re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=6372023-02-02T09:28:00.058594+00:00[Audio] „Es ist eine Revolution des Mittleren Ostens“ – Gespräch zu feministischen Kämpfen2021-03-08T10:48:04.421328+00:002021-03-17T21:54:34.532083+00:00Joan Adalarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/audio-es-ist-eine-revolution-des-mittleren-ostens-gespr%C3%A4ch-zu-feministischen-k%C3%A4mpfen/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>[Audio] „Es ist eine Revolution des Mittleren Ostens“ – Gespräch zu feministischen Kämpfen</h1>
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<span class="content-copyright">Herausgeber_innenkollektiv</span>
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<div class="rich-text"><p>1000 kleine Revolutionen jeden Tag. So könnte die Zustandsbeschreibung unserer Welt sein, in der Frauen* tagtäglich Kämpfe auszufechten haben. Einmal jährlich, zum Internationalen Frauen*kampftag am 8. März, werden wir daran erinnert oder erinnern uns selbst daran. Wir gehen auf die Straße, oder - wie vielleicht im letzten und in diesem Jahr vermehrt - werden mit kreativen Aktionen aktiv und versuchen, unseren Widerstand in die Welt hinauszutragen. Und das ist gut so. Es ist allerdings viel zu selten, dass die Kämpfe abseits dessen sichtbar werden - oft sind es nur Fragmente, die zu uns durchdringen. Aber letztlich kämpfen wir immer wieder gegen dasselbe System, dieselben Strukturen - in der Lohnarbeit, im Privaten, in unserem politischen Umfeld. Den Bezugnahmen auf ausgefochtene Kämpfe, Errungenschaften, Erinnerungen und Erfahrungen wird oft zu wenig Raum gegeben - und damit auch dem Potenzial, sie weltweit zu verbinden. Nach wie vor gibt es aber ein Verständnis von Revolution, das mit sehr maskulinen Kämpfern und martialischen Umstürzen assoziiert wird. Dabei zeigen uns die klassenkämpferischen, antirassistischen und antikapitalistischen Bewegungen der letzten Jahre ja vor allem eines überdeutlich: Frauen* kämpfen an vorderster Front mit, weil es sie in besonderem Maße betrifft, oder weil sie realisiert haben, dass der Widerstand notwendig auch ein feministischer sein muss. Weil für sie Feminismus zum Lebensalltag oder als Überlebensstrategie einfach dazugehört.</p><p>1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist auch der <a href="https://revoltmag.org/articles/1000-kleine-revolutionen-jeden-tag/">Titel eines Beitrags</a>, der genau vor zwei Jahren im <i>re:volt magazine</i> erschien. Es war ein sehr ausführliches Gespräch mit Teilnehmer*innen der feministischen Delegation „Gemeinsam kämpfen“, die sich zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten in Rojava – dem Gebiet in Nord- und Ostsyrien –aufhielten. Mit im Gepäck hatten sie viele Fragen – und vermutlich noch mehr davon bei ihrer Rückkehr. Im kollektiven Prozess haben sie seitdem daran gearbeitet, ihre Erfahrungen über den Aufbau der Selbstverwaltung, allem voran aber auch die Gespräche mit den Frauen vor Ort niederzuschreiben. Entstanden ist dabei ein beeindruckender Sammelband, der kürzlich im <i>Verlag edition assemblage</i> erschien. Das Buch trägt den Namen „Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II“. Die Frauenbewegung in Rojava ist eine wichtige Inspirationsquelle für die Überlegungen, was eine feministische Revolution bedeuten könnte. Jo vom <i>re:volt magazine</i> hat darüber mit Anja, Clara und Olga gesprochen, die Teil des Herausgeber_innenkollektivs sind.</p><p>Im Folgenden sind zentrale Punkte des Gesprächs zusammengefasst. Den Audiobeitrag mit dem Gespräch in voller Länge könnt ihr hier hören:</p><p></p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p>Olga erinnert sich: „Als das Buch schon fast fertig war, sind wir nochmal durchgegangen und haben in den Interviews nach einem passenden Zitat für den Titel gesucht. Wir haben dort den Satz „Wir wissen was wir wollen und was wir tun“ gefunden und fanden das sehr passend.“ Es ist ein Zitat von Medya Abdullah, von der Anja dann mehr erzählt: „Medya Abdullah ist die Vertreterin der Selbstverteidigungskräfte in Derîk. Eine Frau, die acht Kinder hat, 50, 60 Jahre alt ist und die sagt: Mein Leben ist die Revolution. Ich bin glücklich, in dieser Zeit zu leben! In einer Zeit, wo wir vielleicht denken, da ist Krieg, dort sind sehr schwierige Verhältnisse, die Menschen fliehen nach Europa. Und sie sagt: Ich bin glücklich, in dieser Zeit zu leben und endlich die Träume einer befreiten Gesellschaft, die wir ein Leben lang hatten, in die Praxis umzusetzen.“</p><h2><b>Kollektivität im Prozess</b></h2><p>Der Austausch der feministischen Delegation mit den Genossinnen der Frauenbewegung in Rojava hält noch immer an. Das Buch ist daher auch eine Gemeinschaftsarbeit mit vielen Beteiligten aus Europa sowie aus Nord- und Ostsyrien. Texte wurden hin- und hergeschickt, Ideen und Anmerkungen natürlich, und immer wieder aktuelle Berichte aus der Region, die andauernden militärischen Angriffen, vor allem des türkischen Militärs und islamistischer Gruppierungen, ausgesetzt ist.</p><p>Als ich mit den drei über die Intention des Bandes spreche, führt Anja aus: „Uns war es wichtig, die Akteurinnen der Revolution aufs Cover zu bringen, also die Frauen dort und nicht uns selbst. In vielen Medien wird der militärische Aspekt hervorgehoben, man sieht Guerilla-Kämpferinnen oder Kämpferinnen der YPG/YPJ. Uns war es wichtig zu zeigen, dass es vor allem auch die Zivilgesellschaft ist, die die Revolution trägt.“ Es gehe dem Herausgeber_innenkollektiv darum, die Geschichte der Frauenrevolution Rojavas aufzuschreiben, in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Clara fügt hinzu: „Die Frauen haben uns auch immer wieder gesagt: Verbreitet das! Es ist also unsere Aufgabe, das, was wir dort gelernt haben mit Menschen zu teilen. Es ist also weniger 'Wir geben denen eine Stimme!', als dass sie uns die Möglichkeit gegeben haben, mit ihren Geschichten zu lernen und die Geschichten weiterzutragen.“</p><p>Die Auseinandersetzungen mit den Geschichten der Frauen in Rojava wurden in einem anderen Interview ein „kollektiv erkämpfter Erfahrungsschatz“ genannt. Ich fand das sehr passend und habe die drei nach ihren Überlegungen zu Kollektivität gefragt.</p><p>„Morgens zusammen aufstehen, zusammen frühstücken, saubermachen, zusammen die Planung machen, auch Essen wurde immer abwechselnd für alle gekocht“, beschreibt Olga das Zusammenleben auf der Delegationsreise und stellt dabei insbesondere die gemeinsamen Routinen für Kritik und Selbstkritik heraus: „Wichtig für das kollektive Zusammenleben war auch ein regelmäßiger Rahmen, in dem das Zusammenleben kritisiert werden kann, oder man sich selbst kritisieren kann. Das ist Kritik mit einer gemeinsamen Perspektive: Wir sind geprägt von einem patriarchalen, kapitalistischen System und wollen dahingehend unsere Verhaltensweisen ändern. Wie wirkt es sich auf unser Zusammenleben aus, und was heißt das dann auch in der persönlichen Veränderung.“ Das bedeute auch, Kollektivität „nicht nur als die Schaffung eines kollektiven Rahmens zu begreifen, mit den Leuten, mit denen ich mich organisiere. Sondern dass wir nur Gesellschaft verändern, wenn es die Grenzen, die es in der Gesellschaft gibt – die mich zum Beispiel fernhalten von Leuten, mit denen ich weniger eine Realität teile – auch aufbricht.“ Kollektivität, merkt Clara an, hat auch viel mit der Bereitschaft zu tun, voneinander zu lernen: „Von Kämpfen, die bereits stattgefunden haben, Kämpfe, die gerade stattfinden. Und auch dort über die eigene Region hinwegzukucken und zu fragen: Welche Fragen stellt man, aus welcher Perspektive kuck ich – und diese auch aktiv zu verändern.“</p><p>Insofern können wir, das machen alle drei Gesprächspartnerinnen* deutlich, von diesen Formen der Kollektivität und Organisation viel dazulernen, weil sie sich damit in fokussierter Form gegen das Herrschafts- und Ausbeutungssystem wehren, dass es weltweit gibt. Auch für uns im Zentrum Europas sind kollektive Strukturen überlebenswichtig, nur sind sie in unseren hoch individualisierten Gesellschaften oft nicht so direkt sichtbar. Olga beschreibt ihren Eindruck: „Hier, in Berlin, wirkt der politische Kampf oft als etwas, was man nebenbei macht, nicht aber als Notwendigkeit gegen dieses System, das uns einfach kaputt macht. Es ist dasselbe System, das letztendlich auch Rojava versucht kaputt zu machen. Um diesen Kampf gemeinsam zu kämpfen, müssen wir viel globaler denken und die Angriffe, die es auf Rojava gibt, auch auf uns beziehen.“</p><h2><b>„Die Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da“</b></h2><p>Clara macht deutlich, dass es in der Revolution die Bereitschaft braucht, sich andauernd grundlegende Fragen zu stellen: „Und sich auch immer wieder zu erneuern. Da haben wir viel dazugelernt. Wir sehen: Klar, es gibt diese Herausforderungen, und die gibt es auch in anderen Teilen der Welt, weil wir eine sehr staatlich geprägte Gesellschaftsform haben. Dort herauszukommen, das wurde uns bewusst, das dauert einfach lange. Es ist ein Prozess. Jeden Tag müssen wir ein Stück schauen, und jeden Tag müssen wir auch daran arbeiten. Das heißt, in uns, miteinander und uns gegenseitig aufmerksam machen in den Strukturen. Wir haben gemerkt: Das sind Fragen, die werden immer wieder präsent sein. Wir haben keine anderen Antworten gefunden darauf, würde ich sagen. Aber andere Umgänge mit den Fragen: Es sind Fragen, die dürfen da sein, und die müssen auch da bleiben. Das haben uns auch vor allem die Frauen gezeigt, mit denen wir Interviews geführt haben. Damit man auch in der Revolution, wenn man denkt: Oh, jetzt grade läuft es doch ganz gut! – dass man dann trotzdem sagt, ne, lass uns das anschauen, lass schauen, was nicht so gut läuft und eine Bereitschaft dazu haben, miteinander immer weiter zu wachsen, und nicht aufzuhören. Nicht an einem Punkt zu sagen, okay, jetzt ist alles entspannt, jetzt chillen wir. Sondern eher immer weiter dranzubleiben.“</p></div>
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<p>Das Dorf der Freien Frauen, Jinwar, über das im Buch auch berichtet wird.</p>
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<div class="rich-text"><p>Anja ergänzt: „Was wir oft für ein falsches Verständnis von Revolution haben; im Sinne, dass man irgendwo reingeht, alles umschmeißt und damit etwas Neues erschafft. Doch so funktioniert das nicht. Wir tragen ja die staatlichen Strukturen noch in uns. Die loszuwerden ist ein langer Kampf, ebenso wie der Kampf, Neues aufzubauen. Die Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da. Revolution ist etwas, was durch eine langjährige, kontinuierliche Arbeit aufgebaut wird.“ In Bezug auf die Region Nord- und Ostsyrien macht Anja zudem eine weitere wichtige Anmerkung, die auch die Verbundenheit der Kämpfe sichtbar macht: „Im Buch kommen auch viele arabische Frauen zu Wort, nicht nur kurdische Frauen. Vielleicht wird die Revolution hierzulande in erster Linie als eine kurdische Revolution wahrgenommen, das ist aber überhaupt nicht der Fall. Inzwischen ist der Großteil der Bevölkerung in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien nicht kurdisch, sondern arabisch. Und auch flächenmäßig sind die meisten Dörfer und Städte, die dort in der Selbstverwaltung sind, überwiegend arabisch bewohnt. Es ist also nicht eine kurdische Revolution in erster Linie, sondern eine Revolution des mittleren Ostens.“</p><h2><b>„Feminismus ist kein Teilbereichskampf“</b></h2><p>Mit Bezug auf den Internationalen Frauen*kampftag frage ich, was die Erfahrung in Rojava und die Auseinandersetzung mit den Kämpfen den drei für die feministischen Kämpfe weltweit mitgegeben hat. Anjas Antwort ist kurz und knapp: „Diese Entschlossenheit, über Jahrzehnte zu kämpfen. Oder auch einen sicheren Ort zu verlassen, um dort einen Teil der Revolution zu sein. Da können wir uns eine Scheibe von abschneiden.“ Olga führt aus, dass es wichtig ist, „dass wir Feminismus nicht als ein Teilbereichskampf sehen, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Utopie. Also dass es nicht nur ein Kampf ist gegen die sexistischen Zustände und bestimmte Probleme, gegen die wir Abwehrkämpfe führen. Sondern für eine antipatriarchale, befreite Gesellschaft." Und das schließe eben ganz viele Lebensbereiche mit ein: „Was heißt es, aus einer Perspektive der Frauenbefreiung, ein Gesundheitssystem aufzubauen oder eine Wirtschaft oder ein Bildungssystem oder Kultur und Medien und so weiter? Das ist nicht nur eine Frage für Frauen, Lesben, Trans, Inter (FLINT), sondern für alle. Trotzdem müssen wir uns als FLINT autonom organisieren und unsere Themen voranbringen – aber darin eine gesamtgesellschaftliche Perspektive stärken und in feministischen Kämpfen gesellschaftlichere Ansätze entwickeln“.</p><h2><b>Anmerkungen</b></h2><p>Das Herausgeber_innenkollektiv reiste als feministische Delegation der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ im Winter 2018/19 von Deutschland aus in die nord- und ostsyrischen Gebiete, um das basisdemokratische Projekt Rojava besser kennenzulernen.</p><p>Der Band „Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II“ erschien im Februar 2021. Auf der <a href="https://www.edition-assemblage.de/buecher/wir-wissen-was-wir-wollen/">Webseite des Verlags edition assemblage</a> gibt es weitere Informationen dazu sowie die Möglichkeit, den 560 Seiten–Wälzer direkt zu bestellen. Der Band ist die Fortsetzung des Werks „Widerstand und gelebte Utopien“, das 2012 im mittlerweile verbotenen Mezopotamien Verlag erschien. Im ersten Band lag der Fokus auf Nordkurdistan.</p></div>
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<p>Cover des Sammelbands "Wir wissen was wir wollen"</p>
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Über den Widerstand in einem Land der Frauenmorde2020-03-09T10:44:42.651186+00:002023-02-02T09:28:00.058594+00:00Juliana Ramirezredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/%C3%BCber-den-widerstand-in-einem-land-der-frauenmorde/
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<h1>Über den Widerstand in einem Land der Frauenmorde</h1>
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<div class="rich-text"><p>Frauen* aus verschiedenen Städten Mexikos gehen bereits seit vergangenem Jahr gegen geschlechtsspezifische Gewalt, Frauenmorde und damit verbundene Straffreiheit auf die Straßen. Darunter sind Frauen, die sich in feministischen Kollektiven organisieren, aber auch solche, die Betroffene von Gewalt oder Familienangehörige von Ermordeten und Verschwundenen sind. Sie alle organisierten sich in den sozialen Netzwerken, in Solidaritätskampagnen oder im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zu einer nie dagewesenen Kraft, um ihren Frust über die Gewalt, die sie täglich erleben müssen, Ausdruck zu verleihen. Die Lebensrealität mexikanischer Frauen ist ein täglicher Kampf zwischen sexueller Belästigung auf den Straßen und bei der Arbeit, ein Kampf gegen häusliche Gewalt, Entführungen, Vergewaltigungen und Ermordungen.</p><p>Die Gewalt gegen Frauen ist so eingeschrieben in die mexikanische Gesellschaft, dass ein großer Teil der Frauen zumindest einmal im Leben Betroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt wurden. Es gibt keine Sicherheit für sie, wenn sie alleine die Straße entlanglaufen oder ein Taxi nehmen, um nach Hause zu fahren – zu jedem Zeitpunkt besteht die Möglichkeit, auf dem Weg angegriffen, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Und auch zu Hause hört es nicht auf: Neun von zehn Frauenmorden beginnen mit häuslicher Gewalt. Die Mörder sind die Ehemänner, Beziehungspartner oder eifersüchtige Ex-Freunde.</p><p></p><h2><b>Die Komplizen der Mörder</b></h2><p>Die aktuellen massiven Proteste der Frauen* in Mexiko – unter anderem gingen gestern, am weltweiten Frauen*kampftag, mehrere Millionen Frauen* auf die Straße – entzündeten sich aufgrund eines Leaks von sensiblem Beweismaterial durch einen Beamten der Bundespolizei oder der Staatsanwaltschaft. Das Material bezeugt einen der brutalsten Feminizide der jüngsten Zeit. Einen der ungefähr 250 Frauenmorde seit Beginn des Jahres 2020. Die 25-jährige junge Frau wurde in ihrem eigenen Haus ermordet, ihr Körper vom Täter grausam verstümmelt. Als dieser durch die Polizei am Tatort festgesetzt wurde, war er mit dem Blut der Ermordeten überströmt. Während der Festnahme des Täters vernahm ein Beamter der Staatsanwaltschaft und/oder Polizei den Täter über die Gründe der Ermordung. Dieser gab an, er habe die Frau nach einem Streitgespräch ermordet.</p><p>Das Video dieser Vernehmung wurde anschließend in den sozialen Netzwerken verbreitet. Der Fall ging viral. Am darauffolgenden Tag glänzten die mexikanischen Boulevard-Zeitungen mit der Rechtfertigung des Frauenmordes. Sie verhöhnten die Ermordete in den Überschriften, machten satirische Kommentare und veröffentlichten Informationen über sie ohne den geringsten Respekt vor dem verlorenen Leben, geschweige denn vor den Angehörigen des Opfers. Die Veröffentlichung des Videos durch Beamte führte schließlich dazu, dass der Mörder freigelassen wurde, da er den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte im Rahmen seiner Verhaftung einfordern konnte. So nährten nicht nur die mexikanische Presselandschaft, sondern auch die staatlichen Autoritäten erneut ein frauenverachtendes System, das im vergangenen Jahr allein 3800 Leben von Frauen kostete. <b>[1]</b> Im direkten Vergleich wurden im Jahr 2018 in Deutschland laut Bundeskriminalamt 122 Frauen* durch ihre Ex-Partner und/oder Ehemänner ermordet.</p><p></p><h3><b>Ein Ausdruck von kulturellem Konservatismus</b></h3><p>Bei den Opfern von Feminiziden handelt es sich häufig um Menschen der popularen Klassen, also Arbeiterinnen*, Hausfrauen*, Studentinnen* und so weiter. Das Gleiche gilt auch für die männlichen Täter. Das heißt jedoch nicht, dass die Gewalt notwendigerweise mit dem sozialen Status in der Gesellschaft zusammenhängt. Vielmehr äußert sie sich je nach gesellschaftlicher Klasse unterschiedlich. Vielleicht kommt der einen oder anderen von uns der Gedanke, dass es sich hier um psychisch kranke Männer oder unmenschliche Monster handeln muss – aber das entspricht nicht der Realität. Vielmehr handelt es sich um ganz normale Typen. Die Täter haben gemeinsam, dass sie sich in ihrer Ideenwelt und bei ihren Taten auf gesellschaftlich hegemoniale konservative und patriarchale Männlichkeitsvorstellungen beziehen. Männlichkeitsvorstellungen, die direkt damit einhergehen, dass die Unterwerfung einer Frau etwas vollkommen Normales und sogar Notwendiges ist. Eine Unterwerfung, die mit machistischen Praktiken einhergeht, die irgendwann am Ende der Fahnenstange dieser Logik endet: der sexualisierten Gewalt und dem Frauenmord.</p><p>Dass diese Form konservativer Männlichkeit in Mexiko nach wie vor hegemonial ist und in anderen Ländern nicht im selben Maße, hat natürlich Gründe. In Mexiko gab es nur wenige gesellschaftlich relevante feministische Bewegungen, die auch nicht in der Lage waren, das klassische Rollenbild nachhaltig in Frage zu stellen. Bislang nicht.</p><p></p><h3><b>Zuckerbrot, Aussitzen und Peitsche</b></h3><p>In den Tagen nach dem grauenhaften Mord an der 25-Jährigen organisierten sich die Frauen über die sozialen Netzwerke, um gegen das Komplizentum der mexikanischen Presselandschaft und der Behörden in Mexiko-Stadt Proteste loszutreten. Sie forderten Gerechtigkeit und eine gerechte Strafe auch für diejenigen, die die sensiblen Informationen über die Tat veröffentlicht hatten. Die Antwort des Staates war Tränengasbeschuss durch die eigens für Frauenproteste aufgestellte und eingesetzte Fraueneinheit „Grupo Atenea“ gegen die Demonstrierenden. Darüber hinaus lancierte die Oberbürgermeisterin der Hauptstadt, Claudia Sheinbaum, ihres Zeichens Mitglied der Linkspartei MORENA, eine Polizeioperation zum Schutz von historischen Monumenten in unmittelbarer Nähe zu den Demonstrationen – aus „Angst“, diese könnten „beschädigt werden“. In der Vergangenheit waren bei ähnlich gelagerten Protesten gegen sexualisierte Gewalt durch Polizisten historische Denkmäler mit feministischen Slogans gegen Frauenmorde und Vergewaltigungen bemalt worden.</p><p>In direkter Folge der Proteste und dem öffentlichen Druck präsentierte die Oberstaatsanwältin von Mexiko-Stadt, Ernestina Godoy, vor dem Kongress der Hauptstadt zudem <a href="https://www.congresocdmx.gob.mx/el-congreso-local-recibio-iniciativa-de-la-fiscal-general-cdmx-para-castigar-filtraciones-de-informacion-e-imagenes-que-lesionen-la-dignidad-de-la-victima/">eine Gesetzesinitiative</a>: Diese sieht die Implementierung eines Artikels vor, der es künftig ermöglichen soll, jenen Teil der Beamtenschaft zur Rechenschaft zu ziehen, der sensibles Beweismaterial im Rahmen einer Ermittlung ohne Erlaubnis veröffentlicht. Die Strafe soll abhängig von der Schwere des Falls nach zwischen zwei und zwölf Jahren Gefängnis schwanken, bei einer Strafzahlung zwischen 2000 und 4000 Euro.</p><p>Während die Stadtoberen sich jedenfalls um ihre historischen Monumente sorgten, wurde in der gleichen Woche ein sieben Jahre altes Mädchen nach dem Verlassen der Schule entführt, vergewaltigt und ermordet. Die von sexueller und physischer Gewalt gezeichnete Leiche des Mädchens wurde Tage später in einer Plastiktüte aufgefunden. Dieser erneute Mord trat eine weitere Welle der Empörung gegen die Stadtverwaltung der Hauptstadt und diesmal auch gegen die Regierung des derzeitigen Präsidenten Mexikos, Andres Manuel López Obrador (MORENA) los. Letzterer hatte bis zu diesem Zeitpunkt eher einen Kurs der Vermeidung des Themas Frauenmorde gefahren. Am 19. Februar nun lobte der mexikanische Präsident die Initiative zur Verschärfung der Strafen bei Morden an Frauen und sexualisierter Gewalt. Es sollte jedoch klar sein, dass Initiativen dieser Art das Grundproblem nicht angehen – insbesondere in einem Land, in dem täglich mindestens 50 Frauen Opfer von Vergewaltigungen werden und täglich zehn Frauen getötet werden.</p><p></p><h3><b>Die Statistiken der Gewalt überschlagen sich</b></h3><p>Bei den Frauenmorden handelt es sich weder um Zufall noch um isolierte Einzelfälle, sondern um Gewalttaten aus einer noch stark von patriarchalen Ideenwelten dominierten Gesellschaft. Das verdeutlichen auch nachfolgende Zahlen verschiedener internationaler Institutionen.</p><p>Die Feminizide an dem sieben Jahre alten Mädchen oder der 25-jährigen Frau sind Teil einer Statistik, die sich Jahr für Jahr weiter überschlägt: In den vergangenen Jahren nahmen laut dem Staatsanwalt Alejandro Gertz Manero die Zahl der registrierten Morde an Frauen <a href="https://www.jornada.com.mx/ultimas/politica/2020/02/11/gertz-aumentaron-los-feminicidios-137-en-cinco-anos-4329.html">um nahezu 137 Prozent zu</a>. Laut dem US News & World Report 2019 belegt Mexiko <a href="https://www.google.com/amp/s/www.forbes.com.mx/guatemala-el-peor-pais-para-ser-mujer-en-america-latina/amp/">den vierten Platz</a> in Lateinamerika und <a href="https://www.google.com/amp/s/www.forbes.com.mx/mexico-entre-los-20-peores-paises-para-ser-mujer/amp/">den zwanzigsten Platz weltweit</a>, was negative Lebensbedingungen von Frauen anbelangt. Es überrascht vor diesem Hintergrund wenig, dass Mexiko das Land mit den meisten Frauenmorden <a href="https://www.jornada.com.mx/2019/04/09/politica/010n1pol">auf dem amerikanischen Kontinent</a> ist.</p><p>Zwischen 2015 und 2019 wurde einer von zehn Frauenmorden an einer minderjährigen Frau verübt. So ist Mexiko laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OWZE) ganz vorne mit dabei bei <a href="http://comunicacion.senado.gob.mx/index.php/informacion/comision-permanente/boletines-permanente/41220-mexico-ocupa-el-primer-lugar-mundial-en-delitos-de-abuso-sexual-de-menores.html">Delikten des sexuellen Missbrauchs</a>, der häuslichen Gewalt und der Ermordungen von Kindern, die jünger als vierzehn Jahre alt sind. Laut dem Netzwerk für Kinderrechte in Mexiko (REDIM) sterben in Mexiko <a href="https://www.forbes.com.mx/violencia-en-mexico-cobra-la-vida-de-3-6-ninos-al-dia/">täglich mindestens drei Kinder aufgrund von Gewalt</a>. Das alles, während die Nationale Kommission zur Suche von verschwundenen Personen im vergangenen Jahr feststellte, dass sieben Kinder täglich verschwinden. Mal abgesehen von dem schändlichen ersten Platz für Produktion und Vertrieb von Kinderpornographie laut dem Security Department der USA – neben dem Drogenhandel eines der lukrativsten Geschäfte auf dem mexikanischen Schwarzmarkt.</p><p></p><h3><b>Der Widerstand wächst</b></h3><p>Unter den Hashtags #undiasinnosotras („Ein Tag ohne uns“) und #elnueveningunasemueve („Am 9. März bewegt sich keine“) fand sich in den vergangenen Wochen eine feministische Kampagne zusammen, die zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zu einem nationalen Streik der Frauen am 9. März aufruft. Der Aufruf appelliert an alle Frauen, einen Tag nach dem weltweiten Frauen*kampftag einen klassenkämpferischen Streik durchzuführen; das heißt, weder zu arbeiten, noch einzukaufen, noch zu Schulen, Universitäten oder sonst wo hin zu gehen.</p><p>Die Organisatorinnen gehen davon aus, dass die täglichen Frauenmorde aus der patriarchalen Vorstellung resultieren, dass Frauen weniger wert seien als Männer, oder eben sogar gar nichts wert seien. Das Zentrum zur Frauenforschung im Business Management (CIMAD) geht aber davon aus, dass ein Streik der Frauen die Abwesenheit von bis zu 22 Millionen regulären Arbeitskräften bedeuten könnte – und damit rund 40 Prozent des Personals der Firmen Mexikos betreffen. Das entspräche einem 24-Stunden Streik der mexikanischen Automobilindustrie <a href="https://www.elfinanciero.com.mx/economia/paro-de-mujeres-costara-a-la-economia-26-300-mdp-estima-la-concanaco-servytur">mit einem Einnahmenausfall</a> von ungefähr 1.252.446.190 Euros. Dieser Streik würde also die Verzerrung der patriarchalen Logik offenlegen und wäre so der schlagende Beweis, dass ohne die Arbeitskraft der Frauen, ohne die Präsenz der Frauen in der Gesellschaft, Mexiko und die Welt stillstünde.</p><p></p><hr/><p></p><p>Übersetzung: Jan Schwab</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Dazu treten in den Jahren 2013 – 2017 mindestens <a href="https://issuu.com/letra-s/docs/informe_crimenes_2017">381 Morde</a> an LGBTI*s, davon 209 Morde an Trans-Frauen*, die aus Hass-Motiven begangen wurden.</p></div>
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Heute kümmern wir uns nicht! Frauen*streik in der Schweiz2019-06-22T09:58:04.108275+00:002019-06-22T09:59:31.841794+00:00Maja Tschumiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/heute-k%C3%BCmmern-wir-uns-nicht-frauenstreik-in-der-schweiz/
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<h1>Heute kümmern wir uns nicht! Frauen*streik in der Schweiz</h1>
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<div class="rich-text"><p>Am Morgen des 14. Juni ist die Vorfreude auf den Tag fast mit den Händen greifbar. Als ich mich durch die Straßen Berns Richtung Hirschengraben bewege, auf dem Weg zu einem Treffen mit einer ersten Gruppe von Frauen, sehe ich die Vorboten überall: Die aufgesprühten Streiklogos, lila Luftballone und Transparente: „We don’t care“, „Patriarchat abschaffen“, „Wenn Frau* will, steht alles still“. Ich bemerke, wie ich bei jeder Person, die lila trägt, überlege, ob sie streikt. Jene, die streiken, werfen mir dann meist irgendwann einen Blick zu, der sagt: Wir sehen uns später! Eine Frau entschuldigt sich, dass sie arbeiten geht und nicht zum Streik kommt. Was für ein Tag, an dem sich mal nicht jene entschuldigen, die erwerbslos sind (der systematischen neoliberalen Disziplinierungs- und Abwertungsrhetorik gegenüber Menschen ohne Lohnarbeit sei Dank!), sondern umgekehrt. Bereits am Morgen liegt eine Energie in der Luft, aufgeladen von einer monatelangen Mobilisierung. Ich merke, wie es auch mich packt: aufgeregt rufe ich noch einmal meine Schwester an, sage ihr, sie müsse unbedingt zum Frauen*steik kommen. Sie ist selbstständig und Mutter von drei Kindern. Noch ist sie unschlüssig, ob sie kommen kann.</p><p>Bereits in der Nacht haben Frauen* in Zürich und in anderen Städten rasselnd und trommelnd zum Streik aufgerufen. Aktionen und kleinere Demoumzüge begannen schon in den frühen Morgenstunden. Am Ende des Tages werden sich in der gesamten Schweiz an die 500'000 Frauen* beteiligt haben: Sie* sind auf die Strasse gegangen, haben an Aktionen teilgenommen oder ihre* Arbeit niedergelegt. Der Frauen*streik vom Juni 2019 ist die grösste politische Demonstration der jüngeren Schweizer Geschichte. Und es ist nicht der erste Streik.</p><p>Während die zahllosen Frauen*streiks in Spanien, Deutschland und Italien am 8. März 2019 stattfanden, rief der Frauen*kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) im Januar 2018 zum Frauen*streik am 14. Juni 2019 auf. Man wollte damit an den historischen Tag vom 14. Juni 1991 anschliessen, an dem zum ersten Mal rund eine halbe Million Frauen* an Protest- und Streikaktionen teilnahmen. Anlass zum Streik 1991 war das zehnjährige Jubiläum der Verankerung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung. Der SGB rief damals zum Streik auf, weil die Umsetzung des Artikels nur zögerlich vorangetrieben wurde und nach wie vor gravierende Ungleichheiten und Ausgrenzungen bestanden. Man versuchte, einige zentrale Problemlagen anzugehen, die zuvor noch nicht einmal Thema politischer Auseinandersetzungen waren: So gab es – neben den zentralen Feldern der Lohnungleichheit und der sozioökonomischen Diskriminierung von Haus-und Carearbeit – zum Beispiel noch keinen gesetzlichen Mutterschutz. Der Frauenstreik 1991 führte natürlich nicht zur vollständigen Behebung von Lohnungleichheit und Diskriminierung. Dennoch sind seine Erfolge beträchtlich: Mitte der 1990er Jahre wurde vom Parlament verbindliche Regeln für die Umsetzung des Gleichstellungsartikels aufgestellt, darin war auch ein Verbot der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Dies war für die damalige Deregulierungseuphorie bemerkenswert. Und 2004 stimmte das Volk nach drei erfolglosen Anläufen einer Mutterschaftsversicherung zu. Damit wurde eine Verfassungsartikel von 1945 endlich umgesetzt.</p><p>Auch der diesjährige Frauen*streik beklagt die anhaltenden systematischen Ungleichheiten trotz gesetzlicher Verankerung der Gleichstellung in der Bundesverfassung. In vielen Forderungen von damals ist die Schweiz nämlich auch heute nicht viel weiter. Die Schweiz hat das teuerste Kinderbetreuungssystem der Welt. Meist lohnt es sich für Frauen* mit zwei Kindern nicht mehr, Vollzeit zu arbeiten, weil so ihr ganzer Lohn direkt für die Kinderbetreuung ausgegeben werden müsste. Zudem haben bis heute Väter lediglich einen Tag Vaterschaftsurlaub und die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen* für gleiche Arbeit beträgt noch immer im Schnitt um die 20 Prozent. Dies alles führt zu einer systematischen Benachteiligung der Frauen* auf dem Arbeitsmarkt, in der Altersvorsorge und in der Kinderbetreuung.</p><h2><b>Internationale Streikvorposten und Mobilisierung</b></h2><p>Der diesjährige Frauen*streik verdankt seinen Schwung in der Mobilisierung diesmal nicht einem Jubiläum, sondern einer internationalen Bewegung, die 2016 in Argentinien und dann in ganz Südamerika unter dem Hashtag #NiUnaMenos aufkam und der #Metoo-Debatte in Europa und den USA. So kam es 2018 in 177 Ländern zu Demonstrationen und Kundgebungen, wobei Spanien mit einem Generalstreik für die Gleichberechtigung, an dem mindestens fünf Millionen Menschen teilnahmen, besonders hervorstach. Im Folgenden wurde die Idee eines Streiks auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, Polen (dort mit dem Fokus auf dem Recht auf legale und staatlich finanzierte Abtreibung) und der Schweiz, aufgegriffen.</p><p>Auch wenn in der Schweiz die Gewerkschaften den Frauen*streik aktiv vorantrugen, handelte es sich nicht um einen klassischen, von Gewerkschaften initiierten Streik. So kam dann auch von einigen Seiten die Kritik, man würde damit den Begriff des Streiks aushöhlen: Die zentrale Demonstration fand um 17.30 Uhr statt und Frauen* konnten auch nach der Arbeit teilnehmen. Dennoch gab es bereits tagsüber tausende Aktionen und den Aufruf an alle Frauen*, um 15.24 Uhr ihre Arbeit niederzulegen. Bei einer klassischen nine-to-five-Woche (auf Vollzeitstellen gerechnet) beginnen dort nämlich täglich die rund 20 Prozent unbezahlte Arbeit von Frauen*.</p><p>Es macht sehr viel Sinn, von einem Streik zu sprechen: Es handelt sich um einen politischen Streik. Der Begriff verweist neben den Protestaktionen und der Demonstration auch auf die ungesehene, unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit, die von Frauen* gleistet wird – in der Reproduktion wie auch in der Produktionsphäre. Klassische Streiks im Sinne einer Arbeitsniederlegung fanden vorwiegend im öffentlichen Sektor, im Bereich der Altenpflege und in der Reinigung statt. Dort wurden teilweise auch wichtige Erfolge verzeichnet: in Luzern erreichten zum Beispiel Angestellte einer Reinigungsfirma nach drei Stunden Arbeitsniederlegung, dass Reise und Vorarbeitsarbeiten in Zukunft bezahlt werden. Die Mobilisierung war sehr breit abgestützt und ging von sehr verschiedenen Gruppen aus. Das machte es möglich, dass über eher klassisch feministische Streikforderungen – nach gleichem Lohn, mehr Betreuungsmöglichkeiten für Familienangehörige und dem aktiven Kampf gegen Sexismus – auch durchaus antikapitalistische und antifaschistische Forderungen im breiten Bündnis mitgetragen wurden.</p><p>Den ganzen Tag über erscheinen immer neue Meldungen über Streikposten und erfolgreiche kreative Aktionen gegen reaktionäre Rollenbilder, antifeministische politische Kampagnen, die rassistische und sexistische Migrations- und Austeritätspolitik und vieles mehr.</p><p>Und dann sagt auch meine Schwester zur Demonstration am Abend zu. Wir treffen uns um 17 Uhr in Bern. Als wir uns treffen, werden wir beide von der Euphorie ergriffen. Wir fühlen uns stark, mutig, aufgehoben und schön. Ich merke, dass uns beide diese Erfahrung prägen und weitere Kämpfe daran anknüpfen werden. Meine Schwester und ich sind beide selbstständig arbeitend: ich als Dokumentarfilmregisseurin, sie als Naturmedizinerin mit drei Kindern. Beide erfahren wir auf unterschiedliche Weise die Einschränkungen und Hindernisse aufgrund der patriarchalen Verhältnisse und unseres Geschlechts. Um nur ein Beispiel zu nennen: Meine Schwester muss sich als Mutter immer wieder rechtfertigen, dass sie «ernsthaft» arbeitet und ich realisiere immer mehr, dass ich mich in einem Beruf bewege, in dem es kaum Strukturen für die Vereinbarkeit von Beruf eine Familie gibt und darüber hinaus Frauen* im Lohn und in der Sichtbarkeit - strukturell - stark diskriminiert werden. Es braucht viel Kraft, sich dagegen immer wieder zu behaupten. Wir haben aktuell diese Kraft, doch wir würden sie gerne für anderes einsetzen.</p><h2><b>Ist das erst der Anfang?</b></h2><p>Die Schweiz hat kaum eine Streikkultur. Daher trug der Frauen*streik auch zur Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit bei, sich diesem Kampfmittel wieder mehr anzunhähern. Unter diesem Begriff setzten die Frauen* den Tag nicht nur in die Tradition des Kampfes um Gleichstellung, sondern auch des Klassenkampfes. Und das ist wichtig, denn es sind vor allem bürgerliche Frauen*, die sich auf einem patriarchal ausgerichteten Arbeitsmarkt behaupten können, weil sie über die Mittel verfügen, die Reproduktionsarbeit auf eine andere – meist migrantische oder weniger gut situierte – Frau* auszulagern.</p><p>Die Forderungen des Frauen*streiks dieses Jahr sind nicht neu. Nichtsdestotrotz müssen sie mit neuer Vehemenz eingefordert werden. Und die Teilnahme von 500'000 Menschen am Frauen*streik 2019 hat ein deutliches Zeichen für die Dringlichkeit dieser Forderungen gesetzt. So gingen in Zürich 160'000 Frauen* auf die Strasse, in Basel 40'000 und in Bern 40'000 und in Lausanne 30'000. Aber auch in kleineren Städten wurde gestreikt. Es nahmen zahlreiche Frauen* am Streik teil, die Diskriminierung und Ungleichbehandlung direkt an ihrem Körper, in ihrem Leben oder in ihrer Familie erleben, ohne jedoch direkt politisch oder gewerkschaftlich organisiert zu sein. Bereits in den frühen Morgenstunden war eine aussergewöhnliche Stimmung in den Städten und die Solidarität zwischen lila gekleideten Frauen* bereits zu spüren. Es war für einmal ein Tag, an dem sich Frauen* entschuldigten, zur Arbeit zu gehen. An den Demonstrationen war die Stimmung euphorisch. Zentral war an diesem Tag aber nicht nur die materielle Arbeitsniederlegung, sondern auch sich in die Augen zu schauen und zu erkennen, dass man mit den eigenen Problemen und Wünschen nicht alleine ist. Das macht Mut, gibt Kraft und ist der Anfang von einer Organisierung. Die Demonstrationen bestanden zu 80 Prozent aus Frauen* - aus allen Schichten, Altersklassen und auch Frauen* mit Migrationshintergrund nahmen teil.</p><p>Neben den Erfolgen in konkreten Arbeitskämpfen, war wohl der grösste Verdienst der Frauen* an diesem Tag, ihre Forderungen kämpferisch sichtbar gemacht zu haben und auch untereinander die grosse und überschwängliche Solidarität untereinander gespürt zu haben, die diesen Tag ausmachte. Selten wurde so viel und auf so differenzierte Weise über die Lage der Frauen* in der Schweiz debattiert wie im Vorfeld des Frauen*streiks. Jene Frauen*, die am 14. Juni dabei waren, werden diesen Tag nicht so schnell vergessen. Auch wenn die Forderungen an diesem Tag sehr breit und heterogen waren, haben wir alle zumindest eines ganz klar gespürt: Wir sind nicht allein und wir können, wenn wir solidarisch sind, eine ungemeine Kraft entfalten: Gegen das Patriarachat, gegen den Kapitalismus, gegen Ausbeutung und Diskriminierung.</p><p>Auch bei „Friday for Future“ und in verschiedenen migrantischen Bewegungen sind es international die Frauen* die sich gegen kapitalistische Ausbeutung und rechtskonservative und faschistoide Politiken und Mobilisierungen zur Wehr setzen. Das wird nun auch besonders mit diesem Streik deutlich. Die langfristige politische und organisatorische Wirkung des zweiten nationalen Frauen*streiks bleibt noch abzuwarten. Was aber definitiv klar ist: er wird in die Geschichte eingehen!</p></div>
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Notwendiger denn je!2019-03-29T16:58:00.330428+00:002019-03-29T16:58:00.330428+00:00Eleni Triantafyllopoulouredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/notwendiger-denn-je/
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<span class="content-copyright">Marios Lolos</span>
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<div class="rich-text"><p>Zum dritten Mal in Folge wurde der Internationale Frauenstreik in diesem Jahr am 8. März in verschiedenen Ländern der Welt organisiert. Trotz der unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten in den einzelnen Ländern und der offensichtlich vielfältigen Forderungen haben Frauen auf der ganzen Welt erkannt, dass dieser Tag nicht nur ein „Jubiläum“ ist. Die Frauenbewegung in Griechenland überwand in diesem Jahr zum ersten Mal ihre sonstigen Schwierigkeiten und schaffte es, den „Frauentag“ in einen „Frauen*Streiktag“ mit Klassenbezug zu verwandeln.</p><p>In mehreren zentralen Gewerkschaften wurde im Vorfeld heftig diskutiert, bis der Beschluss gefällt wurde, am 8. März zu streiken. Unter dem Druck der antikapitalistischen linken Kräfte entschied sich die – hauptsächlich unter ihrem Akronym ADEDY bekannte – Beamtenvereinigung für eine Arbeitsunterbrechung von 13.00 Uhr bis zum Ende der Arbeitszeit. Der Versuch, am selben Tag einen Streik im Privatsektor zu organisieren, stieß allerdings auf große Schwierigkeiten. Er wurde letztlich von Gewerkschaftsbürokratien blockiert. Daher beschlossen verschiedene feministische Initiativen wie die „Bewegung für einen streikenden 8. März“ und die „Initiative zur kollektiven Organisation von Mobilisierungen am 8. März“, sowohl gemeinsam mit den Hauptgewerkschaften am Mittag zu streiken, aber zusätzlich noch eine weitere Nachmittagsdemonstration zu organisieren. Ähnliche Entscheidungen wurden auch von anderen feministischen Organisationen und Initiativen wie „No Tolerance“ und „Sabbat“ getroffen.</p><h2><b>Die Krise ist schuld!</b></h2><p>Trotz der (und gegen die) Versuche des bürgerlichen Staates und des Kapitals, diesen Tag mit Konsum und einer gefälschten Aufmerksamkeit für das „schöne (und aus ihrer Perspektive schwache) Geschlecht“ zu verknüpfen, nimmt der 8. März in Griechenland immer radikalere Züge an. Grund dafür ist die andauernde Krise. Für die Frauen* ist dieser Tag erneut zu einem Symbol des Kampfes für feministische Emanzipation und für die soziale Befreiung geworden. Beide Demonstrationen waren beeindruckend: Tausende Frauen* hatten im Vorfeld dazu mobilisiert und noch mehr nahmen an den verschiedenen Aktionen teil. Neben den großen Bündnissen wurden die Demonstrationen auch von Verbänden und Initiativen gegen Sexismus und Patriarchat sowie von feministischen Organisationen der radikalen Linken und Selbstorganisierungen unterstützt. Darüber hinaus gab es eine große Beteiligung von Studierendengruppen und von Refugees, oftmals mit ihren Kindern. Sie berichteten von ihren Erfahrungen und vielfachen Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Ethnizität und Klasse.</p><p>Diese massive Reaktion ist von zentraler Bedeutung: In den letzten zehn Jahren der Krise stieg die Rate sexistischer Angriffe, sexualisierter Gewalt und Feminizide in Griechenland explosionsartig an, in allen Bereichen des Lebens ist eine Verschärfung der geschlechtsspezifischen Diskriminierung zu beobachten. Die Allgegenwärtigkeit von Praktiken der geschlechtsspezifischen Unterdrückung und Gewalt, und damit verbunden patriarchaler Beziehungsmuster, führt dazu, dass das weibliche Geschlecht in der Gesellschaft als inferior wahrgenommen wird und auch die Frauen* sich selbst als weniger wert fühlen.</p><h2><b>Der Anstieg von Femiziden ist nur die Spitze des Eisbergs</b></h2><p>Das vergangene Jahr war vor allem auch ein Jahr großer Verluste. Ein Jahr, in dem der Hass auf sexuelle Vielfalt und ein unmissverständliches Dominanzdenken zur Ermordung der LGBTIQ-Aktivist*in und Drag Queen Zack Kostopoulos (Zackie Oh) führte. Zack wurde im September in der Nähe des Omonoia-Platzes von zwei Macho-Männern zu Tode geprügelt. Ihnen halfen Polizisten, die Zack in Handschellen legten und schlugen, während Zack bereits bewusstlos war. Ein Jahr, in dem die 21-jährige Studentin Eleni Topaloudis auch durch Rape-Culture (Kultur der Toleranz gegenüber Vergewaltigungen beziehungsweise sexualisierte Übergriffe, Anm. Red.) ermordet wurde. Ein Jahr, indem die patriarchale und rassistische Ideologie zur Ermordung der 29-jährigen Angelina Petrou am Silvesterabend durch ihren Vater führte, weil dieser die Beziehung seiner Tochter zu einem afghanischen Refugee nicht billigte. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs von vielen schrecklichen Morden und Übergriffen auf weibliche* oder feminine* Opfer der letzten Jahre.</p><p>Und auch die geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsplatz tritt in der Krise offensichtlicher als je zuvor zutage. Das zeigt, dass es zentral um Klassenpolitiken geht: Lohnunterschiede, Verletzung gesetzlicher Rechte wie Mutterschaftszulage, keine Lohnerhöhungen oder andere Jobangebote. Die Regierungen des Memorandums, einschließlich der Regierung SYRIZA, haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die sich insbesondere auch gegen Frauen* richten und diese in einen Dschungel aus Arbeitsplatzunsicherheit, illegalisierter und prekärer Arbeit und Arbeitslosigkeit führen.</p><p>Gleichzeitig nehmen die sexistischen Einstellungen am Arbeitsplatz zu: Mutterschaftsurlaub wird bei der Mehrheit der Arbeitgeber nicht mehr anerkannt, und die Fälle, in denen Frauen aufgrund einer Schwangerschaft entlassen werden, nehmen ständig zu. Solche Entlassungen werden mit Zustimmung der Justiz, des Staates, der Regierungen, der EU und anderer Institutionen vorgenommen. So traf der Gerichtshof der Europäischen Union im Februar 2018 eine beispiellose <a href="https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-02/cp180015de.pdf">Entscheidung</a>, die den Weg für die Entlassung schwangerer Arbeitnehmerinnen im Rahmen von allgemeinen Kürzungen und Massenentlassungen bereitet. In Griechenland sieht man nun die Früchte dieser Politik. Mit der diskriminierenden Behauptung, dass schwangere Frauen nicht produktiv genug sein können, werden sie vom Arbeitgeber entlassen. Ihnen wird damit sowohl das Recht auf Arbeit als auch auf eine gesicherte Mutterschaft praktisch verwehrt. Diese Liste kann auch mit den viele stillen Fällen erweitert werden, bei denen junge Frauen* aufgrund ihres Geschlechts gar nicht erst eingestellt wurden, da es für die Arbeitgeber „selbstverständlich“ ist, dass sie bald ein Kind haben möchten. Darüber hinaus entscheiden sich viele Frauen aus Angst vor Entlassung dafür, früher zur Arbeit zurückzukehren. Infolge des Ausbaus flexibler Arbeitszeiten auch im öffentlichen Sektor gilt dies auch für Ersatzlehrkräfte, die ihre Neugeborenen verlassen und in die Schule zurückkehren müssen, ohne Gedanken an die Auswirkungen auf die (psychische) Gesundheit von Müttern und Säuglingen.</p><p>Der stetige Kampf gegen Ungleichheiten und Diskriminierung in Lohnarbeit und Bildung, gegen Geschlechterstereotypen und Unterdrückung (auch in Bezug auf sexuelle Orientierung, Ethnizität oder Hautfarbe) und das Ringen um grundlegende Rechte wie Mutterschutz und Erziehungsurlaub müssen hierbei zusammen gedacht werden. Die Schauplätze sind allesamt zentral: Schließlich sind die Kämpfe, die versuchen, die Stimmen der Frauen*, der LGBTIQ-Personen und aller Unterdrückten und Proletarisierten als Ganzes zu stärken, ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtvorhabens, den Kapitalismus zu stürzen und mit ihm jede Form von Ausbeutung und sozialem Kannibalismus.</p><h2><b>Der Kampf geht weiter!</b></h2><p>Der nächste Punkt, an dem sich dieser Kampf zuspitzen wird, ist der Versuch der Regierung, das Strafgesetzbuch zu überarbeiten. Zu den unterschiedlichen Änderungen zählt auch die Änderung des Artikels 336 über Vergewaltigung. Der bestehende Artikel der gesetzlichen Definition von Vergewaltigung wurde in der Vergangenheit von der feministischen Bewegung als unzureichend und schwach kritisiert. Er trägt in vielen Fällen dazu bei, die Taten zu rechtfertigen und Vergewaltiger straflos davonkommen zu lassen, da er sich einzig auf Akte von Gewalt konzentriert und „fehlender Zustimmung zu sexuellen Handlungen“ keine Bedeutung zugesteht. Anstatt diesen Artikel also zu verbessern, gehen die anstehenden Änderungen einen Schritt weiter, um die Rechte von Frauen* und Betroffenen von Übergriffen einzuschränken: Einbezogen werden sollen nicht mehr Fälle der „Bedrohung durch ein unmittelbares Risiko“, sondern nur noch diejenigen, die eine „Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit“ darstellen. Das Konzept der "Bedrohung" wird dadurch weiter eingegrenzt, indem andere Formen von Gewalt wie psychologische oder arbeitsrechtliche Einschüchterungen und vieles weitere ausgeschlossen werden. Unser Umgang damit wird entscheidend für die Fortsetzung des gesamten weiteren Kampfes sein. Notwendiger denn je!</p><p></p><hr/><p></p><p>Eleni Triantafyllopoulou schreibt sonst für die griechische Zeitung <a href="http://prin.gr/">Prin</a>. Zuletzt berichtete sie bei re:volt über die grassierende Privatisierung kultureller und öffentlicher Allgemeingüter im Land: <a href="https://revoltmag.org/articles/alles-zu-verkaufen/">Alles zu verkaufen!</a> </p><p>Übersetzt von Johanna Bröse.</p><p>Das Titelbild zeigt eine Aktion des diesjährigen 8. März. Auf dem Banner steht: "Gegen jede Form der Gewalt werdet ihr uns auf der anderen Seite finden".</p></div>
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</article>
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„1000 kleine Revolutionen jeden Tag“2019-03-08T13:08:31.010115+00:002021-03-15T14:01:56.513355+00:00Joan Adalar und Maja Tschumiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/1000-kleine-revolutionen-jeden-tag/
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<h1>„1000 kleine Revolutionen jeden Tag“</h1>
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<span class="content-copyright">Feministische Delegation</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Eine feministische Delegation von mehreren Frauen* aus verschiedenen Orten Deutschlands reist drei Monate lang durch Rojava – mit dem Ziel, die Frauenrevolution in Nord-Ostsyrien sichtbarer zu machen. Wir haben uns über einen längeren Zeitraum mit der Kampagne über Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven ausgetauscht, Fragen und Überlegungen zwischen Europa und Rojava hin- und hergeschickt. Entstanden ist eine sehr umfangreiche Diskussion mit den beteiligten Frauen*, die wir hiermit dokumentieren. Die Reise ist ein Teil der feministischen Kampagne "Gemeinsam Kämpfen".</i><br/><br/><b>Als Delegation trefft ihr euch immer wieder mit unterschiedlichen Teilen der Frauenbewegung in Rojava. Welche Strukturen können wir uns darunter vorstellen und wie sind sie organisiert?</b><br/><br/><b>Charlotte</b>: Wir konnten auf unserer Delegationsreise unheimlich viel sehen und erfahren. Wir waren neben den Kantonen Heseke, Kobanî und Qamishlo auch in den neu befreiten Gebieten, also Tabqa, Raqqa und Minbic. Dort ist der Aufbauprozess noch ganz frisch und man merkt, mit welcher Begeisterung sich die Frauen dort organisieren. An jedem Ort, an dem wir waren, konnten wir mit Vertreterinnen aus Bildung, Verteidigung, Wirtschaft, Kunst und Kultur und vielem mehr reden. Das hatte eine unglaubliche thematische Vielfalt.<br/><br/><b>Jana</b>: Man kann sich das so vorstellen, dass das komplette Gesellschaftssystem konföderal organisiert ist. Es gibt die Kommunen als kleinste Basis. Eine Kommune umfasst in einer Stadt wie Derik etwa 40 – 60 Haushalte. Danach folgen die Räte, dann die Stadtverwaltungen und die Landkreisebene. In dieser Struktur, sowie in allen gesellschaftlichen Bereichen, gibt es immer eine autonome Frauenorganisierung. Der Dachverband der Frauenorganisierung für Rojava heißt Kongreya Star. Darunter sind alle Frauen der Region organisiert, aber oft zusätzlich in verschiedenen Komitees der gesellschaftlichen Bereiche. Auch wenn eine Frau in gemischten Strukturen arbeitet, ist sie automatisch Teil von Kongreya Star und hat somit immer die Frauenorganisierung im Rücken. In allen Institutionen, Organisationen, Räten und Kommunen aber auch gesellschaftlichen Bereichen gibt es immer einen Co-Vorsitz, also jeweils eine Frau und einen Mann.<br/><br/><b>Anna</b>: Es wird versucht, alle Angelegenheiten erstmal in der Kommune zu regeln und da wird ganz viel gesprochen und diskutiert. Als Verantwortliche der Kommune geht man in regelmäßigen Abständen in alle Familien und fragt nach was gerade ansteht, ob es Probleme gibt, was benötigt wird.<br/><br/><b>Isa</b>: Die ganze Art der Politik, die angestrebt wird ist eine andere, als wir sie kennen. Ziel ist immer eine gemeinschaftliche Lösung zu finden. Werte aus matriarchalen Gesellschaften spielen dabei auch immer eine zentrale Rolle: Also der Ansatz, gemeinschaftliche Werte zu schaffen wie Kommunalität, Diskussion im Konsens, ein fürsorgliches und verantwortungsvolles Miteinander und so weiter. Das lässt sich dann auch nicht nur durch Personen und Strukturen darstellen. Oft fällt es hier auch schwer, durch die unterschiedlichen Strukturen zu blicken. Ich habe hier gemerkt, dass mein Blick da oft auch sehr begrenzt ist. Der Kommunalismus, wie er hier aufgebaut wird, ist auch deswegen ein Gegenpol zu sonstigen Gesellschaftsstrukturen, weil er den Blick mehr in die Zwischenräume der Politik lenkt. Damit meine ich, dass darauf geschaut wird, wie sich soziale Beziehungen verändern, auf Entscheidungsprozesse und auf das Miteinander. Den Grad der Emanzipation kann man eben gerade nicht immer nur daran festmachen, in wie vielen Positionen Frauen jetzt die Rolle der Männer einnehmen, sondern vielmehr daran, in welcher Art und Weise Politik gemacht wird und worin Probleme wahrgenommen werden.<br/><br/><b>Man hört in diesem Kontext auch öfter den Begriff „Jineoloji“. Könnt ihr ihn kurz erklären?</b><br/><br/> <b>Jana</b>: Grob aus dem Kurdischen übersetzt meint der Begriff „Wissenschaft der Frau“. Sie versucht, aus der Geschichte – etwa aus der Geschichte der Frauen – heraus Antworten zu entwickeln, wie eine geschlechterbefreite Gesellschaft aussehen kann. Insgesamt verfolgt die Jineoloji einen ganzheitlichen und gesellschaftlichen Ansatz.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Ich würde gerne nochmal auf den Begriff der Wissenschaft eingehen. Das klingt erstmal so statisch. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass es nicht nur Wissenschaft im westlichen Sinne ist, sondern die Wissenschaft des Lebens. Es geht darum, wieder ein Leben aufzubauen das nicht entfremdet ist. Deshalb schauen wir auch in die Geschichte, um zu sehen, dass der Kampf der Frauen immer ein Kampf für ein herrschaftsfreies Leben war. Die Jineoloji bezieht sich dazu viel auf matriarchale Forschung und die zentrale Rolle der Frau. Man kann sagen, dass die Frauenrevolution in Rojava und alles was hier aufgebaut wird, also die Werte und die Form, aus der Jineoloji kommen. Das alles geht Jahrtausende zurück. Das Prinzip der Kovorsitzenden zum Beispiel oder auch die Kommunenorganisierung, dazu gab es schon Funde in archäologischen Stätten. Allgemein geht es nie nur um Wissensansammlung, sondern um die Frage: Was bedeutet das Wissen für unser Leben.<br/><br/><b>Welche konkreten politischen Forderungen oder auch Entwicklungen seht ihr denn vor Ort, von denen ihr sagen würdet: Hier wird das praktisch umgesetzt?</b><br/><br/><b>Isa</b>: Da gibt es viel. Es finden zum Beispiel Oral History-Forschungen statt: Ganz unterschiedliche Frauen der Gesellschaft hier werden zu ihrem Leben befragt, aber auch dazu, was sie sich für die Zukunft wünschen, welche Veränderungen passieren sollen und so weiter. Die Jineoloji Zentren sind sowohl ein Ort der Forschung, aber auch ein Anlaufpunkt. So findet beispielsweise in Derik wöchentlich eine Veranstaltung für Kinder statt, in der Filme oder Märchen geguckt werden und im Nachhinein darüber diskutiert und ein kritische Perspektive geübt wird. Jineoloji ist mittlerweile auch ein Unterrichtsfach in den Schulen geworden und an der Universität in Qamishlo gibt es eine Jineolojifakultät. Das ist schon unglaublich. Frauen können dort studieren und über die Widerstandsgeschichte der Frauen lernen.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Jinwar, das Frauendorf, dürfen wir auch nicht vergessen. Das ist letzlich auch ein Forschungsprojekt der Jineoloji. Es zeigt sehr gut den Punkt, den ich stark machen wollte: das Wissenschaft auch immer mit dem Leben in Verbindung steht und nicht ohne gedacht werden darf. Die Frage, die dabei immer mitschwingt, ist ja: Was macht ein freies Leben aus? Und was zeigt sich in diesem Mikrokosmos in der Gesellschaft, der von Frauen aufgebaut wird? Was kann daraus für die Gesellschaft in ganz Nord- und Ostsyrien gezogen werden?<br/><br/><b>Wo seht ihr denn Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es ja auch in emanzipatorischen Projekten wie Rojava gibt?</b><br/><br/> <b>Charlotte</b>: Eine zentrale Herausforderung ist die Kriegssituation. Da geht einfach unheimlich viel an Kraft, materiellen und auch personellen Ressourcen, hinein. Und natürlich ist auch der Aufbauprozess in der Gesellschaft davon geprägt. Eine Frage, die beantwortet werden muss, ist ja, wie man eine langfristige Perspektive bietet. Durch die konstante Bedrohung des Projekts haben die Menschen Angst, dass all die Mühen des Aufbaus umsonst sind oder fürchten zum Beispiel, dass die Schulabschlüsse ihrer Kinder irgendwann nichts wert sind. Manche schicken ihre Kinder deshalb auf Schulen des syrischen Regimes. Die andauernde Bedrohungssituation führt auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft insgesamt. Viele Jugendliche tragen Militärkleidung, die Tradition von Militärparaden wird fortgesetzt und so weiter. Das sehe ich kritisch.<br/><br/><b>Isa</b>: Die Frage, wie eine Revolution den Menschen eine langfristige Perspektive bieten kann, die eine Sicherheit gibt, kommt immer wieder auf. Es ist schwer, eine bedürfnisbefriedigende Infrastruktur zu gewährleisten trotz Kriegsdrohungen, Wirtschaftsembargo, Nicht-Anerkennung durch verschiedene Staaten und ganz konkret auch Fachkräftemangel. Wir haben einige Menschen mit gesundheitlichen Probleme getroffen, die durch das Embargo hier nicht die adäquate Gesundheitsversorgung erhalten können, die sie brauchen. Wenn sie es sich leisten können, müssen sie dann lange Wege nach Damaskus oder in den Irak in Kauf nehmen, um diese zu behandeln.<br/><br/><b>Sarah</b>: Eine große Herausforderung ist das Thema Ökologie. Im demokratischen Konföderalismus ist Ökologie eine der zentralen Säulen und ich habe erst hier den ganz praktischen Aspekt davon verstanden. Wenn man in die Geschichte der Region schaut, ist hier durch die Kolonisierung die natürliche Vegetation völlig verschwunden. Unter dem Assad-Regime wurde der Monokulturanbau vorangetrieben – und nun steht man vor einem Brachfläche. In der Umgebung der Stadt Rimêlan zum Beispiel gibt es ein riesiges Erdölförderungsgebiet, dass damals vom Regime ausgebaut wurde. Natürlich ist Öl keine ökologische Ressource, aber man kann auch nicht auf die Einnahmen durch den Verkauf des Öls verzichten. Es gibt auch Pläne für alternative Energieversorgung, aber momentan kaum Kapazitäten dafür, sie umzusetzen. Da werden dann die Herausforderungen sichtbar. Zudem braucht es viel Bildung, um ein ökologisches Bewusstsein unter den Menschen zu schaffen. Zum Beispiel auch bei der Müllentsorgung. Die ist aber gleichzeitig auch ein Beispiel dafür, wie sich die Bevölkerung aktiv der Herausforderung stellt: Es gibt in manchen Städten einmal im Monat eine gemeinsame Müllsammelaktion, an der bestenfalls die ganze Bevölkerung teil nimmt.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Um einen weiteren Punkt aufzumachen: Ich sehe auch immer die Gefahr einer Verstaatlichung, obgleich es ja eigentlich eine Gegenbewegung dazu sein sollte. In Amude allein, einer Kleinstadt hier, gibt es beispielsweise 35 Institutionen. Um Gas zu bekommen, muss man sich erstmal an vier verschiedene Institutionen wenden. Die Vorsitzende der Stadtverwaltung in Derik erzählt uns, dass die Menschen bei Problemen oft erstmal in die Stadtverwaltung kommen – und nicht versuchen, es in ihrer Kommune zu lösen. Das liegt natürlich auch daran, dass die Menschen Strukturen machen, die sie kennen. Es geht hier auch nicht darum, den Staat von null auf hundert abzuschaffen, aber gleichzeitig auch nicht darum, alles wieder zu bürokratisieren.<br/><br/><b>Sarah</b>: Und natürlich ist es ein Problem auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft, wenn Eigentumsverhältnisse fortbestehen. Der Ansatz hier ist aber eben erstmal Bildungen zu machen und Werte zu vermitteln. Das irgendwann die Einsicht auch da heraus kommt, dass es nicht wichtig ist, dass das Feld oder das Geschäft mir gehört.<br/><br/><b>Jana</b>: Mir ist hier auch bewusstgeworden, wie zentral Bildung ist. Sie ist der Grundstein für eine Veränderung, die eben nicht durch Zwang passieren kann. Durch Bildungen werden Frauen ermächtigt, über die eigene Rolle zu reflektieren, in ihnen wird der Bevölkerung vermittelt, wie ich mich zu meiner Umwelt in Bezug setze, wie ich mit Müll umgehe und vieles mehr. Es wird auch viel Wert auf Bildungen für Männer gelegt, ihre Position in der Gesellschaft zu hinterfragen.<br/><b><br/>Was seht ihr mit einem feministischen Fokus auf die Anforderungen, die es in Rojava zu stemmen gibt?</b><br/><br/><b>Jana</b>: Ich sehe auf jeden Fall eine Schwierigkeit in der Doppelbelastung der Frauen, die durch die politische Organisierung entsteht. Das ist auf Dauer eine Herausforderung, neben den vielen Treffen noch Haushalt und die Kinder zu managen. Denn das ist leider auch Realität: Rojava ist noch ein junges Projekt und man merkt, wie lange es dauert, bis sich gerade diese Rollenverteilung auflöst. Durch die Bildungen wird den Frauen dann erzählt, was für eine zentrale Rolle die Mutter hat und ich sehe die Gefahr, dass das dann falsch gedeutet wird – also, dass die Mutterschaft verherrlicht und dadurch auf die einzelne Frau abgelegt wird.<br/><br/><b>Anna</b>: Ich verstehe deinen Punkt. Aber das mit der Verherrlichung der Mutter ist zu einfach gesagt. Bei dieser Analyse geht es ja um die Werte, die mit dem Begriff Mutterschaft verbunden sind, und nicht um die Person an sich. Es geht nicht darum, die Super-Mama zu sein oder neben deinem Job noch das Yoga mit Kind zu wuppen. Es geht darum, dass alle in der Gesellschaft die Werte der Mutter annehmen. Also Selbstlosigkeit, Achtsamkeit, Gemeinschaftlichkeit. Eine Mutter liebt alle ihre Kinder gleich und an diesen Werten müssen wir uns alle orientieren. Das ist doch die Aussage dahinter.<br/><br/><b>Sarah</b>: Das Problem hängt mit den bestehenden patriarchalen Strukturen zusammen. Es hängt nicht an der Frau, die zu den Treffen muss, sondern an dem Mann, der nicht die gleiche Rolle übernimmt. In jeder Familie muss eben eine Revolution passieren und das sind 1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist ja auch ein Prozess dahin, die Rolle der Mutter nicht in einem biologischen Sinn zu begreifen.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Das ist ein anderer Ansatz. Er weicht von einem eurozentrischen Blick auf Frauenbefreiung ab. Besonders in der bürgerlichen weißen Frauenbewegung wollte man ausbrechen aus dem Haus und die Rolle der Mutter ablehnen. Wie Nina Hagen gesagt hat: „Ich bin nicht deine Fickmaschine“. Da hat man zum Beispiel auch Teile der schwarzen Frauenbewegung ignoriert, wenn man für „alle Frauen“ gesprochen hat. Für sie konnte das Haus auch Rückzug vor der weißen Unterdrückung bedeuten. In Rojava wird der Ansatz versucht, alle die Werte „der Mutter“ in der Gesellschaft wieder auf unser gesamtes Zusammenleben übertragen.<br/><br/><b>Anna</b>: All diese Herausforderungen zeigen, dass Revolution ein Prozess ist und Widersprüche dazugehören. Sie sind ja gerade der Ausdruck von Wandel. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass eine Revolution kommt und dann ist alles super.<br/><br/><b>Sarah</b>: Generell ist die Situation der Frau ein großes Thema in der Gesellschaft. Viele berichten von einer Verbesserung im Vergleich zu Regimezeiten oder natürlich zum Leben unter Daesh. Frauen können ohne Probleme das Haus verlassen, sich bilden und in die Schule gehen, sie können zentrale Positionen einnehmen und so weiter. Die Fortschritte wurden von den Frauen mit der größten Anstrengung erkämpft, das haben wir immer wieder an ganz unterschiedlichen Orten gehört und miterlebt. Ihre Errungenschaften sind aber in Gefahr, durch die Kriegsdrohungen wieder platt gemacht zu werden. Man merkt das bei den Demonstrationen gegen die Angriffe. Es gibt eine riesige Beteiligung von Frauen, die Stimmung ist zum Teil sehr kämpferisch.<br/><br/><b>Welche Auswirkungen die Angriffsdrohungen der Türkei auf Rojava bekommt ihr mit?</b><br/><br/><b>Charlotte</b>: Mit den Angriffen auf Afrîn gab es einen großen Zusammenhalt der Bevölkerung. In ganz Rojava gibt es Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen. Wir haben uns an vielen beteiligt. Es wird derzeit auch versucht, eine flächendeckende Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft aufzubauen. Von der Großmutter auf dem Dorf bis zu den Jugendzentren, alle erhalten Trainings in Erste-Hilfe-Maßnahmen, Verhalten bei Luftangriffen sowie Ausbildungen an der Waffe, um sich selbst verteidigen zu können.<br/><br/> <b>Anna</b>: Krieg, Flucht und Tod sind Themen, die wir bei allen Menschen hier immer wieder hören. Viele haben Angehörige, die im Kampf gegen Daesh oder die Türkei gefallen sind. In jeder Stadt gibt es einen Friedhof für die Gefallenen. Für viele ist das auch der Grund und die Motivation, warum sie sich organisieren.<br/><br/> <b>Welche Aufgaben können internationalistische Frauendelegationen in Rojava übernehmen, wie kann man sich denn einen Alltag von euch dort vorstellen?</b><br/><br/><b>Charlotte</b>: Unser Alltag ist schon ein ganz anderer als in Deutschland. Hier machen wir alles zusammen. Wir stehen auf, machen gemeinsam Sport, Essen gemeinsam, verteilen unsere Arbeiten zusammen und schlafen in einem Raum. Damit in diesem engen Zusammenleben keine Konflikte entstehen, setzen wir uns regelmäßig zusammen, kritisieren uns selbst und die anderen. Das ist auch eine Methode der kurdischen Bewegung.<br/><br/><b>Jana</b>: Ich war noch nie so lange nur mit Frauen unterwegs. Besonders in einem politischen Kontext. Und bei mir hat das nochmal ein ganz tiefes Vertrauen in meine Genossinnen erwachsen lassen. In unserer Sozialisation lernen wir, nicht die Fähigkeiten und das Können anderer Frauen zu sehen. Wie sehr dieses Denken trotz jahrelanger feministischer Arbeit in mir drin ist, habe ich erst hier gemerkt. Umso schöner finde ich unser gemeinsames Leben hier. Diese Liebe zu meinen Freundinnen zu entwickeln und zu sehen, wieviel wir voneinander lernen können.<br/><br/> <b>Sarah</b>: Abseits von Interviews konnten wir uns auch ganz praktisch die Gesellschaftsarbeit angucken. Wir konnten zum Beispiel an den Familienbesuchen von Kongreya Star teilnehmen oder die Arbeit der Mala Jin mitbekommen, die sich um Probleme der Frauen kümmern. Unsere Delegation war natürlich auch von der aktuellen Lage geprägt. Wir nahmen an den Hungerstreiks teil, bei Demos, Konferenzen oder den Aktionen der lebenden Schutzschilder in Serekaniye. Wir haben oft bei Familien geschlafen und haben das Leben dort mitbekommen. Je nachdem, in welcher Stadt und wie die dortige Sicherheitslage war, konnten wir uns auch auf uns selbst gestellt bewegen.<br/><br/><b>Anna</b>: Wir haben gemerkt, dass es ist wichtig ist, dass Frauen hierherkommen. Denn wir kommen hier alle nicht nur als Einzelpersonen hin, wir kommen hierher, um zu lernen und unser Wissen, Informationen und Werte nach Hause zu tragen und sie unseren Freund*innen, Genoss*innen und Familien und generell der Öffentlichkeit zu erzählen. Unsere Erfahrung war, dass prozentual sehr viel mehr Männer herkommen und besonders internationalistische Räume dadurch sehr männerdominiert sind. Allerdings gibt es auch andere Räume, wie YPJ International, und dort passiert neben der militärischen Ausbildung sehr viel Persönlichkeitsarbeit. Wichtig sind auch Frauen dort, die in ganz praktischen Dingen ausgebildet sind – das geht von Ingenieurinnen zu Krankenpflegerinnen zu Elektrikerinnen.</p><p><br/><b>Ihr sprecht Öffentlichkeitsarbeit an. Wie werden eurer Ansicht nach denn die Entwicklungen in Rojava in der „westlichen“ Öffentlichkeit wahrgenommen?</b><br/><br/><b>Isa</b>: Das unterscheidet sich zwischen linker bis linksradikaler Öffentlichkeit und Mainstreammedien. In letzteren kommt das Thema abseits von YPG und neuen Entwicklungen im Kampf gegen Daesh quasi nicht vor. Es gibt kaum eine Berichterstattung darüber, dass hier eine Alternative aufgebaut wird und welche Rolle Frauen darin einnehmen. In einer linken Öffentlichkeit bewegt man sich häufig zwischen Idealisierung und Fetisch – Paradebeispiel die schwarzhaarige junge Frau mit Kalasch – oder Abgrenzung. Im Fokus ist auch dort oft nur der militärische Widerstand. In Gesprächen oder Anfragen von Journalist*innen haben wir gemerkt, dass gerade im militärischen Bereich das Interesse groß ist, aber nicht an dem Projekt selbst.<br/><br/><b>Sarah</b>: Ich finde das auch absurd. In linken Medien wird zwar immer wieder über die Selbstverwaltung oder das Konzept des demokratischen Konföderalismus geredet. Aber das Frauenbefreiung ein zentraler Pfeiler ist, findet wenig Erwähnung. Frauen übernehmen hier eine Vorreiterinnenschaft, das lässt sich nicht anders sagen. Und das sind natürlich die Frauen der YPJ, aber auch die Mütter bei den menschlichen Schutzschildern oder die Frauen bei HPC Jin, den Verteidigungsstrukturen der Kommunen.<br/><br/><b>An welchen Bildern wollt ihr noch etwas verändern?</b><br/><br/><b>Anna</b>: Das Bild der vermeintlich rein kurdischen Revolution. Die Strukturen hier setzen sich aus allen zusammen, die hier wohnen – und das sind nicht nur die Kurd*innen. Gerade kursiert in den sozialen Medien etwa das Bild einer kurdischen Frau mit Kalaschnikow und darunter steht „support the kurds and their allies“. Besonders seit der Befreiung der hauptsächlich arabisch bewohnten Gebiete sind solche Bilder schlichtweg falsch. Das haben wir auch in unseren Besuchen in Tabqa und Rakka gemerkt. Diese Vorstellung, der Demokratische Konföderalismus sei einzig ein „Kurdenprojekt“, die stimmt einfach nicht.<br/><br/><b>Jana</b>: Ich möchte auch dieser Revolutionsromantik gerne etwas entgegensetzen. Es ist hier nicht perfekt. Aber gleichzeitig wäre es auch komisch, wenn dem so wäre. Hier wird mit einer unheimlichen Anstrengung an allen Ecken und Enden etwas aufgebaut. Das hat natürlich Fehler und die gehören dazu.<br/><br/><b>Isa</b>: Da haben wir ja mit Antipropaganda noch gar nicht angefangen. Ich habe schon mehrfach in Artikeln gelesen, dass die Bewegung hier eigentlich total autoritär und menschenverachtend sei und die Befreiung der Frau nur als Vorwand nähme, um dies zu verschleiern. Das ist wirklich vollkommen hanebüchen und sexistisch. Es zeichnet wieder ein Bild der Frau, die nicht für sich selbst entscheiden kann.<br/><br/><b>Sarah</b>: Auch die Linke muss auch ihren Blick auf Revolution ändern. Viele sagen, das Projekt in Rojava sei keine Revolution, da der erste Schritt hier die Frauenbefreiung und nicht die ökonomische Umverteilung ist. Bei dem Blick auf die Bewertung von Rojava scheint die Unterscheidung in Haupt- und Nebenwiderspruch noch sehr in den Menschen drin zu sein.<br/><br/><b>Was nehmt ihr persönlich aus dem Austausch für eure Kämpfe in Europa mit?</b><br/><br/><b>Jana</b>: Mir ist die Relevanz einer autonomen Frauenorganisierung nochmal deutlicher geworden. Vor allem, wie das auch im Großen aussehen kann. Im gleichen Zuge merke ich, dass es nicht dabei stehen bleiben kann. Eine feministische Analyse und Erkenntnisse muss sich in einem zweiten Schritt auch auf die Arbeit mit unseren männlichen Genossen ausweiten. Die Frauen hier behalten immer die gesamtgesellschaftliche Perspektive im Auge. In den Gesprächen hier habe ich schon oft die Frage gestellt: „Wie schafft ihr das? Ihr musstet so viele Kämpfe mit euren Vätern, Brüdern und Genossen führen, wie habt ihr es geschafft, die gemeinsame Perspektive zu behalten und ihnen zu verzeihen?“ Und die Antwort war wirklich immer: „Es geht nicht anders. Es würde uns nichts bringen, wenn wir sie einfach zurücklassen“. Das war in meinen feministischen Zusammenhängen nicht so. Dort war die Antwort oftmals eher: „Ich habe schlechte Dinge mit Männern erlebt und jetzt arbeite ich nicht mehr mit ihnen“. Aber was ist dann unsere Perspektive?<br/><br/><b>Anna</b>: Wir waren hier, als der Krieg angekündigt wurde und alle dachten, das wird in den nächsten Tagen passieren. Was ich da mitnehme ist, dass trotz dessen die Arbeiten weitergehen. Hier war keine Paralyse zu merken. Man hat weitergemacht und sich nicht davon bestimmen lassen. Da kann man auch viel für zuhause lernen. Es kann Kraft geben. Wenn man sich zum Beispiel monatelang in irgendeinem Kaff in Sachsen mit Feuerwehr-Politik gegen Rechts abarbeitet – und das ist natürlich wichtig und gar nicht anders möglich – währenddessen nicht Aufbauarbeiten und Perspektiven zu vergessen.<br/><br/><b>Isa</b>: Das hat auch viel mit Hoffnung und Verbindlichkeit zu tun. Damit, auch in schwierigen Zeiten den Mut nicht zu verlieren. Dafür müssen wir eine gemeinsame Kraft entwickeln. Hier sterben so viele Menschen und das hinterlässt natürlich immer ein Loch – aber die Angehörigen ziehen daraus auch ihre Kraft, weiter an der Sache zu arbeiten. Denn diese Menschen sind für eine andere, eine befreite Welt gestorben und diesen Kampf wollen sie weitertragen. Das hängt auch mit Verbindlichkeit dem Widerstand gegenüber zusammen. Je mehr Geschichten und Gespräche man hört, desto unwahrscheinlicher wird es zu sagen: „Ich habe keinen Bock mehr auf Politik“. Als wäre das eine Entscheidung. Wir hatten hier ein <a href="http://gemeinsamkaempfen.blogsport.eu/2019/03/03/sehid-helin-lives-forever/">Interview mit einer engen Freundin</a> von Anna Campbell. Das hat mich sehr berührt. Sie hat uns erzählt, dass sie nach ihrem Tod einfach nicht mehr sagen kann, ich ziehe mich jetzt raus oder ich habe keine Lust mehr.<br/><br/><b>Sarah</b>: Dazu gehört auch, eine gemeinsame Perspektive und gemeinsame Werte zu entwickeln. Sich nicht von Konflikten spalten zu lassen, sondern Methoden zur Konfliktlösung und zur Zusammenarbeit zu finden. Das hängt zum einen viel mit der Arbeit an sich selbst und andererseits mit der Herangehensweise an Genossenschaftlichkeit (Hevaltî) zusammen. Damit ist Vorstellung gemeint, gemeinsam in einem revolutionären Prozess zu wachsen. Das habe ich auch in meinem Umgang mit Männern gemerkt. Ich könnte natürlich sagen: „Scheiß drauf, ich kann den nicht ab“. Aber dann ist da nur ein Mann mehr, der sich nicht ändert. Wir müssen daran glauben, dass auch Typen sich ändern können und wollen, dass auch sie wachsen und sich verändern.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Was ich auch für meine Kämpfe mitnehme, ist ein verändertes Konzept von Freiheit. Das mir meine persönliche, individuelle Freiheit nichts bringt, wenn andere nicht frei sind. Zum Beispiel kann ich zwar oberkörperfrei im Berghain tanzen gehen, aber dennoch wird zwei Häuser weiter eine Frau von ihrem Mann geschlagen. Wir müssen aufhören, nur Schritte für uns zu gehen, und nicht für alle.<br/><br/><b>Wie ist die Kapitalismus- und Patriarchatskritik von Rojava auf europäische Länder übertragbar, und wo seht ihr Schwierigkeiten?</b><br/><br/><b>Isa</b>: Ein Punkt über den ich viel nachdenke, ist die Analyse, dass die Frau die erste Kolonie ist. Ich gehe da zwar mit, aber ich denke, die Auswirkungen auf die politische Praxis in Europa oder westlichen Ländern muss eine andere sein. Wir kommen aus Ländern, die kolonisiert haben. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir diese Analysen anwenden. Rassismus ist bei uns ein zentraler Unterdrückungsmechanismus. Wir können also nicht sagen, die Kategorie Frau ist die zentrale Kategorie für eine Organisierung. Damit machen wir nur selbst wieder Haupt- und Nebenwidersprüche auf.<br/><br/><b>Charlotte</b>: Wir haben in Europa auch eine andere Grundlage, wenn wir von kommunalem Leben reden. Hier geht es zum Beispiel darum, kommunales Leben zu verteidigen und zu erhalten. In Europa müssen wir das wieder ausgraben und aufbauen. Wir befinden uns im Herzen der Bestie und deshalb brauchen wir auch andere Konzepte.<br/><br/><b>Sarah</b>: Ich finde allerdings, dass es auch wichtig ist, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Sonst verlieren wir den Blick für das Ganze und konzentrieren uns wieder nur darauf, was uns trennt. Ich finde die Analyse der kurdischen Bewegung dazu sehr hilfreich, also die Begriffe der demokratischen Moderne und der kapitalistischen Moderne. Also zu sehen, dass es natürliche Gesellschaften überall gab und diese bekämpft wurden. Werte wie Gemeinschaft, der Bezug zur Natur, ein humanistisches Gewissen – das ist etwas wofür wir alle kämpfen und wir können uns nicht nur Sexismus oder Rassismus herausgreifen und dann nur gegen einen Mechanismus kämpfen. Da gilt es auch, den Metropolenchauvinismus zu bekämpfen.<br/><br/><b>Isa</b>: Es besteht immer auch die Gefahr, gewisse politische Realitäten zu vergessen und auch die eigenen Hintergründe zu vergessen. Das wir dann zum Beispiel darüber diskutieren, aber nicht darüber, dass wir hier in einer Gruppe aus weißen Frauen sitzen.<br/><br/><b>Anna</b>: In Europa und gerade auch Deutschland wurden systematisch matriarchale Gesellschaftsmodelle und Frauen*bilder zerstört. Wir reden viel zu wenig darüber, dass wir an dem Ort leben, an dem so viele Frauen als Hexen verbrannt wurden. Da lohnt sich auch wirklich die Lektüre von Silvia Federicis <i>Caliban und die Hexe</i>. Damit wurde sich in der zweiten Frauenbewegung unheimlich viel beschäftigt und heute beziehen wir uns viel zu wenig darauf.<br/><br/><b>Heute ist internationaler Frauen*kampftag, und in vielen Orten international und in Deutschland finden feministische Streiks statt. Habt ihr eine Botschaft für eure streikenden Genossinnen*?</b><br/><br/><b>Anna</b>: Wir stehen vor vielen Herausforderungen. Wir leben in einer Welt voller Grenzen und Mauern. Manchmal so, dass wir uns nicht erreichen können und uns nicht gegenseitig kennen lernen können, um Schulter an Schulter dagegen zu kämpfen. Eine internationalistische Perspektive überschreitet und durchbricht diese Grenzen. Und das bedeutet, die Notwendigkeit zu erkennen, dass wir unsere Kämpfe miteinander verbinden. Dass wir an jedem Ort an dem wir sind, für wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen und verstehen, welche Rolle wir in diesem Kampf einnehmen können.<br/><br/><b>Jana</b>: Ich möchte meinen Schwestern überall auf der Welt viel Kraft für ihre Kämpfe schicken und dass dieser Widerstand ein Widerstand ist, den wir seit Jahrhunderten führen. Denn: „wir sind die Enkelinnen der Hexen, die sie nicht verbrennen konnten“!<br/></p><hr/><p><i>Die Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ entstand aus feministischen und internationalistischen Zusammenhängen in Deutschland. Sie möchte globale feministische Perspektiven für basisdemokratische Gesellschaftsformen entwickeln.</i></p><p><i>Link zu Blogbeiträgen der Delegation auf der</i> <a href="http://gemeinsamkaempfen.blogsport.eu/category/feministische-delegation-rojava/">Webseite der Kampagne.</a></p><p>Das Artikelbild zeigt eine Demonstration gegen die Afrin-Invasion in Derik am 20.1.2019.<br/><br/></p></div>
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Ein anderer Journalismus ist möglich!2019-03-05T23:25:10.259232+00:002019-03-14T22:44:11.317732+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-anderer-journalismus-ist-m%C3%B6glich/
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<div class="rich-text"><p><i>Gemeinsam schreiben, gemeinsam streiken: Als Redakteurinnen des re:volt unterstützen wir den Aufruf „Ein anderer Journalismus ist möglich“. Den Aufruf haben schon am ersten Tag über 80 Redakteurinnen* und (freie) Journalistinnen* unterschiedlicher Zeitungen und Magazine unterzeichnet. Uns eint die spitze Feder, mit der wir gegen Ausbeutung und Unterdrückung anschreiben. Der Aufruf ist aber nicht nur für uns Schreibende, sondern eine Aufforderung an alle Frauen*: Wir geben uns nicht mit dem Bestehenden zufrieden. Unseren Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und damit verbunden gegen patriarchale und frauenverachtende Verhältnisse führen wir nicht alleine, sondern weltweit gemeinsam. In diesem Sinne: Wir träumen nicht nur von revolutionären Zeiten, sondern setzen alles daran, diese Wirklichkeit werden zu lassen!</i></p><h2>Zum Aufruf</h2><p>Am 8. März 2019 werden Frauen und Queers [1] weltweit streiken. Die Streikenden setzen sich gegen all die Formen von Unterdrückung und Ausbeutung zur Wehr, die Frauen betreffen: weil sie übermäßig häufig prekär beschäftigt sind – etwa in Teilzeit oder im Niedriglohnbereich; weil sie sexualisierte und körperliche Gewalt und Belästigung erfahren; weil sie von klein auf mit massiv abwertenden Geschlechterbildern konfrontiert sind; weil von Frauen erwartet wird, den Großteil der Hausarbeit, Familienpflege und Kindererziehung unbezahlt zu leisten. Und nicht zuletzt, weil sie sich dagegen wenden, dass einige Wenige sich ihre Arbeit aneignen und zugleich patriarchale Machtverhältnisse am Leben halten. Ihre Arbeit ist für den Staat und die Unternehmen unersetzlich: Wenn Frauen und Queers all ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit niederlegen, steht die Welt still!</p><p>Wir wollen den Streik unterstützen und daher ebenfalls am 8. März unsere Arbeit niederlegen. Als Medienschaffende haben wir die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen. Wir stehen mit diesem Aufruf für die Forderungen aller streikenden Frauen und Queers am 8. März ein und wollen zudem die bestehenden Ungleichheiten in unserer eigenen Branche sichtbar machen.</p><p>Die schlechte Bezahlung und hohe Belastung in der Medienbranche trifft Frauen in besonderem Maße. Als Frauen leisten wir zusätzlich zu unserer bezahlten Arbeit wesentlich mehr unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit als Männer. Auch wir Journalistinnen sind auf allen Ebenen benachteiligt: als Festangestellte, als freie Mitarbeiterinnen, als Mütter und unbezahlte Hausarbeiterinnen. Im Medienbereich gibt es wie in allen anderen Bereichen strukturellen Sexismus: Er offenbart sich in sexistischen Sprüchen, die Einzelnen von uns signalisieren, dass sie nicht ernst zu nehmen seien, in männerbündischen Netzwerken auch in unserer Branche, der Abwertung unserer Themen, der Geringschätzung unserer Arbeit, niedrigeren Honoraren und Gehältern oder auch darin, wer befördert wird. Auch Belästigung und Gewalt im Arbeitskontext gehören für viele von uns zur »Berufserfahrung«. Hinzu kommt die Arbeitsverdichtung, die Redaktionen und Freie zunehmend in Zeitnot bringt.</p><p>Wir bestreiken am 8. März Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Journalismus und fordern ohne Wenn und Aber:</p><ul><li><b>das Ende der Lohndiskriminierung:</b> Abseits von Symbolpolitiken und zahnlosen Tigern wie dem Entgeltgleichheitsgesetz fordern wir umfassende Transparenz bei Gehalts- und Honorarverhandlungen – sowohl für Festangestellte in unterschiedlichen Positionen als auch für freiberufliche Journalistinnen.</li><li><b>Gewalt als strukturelles Problem zu behandeln</b>: Laut einer Umfrage von 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kennen 60 Prozent der befragten Personalverantwortlichen und Betriebsrät_innen keine Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in ihrem Unternehmen beziehungsweise ihrer Verwaltung; in fast der Hälfte der Betriebe gibt es keine Beschwerdestelle für diese Fälle. Wir fordern von den Gewerkschaften, den Einsatz gegen Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen.</li><li><b>Arbeitszeitverkürzung:</b> Als Frauen tragen Journalistinnen weiterhin die Hauptlast in der Haus- und Fürsorgearbeit. Wir fordern daher Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.</li><li><b>Durchsetzung der Tarifbindung</b>: Wir fordern eine generelle Tarifbindung für Journalist_innen und damit verbunden ein Ende des Ausspielens von oft noch prekäreren Freien, die als Druckmittel genutzt werden, damit Kolleg_innen Verträge mit schlechteren Konditionen annehmen.</li><li><b>Gute Arbeit auch in Haushalt und Fürsorge:</b> Wir fordern eine öffentliche Infrastruktur mit ausreichenden und hochwertigen Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Horten und Ganztagsschulen, damit Kolleginnen, die Kinder haben und/oder Angehörige versorgen, entlastet werden.</li><li><b>Outsourcing zu beenden</b>: Damit wir als Journalistinnen überhaupt arbeiten können, brauchen Medienhäuser Reinigungspersonal, Kantinenpersonal, Gebäudesicherheit und Menschen am Empfang. Zusteller_innen bringen die gedruckte Zeitung zu den Leser_innen. Beschäftigte in diesen Bereichen werden immer häufiger outgesourct und verdienen besonders wenig. Doch unsere Kämpfe sind nicht begrenzt durch unsere Position in einem Gebäude; wir gehören alle zusammen. Wir fordern die Eingliederung von outgesourctem Personal in die jeweiligen Unternehmen.</li><li><b>feministischen Journalismus</b>: Wir fordern einen Ausbau der Strukturen für guten Journalismus! Das heißt: Schluss mit Geschlechterstereotypen in den Medien und dem Desinteresse gegenüber Problemen, die Frauen betreffen, Schluss mit der inhaltlichen Verflachung. Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum, gegen elitären Journalismus! <b>Für einen anderen, feministischen Journalismus!</b></li></ul><h2>Unsere Arbeitsbedingungen: Lohndiskriminierung, Belästigung und Gewalt</h2><p>Der Journalistinnenbund fordert Journalistinnen auf, Lohndiskriminierung nicht als »nervig« abzutun, sondern ihre Rechte einzufordern. Und an dieser Stelle endet die Benachteiligung von Frauen in Medienberufen noch lange nicht.</p><p><b>Die Lage von Redakteurinnen</b></p><p>Ein paar wenige Journalistinnen in Leitungsfunktionen sind oft das Feigenblatt der männlich geprägten Redaktionen. Befristete Verträge, konstanter Stress und unbezahlte Überstunden – die Arbeitsbedingungen sind ohnehin mies, doch noch mieser für Frauen, die Kinder haben, einen Großteil der Haushaltsarbeit erledigen müssen und kranke Angehörige zu versorgen haben. Journalistinnen verdienen durchschnittlich 5,6 Prozent weniger als Journalisten – selbst wenn sie die gleiche Berufserfahrung haben und immer Vollzeit arbeiten. Auch innerhalb der Redaktionen ist männliche Dominanz tagtäglich zu spüren – zum Beispiel, wenn es darum geht, wer die Themen setzt, wessen Beitrag einen prominenten Platz erhält oder wer als kompetenter gilt, ein Thema zu kommentieren. Hinzu kommt, dass feministische Themen und Themen, die Frauen betreffen, mitunter so behandelt werden, als ob sie keine Expertise voraussetzten. Doch Feminismus und Genderthemen sind keine Kleinigkeit, die man sich mal eben nebenbei aneignet. Auch diese Themen setzen jahre- und jahrzehntelange Beschäftigung und Erfahrung voraus. Auch hierdurch wird die Arbeit von Frauen und Queers unsichtbar gemacht, ihre Kenntnisse abgewertet.</p><p><b>Die Lage von freien Journalistinnen</b></p><p>Es ist bekannt, dass die soziale Lage freier Journalistinnen schlecht ist, weil auch Medienunternehmen sich bei Honoraren immer weiter gegenseitig unterbieten. Weniger bekannt ist der Gender Pay Gap, also die unterschiedliche Bezahlung nach Geschlecht, unter freiberuflichen Journalistinnen: Rund 35 Prozent der weiblichen Freelancer sind Geringverdienende, bei ihren männlichen Kollegen sind das nur etwa 23 Prozent. Freiberuflichkeit trifft Frauen also härter. Honorare sind außerdem häufig intransparent, was Raum für Diskriminierung lässt. Außerdem werden in vielen Redaktionen bei der Auftragsvergabe Männer bevorzugt.</p><p><b>… und darüber hinaus als Frau</b></p><p>Eine Journalistin in Deutschland verdient durchschnittlich 2.436 Euro netto, ein Journalist 3.151 Euro. Der Unterschied liegt somit bei 22,7 Prozent. Ein Grund: Frauen »setzen aus«, weil sie Menschen versorgen müssen, oder sie arbeiten in Teilzeit. Wenn sie dann wieder voll in den Beruf einsteigen, haben Männer, die ohne Unterbrechung gearbeitet haben, einen Vorsprung. Doch dass Frauen am Ende ihrer Berufslaufbahn als Journalistinnen durchschnittlich 600 Euro weniger verdienen, hat auch damit zu tun, dass sie nicht die gleichen Chancen haben – selbst wenn sie, wie viele es tun, kinderlos bleiben und durchgängig Vollzeit arbeiten.</p><p>Ob in der Redaktion oder als Freie: Wir Frauen tragen die Hauptlast nicht nur für Kindererziehung, sondern auch für Hausarbeit und Fürsorge für ältere und kranke Menschen. In heterosexuellen Paarhaushalten, in denen beide Vollzeit berufstätig sind, arbeiten Frauen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung pro Tag etwa drei Stunden mehr. Da Männer in heterosexuellen Beziehungen immer noch weniger Haus- und Fürsorgearbeit verrichten als Frauen, und dies immer häufiger zu Konflikten führt, wählen finanziell besser gestellte Paare oft den Weg, Haus-und Fürsorgearbeit an migrantische Frauen auszulagern. Durch diesen Kompromiss wird das Konfliktpotenzial von Hausarbeit in Partnerschaften abgemildert. Dass die öffentliche Infrastruktur aus Kindertagesstätten, Horten oder Ganztagsschulen unzureichend ist, verstärkt diesen Trend zur Auslagerung an Migrantinnen, die Tätigkeiten wie Kinderbetreuen, Waschen, Putzen oder Pflegen zu geringen Löhnen und häufig illegal erledigen. Doch Emanzipation für reichere, die mit der Benachteiligung und geringerem Lohn für migrantische Frauen einhergeht, kann nicht das Ziel von Feminismus sein. Die Kämpfe von illegal und prekär Beschäftigten, etwa Haus- und Pflegearbeiterinnen, hängen mit unseren Kämpfen als Journalistinnen zusammen; Erstere ermöglichen unsere journalistische Arbeit oft erst. In diesem Sinne fordern wir: ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie bessere Bedingungen auch in diesen Arbeitsbereichen.</p><p><b>Gewerkschaften müssen sich stärker politisch positionieren</b></p><p>Angemessener Lohn ist die Grundlage für guten Journalismus. In letzter Zeit gehen immer mehr Medienhäuser dazu über, die Tarifbindung und vormals vereinbarte Tarifstandards zu umgehen (eine Liste dieser Verlage findet man etwa bei ver.di). Redakteur_innen werden in eigenständige, nicht tarifgebundene Gesellschaften</p><p>ausgelagert, Leiharbeit wird außertariflich geregelt und Personen im Volontariat werden nicht mehr direkt beim Verlag oder Medienhaus angestellt. Ver.di wirft zudem dem Bundesverband Druck und Medien vor, durch die Möglichkeit der »OT-Mitgliedschaft« (ohne Tarifbindung) an der Tarifflucht beteiligt zu sein. Weil Frauen nicht nur von Sexismus betroffen sind, sondern viele von uns auch aufgrund von Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit oder Abwertung aufgrund der sozialen Herkunft Diskriminierung erleben, fordern wir, dass alle Benachteiligungen, die Frauen erleben, ernst genommen werden, und dass Gewerkschaften diese zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen. Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz müssen als allgemeines und strukturelles Problem behandelt werden.</p><h2>Gegen die geltenden »Standards« und die Strukturen der Branche</h2><p><b>Gegen Geschlechterstereotype in den Medien und gegen das Desinteresse an Problemen von Frauen</b></p><p>Wenn über Gewalt gegen Frauen, Strafprozesse wegen sexualisierter Gewalt oder familienrechtliche Fragen berichtet wird, sind sexistische Stereotype omnipräsent. Frauen werden wahlweise dargestellt als stumme Opfer, als intrigante Lügnerinnen oder als rachsüchtige Mütter, die ihren Ex-Ehemännern oder Ex-Partnern die Kinder vorenthalten wollten. Einzelfälle sexualisierter Gewalt werden von antifeministischen rassistischen Kräften instrumentalisiert und medial umfassend begleitet. Medial ignoriert werden dagegen häufig die Erfahrungen von Frauen, die als Reinigungskräfte in Hotels, in der Gastronomie, als Angestellte in Massagesalons oder als Sexarbeiterinnen tätig sind und kaum Schutz vor sexualisierter Gewalt erfahren. In vielen journalistischen Formaten, etwa im Fernsehen, sind Frauen und Queers extrem unterrepräsentiert. Laut der Studie »#frauenzählen« der Universität Rostock präsentieren etwa 80 Prozent aller non-fiktionalen Unterhaltungsprogramme Männer. Ab Mitte 30 werden Journalistinnen hier quasi aussortiert. Auch auf Bildern sind Frauen und Queers systematisch unterrepräsentiert. Wenn Frauen gezeigt werden, dann oft auf klischeehafte Weise. Die Unterrepräsentanz von Frauen im Zusammenhang mit einer beruflichen Funktion ist ebenso untragbar wie die Ergebnisse des Global Media Monitoring Projects, demzufolge drei von vier Personen, die in den Nachrichten Erwähnung finden, Männer sind. Wir fordern mediale Inhalte und eine Bebilderung, in denen Frauen und Queers der Realität entsprechend divers und differenziert vorkommen. Dass sich im Journalismus rassistische, sexistische, bürgerliche und weitere Ausschlüsse widerspiegeln, scheint fast schon ein Allgemeinplatz. Gerade aus diesem Grund müssen Redaktionen stärker sensibilisiert werden und kritischer, feministischer, antirassistischer Journalismus gestärkt werden. Wir fordern mehr Ressourcen, um Ausmaß und Folgen sexistischer, rassistischer und sozialchauvinistischer Medienberichterstattung zu analysieren und öffentlich zu machen. Hierfür sind grundlegende Veränderungen in den Redaktionen nötig, auch personelle. Es braucht zudem klare Mechanismen, um mit Konkurrenz- und Dominanzverhalten umzugehen, ebenso wie gewerkschaftlich oder anderweitig abgesicherte Räume, in denen Frauen ihre Forderungen als Lohnarbeitende artikulieren können und Konsequenzen daraus gezogen werden.</p><p><b>Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum</b></p><p>Dieser Punkt richtet sich insbesondere an die Ressortleiter_innen und Chefredakteur_innen: Wenn über feministische Forderungen berichtet wird, konzentrieren sich Journalist_innen oft auf Forderungen nach Repräsentation oder andere Aspekte, die besonders griffig sind – wie die Einführung des 8. März als Feiertag in Berlin. Wir weisen darauf hin, dass feministische Kritik schon immer darin bestand, den männlichen Standard in allen Bereichen der Gesellschaft – ob Ökonomie, Kultur, Politik, Psychologie oder Wissenschaft – aufzudecken, zu hinterfragen und ihm andere, eigene Werte entgegenzusetzen. Für den Journalismus heißt das: Einzelkämpfer_innen, die sich durch Dominanz und männlich dominierte Netzwerke durchsetzen, sind von gestern. Der Fall Relotius sollte gezeigt haben, dass ein Journalismus, der die Genialität von Einzelnen als preiswürdig betrachtet, keine Zukunft hat. Statt also diejenigen zu feiern, die angeblich alleine und unter großem Zeitdruck scheinbar geniale Texte produzieren, sollten eher langfristig angelegte, kollaborative Recherchen, hinter denen tiefgehende Einblicke stehen, Anerkennung erfahren. Das heißt zum Beispiel, solidarische Netzwerke mit feministischem Anspruch verstärkt zu fördern und anderen Journalistinnen gegenüber zu öffnen. Wir kritisieren zudem Auslandsberichterstattung, die zuarbeitenden lokalen Reporter_innen die Anerkennung verweigert; dies geschieht allzu häufig, etwa indem die Namen dieser Mitautor_innen nicht erwähnt werden oder deren Arbeit nicht vergütet wird.</p><p><b>Gegen elitären Journalismus</b></p><p>Die Inhalte, die Menschen in Deutschland über Medien rezipieren, werden bestimmt von einer kleinen Elite, die hauptsächlich aus Männern besteht, und die häufig dieselben politischen Perspektiven und Ziele teilen. Journalismus wird mehr und mehr zum Elitenjob, den sich nur leisten kann, wer finanzielle Unterstützung durch Eltern, Großeltern, Lebenspartner, den Ehemann oder die Ehefrau erhält.</p><p><b>Gegen die inhaltliche Verflachung des Journalismus und gegen die Monopolisierung</b></p><p>Eine weitere Folge der schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne ist Qualitätsverlust. Der Journalistinnenbund beobachtet etwa eine »Orientierung am Mainstream und oberflächliche Recherche, Nachrichtenfaktoren, die die Perspektive von Frauen ausblenden, und einseitige Interpretationen von Fakten«. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit gesellschaftlicher Polarisierung, der mit kritischer, seriöser und gründlich recherchierter Berichterstattung begegnet werden sollte. Dafür braucht es Zeit und Geld. Wir fordern ausreichend Ressourcen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, insbesondere auch für eine feministische Berichterstattung. Derzeit dominieren einige wenige mächtige Medienhäuser den medialen Diskurs. Unterdessen geht das Zeitungssterben weiter und die Medienkonzentration wächst. Doch Medien sind für Demokratie essenzielle Mittel der Kritik und Kontrolle. Es braucht neue medienpolitische Strategien, um der gefährlichen Monopolisierung etwas entgegenzusetzen: Die Medienförderung darf nicht dem Markt überlassen werden. Ein anderer, feministischer Journalismus ist möglich!</p><p>Dafür streiken wir am 8. März 2019!</p><p>---</p><p><i>Am 8. März wird alle Redaktionsarbeit des re:volt magazine durch die Redakteurinnen bestreikt. Alle Redakteur_innen des re:volt magazine unterstützen den Aufruf „Ein anderer Journalismus ist möglich!“. Erstveröffentlichung am 5. März</i> <a href="https://frauenstreik.org/streik-divers-aufrufe-von-ortsgruppen-und-initiativen/"><i>auf der Seite des feministischen Streiks</i></a><i>. Dort ist auch der Link zu den Unterzeichnerinnen* zu finden.</i></p><p></p><h2><b>Anmerkung</b>:</h2><p>1) Queer kommt aus dem Englischen und beschreibt Dinge, Handlungen oder Personen, die von der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Norm vermeintlich oder tatsächlich abweichen. Ab den 1980er Jahren wurde der Begriff zunehmend zur positiven Selbstbezeichnung, die einige Schwule und Lesben sowie bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen und trans-Personen verwenden. Wenn wir von Frauen reden, meinen wir damit selbstverständlich auch trans Frauen. Darüber hinaus sind wir uns bewusst, dass nicht alle Menschen sich selbst als Frau identifizieren, nur weil sie von außen so eingeordnet werden.</p></div>
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Die feministische Internationale2018-11-08T10:00:00+00:002018-11-08T11:09:19.562818+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-feministische-internationale/
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<div class="rich-text"><p><i>Unter dem Banner des Frauen*streiks haben sich seit einigen Monaten Frauen* zusammengefunden, die mit unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Hintergründen gemeinsam aktiv geworden sind. Redakteurin Johanna Bröse im Gespräch mit Jenny und Anthea, die in Berlin im Streik-Komitee aktiv sind. Es geht um die Stärke des Streik-Begriffs in Theorie und Praxis, um historische Vorbilder und internationale Verbündete und um die Frage, wie radikal ein feministischer Streik sein kann – oder muss.</i></p><p></p><p><b>Hallo ihr beiden! Erzählt doch bitte zuerst einmal: Wie entstand der Zusammenschluss des Frauen*streiks?</b></p><p><b>Anthea:</b> Wir haben uns im Mai das erste Mal in Berlin getroffen. Das war ein sehr offenes Treffen, an dem unterschiedliche Gruppen, Netzwerke, Bündnisse und Einzelpersonen beteiligt waren. Diesen offenen Charakter wollten wir beibehalten. Das heißt, wir sind kein klassisches Bündnis, sondern wollen wirklich offen sein und allen Leuten möglichst breite Beteiligung ermöglichen. Daher sprechen wir auch als Einzelpersonen und nicht als Repräsentantinnen für das gesamte Streikkomitee.</p><p><b>Jenny:</b> Seit wir hier in Berlin das offene Treffen machen, kommen immer total viele Frauen* und fühlen sich von der Idee sehr angesprochen. Wir haben schon in verschiedenen Städten Veranstaltungen gemacht, und die Anzahl der Beteiligten steigt immer weiter, neue Gruppen gründen sich. Diese Eigendynamiken nehme ich schon als Zeichen wahr, dass die Leute Lust darauf haben.</p><p><b>Was macht den Frauen*streik besonders?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ein Streik ist ja sowieso <i>der</i> klassische Kampf im Arbeitsbereich – aber der Frauen*streik erweitert diesen Bezug noch. Er macht eine feministische Perspektive darin auf: Es wird nicht mehr nur Lohnarbeit einbezogen, sondern eben auch Sorge- und Care-Arbeit. Es geht damit um generelle Arbeitsverhältnisse, nicht nur um Lohnarbeitsverhältnisse. Und dadurch geht es auch nicht nur um den klassischen Tarifstreik, sondern um eine erweiterte Form des Streikbegriffs. Es geht also nicht nur darum, für bessere Löhne oder bessere Arbeitsverhältnisse in der Lohnarbeit zu kämpfen, sondern gleichzeitig für bessere Bedingungen in der Care- und Pflegearbeit, in der Kinderbetreuung, im Haushalt und so weiter. Der Streik richtet das Augenmerk auf die geschlechtliche Arbeitsteilung in ganz vielen Bereichen, auf unsichtbare oder unbezahlte Arbeit, die in der Gesellschaft viel häufiger von Frauen* geleistet wird. Damit geht es konkret um gesellschaftliche Verhältnisse, auch um Sexismus, sexualisierte Gewalt und so weiter. Die Stärke eines feministischen Frauen*streiks mit diesem Grundsatz ist, dass er das alles miteinbeziehen kann und dabei – trotzdem und gerade deswegen! – vor allem ein Arbeitskampf ist. Weil es alles Arbeit ist. Und das wird durch den Streikbegriff deutlich. Das ist wirklich stark. Ich freue mich sehr darüber, wie viel da gemeinsam bearbeitet wird, und wie viele feministische Kontexte unter diesem Regenschirm des Frauen*streiks zusammenkommen können.</p><p><b>Jenny:</b> Der Frauen*streik ist letztlich ein politischer Streik. Es geht uns um ein anderes Verständnis von Streik und Arbeit. Wir wollen nicht nur einen altbekannten Arbeitskampf am Arbeitsplatz führen. Sondern wir wollen <i>alle</i> Arbeit bestreiken, das heißt Pflegearbeit, Hausarbeit, Reproduktionsarbeit, emotionale Arbeit, die unsichtbar gemacht wird und so weiter. Wir wollen damit auch in die öffentliche Debatte eingreifen und deutlich machen, was für Arbeit wir jeden Tag leisten. Und ich würde noch hinzufügen, dass das Besondere die Praxisform ist. Dass wir deutlich sagen "Wir streiken!", das finde ich ansprechender und ausdrucksstärker als die Demonstrationen, die in den letzten Jahren um den Frauen*kampftag um den 8. März herum stattgefunden haben. Diese waren wichtig, aber wir haben beschlossen: Wir wollen nicht mehr nur demonstrieren, sondern wir streiken, weil es uns reicht. Für mich zeigt der Begriff und die Praxis des Streiks, dass Frauen* von ihrer Stellung in der Gesellschaft her Macht haben, und dass wir diese auch nutzen sollten. Dafür müssen wir uns nur zusammenschließen.</p><p><b>Ihr hebt also die politische Komponente des Streiks und die Stärke des Begriffs hervor. Jetzt ist ja der Frauen*streik an sich kein ganz neues Phänomen. Könnt ihr erzählen, woher die Frauenstreikidee kommt und ob ihr euch auf andere feministische Kämpfe bezieht?</b></p><p><b>Jenny:</b> Auf jeden Fall. Die Erfolge der feministischen Streiks in Argentinien, in Polen, in den USA und in Spanien in den letzten Jahren haben definitiv Mut gemacht. Man spürte o den enormen Rückhalt für die streikenden Frauen* aus der Gesellschaft heraus, das war sehr inspirierend. Wenn wir auf die eigene Geschichte in Deutschland schauen, finde ich auch den Frauen*streik, den es hier 1994 gab, sehr zentral. Der Blick auf die Erfahrungen von damals, auf diesen fast vergessenen Streik, ist aus vielen Gründen wichtig, vor allem aber aufgrund der rechtlichen Voraussetzungen von Streiks. Streikbedingungen sind nämlich überall unterschiedlich, und in Deutschland ist der politische Streik als solcher zum Beispiel verboten. Daher ist der Streik in Deutschland 1994 ein wichtiger Anknüpfungspunkt, weil er mit der ähnlichen rechtlichen Struktur ausgefochten wurde. Da anzuknüpfen, mit den Streik-Aktivist*innen von damals zu sprechen und von ihren Erfahrungen zu lernen und sie mitzunehmen, das ist total wichtig.</p><p><b>Anthea:</b> Ich würde den Streik in Spanien hervorheben. Er ist zwar nicht wirklich eine historische Bezugnahme, aber nur deshalb, weil er immer noch anhält. Er hat starken Einfluss weltweit hinterlassen und für große Motivation gesorgt. Man muss sich das einmal vorstellen: In diesem Jahr sind in Spanien am Frauen*kampftag fünf Millionen Frauen* auf die Straße gegangen und haben einen unglaublich breiten Protest veranstaltet. Dieser hat sozusagen die Kraft deutlich gemacht, die Frauen* haben. Es gab in den letzten Jahren schon öfter die Versuche, auch in Deutschland einen Frauenstreik wieder aufleben zu lassen. Man kann jetzt ein bisschen spekulieren, warum es bei diesen Versuchen noch nicht so geklappt hat, aber ich glaube, ein wichtiger Grund, warum das jetzt mit so viel Kraft passiert, ist, weil die Frauen* merken, dass überall sonst auch viel passiert. Es sind lauter einzelne feministische Bewegungen, die dabei sind, eine feministische Internationale zu bilden.</p><p><b>Zwar haben in den letzten Jahren Streiks im Sorge-Bereich, in Kitas, Krankenhäusern und so weiter zugenommen, aber eine verbindende, feministische Perspektive hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Woran macht ihr fest, dass sich daran nun etwas ändert? Wie läuft der Frauen*streik an – und gibt es darin auch Dynamiken, von denen ihr selbst überrascht seid?</b></p><p><b>Jenny:</b> Es gibt Signale, auf die wir total gehofft haben: Wenn wir von der Idee des Frauenstreiks erzählen, fühlen sich sehr viele Menschen sofort angesprochen. Wir haben schon in verschiedenen Städten Veranstaltungen gemacht, und die Anzahl der Beteiligten steigt immer weiter. Auch wenn wir hier in Berlin offene Treffen (bei Interesse einfach auf der Seite des Frauen*streiks informieren, Anm. Red.) machen, kommen immer sehr viele Frauen*. Es entwickeln sich dabei auch Eigendynamiken, verschiedene Arbeitsgruppen entstehen und so weiter. Das nehme ich schon als Zeichen, dass die Idee auf fruchtbaren Boden fällt.</p><p><b>Anthea</b>: Manchmal überrascht es uns aber dennoch, wie rasant sich die Idee verbreitet. In verschiedenen Städten und Regionen haben sich nun Gruppen gegründet: in NRW, Leipzig, Hamburg, Dresden, Augsburg, Freiburg, Jena, München und so weiter. Es ist schön zu sehen, wie der Ansatz Erfolg hat, dass die Frauen* in all den unterschiedlichen Städten dezentrale Strukturen aufbauen, sich vernetzen und eigene Ideen für die Streikpraxis einbringen. Man kann uns als Streik-Komitee auch in Städte oder Regionen einladen, wenn es dort Frauen* gibt, die sich organisieren wollen.</p><p><b>Jenny</b>: Und nun steht unser erstes bundesweites Treffen vor der Tür. Es wird am 10. und 11. November in Göttingen stattfinden und der Ort sein, an dem das erste Mal Menschen aus den verschiedenen Streik-Komitees und Netzwerken zusammentreffen. Und in Berlin ist die nächste Aktion am 25. November die Demo zum internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen*. Es wird unter anderem vom International Women Space organisiert, und wir werden die Demonstration soweit wir können unterstützen.</p><p><b>Lassen sich die unterschiedlichen Formen von selbstorganisierten oder wilderen Streiks, von Widerständigkeit am Arbeitsplatz, in den letzten Jahren auch als Wegbereiter für euren Streik lesen? Beziehungsweise, inwiefern haben die verschiedenen Kämpfe von Marginalisierten und Prekarisierten in Deutschland einen spezifischen Platz im Frauen*streik?</b></p><p><b>Anthea</b>: Die Zunahme an Streikformen von Prekarisierten abseits der klassischen Lohnarbeit kommt definitiv dem Frauen*streik zugute. Wir lernen aus den Erfahrungen, vieles fließt auch in unsere Planungen ein. Vor allem auch, weil es in einem solchen Frauen*streik, der ja ein politischer Streik ist, kreative Formen braucht, um zu streiken. Arbeitsniederlegungen in der klassischen Form sind ja teilweise nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, vor allem in den stark prekarisierten Berufen. Es ist wichtig Streikformen zu finden, die es ermöglichen mit zu streiken ohne den Arbeitsplatz zu gefährden! Da kann man auf jeden Fall sehr viel aus den vergangenen Kämpfen ziehen, sei es von den kraftvollen Streiks migrantisierter Menschen, von Bummelstreiks oder den „Dienst nach Vorschrift“ -Widerständen im Pflegebereich. Von solchen Kämpfen profitiert der Frauen*streik total, weil wir diese Stärke brauchen und auch selbst hervorbringen wollen. Mit unserem Streik setzen wir direkt an den Ausbeutungsverhältnissen an, und das haben uns zum Beispiel die genannten Streiks gelehrt.</p><p><b>In anderen Ländern, etwa in der Türkei oder in Brasilien, kann beobachtet werden, dass feministische Strukturen die stärkste Gegenwehr gegen zunehmende autoritäre Staatsbestrebungen sind. Auch in Deutschland wird das aktuell zum Thema: Feminismus als Bollwerk gegen rechts muss neu gestärkt werden. Wie seht ihr das?</b></p><p><b>Anthea</b>: Man muss zunächst einmal sehen, dass der Antifeminismus einer der zentralen Verknüpfungspunkte zwischen all den unterschiedlichen Akteuren der rechten und neurechten Bewegungen ist. Das erhöht nur noch die Notwendigkeit, aus einer feministischen Offensive heraus stark gegen rechts aufzutreten. Eine Stärke beim Frauen*streik – oder generell an den feministischen Bewegungen, die sich derzeit weltweit aufgestellt haben – ist, dass er ermöglicht, aus der klassischen Defensiv-Politik herauszukommen. Auch in Deutschland sind die Elemente des Frauen*streiks für mich das erste Mal seit längerem Ausdruck einer offensiven Politikpraxis. Das macht ihn sehr stark: Er weist nach vorne, kämpft stärker <i>für</i> etwas, nicht immer nur dagegen. In dieser Offensive liegt auch eine Strategie gegen rechts.</p><p><b>Jenny</b>: Unser Konzept beruht ja unter anderem darauf, dass wir den Streik als Praxisform begreifen. Wir gehen davon aus, dass man, um eine erfolgreiche linke Politik machen zu können, feministische Kämpfe als das sehen muss, was sie derzeit sind: Die erfolgreichsten Kämpfe. Es ist deutlich, dass wir klare feministische Forderungen in Bezug auf die Geschlechterfrage, auf Patriarchat und Kapitalismus weiter an zentraler Stelle positionieren müssen. Damit wenden wir uns unmittelbar gegen rechts.</p><p><b>Eine "Neue Klassenpolitik" gilt derzeit für viele Linke als eine Hoffnungsträgerin. Im Kern sind damit gemeinsame solidarische Praxen in ganz unterschiedlichen Feldern gemeint, die daran ansetzen, die entlang vielfältiger geschlechtlicher und ethnischer Linien aufgespaltene Arbeiter*innenklasse zu einen. Ist der Frauen*streik so eine Art praktischer Ausdruck eines Bemühens um Neue Klassenpolitik?</b></p><p><b>Jenny</b>: Ja, voll. Die ganze Debatte um Identitätspolitik versus Klassenpolitik wird im Frauen*streik produktiv bearbeitet und in der politischen Praxis ausgehandelt. Wir machen nicht nur eine abstrakte Herrschaftskritik, sondern fokussieren – wie Anthea vorhin schon sagte – auf die grundlegenden Ausbeutungsverhältnisse, unter denen wir leiden. Der Frauen*streik ist damit nicht das Ultimative, was kommt, sondern ein Mittel zum Zweck für gesellschaftliche Veränderung.</p><p><b>Anthea</b>: Volle Zustimmung.</p><p><b>Gibt es Bereiche, wo ihr auf Widerstand stoßt, oder ihr merkt: Oha, darauf müssen wir weiterhin gut aufpassen? Praktisch oder in den Diskussionen?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ein Punkt, der auf jeden Fall längerfristige Arbeit erfordert, ist der betriebliche Streik als Teil des Frauen*streiks. Wir können vielleicht jetzt noch nicht davon ausgehen, dass der Streik im kommenden Jahr schon total groß wird. Es handelt sich ja um einen politischen Streik, der gewerkschaftlich wenig Rückhalt hat. Rechtlich ist es eine Grauzone: Man kann nicht zu einem politischen Streik aufrufen, an dem sich etwa die Gewerkschaften offen beteiligen können. Sie können das einfach qua ihrer eigenen begrenzten rechtlichen Handhabe nicht. Das heißt für uns vor allem, dass wir eine weitere Aufgabe haben: den politischen Streik als solchen wieder zu legitimieren. Derzeit ist also der Streik in Betrieben noch eine sehr große Baustelle, an der wir noch viel arbeiten müssen. Unter anderem bedeutet das, sich die Frage zu stellen, wie man mit Gewerkschaften zusammenarbeiten kann.</p><p><b>Jenny</b>: Im Komitee selbst gibt es Menschen, die in Gewerkschaften sind, und auch generell viele Menschen in den Gewerkschaften, die die Idee total gut finden. Der Frauen*streik schließt ja auch an die Streiks an, die von Gewerkschaftsseite in den letzten Jahren unterstützt oder initiiert wurden.</p><p><b>Anthea:</b> Es ist auf jeden Fall eine langfristigere Vernetzungs-und Solidaritätsarbeit nötig. Aber das ist ok, weil wir wollen ja nicht nur 2019 streiken, sondern es geht ja auch um langfristige Perspektiven. Wir wollen den Frauen*streik langfristig aufbauen, und immer größer werden.</p><p><b>Jenny:</b> Genau. Wir sammeln weiterhin kreative Ideen, wie man auch in dieser Lage streiken kann, ohne den Job der Einzelpersonen zu gefährden. Das ist ein langfristiger Prozess, bei dem uns noch ein paar Steine im Weg liegen.</p><p><b>Alex Wischnewski und Kerstin Wolter, die ebenfalls Teil des Streik-Komitees sind, haben den Streik in einem</b> <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1086551.feministischer-streik-zeit-fuer-die-naechste-eskalationsstufe.html"><b>Artikel</b></a><b> "die nächste Eskalationsstufe" genannt. Es liegt nahe, bei euch nachzufragen: Wie radikal ist der Frauen*Streik?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ich finde, dass der Aspekt der Radikalität sehr zentral ist. Wir haben viel Potenzial. So divers unser Komitee und unsere Diskussionen auch sind, gibt es wenig Kontroversen in der Einschätzung von kapitalistischer Ausbeutung im Arbeitsbereich und in der sozialen Reproduktion, die vor allem durch Frauen* geleistet wird. Diesen Mechanismus aufzubrechen, der die kapitalistische Maschine am Laufen hält, dagegen zu kämpfen und darüber hinauszuweisen, darüber sind wir uns einig. Gleichermaßen die Verbindung von Kapitalismus und Patriarchat und die Herrschaftsverhältnisse, die sie reproduzieren: Dagegen kämpfen wir.</p><p><b>Jetzt habt ihr vorhin schon das anstehende Vernetzungstreffen in Göttingen genannt. Dass wir unsere Leser*innen dazu auffordern, dort hinzufahren: Eh klar, aber könnt ihr dazu noch etwas mehr sagen? Und wie kann man den Frauen*streik weiterhin unterstützen?</b></p><p><b>Anthea</b>: In Göttingen geht es vor allem darum, uns gegenseitig kennenzulernen und zu vernetzen. Wir wollen sehen, wie in den verschiedenen Städten und Netzwerken gearbeitet wird, welche Aktionen die Streikkomitees planen und was unsere gemeinsame Arbeitsform sein könnte. Wir wollen an einem bundesweiten Aufruf arbeiten, um gemeinsam aufzutreten und zu zeigen: Darum machen wir den Frauen*streik! Und nicht zuletzt wollen wir auch schon aktiv in die Vorbereitung einsteigen, Verabredungen treffen und kreativ werden. Das Treffen ist offen für alle, auch für interessierte Einzelpersonen. In den Städten, in denen es bereits Netzwerke gibt, kann man super in die AG-Strukturen einsteigen, aber es ist auch total cool und wichtig, einfach vor Ort – am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld und so weiter – mit Leuten zu sprechen und in den Austausch zu starten. Ob man gemeinsam am 8. März einen Betriebsrat einberufen will oder man mit anderen Frauen* gemeinsam andere Aktionsformen findet: Es geht darum, das Thema im Umfeld stark zu machen.</p><p><b>Jenny</b>: Der Kongress in Göttingen ist offen für FLTI*-Personen (Frauen*, Lesben, Trans, Inter, Anm. Redaktion). Aber für cis-Männer (Begriff für männlich sozialisierte, heterosexuelle Menschen, Anm. Redaktion), gibt es bereits Vernetzungsstrukturen solidarischer Männer*, welche die Kinderbetreuung unterstützen wollen. Es können gerne noch mehr werden.</p><hr/><p>Auf der Webseite des Frauen*streiks gibt es Informationen zu anstehenden Veranstaltungen, Flyer und Materialien, Links zu weiteren interessanten feministischen Gruppen weltweit und vieles mehr: <a href="http://frauenstreik.org">frauenstreik.org</a></p></div>
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