wieder-) Einzug ins Parlament geschafft hat. Es ist durchaus ein relevantes Ereignis, denn in der Vergangenheit war nichts Gutes von den Sozialdemokraten zu erwarten. Aufgrund der Absprachen mit anderen linken Parteien konnte auch deutlich jüngeres Personal, wie beispielsweise der Vorsitzende der Partei Lewica Razem, zu deutsch: „Linke Gemeinsam“, vergleichbar mit einer polnischen Version von Podemos (Spanien) oder Syriza (Griechenland), in das Parlament einziehen. Welche Bedeutung ihnen zukommt wird, ist noch ergebnisoffen.<br/>Im außerparlamentarischen Bereich kam es in den vergangen Jahren immer wieder zu teilweise sehr großen Protesten aus dem liberalen und linksliberalen Spektrum, wie gegen die Justizreform der Kaczyński-Regierung oder die Regierung im Allgemeinen. Es gab auch sehr starke Proteste wegen des Versuches von PIS, das Recht auf Abtreibung deutlich zu verschärfen, bei denen hunderttausende polnische Frauen* auf die Straße gingen. Im neuen Parlament sind zudem drei Abgeordnete der polnischen Grünen vertreten. Allmählich entsteht neben dem Kampf gegen rechts, ähnlich wie in Deutschland, auch in Polen eine linke Klimabewegung. Dies ist sehr zu begrüßen, da die Klimafrage ein globales Problem ist und der Einsatz für Perspektiven einer globalen Zusammenarbeit bedürfen.<br/></p><p><b>Seit dem immer größer und politisch bedeutsamer werdenden nationalistischen Großaufmärschen finden sich in der Hauptstadt Warschau zahlreiche Antifaschist*innen zum Protest ein. Welche Bedeutung hat „Antifa“ als Bewegung in Polen?</b><br/></p><p>Trotz einiger positiver Signale wie dem (Wieder-) Einzug der polnischen Sozialdemokraten in das Parlament, ist die Linke in Polen nach wie vor klein und marginal. Das gilt insbesondere für die radikale oder autonome Linke, die über einige Strukturen verfügt – wie zum Beispiel das Rozbrat in der Stadt Poznan, dass aktuell aber auch <a href="https://revoltmag.org/articles/das-anarchistische-herz-polens/">von Räumung bedroht</a> ist. Da die Szene wenige Menschen umfasst, arbeiten die polnischen Linken multithematisch. Die Bedrohung durch rechte Schlägertrupps ist gleichermaßen marginal wie allgegenwärtig. Angriffe auf linke (Wohn)Projekte sind eher die Seltenheit, aber es gibt zum Beispiel keine verlässliche Statistik, was Übergriffe auf Linke, LGBTIQ, Menschen mit Migrationserfahrung und so weiter betrifft. In einigen Gegenden auf dem Land ist die Stimmung gegenüber Migrant*innen, aufgrund der Hetze und Propaganda äußerst feindlich. Wir wollen uns weder dazu hinreißen lassen, Polen als gefährliche Gegend darzustellen – noch die Situation verharmlosen. Antifaschistischer Kampf spielt also insgesamt zwar eine Rolle, der Widerstand wird jedoch im Wesentlichen von den liberalen, linksliberalen oder neoliberalen Kräften getragen, während die autonome Linke im klassischen Sinne eher eine Randerscheinung ist, die vor allem in den urbanen Gebieten verortet ist und nur mit wenigen Aktivitäten auffällt. Das ist eben auch deshalb so, weil die Leute, die in diesen Strukturen wirken, zu vielen Themen gleichzeitig arbeiten. Es gibt wenige Gruppen, die explizit autonome Antifapolitik machen.</p><p><b>Stichpunkt Solidarność. Die durchaus heterogene Gewerkschaft, die aus der polnischen Streikbewegung um 1980 entstand und ein entscheidender Machtfaktor gegenüber der Regierung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) 1989 wurde, wird in Deutschland häufig als antikommunistische Massenbewegung erzählt. Welchen Einfluss hat die Gewerkschaft noch? Wie stark ist weiterhin das antikommunistische Narrativ im Land?</b><br/><br/>Der 30. Jahrestag des Mauerfalls ist ein guter Anlass zurückzublicken – auf die Geschichte des Jahres 1989, aber auch für uns auf die Geschehnisse vorher im Ostblock, in der DDR und in Polen. Entgegen einiger Behauptungen handelte es sich bei Solidarność Anfang der 80er Jahre um eine sehr progressive linke Bewegung, die zum Beispiel sehr stark auf Arbeiterautonomie, Arbeiterräte und Arbeiterrechte gesetzt hatte. Ein Großteil der Forderungen waren weniger politischer Art, sondern vor allem sozialer. Einer der Gründe waren vor allem die sehr schlechten ökonomischen Verhältnisse, die in den 80er Jahren in Polen geherrscht haben. Bereits 1981 wurde diese großartige Bewegung durch den damaligen Vorsitzenden der PZPR, Jaruzelski, und seiner Militärjunta zerschlagen. Die Solidarność hat sich nie davon erholt. Ein Großteil der führenden Solidarność-Funktionär*innen hat bereits 1986 damit begonnen, sich mit den damals in Polen herrschenden kommunistischen Eliten abzusprechen. Es war bereits abzusehen, dass das System ökonomisch nicht lange überlebt. Weitgehend unerkannt ist, dass Solidarność bis in die 90er Jahre nicht nur fortbestand, sondern auch versucht hat, gegen die brutale Schocktherapie, mit der die polnische Wirtschaft umgebaut wurde, anzukämpfen – weitgehend wirkungslos. An der Basis waren viele großartige Leute, aber wie es bei vielen Bewegungen ist, wurde die Basis von den Eliten verraten. Solidarność besteht bis heute als eine der größeren Gewerkschaften fort, hat aber mit der früheren Solidarność nicht mehr viel zu tun. Ganz im Gegenteil: Die heutige Solidarność ist eine der Hauptstützen, neben der Kirche, der jetzigen rechten Regierung. Von der spontanen Arbeiter*innenbewegung die in den 80er Jahren zehn Millionen Aktive umfasste, ist nur noch der Name übrig.<br/></p><p><b>Kommen wir zum Schluss zu einem aktuellen Anlass. Der polnische Unabhängigkeitsmarsch, jedes Jahr am 11. November in Warschau, hat sich zum vielleicht weltweit größten rechten Aufmarsch entwickelt. Im vergangenen Jahr waren schätzungsweise einhunderttausend Rechte auf dieser Demonstration, in diesem Jahr sind zehntausende auf der Straße gewesen. Neben faschistischen Gruppen aus Polen und darüber hinaus sind auch Personen aus diversen polnischen Parteien anwesend. Welches Verhältnis hat die rechte polnische Regierung zum Aufmarsch? Wie ist die Demonstration in diesem Jahr verlaufen?</b><br/></p><p>Der Unabhängigkeitstag ist der wichtigste polnische Nationalfeiertag. Polen feiert an diesem Tag die Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 nach 123 Jahren Fremdherrschaft. Es gibt unzählige Veranstaltungen an diesem Tag, die wenigstens sind rechtsradikal. Die Rechten haben im Laufe der letzten Jahre die Deutungshoheit über diesen Tag gewonnen, so dass sowohl in Polen als auch im Ausland der Unabhängigkeitsmarsch als das zentrale Ereignis wahrgenommen wird. Große Teile der Gesellschaft betrachten diesen Marsch als etwas sehr Positives. Die hohe Teilnehmer*innenzahl entsteht durch die breite Akzeptanz und die hohe Anschlussfähigkeit. Der Marsch wird im Wesentlichen durch katholische Nationalist*innen organisiert, die inzwischen auch mit einigen Abgeordneten im <i>Seijm</i> (polnische Nationalversammlung, Anm. FB) vertreten sind. Das Besondere in diesem Jahr war eine starke Betonung von religiösen Inhalten und Antisemitismus. Das zeigte sich bereits im Vorfeld in Motto und Plakatmotiv. „Nimm die ganze Nation in deinen Schutz“ lautete die historisch religiöse Parole, im Original eine Hinwendung an die heilige Maria. Auf dem Marsch treffen sich unterschiedliche Spektren der extrem rechten Szene aus dem In- und Ausland. Gleichzeitig ist der Marsch auch attraktiv für bürgerlich-konservative Kräfte. Auch wenn es im letzten Jahr von PIS Versuche gab, den Marsch zu vereinnahmen, nimmt die polnische rechte Regierung offiziell an dem Marsch nicht teil. Zahlreiche Anhänger*innen der Regierungspartei unterstützen und beteiligen sich dennoch aktiv an dem Marsch. Staatliche Medien berichten folgerichtig positiv über den Marsch, an dem in diesem Jahr schätzungsweise zwischen 47.000 und 100.000 Teilnehmer*innen teilnahmen. Erfreulicherweise gab es in diesem Jahr auch eine antifaschistische Gegendemo, an der sich zirka 5000 bis 15.000 Menschen beteiligten.</p><p></p><p></p><hr/><p></p><h3><b>Anmerkungen</b></h3><p></p><p><b>[1]</b> „Die rote Pest hat unser Land zum Glück nicht mehr im Griff, was nicht bedeutet, dass es keine neue gibt, die unsere Seelen, Herzen und unseren Verstand beherrschen will. Sie ist nicht marxistisch-bolschewistisch, aber aus dem gleichen Holz geschnitzt: Statt rot ist sie Regenbogenfarben.“, aus: <a href="https://www.queer.de/detail.php?article_id=34183">Queer.de</a>, „Krakauer Erzbischof warnt vor Regenbogen-Pest“. Bereits in der Vergangenheit verband der Krakauer Erzbischof antikommunistische sowie homofeindliche Rhetorik. So wandte er sich gegen eine imaginierte „neomarxistische LGBT-Ideologie“ und rief dazu auf, den „Versuchungen des Teufels“ zu widerstehen (Anm. FB)<br/><br/>"No Women no kraj" auf dem Artikelbild ist eine Abwandlung der eigentlichen Bedeutung (auf deutsch etwa „Nein, Frau, weine nicht"): kraj bedeutet grob übersetzt Region, Landstrich, Verwaltungseinheit.</p><p></p><p><b>Über die Plattform Postkom</b><br/>Postkom ist eine Initiative, die sich vor einigen Jahren formiert hat mit dem Ziel, politische und soziale Themen des postkommunistischen Raumes in den Fokus zu rücken und an diesen Themen interessierte Menschen miteinander zu vernetzen. Die sozialen Bewegungen in Polen und in ganz Osteuropa sind innerhalb der Berliner Linken kaum präsent. Die Aktivist*innen von Postkom wollen das ändern. Sie verstehen sich daher als eine Plattform verschiedener Aktivist*innen und Interessierter, die in postkommunistischen Ländern Ost- und Südeuropas solidarisch aktiv sind und emanzipatorische linke Gruppen unterstützen, mit dem Ziel ein linkes Netzwerk aufzubauen. In den vergangenen Jahren haben berichtete Postkom vor allem über verschiedene Initiativen und aktuelle soziale Kämpfe in Polen und organisierte im bundesdeutschen Raum zahlreiche Veranstaltungen und Seminare mit Aktivist*innen aus Polen. Die Initiative Postkom führt derzeit in Berlin und Cottbus eine Veranstaltungsreihe zur politischen Situation in Polen durch. Weitere Informationen dazu findet ihr auf der <a href="https://postkom.wordpress.com/">Seite</a> der Plattform. Das Interview wurde mit den beiden Aktivisten Marek Jakubowski und Stanislaw Kowalski von „Postkom“ geführt.</p><p><br/></p></div>
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„Nehmt eine Sichel, nehmt einen Hammer und zerstört das rote Gesindel“ - Der „Unabhängigkeitsmarsch“ in Warschau2018-11-30T14:23:16.501140+00:002018-12-07T16:52:15.833171+00:00Tim Reicheredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/nehmt-eine-sichel-nehmt-einen-hammer-und-zerst%C3%B6rt-das-rote-gesindel-der-unabh%C3%A4ngigkeitsmarsch-in-warschau/
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<div class="rich-text"><p>Der Morgen des 11. November in Warschau ist kalt und grau. Ein dichter Nebel hat sich seit einigen Tagen über die gesamte Stadt gelegt. Selbst der imposante Turm des Kulturpalasts ist kaum zu erkennen, als Polizeieinheiten auf dem Platz davor anfangen, hunderte Betonklötze aufzustellen. Überall in der Innenstadt werden Straßen gesperrt und selbst das polnische Militär mischt sich unter die Polizeieinheiten. In wenigen Stunden soll hier, im Herzen Warschaus, einer der größten nationalistischen Aufmärsche weltweit stattfinden, zu dem auch zehntausende Neonazis und sonstige Faschist*innen erwartet werden. Schätzungen gehen insgesamt von bis zu 100.000 Demonstrant*innen aus. Am Ende werden es doppelt so viele. Und Vertreter*innen der polnischen Regierung werden an ihrer Spitze stehen.</p><p></p><h3><b>Die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in Polen</b></h3><p></p><p>Der 11. November ist ein wichtiger Tag im post-sozialistischen Polen. Es ist der polnische Unabhängigkeitstag (poln. „Narodowe Święto Niepodległości“), das heißt das Datum der Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit (als zweite polnische Republik) nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Aufteilung des Territoriums zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und Russland. Dieses Ereignis jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal und ist im ganzen Land unübersehbar. Noch in den kleinsten Dörfern wehen die polnischen Nationalfahnen in den Straßen und an den öffentlichen Gebäuden. Auch die Laternen in der Warschauer Innenstadt tragen Weiß und Rot. Die Farben finden sich ebenfalls als großflächige Projektionen an einigen öffentlichen Gebäuden der Stadt, von denen wiederum andere in riesige Transparente zur Erinnerung an das „historische“ Datum gehüllt sind. Im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten wurde bereits zwei Tage zuvor in Warschau eine überlebensgroße Statue von Lech Kaczynski enthüllt, dem Zwillingsbruder des momentanen Parteivorsitzenden der regierenden PiS-Partei (kurz für: „Prawo i Sprawiedliwość“ - dt. „Recht und Gerechtigkeit“) Jaroslaw Kaczynski. Lech Kaczynski kam 2010 als amtierender Staatspräsident bei einem Flugzeugabsturz nahe Smolensk ums Leben. Seitdem ranken sich zahlreiche antirussische Verschwörungstheorien um sein Ableben, die von der Regierungspartei aufgegriffen werden, um sie zu einem Teil des nationalen Mythos im gegenwärtigen Polen zu machen. Die individuelle Positionierung zu dem Flugzeugabsturz bestimmt in den Augen der PiS, wer als „wahrer Pole“ gelten kann und wer ein „Volksverräter“ ist. Dementsprechend ist die Statue in Warschau nur ein Beispiel für die Produktion einer nationalen Identifikationsfigur, der im gesamten Land rund 160 Denkmälern gewidmet sind. Vor dem Hintergrund der besonders starken nationalistischen Aufladung des diesjährigen Unabhängigkeitstages scheint sich der bevorstehende Marsch in Warschau gut in die offiziellen Feierlichkeiten einzupassen. Allerdings hat er mit ihnen relativ wenig zu tun - zumindest war das in den zurückliegenden Jahren der Fall.</p><p></p><h3><b>Der „Unabhängigkeitsmarsch“ in Warschau</b></h3><p></p><p>Nachdem der „Unabhängigkeitstag“ in Polen seit 1989 wieder als offizieller Feiertag begangen werden kann, gibt es überall im Land unterschiedliche Festlichkeiten. Deren Organisation und Durchführung wird größtenteils von den Kommunen übernommen und ist zumeist fest in staatlicher Hand. In Warschau konnte sich jedoch seit Mitte der 2000er eine Reihe paralleler Veranstaltungen aus einem ultra-rechten Spektrum etablieren, deren treibende Kräfte die MW (kurz für: „Młodzież Wszechpolska“ - dt. „Allpolnische Jugend“) und die neofaschistische ONR (kurz für: „Obóz Narodowo-Radykalny“ - dt. „Nationalradikales Lager“) waren. Zwischen 2006 und 2009 führten beide Gruppen noch voneinander getrennte Aktionen durch, die über extrem rechte Kreise hinaus nur eine geringe Aufmerksamkeit erhielten. Erst mit der Organisation eines gemeinsamen Marsches 2010 erfolgte eine Bündelung der Kräfte, die zur Gründung eines übergreifenden Organisationsvereins im Jahr 2011 führte. Seitdem wuchs der „Unabhängigkeitsmarsch“ („Marsz Niepodległości”) von Jahr zu Jahr, wobei 2016 mit knapp 100.000 Teilnehmenden den bisherigen Mobilisierungshöhepunkt bildete.</p><p>Dementsprechend erfreut sich der Marsch heutzutage einer breiten Akzeptanz in national-konservativen Teilen der polnischen Gesellschaft, sodass selbst unzählige Familien mit ihren Kindern teilnehmen. Darüber hinaus vereinen die Demonstrationen eine Mischung aus (neo)faschistischen Gruppen, (extrem) rechten Fußballgruppierungen (zahlreicher Vereine), sowie Abtreibungsgegner*innen oder rechten katholischen Gruppen. Insgesamt ist es den Organisierenden in Warschau in den vergangenen Jahren gelungen, nahezu die komplette Aufmerksamkeit am Unabhängigkeitstag auf ihren Marsch zu konzentrieren und damit den Tag symbolisch zu „hijacken“ bzw. zu übernehmen. Ganz nach dem Motto: von außen (ultra-)nationalistisch und damit (bedingt) anschlussfähig, aber im Innern faschistisch. Obwohl die faschistoide Ausrichtung des Marsches kein Geheimnis ist, gelang es der offiziellen Politik auf kommunaler, sowie nationaler Ebene in den zurückliegenden Jahren nicht, seine Bedeutung zurückzudrängen. Unter der national-konservativen PiS hat sich stattdessen eher eine gewisse Akzeptanzkultur etabliert. Im Angesicht dieser reaktionären Front konnte auch der stetig wachsende antifaschistische Gegenprotest nur wenig gegen die marschierenden Faschist*innen und die Ignoranz der Politik ausrichten.</p><p></p><h3><b>Das verflixte siebte Jahr</b></h3><p></p><p>Diese Allianz aus faschistischer Straßenpolitik und staatlicher Zurückhaltung bekam allerdings im vergangenen Jahr entscheidende Risse. 2017 erregte der „Unabhängigkeitsmarsch“ internationale Aufregung, als rassistische und antisemitische Tendenzen besonders offen ausgestellt wurden und faschistische Gruppen massenhaft in Erscheinung traten. Der Marsch wurde damit in der weltweiten Wahrnehmung neben der umstrittenen Justizreform, der wachsenden staatlichen Einflussnahme auf die Medien, der massiven Anti-Abtreibungspolitik oder der andauernden europafeindlichen Rhetorik zu einem weiteren Symptom des polnischen Rechtsrucks und einem Anwachsen autoritärer Tendenzen im Land. Dementsprechend konnte 2018 mit einer erhöhten (medialen und politischen) Aufmerksamkeit weit über Polen hinaus gerechnet werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Beteiligung der polnischen Regierung in diesem Jahr als Schulterschluss mit der extremen Rechten zu bewerten ist, oder mehr einen Versuch darstellt, eine aus dem Ruder gelaufene „Tradition“ durch staatliche Beteiligung wieder „unter Kontrolle“ zu bringen, um das angekratzte nationale Außenbild zu korrigieren?</p><p></p><h3><b>Der „Rot-Weiße Unabhängigkeitsmarsch“</b></h3><p></p><p>Dass es überhaupt zu diesem Versuch kommen konnte, ist auf die politische Intervention der Warschauer Stadtpräsidentin (Bürgermeisterin) Hanna Gronkiewicz-Waltz zurückzuführen, die den „Unabhängigkeitsmarsch“ wenige Tage vor dem 11.11. verbot. In ihrer Begründung bezieht sie sich auf eine mögliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, da u.a. aufgrund der Ereignisse des Vorjahres eine massive Präsenz faschistischer Kräfte zu erwarten ist. Gleichzeitig befand sich die Warschauer Polizei in einer Art Krankheitsstreik, sodass eine umfassende Kontrolle des Massenereignisses schwerer zu bewerkstelligen schien. Darüber hinaus kann das Verbot der Bürgermeisterin, die der PO (kurz für „Platforma Obywatelska“ dt. „Bürgerplattform“) angehört, als politisches Zeichen einer vergleichsweise liberalen Politikerin gegenüber den Akteur*innen eines andauernden gesellschaftlichen Rechtsrucks in Polen verstanden werden. Zu befürchten hatte sie ohnehin nichts. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2018 war sie aufgrund einer Immobilienaffäre nicht erneut angetreten, so dass ihre Amtszeit und politische Karriere ohnehin bald enden wird. Mit dem Verbot begannen jedoch einige chaotische Tage. Auf der einen Seite zogen die Organisator*innen der Marsches gegen die Entscheidung vor Gericht und konnten sich so in der Öffentlichkeit als Verteidiger*innen der Versammlungsfreiheit und der polnischen Verfassung inszenieren. Auf der anderen Seite öffnete sich dadurch ein Fenster für die polnische Regierung, die innerhalb kürzester Zeit einen eigenen „Rot-Weißen Marsch“ zur gleichen Zeit auf der gleichen Strecke anmeldete. Ihr (inoffizielles) Ziel war es, wieder die Oberhand über die Feierlichkeiten des Tages in Warschau zu gewinnen und die faschistische Übernahme gewissermaßen selbst (wieder) zu übernehmen.</p><p>Eine deutliche Abkehr von faschistischen Kräften schien damit jedoch nicht einher zu gehen. Dies zeigte sich wenige Tage später, als der Marsch von den polnischen Gerichten wieder genehmigt wurde. Da es nun zwei Anmeldungen auf der gleichen Route gab, begannen beide Seiten sofort mit Verhandlungen. Nach einigen Konflikten erfolgte die Einigung auf eine gemeinsame Strategie. Bei dieser Lösung handelt es sich im Grunde genommen um eine Win-Win-Situation. Einerseits können MW und ONR auf die Integrität der polnischen Regierung verweisen und diese als „politisches Feigenblatt“ gebrauchen. Denn eine Veranstaltung, auf der Staatspräsident Duda spricht, kann ja wohl nicht faschistisch sein! Andererseits hatte der polnische Staat nun wieder einen Fuß in der Tür der Feierlichkeiten in „seiner“ Hauptstadt. Allerdings war das Ziel der PiS-Regierung weniger eine grundsätzliche Neuausrichtung des Marsches, da dessen Teilnehmende auch einen relevanten Teil der eigenen (potentiellen) Wähler*innen und Unterstützer*innenschaft ausmachen. Stattdessen schien es vor allem um eine Korrektur des Außenbildes zu gehen, sodass bspw. bestimmte als problematisch empfundene Inhalte (auf Schildern und in Slogans) nicht präsentiert werden sollten. Auch das Abbrennen von Pyrotechnik sollte unterbleiben. Diese „bitteren Pillen“ waren die Organisierenden des ursprünglichen „Unabhängigkeitsmarsches“ zu schlucken bereit, wohl wissend, dass während des Marsches eine umfassende Kontrolle dieser Absprachen nahezu unmöglich sein wird.</p><p></p><h3><b>Eine ganze Stadt in Weiß und Rot</b></h3><p></p><p>Doch zurück zum Morgen des 11. November 2018 auf den Platz vor dem Kulturpalast. Hier sollten sich die Teilnehmenden sammeln, um anschließend auf geradem Weg durch die Innenstadt zu ziehen, auf der Poniatowski-Brücke die Weichsel von West nach Ost zu überqueren und am Nationalstadion zu enden. Bereits mehrere Stunden vor dem offiziellen Beginn des Marsches um 14 Uhr sammelten sich tausende Menschen in der Warschauer Innenstadt und mit jeder Minute wurden es mehr. Gegen Mittag bewegten sich dichte Ströme mit weiß-roten Fahnen, Hüten, T-Shirts, Armbinden und sonstigen Accessoires durch die Stadt. Ganz Warschau war vom Unabhängigkeitstag und vom Marsch eingenommen. Aus diesem Grund war es nahezu unmöglich auch nur ansatzweise in die Nähe des Startpunktes zu gelangen. Eine Beschreibung der Militärparade mit Panzern am Kopf der Demonstration sowie den dahinter laufenden Repräsentant*innen des polnischen Staates muss deswegen leider entfallen. Grundsätzlich sollte es ursprünglich trotz der gemeinsamen Ausrichtung des Marsches eine gewisse Zweiteilung in der Durchführung geben. Während der „offizielle Teil“ mit den Regierungsvertreter*innen den Beginn markierte, sollte sich der eigentliche „Unabhängigkeitsmarsch“ in einem gewissen Abstand anschließen. Aufgrund der chaotischen Zugangssituation flossen jedoch unkontrolliert Demonstrierende von allen Seiten auf die Route.</p><p>Gleichzeitig lag überall der Geruch von Pyrotechnik in der Luft, die zumindest das Bild der hinteren beiden Drittel der Demonstration dauerhaft bestimmte und einzelne Abschnitte immer wieder in einen dichten weiß-roten Kunstnebel hüllte. Akustisch untermalt wurde das Ganze durch das andauernde Knallen von Böllern, dem massenhaften Singen der polnischen Nationalhymne, sowie dem Rufen des inoffiziellen Staatsmottos „Bóg, Honor, Ojczyzna“ („Gott, Ehre, Vaterland“). So ergab sich insgesamt eine durchaus martialische Atmosphäre der nationalistischen Übernahme des öffentlichen Raumes, in der auch offen faschistische Töne ihren Platz hatten. So besangen mehrere hundert Unterstützer (ausschließlich Männer) eines Fußballklubs den ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera auf der Melodie von „Guantamera“. Obwohl entsprechende Verweise unterbleiben sollten, war der Widerstand anderer Demonstrationsteilnehmender (zumindest in den hinteren Teilen) eher gering. Allerdings haben die faschistischen Kräfte ihre Vormachtstellung auf dem Marsch aggressiv aufrechterhalten. So wurde bspw. ein Teilnehmender, der sich (aus nationalistischer Motivation) tatsächlich über das offensive Auftreten der Autonomen Nationalisten aufregte, einfach in deren Block gezogen und zusammengeschlagen.</p><p></p><h3><b>Die Verteidigung Polens</b></h3><p></p><p>Die Verbindung nationalistischer Selbstbestätigung und faschistischer (Vernichtungs-)Ideologie wurde spätestens im letzten Jahr wieder als Kern der Proteste erkennbar. Der Kitt ist ein militanter Ethnozentrismus und die damit einhergehende Vorstellung, dass eine neue polnische Jugend aufsteht, um (an der Spitze einer umfassenden gesellschaftlichen Bewegung) Polen von seinen inneren und äußeren Feinden „zu befreien“. Die Überschneidung dieser Vorstellungen mit dem Leitbild der „Identitären Bewegung“ sind nicht zu übersehen. Dieses bestehende „Identitätsangebot“ könnte einer der Gründe sein, warum die „Identitären“ als eigenständige politische Gruppe bisher kaum in Polen Fuß fassen konnten.</p><p>Wer die politischen Feinde „des polnischen Volkes“ sind, wurde auf dem „Unabhängigkeitsmarsch“ mehr als deutlich. Einer der beliebtesten Slogans war „raz sierpem, raz młotem czerwoną hołotę“ (sinngemäße Übersetzung: „Nehmt eine Sichel, nehmt einen Hammer und zerstört das rote Gesindel“), der in jedem Teil der Demo aufgegriffen wurde. Dabei ist der massive Antikommunismus nicht nur gegen tatsächliche „linke“ Akteur*innen gerichtet, sondern im Grunde gegen alles, was nicht der ultra-nationalistischen bis faschistischen Weltsicht entspricht. In diesem Sinne waren Hetze gegen LGBTIQ-Personen (z.B. in Form von Stickern mit brennenden „Regenbogenfahnen“) ebenso selbstverständlicher Teil des Marsches, wie die oben erwähnten Abtreibungsgegner*innen.</p><p></p><h3><b>Der Marsch als Vorbild für die europäische Rechte</b></h3><p></p><p>Die Fähigkeit des „Unabhängigkeitsmarsches“ in Warschau eine Klammer zwischen (ultra-)nationalistischen, rechtspopulistischen, neurechten und faschistischen Kräften zu bilden und diese Koalition in einer massenhaften Demonstration auf die Straße zu tragen, weckt natürlich die Aufmerksamkeit anderer Akteur*innen der alten, Neuen und extremen Rechten weltweit. So war aus der BRD bspw. eine Gruppe von rund zehn Personen vom PEGIDA-Organisationskreis anwesend, deren eigene Aufmärsche vor diesem Hintergrund fast lächerlich wirken. Während die anwesenden „Deutschen“ (u.a. auch die rechte Organisation „Hand in Hand“ aus Brandenburg) sich jedoch (aus „historischen Gründen“) eher im Hintergrund hielten bzw. halten mussten und die „stillen Bewundernden“ gaben, waren Abordnungen aus anderen Nationen deutlich auf dem Marsch vertreten. Ungarische Faschisten (ohne die sich neu aufstellende Jobbik-Partei) marschierten sogar in einem eigenen Block. Kleinere Gruppen aus Spanien oder Italien (z.B. „Forza Nuova“) waren ebenfalls anwesend. Sie alle werden ihre eigenen Rückschlüsse aus den Ereignissen ziehen. Allerdings scheint sicher zu sein, dass rechte Großaufmärsche mit offen faschistischer Beteiligung in den nächsten Jahren weltweit eher noch zunehmen werden, um auf diese Weise „das Volk“ als tatsächliche Masse auf der Straße zu inszenieren. Die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden oder der sogenannte „Friedensmarsch“ in Budapest sind neben dem 11.11. in Warschau nur einige Beispiele dieses Trends.</p><p></p><h3><b>Staat und Nazis Hand in Hand?</b></h3><p></p><p>Doch wie ist nun die Beteiligung der polnischen Regierung in diesem Jahr zu bewerten und was ist in den kommenden Jahren zu erwarten? Für umfassende Analysen ist es sicherlich zu früh. Den deutlichen Mobilisierungsschub in diesem Jahr jedoch allein auf die Beteiligung der Regierung zu schieben, greift zu kurz. Es ist vielmehr die Kombination aus offizieller Legitimation und dem „besonderen“ Jubiläum, die erklären kann, wie sich 200.000 Personen einem Marsch anschließen konnten, der zumindest zum Teil von bekennenden Faschist*innen organisiert wurde. Tatsächlich schien sich ein Großteil der Demonstrierenden über die Hintergründe des Marsches im Klaren zu sein. Diese wurden entweder stillschweigend hingenommen oder sogar aktiv befürwortet. Eine Gegenposition - selbst aus einer nationalistischen Perspektive - wurde so gut wie überhaupt nicht eingenommen. Dieses Stillschweigen kann nicht allein auf die einschüchternde Präsenz bestimmter Neonazi-Gruppen geschoben werden, da die Teilnehmenden den Marsch zu jeder Zeit hätten verlassen können.</p><p>Insgesamt hat die Beteiligung der Regierung in einem gewissen Maß zu einer Mäßigung des „Unabhängigkeitsmarsches“ beigetragen. Dennoch waren Faschist*innen und Neonazis massiv präsent und haben das Bild in großen Teilen bestimmt. Es wurde lediglich auf besonders offensive Schilder oder Transparente verzichtet und auch aus Regierungssicht problematische Slogans waren seltener zu hören. Stattdessen wurden politische Bekenntnisse vermehrt „im Stillen“ auf T-Shirts, Mützen oder Jacken ausgestellt. Der „Unabhängigkeitsmarsch“ ist somit weit davon entfernt, von staatlicher Seite „pazifiziert“ zu werden. Vielmehr wurde lediglich das Außenbild ein wenig korrigiert, um den offiziellen Ansprüchen zu entsprechen. In diesem Sinne kann eher von einer gewissen Arbeitsteilung gesprochen werden. Während die Organisierenden von der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit (bei minimalen Zugeständnissen) profitieren können, „schenkt“ die Regierung ihren Wähler*innen, oder zumindest einem ultra-konservativen Teil, ein nationalistisches Massenevent in der Hauptstadt, das sich per Lippenbekenntnis von allzu offensichtlichem faschistischen Bestrebungen distanziert. Beide Seiten grenzen sich dabei nur so weit wie nötig voneinander ab. Ob diese Verbindung in den nächsten Jahren halten wird, ist schwer zu sagen. Vielleicht braucht es nur kleine Kratzer an dem erwünschten Außenbild, damit die fragile Koalition zerbricht, weil sich die polnische Regierung eine weitere Beteiligung nicht mehr leisten kann. Vielleicht verschieben sich die gesellschaftlichen Diskussionen und Verhältnisse jedoch zukünftig in einer solchen Weise, dass selbst das irgendwann egal sein wird. In diesem Jahr hat der „Unabhängigkeitsmarsch“ jedoch das zusammengebracht, was (ideologisch) ohnehin zusammengehört, so dass trotz der veränderten Verpackung immer noch der alte Inhalt drinsteckt. Aus einer internationalistisch-orientierten Perspektive antifaschistischer Bewegung geben die beschriebenen Entwicklungen einen deutlichen Anlass zur Sorge. So wurde der diesjährige Gegenprotest, dem sich mehrere tausend Menschen anschlossen, kaum wahrgenommen – weder von der polnischen oder internationalen Öffentlichkeit noch von den Teilnehmenden des Marsches. Aufgrund der organisatorischen Unterstützung des polnischen Staates werden die ohnehin nur geringen Möglichkeiten für erfolgversprechende Interventionen in Zukunft weiter schwinden. Stattdessen sieht es so aus, als könnte sich noch stärker als in der Vergangenheit ein ultra-nationalistischer Marsch mit massiver faschistischer Beteiligung als Teil der nationalen Erinnerungskultur in Polen etablieren. Und davon profitiert nicht nur die regierende PiS-Partei, sondern alle rechten Kräfte und Gruppierungen, die sich auf dem Marsch als anerkannte politische Akteure in der Öffentlichkeit präsentieren können.</p></div>
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