re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=632023-02-02T09:28:00.058594+00:00Geschichte wird gemacht: Die „Weddinger Fleischrevolte“ von 19122020-10-23T10:00:16.117846+00:002020-10-23T10:17:29.368767+00:00Hände Weg vom Weddingredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/geschichte-wird-gemacht-die-weddinger-fleischrevolte-von-1912/
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<h1>Geschichte wird gemacht: Die „Weddinger Fleischrevolte“ von 1912</h1>
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<span class="content-copyright">C. Pötsch</span>
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<div class="rich-text"><p>Soziale Proteste und Erhebungen der (Berliner) Arbeiter*innen haben Tradition. Kein Wunder, da sie es sind, die mit niedrigen Löhnen abgespeist, in zu teuren und widrigen Mietskasernen hausend und weitgehend vom Reichtum der von ihnen geleisteten Warenproduktion ausgeschlossen wurden und noch immer werden. Historisch wichtige Orte der Arbeiter*innenbewegung in Berlin waren Kieze in Neukölln, Kreuzberg und auch Wedding. Dort kamen die Widersprüche der kapitalistischen Industrialisierung und Ausbeutung wie unter einem Brennglas zusammen: mieseste Arbeitsbedingungen, Massenarmut, patriarchale Unterdrückung und Wohnungsnot.<br/><br/> Im Fall der Weddinger Fleischrevolte im Oktober 1912 waren es die steigenden Lebensmittelpreise, die Arbeiter*innen zur Revolte zwangen. Während sie, darunter unzählige Kinder und Jugendliche, in den Fabriken und Geschäften für Hungerlöhne täglich zwölf bis vierzehn Stunden schuften mussten, strichen sich die Kapitalist*innen fast den gesamten Mehrwert der Dienstleistungen und gefertigten Waren ein. Für die Arbeiter*innen blieb am Ende des Monats kaum etwas in der Lohntüte übrig. Viele mussten trotz Arbeit hungern. Diese besondere Lohnsklaverei hat sich bis heute erhalten. Heute werden diese besonders ausgebeuteten Arbeiter*innen als „the working poor" (die arbeitenden Armen) bezeichnet.</p><p>Warum diese Forschung zur lokaler Arbeiter*innengeschichte? Als Klasse der Arbeiter*innen müssen wir uns der eigenen Geschichte bewusst werden, um sie in Erinnerung zu behalten und um aus ihr zu lernen. Dabei dürfen wir unsere Geschichte nicht jenen (politischen) Gegner*innen überlassen, die die Momente von politischen und materiellen Erfolgen der Arbeiter*innenkämpfe antikommunistisch, als „extremistisch" oder „totalitaristisch" verunglimpfen. Es liegt an uns, linke Geschichte, ihre Erfolge, Widersprüche und Niederlagen aufzuarbeiten und daraus Erkenntnisse zu ziehen, wie es besser gemacht werden muss. Kein Hannah-Ahrendt-Institut, kein antikommunistischer Opferverband, keine CDU-Politikerin wird dazu jemals auf unserer Seite stehen. „Geschichte wird gemacht" heißt für uns, sich den Erzählungen vom „Ende der Geschichte" zu widersetzen. Diese wurde nach dem Ende der Sowjetunion von rechts lanciert, um Arbeiter*innenkämpfe, sozialistische Politik ad acta legen zu können. Dieser Text ist ein Beitrag dazu, sich bewusst zu werden, dass wir unsere Geschichte als Klasse stets verteidigen müssen. So wie die Arbeiter*innen bei der Fleischrevolte, können und müssen wir den Lauf der eigenen Geschichte und der eigenen Geschicke selbst in die Hand nehmen.<br/><br/> Wir schauen uns nun die materiellen Ursachen der Revolte an, um sie politisch einordnen und besser verstehen zu können. Dies ist dringend notwendig, da die einzige wissenschaftliche Arbeit zu diesem historischen Ereignis ohne materialistische Analyse und vom einem späteren Professor des rechten, antikommunistischen Hannah-Arendt-Instituts, Thomas Lindenberger, geschrieben wurde. Anschließend folgt die Darstellung des Verlaufes der Revolte. Wir werden sehen, dass die vielfältigen Ursachen dieses Aufstands bis heute bestehen. Diese Parallelen werden sich angesichts der aktuellen ökonomischen Krise des Kapitalismus in Pandemie-Zeiten für viele Lohnabhängige weiter zuspitzen.</p><h2><b>Der Staat als Gesamtkapitalist</b></h2><p>Der wilhelminische Staat erkannte Mitte des Jahres 1912 das Konfliktpotential zwischen den Klassen und versuchte die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln durch Ankäufe von Fleisch aus dem Ausland ein wenig abzumildern. Denn eine soziale Revolte, die duch hungernde Arbeiter*innen ausgelöst werden könnte, wäre für Staat und Kapitalseite, bürgerliche Parlamentarier*innen sowie die Fabrik- und Maschinenbesitzenden, gefährlich geworden. Der Staat musste - und muss auch heute noch - mit harter (Repression gegenüber der Arbeiter*innenbewegung) und ausgestreckter Hand (Fürsorgeleistungen) agieren, um die ausbeuterischen Verhältnisse für das Kapital und die Macht des bürgerlichen Staates zu schützen. Er schafft damit auch die Illusion, vermeintlich im Interesse aller Bürger*innen handeln zu wollen. In der Realität bedeutet das, dass ausschließlich das Interesse der Reichen und ihre Produktionsbedingungen geschützt werden. Der Staat fungiert damit als „ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels).</p><p>Der staatliche Ankauf von Fleisch aus Russland und die Subventionierung des Verkaufspreises, rief einen Boykott der Berliner Fleischer und Händler hervor, „russisches Fleisch” zum vom Staat ausgerufenen Selbstkostenpreis auszugeben. Neben nationalistischen Motiven waren es wohl vor allem die zu erwartenden sinkenden Profite, die die Fleischer in den Berliner Markthallen zum Boykott trieb. Durch das auf dem Markt kommende russische Fleisch wäre die damalige Preispolitik von Metzgern und Händlern in Frage gestellt worden. Angesichts der Verknappung von Fleisch als Nahrungsmittel und der Profitspekulation durch überhöhte Preise, wären ihre satten Gewinne gefährdet. Den hungrigen Arbeiter*innen hingegen drohte, ihre Fleischversorgung abhanden zu kommen. Angesichts der schlechten Lebens- und Wohnbedingungen, war dieser Boykott der Tropfen, der das bereits randvolle Fass der Arbeiter*innen zum Überlaufen brachte. Der Staat war in einer Zwickmühle: Arbeiter*innen und Händler/ Metzger kamen in einen Konflikt, der zu eskalieren drohte. Der Senat entsandte daraufhin zahlreiche Polizeikräfte zu den Markthallen, um die Gefahr der Eskalation frühestmöglich mit Repression begegnen zu können und eine Ausweitung der Hungerrevolte zum Wohle der ausbeuterischen Verhältnisse verhindern zu können. Ganz im Sinne der „öffentlichen Ordnung".</p><p></p><h2><b>Wohnen musste Dir leisten können</b></h2><p>Viele Menschen aus ländlichen Regionen verloren aufgrund der Industrialisierung ihre Einkommensmöglichkeiten (bspw. im Handwerk) und waren gezwungen, sich in den Fabriken der großen Städte für miese Löhne zu verdingen. Die Berliner Bevölkerung hatte sich innerhalb von 60 Jahren auf 2 Millionen Menschen verfünffacht. Trotz des großen Bedarfs und zu erwartender Mietsteigerung durch verknappten Wohnraum, wurden neue Wohnungen viel zu wenig gebaut. Die Eigentümer*innen der Wohnungen konnten somit kräftig an überhöhten Mieten verdienen. Die Folge waren hohe Mieten in völlig überbelegten Wohnungen. Die Wohnungen, die gebaut wurden, hatten meist die Form von Mietskasernen und somit entwickelte sich Berlin in dieser Zeit zur größten Mietskasernenstadt der Welt. Um sich die Miete leisten zu können, mussten sich mehrere Familien kleine Behausungen teilen und meist auch Schlafburschen bei sich aufnehmen. Fast 10 Prozent der Berliner*innen hatten keinen Schlafplatz und zahlten, wenn sie konnten, für ein paar Stunden ein Bett. Wohnungs- und Obdachlosigkeit waren, ähnlich wie heute, überall sichtbar.</p><p>Die Überbelegung führte nicht nur zu beengten Verhältnissen, sondern auch zu unzureichender Hygiene und niedrigen Lebenserwartungen. Dazu zählten auch die stetigen Preisteuerungen für Lebensmittel, die neben der Miete den größten Teil der Löhne auffraßen. Unter den Bedingungen einer sich abzuzeichnenden unsicheren Versorgungslage mit Fleisch „als das bedeutendste Lebensmittel für die Arbeiter*innenklasse" kochte die berechtigte Wut der Arbeiter*innen vollends über. Die Weddinger Fleischrevolte kann somit als Hungerrevolte verstanden werden, die - wie wir gleich verstehen werden - vor allem von Frauen* angeführt wurde.<br/> Neben der produktiven und harten Fabrikarbeit waren sie es, die sich aufgrund von patriarchalem Zwang mit der reproduktiven Arbeit (Haushalt, Lebensmittelversorgung, Erziehung u.v.m.) konfrontiert sahen. Sie wurden somit sprichwörtlich doppelt ausgebeutet: in der Lohnarbeit und zu Hause.</p><h2><b>Der Platz von Frauen* ist in der Revolution</b></h2><p>Der immensen Doppelbelastung durch produktive und reproduktive Arbeit ausgesetzt, trafen Frauen* die steigenden Lebensmittelpreise sowie der Boykott des „russischen Fleisches" durch Berliner Metzger und Händler besonders. Die adäquate Nahrungsmittelversorgung der Familie bzw. der Lebenspartner wurde massiv erschwert. Der Hunger war allgegenwärtig. Zu den schwierigen Lebensbedingungen kam zudem eine weitverbreitete Rechtslosigkeit von Frauen* in der Gesellschaft, die sich auch in starkem Maße in häuslicher Gewalt, sexueller Entrechtung sowie in der Verhinderung von Bildung für Mädchen* und Frauen* ausdrückte. Wie heute – sogar noch stärker – wurde die Lohnarbeit von Frauen* weitaus geringer bezahlt. Gegen diese allumfassende gesellschaftliche Gewalt und für die Befreiung aus dieser elendigen Situation musste sie sich gemeinsam organisieren.</p><p>Im Gegensatz zu vielen Arbeitern, waren Arbeiterinnen* jedoch häufig nicht organisiert, weder gewerkschaftlich noch parteipolitisch. Die Schaffung des Bewusstseins als Klasse und als unterdrücktes vergeschlechtlichtes Subjekt musste folglich noch stärker in Angriff genommen werden. Die Fleischrevolte ist, wie wir gleich anhand der Beschreibungen nachvollziehen werden, ein Moment, in dem sich Frauen* kollektiv und öffentlich politisch äußern, sich der Wut und Ungerechtigkeit ihrer sozialen Lage Luft verschaffen. Aufgrund der Lebensumstände ließen sich viele Arbeiter*innen nicht von kurzfristigen Maßnahmen des Staates zur Besänftigung der sich anbahnenden Lebensmittelkrise täuschen.<br/> Die Revolutionärin <a href="https://www.marxists.org/deutsch/archiv/zetkin/1907/09/patriot.html">Clara Zetkin</a> drückte zuvor in theoretischen Überlegungen das Verhältnis von Kampf um Emanzipation und Staat so aus:</p><p>„<i>Wir wissen ganz gut, dass der moderne Nationalstaat der Boden ist, auf dem das Proletariat seinen Klassenkampf führen muss. Wir vergessen aber auch nicht, dass der gegenwärtige Nationalstaat der kapitalistische Klassenstaat ist, der seine Vorteile und Segnungen in erster Linie den ausbeutenden, herrschenden Klassen vorbehält."</i><br/> <i>(Bürgerlicher und proletarischer Patriotismus)</i></p><p>Je nach politischer Gemengelage waren es Frauen*, auf deren Rücken die Verhinderung sozialer Proteste und ihre Delegitimierung ausgetragen wurden. Im Zuge der „Weddinger Fleischrevolte" war es vor allem eine frauen*feindliche Berichterstattung der Medien. Sie suchte die Erklärung der Revolte nicht in der von Staat und Kapitalisten verordneten Armut der arbeitenden Massen und ihre materielle Situation, sondern in angeblicher „Hysterie" der Proletarier*innen gegenüber den Metzgern und Polizisten. Ein klassisches, rechtes und patriarchales Manöver, um die Unterdrückung von Arbeiterinnen* zu nutzen, um wirkliche soziale Veränderungen zu verhindern.<br/></p><h2><b>Wir haben Hunger, Hunger, Hunger! Der Verlauf der Fleischrevolte</b></h2><p><br/><i>Die folgend angeführten Textelemente sind aus dem im Literaturverzeichnis erwähnten</i> <a href="https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-99757-9_14"><i>Aufsatz</i></a><i> von Thomas Lindenberger teilweise gekürzt und zusammengestellt worden. Separate, im Aufsatz befindliche Quellen sind in den in eckigen Kästchen nummerierten Fußnoten angegeben und neu nummeriert worden.</i></p><h3><b>Mittwoch, den 23. Oktober 1912: 1. TAG</b></h3><p>Die Tageszeitungen charakterisierten die Vorgänge in bzw. vor der Markthalle in der Reinickendorfer Straße im Stadtteil Wedding als „Revolte der Frauen" oder „Fleischrevolte". Gegen fünf Uhr morgens hatten sich an den Eingängen mehrere tausend Frauen versammelt und warteten auf den Beginn des Verkaufs. „Als die Halle geöffnet wurde, rissen die Frauen die an den Eingängen stationierten beiden Polizeibeamten auf die Seite und stürmten in die Halle.“ [1] Auch hier verweigerten die Schlächter unter Hinweis auf seine angebliche Minderwertigkeit den Verkauf des russischen Fleischs. „Unter furchtbarem Geschrei und Wutgeheul" rückten die Frauen ihnen daraufhin „zu Leibe": Sie riefen „Wir wollen Fleisch haben", „Ihr Hunde wollt nichts verkaufen! Wir wollen nicht mehr hungern! Diebe, Blutsauger", „drangen in die Verkaufsstände, drängten die Fleischer und ihre Gehilfen unter Schlägen und Stößen aus den Läden auf den Gang hinaus und bemächtigten sich aller Fleisch-und Wurstwaren, die sie nur irgend erreichen konnten." [ebd.] Die Beute wurde nicht nur in großen Stücken herausgeschnitten und in die Taschen gesteckt, sondern zum Teil auch zu Boden geworfen und zertrampelt. Ein Schlächter musste aus mehreren Wunden blutend von seinen Kollegen aus der Mitte der Plünderinnen befreit werden. „Als einige Schlächter ihre Läden schließen wollten, stürmte ein Haufen Frauen zu den Gemüsehändlern, raffte dort zusammen, was es an Obst, Rüben und Kohlköpfen vorfand und begann ein wütendes Bombardement auf die Schlächter, die ihr Hab und Gut zu retten suchten." [ebd.]</p><p>Der Vorwärts betonte in seinem Bericht besonders das provokatorische Verhalten der Fleischer. Einer rief: „Bringt Euch Sch .... nach Hause statt Fleisch, dann habt ihr was zu fressen", während ein anderer eine Wurst nach den Frauen warf. Der bereits erwähnte, von Frauen verprügelte Schlächter habe diese mit einem Räucherstock bedroht. [2] Schließlich gelang es der mittlerweile erschienenen Polizei die Halle zu räumen: „Die Beamten wurden von den Frauen tätlich angegriffen, ins Gesicht geschlagen, mit Würsten, Fleischstücken und anderen Lebensmitteln bombardiert [... ]. Die Weiber, die wilde Drohungen ausstießen, flohen schließlich mit der Drohung: 'Nachmittags kommen wir mit unseren Männern wieder!' aus der Halle. Auf der Straße sammelten sich die rasenden Weiber an und begannen durch Pfeifen und Johlen die Beamten zu verhöhnen. Diese schlossen schließlich die eisernen Gittertore und versuchten durch gütliches Zureden die Demonstrierenden zum Weitergehen zu veranlassen." [ebd.]</p><p>Anschließend richteten die Frauen ihre Aktionen gegen drei Fleischerläden in den umliegenden Straßen. „Was auf den Ladentischen lag, wurde gestohlen, und als die Schlächter sich zur Wehr setzen wollten, wurden sie mit Pferdekot beworfen." [ebd.] Die Anzahl der in der Nähe postierten Schutzmänner war zu schwach, um wirksam einzugreifen. „Die Frauen wurden gegen 10 Uhr durch einige Rotten von Zuhältern und jungen Burschen unterstützt. Die Beamten wurden wiederholt mit Pferdedung beworfen, und die Beamten konnten nur durch ihre große Zurückhaltung und Ruhe Schlimmeres verhüten." [ebd.] Am Nachmittag sicherte die Schutzmannschaft die Markthalle durch mehrere Doppelposten und richtete in ihren Verwaltungsräumen eine „fliegende Polizeiwache" ein. Nur für kurze Zeit, um fünf Uhr herum, wurde die Halle geöffnet. Die vierzehn Fleischer dieser Markthalle beharrten nach wie vor auf ihrer Weigerung, russisches Fleisch zu verkaufen, und schlossen dies auch für die kommenden Tage aus. [3] Von den 128 Fleischermeistern, die sich gegenüber dem Magistrat zum Verkauf russischen Fleischs bereit erklärt hatten, hatten nur 22 die Zusage eingehalten, während es sich der Rest wohl in erster Linie wegen des zu knappen Verdienstes in letzter Minute anders überlegt hatte. Von der Fleischer-Innung wurde betont, dass es keinen Boykottbeschluss gäbe. „Die bedauerlichen, nicht zu billigenden Szenen im Norden Berlins sind unzweifelhaft auf dieses Verhalten der Schlächtermeister zurückzuführen", kommentierte die Vossische Zeitung, eine Bewertung, die quer durch alle politischen Richtungen der veröffentlichten Meinung geteilt wurde. [4] Wegen der Beschimpfungen erwog der Magistrat, einigen Fleischern eventuell die Verkaufsstände zu entziehen. [5] Im Laufe des Nachmittags fanden sich dann andere Verkäufer für das russische Fleisch. Von minderwertiger Qualität des importierten Fleisches konnte nach Meinung der Konsumenten wie von Experten keine Rede sein. Der Verkauf im weiteren Verlauf des Tages verlief denn auch ohne Störungen. [6]<br/></p><h3><b>Donnerstag, den 24. Oktober 1912: 2. TAG</b></h3><p>Am nächsten Tag stand der Markthallenbetrieb in der ganzen Stadt unter außerordentlicher Polizeiaufsicht. [...] In der Weddinger Markthalle wurde als einziger immer noch kein russisches Fleisch angeboten. Wieder stürmten die Frauen die Stände, stahlen Waren und attackierten einzelne Fleischer. Gegen neun Uhr räumten 30 Schutzleute die Halle und ließen nur noch kleinere Gruppen ein, so dass allmählich Ruhe einkehrte. Wie tags zuvor verlagerten sich die Aktionen jetzt auf die Umgebung der Markthalle, auch diesmal stießen junge Männer hinzu: „Dafür ließen die zahlreichen Rowdies, die die Frauen aufzuhetzen suchten, ihre Wut an den in der Nähe wohnenden Schlächtern aus. Die Schlächterei von Max Röder wurde von den Zuhältern und arbeitsscheuem Gesindel, das sich in der Nähe der Markthalle aufzuhalten pflegt, zu stürmen versucht. Zahlreiche Fleischwaren wurden entwendet. Vor dem Hause sammelten sich etwa 500 bis 600 Menschen, die den Boykott über die Firma verhängten und die Käufer verhinderten, dort ihren Bedarf zu decken. Einer Dame, die trotzdem einen Einkauf gemacht hatte, wurde beim Verlassen des Ladens die Tasche mit Fleischwaren gestohlen, der Hut vom Kopf gerissen und zerfetzt." [ebd.] Trotz Polizeischutz musste die Schlächterei schließen. Ähnlich erging es einem weiteren Laden in der Reinickendorfer Straße. [7] Vor der Halle sammelten sich gegen 11 Uhr immer mehr Frauen und Jugendliche an. „Plötzlich erscholl wohl aus dem Munde irgendeines Burschen der Ruf: 'Los zu Morgenstern, dort gibt es billiges Fleisch!" [8]</p><p>Damit wurde der Höhepunkt der Aktionen dieses Tages eingeleitet. „In kleinen Zügen begaben sich die Demonstranten, die unterwegs noch Zulauf bekamen [zur gleichen Zeit liefen bereits die o. e. Aktionen gegen die anderen Fleischerläden -T.L.], nach der Schererstraße, wo sich in kurzer Zeit eine ungeheure Menschenmenge versammelte. Unter Johlen und Schreien drangen die Leute bis zum Morgensternschen Geschäft vor. In dem Laden befanden sich außer den Angestellten etwa dreißig bis vierzig Käufer und Käuferinnen. Jetzt ertönten schrille Pfiffe und dann Rufe 'Käufer raus!' Der Geschäftsführer Stiller ließ die Kundschaft, soweit sie nicht gleich auf die Straße floh, durch einen nach der Maxstraße führenden Ausgang hinaus; dann eilte er wieder in den Laden und verschloss die Tür. Inzwischen hatte aber die Menge schon eine Attacke auf den Laden unternommen. Stiller zog nunmehr einen Revolver, stellte sich am Eingang auf und drohte die Eindringenden niederzuschießen. [9]<br/> Die vorderen Demonstranten wichen zurück, wurden aber durch die hinteren wieder vorgedrängt. Plötzlich zerbrach eine der Ladenscheiben. Ein Frauenzimmer hatte sie mit dem Fuß eingestoßen. Das war das Signal zum allgemeinen Angriff. In wenigen Sekunden waren die großen Spiegelscheiben zertrümmert, und während ein Teil des Pöbels die hinter den Schaufenstern liegenden Waren raubt, machte sich ein anderer Teil daran, einen vor der Tür haltenden Fleischwagen auszuplündern. Um die im Laden befindlichen Angestellten zu vertreiben, wurde ein neues Steinbombardement eröffnet. Dabei wurde der Geschäftsführer Stiller so schwer verletzt, dass er blutend gegen den Ladentisch taumelte. [ ... ] Vier Gesellen trugen Verletzungen an Händen, Armen und Beinen davon. Vom 91. Revier rückten inzwischen Hauptmann Körnich, zwei Polizeileutnants und 30 Schutzleute heran. Während ein Teil der Demonstranten beim Nahen der Beamten die Flucht ergriff, nahm ein anderer Teil eine drohende Haltung ein, so dass die Polizisten blankziehen und die Menge auf diese Weise zurücktreiben mussten. In kurzer Zeit wurden noch weitere Schutzmannskommandos herangezogen und über die ganze Gegend verteilt, um erneuten Angriffen vorzubeugen. Während gegen 1 Uhr mittags die Schutzleute vor und in der Markthalle am Wedding zurückgezogen werden konnten, musste der polizeiliche Belagerungszustand in den übrigen Straßen noch bestehen bleiben, da fortgesetzt neue Trupps die Straßen durchzogen. [10]</p><p>Den ganzen restlichen Tag hindurch blieben diese Mobilisierung und Aktionsbereitschaft erhalten. Am frühen Nachmittag, noch während der mittäglichen Schließungszeit der Markthalle, wurden in der Müller- und in der Kösliner Straße je ein Fleischergeschäft angegriffen. Die Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers brachte vom Nachmittag folgenden Lagebericht: „In der bedrohten Gegend patrouillieren Schutzleute, und um 4 Uhr werden weitere Verstärkungen von den Außenrevieren herangezogen. Überall rotten sich schon wieder Demonstranten zusammen. Die Polizei hat Mühe, sie weiterzutreiben. Man befürchtet, dass es in den Abendstunden zu neuen Exzessen kommen wird, jedoch ist ausreichend Vorsorge getroffen, dass jeder Versuch im Keim erstickt werden kann, da überall zahlreiche Schutzleute stationiert sind. Die sämtlichen Schlächterläden am Wedding stehen unter polizeilichem Schutz. Überall sind Beamte eingelegt und vor den Türen Doppelposten aufgestellt.” [11]</p><p>Die Öffnung der Markthalle um 17 Uhr bildete den Ausgangspunkt für die letzten Aktionen der Weddinger Fleischrevolte. Es wurde nun endlich auch hier russisches Fleisch verkauft. Kurz vor Öffnung der Markthalle um 17 Uhr hatten sich vor dem Eingang in der Schönwalder Straße „2000 Personen [...], unter denen sich etwa 500 Käufer befanden", gesammelt. [ebd.] Die Polizei ließ die Kundinnen in Schüben von 100 Personen auf der einen Seite der Halle eintreten, während der zweite Eingang am Weddingplatz nur als Ausgang benutzt werden durfte. „Das unruhige Element unter dem Publikum verfolgte den Vorgang mit Pfeifen, Johlen und Schreien; wiederholt sah es sehr bedrohlich aus, so dass die Schutzleute das Publikum in die anderen Straßen abschieben mussten. Zu Zusammenstößen kam es aber nicht, dank der besonnenen Haltung der Schutzmannschaft. Da der Mob sah, dass hier nichts für ihn zu tun war, verzog er sich in die Nebenstraßen." [ebd.] In der Schererstraße sicherte ein größeres Polizeiaufgebot die Fleischerei Morgenstern. Also wurden in der Müllerstraße drei (darunter eine Gänseschlächterei) und in der Pankstraße ein Geschäft gestürmt und geplündert. „Als um 8 Uhr die Markthalle wie die Geschäfte geschlossen wurde, sah es überall recht bedrohlich aus. Es waren aber inzwischen weitere Verstärkungen von Schutzleuten herangezogen worden, so dass die radaulustigen Elemente es vorzogen, sich in kleinen Trupps zu zerstreuen. Bis in die späten Nachtstunden hinein hielt ein großes Polizeiaufgebot alle Straßen und Plätze des Wedding besetzt, um Ausschreitungen vorzubeugen.” [12] Von den anderen Markthallen wurden außer lebhaftem Verkehr und dem durch die Polizei geregelten Zugang keine besonderen Vorkommnisse berichtet. [13] Auch im weiteren Verlauf der Woche musste zwar immer wieder Polizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, so zum Beispiel in der Andreasstraße; zu „Ausschreitungen" kam es jedoch nicht mehr. „Ein spekulativer Händler verkaufte Ansichtspostkarten, auf denen 'Der Fleischkrieg und der Sturm auf die Markthalle' in ungemein drastischer Weise dargestellt waren.” [14] In den Wochen danach wurde der städtische Fleischverkauf zur Routine. [15]</p><h2><b>Erinnern heißt Kämpfen</b></h2><p>Gemäß dieser Losung machen wir uns die lokale Geschichte anhand der „Weddinger Fleischrevolte" wieder bewusst. Sie ist Inspiration und Kraftgeberin für aktuelle soziale Kämpfe, die wir als Lohnabhängige führen. Die kapitalistische Krise produziert am laufenden Band Widersprüche: Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Femizide/ häusliche Gewalt, Ausbeutung in der Lohnarbeit und Unterdrückung im Alltag. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich seit den vergangenen 108 Jahren rasant verändert. Stets geblieben ist ihr grundsätzlich ausbeutender, kriegerischer und unterdrückender Charakter. Diese sich stetig verändernden Ausformungen des Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf Menschen und die Natur müssen wir verstehen lernen. Am Beispiel der Revolte zeigt sich allerdings auch eine Leerstelle. Aufgrund der spontanen Erhebung, fehlte es an einer kollektiven und handlungsfähigen, revolutionären, kommunistischen Organisation, die in der Lage gewesen wäre, diesen spontanen Aufstand zu verstetigen. Auch die Sozialdemokratie (SPD) war nicht in der Lage und willens, die Revolte politisch zu verteidigen. Sie distanzierte sich praktisch von den Arbeiter*innen und schlug sich auf die Seite der Erzählung der Herrschenden und fabulierte von angeblichen Provokateuren, dem „Gesindel" und „Mob", der die Frauen* angestachelt hätte. (Vgl. Lindenberger, S. 299) Frauen* als eigenständige politische Subjekte kommen in dieser Erzählweise nicht vor. Da die Fleischrevolte nur eine kurze, spontane soziale Eruption ohne längerfristige politische Auswirkungen war, kann jenseits der Plünderungen nicht davon ausgegangen werden, dass sich nach der Revolte die Versorgungslage für die Arbeiter*innen bedeutend besserte. Jedoch stehen jedoch auch diese historischen Momente für die Weiterentwicklung kollektiven Klassenbewusstseins.</p><p>Auf die bürgerlichen Parteien und ihre staatliche Krisenlösung konnten sich die proletarischen Lohnabhängigen also nie verlassen. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in den vergangenen mehr als einhundert Jahren verändert. Während damals Klassengegensätze klar erkennbar das Leben bestimmten, verschleiert der Neoliberalismus heutige Ausbeutungs- sowie Unterdrückungsverhältnisse. Er rechtfertigt soziale Ungerechtigkeit mit der Lüge „Jeder ist seines Glückes Schmied", erkennt keine Klassen an und verhindert kollektiven Widerstand durch verschärfte Entfremdung, Vereinzelung und Entsolidarisierung unter den Arbeiter*innen. Dem gilt es entgegenzutreten. Diese Klassengesellschaft gilt es weiterhin zu überwinden. Die politischen Einordnungen und das materielle Verständnis der Ursachen der nachfolgend dargestellten Revolte helfen uns dabei. Geschichte wird gemacht, packen wir es an!</p><p></p><p></p><hr/><p></p><img alt="flschkrieg_1902.jpg" class="richtext-image full-width" height="504" src="/media/images/flschkrieg_1902.width-800.jpg" width="778"><p></p><h3><b>Literaturhinweis:</b></h3><p>Lindenberger, Thomas (1994): Die Fleischrevolte am Wedding. Lebensmittelversorgung und Politik in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Der Kamf um das tägliche Brot, S. 282 - 304.</p><h3><b>daraus bezogene Fußnoten:</b></h3><p>[1] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.<br/> [2] Vorwärts v. 24.10.1912, Nr. 249, 2. Beil.<br/> [3] Berliner Tageblatt v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beibl.<br/> [4] Die einzige Ausnahme stellte laut Vorwärts v. 25.10.1912, Nr. 250 die großagrarierfreundliche Deutsche Tageszeitung dar.<br/> [5] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.<br/> [6] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beil.<br/> [7] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.<br/> [8] Vorwärts v. 25.10.1912, Nr. 250.<br/> [9] "mit dem er, wie er vor Gericht bekundete, jeden niedergeschossen hätte, der in den Laden selbst gekommen wäre" (aus der Gerichtsreportage im Vorwärts vom 19.12.1912, Nr. 296, 1. Beil.).<br/> [10] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.12.1912, Nr. 544.<br/> [11] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.10.1912, Nr. 544.<br/> [12] Berliner Lokal-Anzeiger v. 25.10.1912, Nr. 545; Berliner Tageblatt v. 25. 10. 1912, Nr. 545, 1. Beibl.<br/>[13] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.<br/> [14] Vossische Zeitung v. 27.10.1912, Nr. 549, 1. Beil.<br/> [15] Vgl. Vossische Zeitung v. 28.10.192, Nr. 511, v. 5.11.1912, Nr. 566." (Lindenberger 1994: 285-290)<br/></p></div>
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Kommunistische Organisation statt Aktionismus2020-06-14T08:17:17.778594+00:002020-06-18T17:01:09.762914+00:00Kommunistische ArbeiterInnen Organisation (KAO)redaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kommunistische-organisation-statt-aktionismus/
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<h1>Kommunistische Organisation statt Aktionismus</h1>
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<span class="content-copyright">ISO</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Im vergangenen Monat entwickelte sich im re:volt magazine eine Debatte um die aktuelle Situation in der Covid-19-Krise, deren politische Einschätzung, sowie die Handlungsmöglichkeiten der radikalen Linken. Die Genoss*innen von Kritik & Praxis Frankfurt (im Folgenden K&P) blicken in ihrem</i> <a href="https://revoltmag.org/articles/die-selektive-solidarit%C3%A4t-durchbrechen/"><i>Beitrag von Mitte April</i></a><i> weise voraus und schreiben: „Es wird nicht reichen, Transparente aus den Fenstern zu hängen oder Online-Demonstrationen zu veranstalten. Ohne eine Praxis des zivilen Ungehorsams ist die Ethik der Fürsorge im Kleinen auch in Zukunft wenig wert. Wir fangen besser heute als morgen damit an, über das ‚wie‘ nachzudenken.“ Dem entgegnet ein zweiter</i> <a href="https://revoltmag.org/articles/bereiten-wir-uns-auf-eine-widerst%C3%A4ndige-zeit-vor/"><i>Debattenbeitrag von Ökologisch Radikal Links</i></a><i> (im Folgenden ÖRL), „dass eine politische Praxis nicht nur in unseren Köpfen, sondern allein durch aktives Agieren und Ausprobieren entsteht“. Es wird gefordert, neue politische Wege zu gehen, um aus der Schockstarre herauszukommen.</i> <i>In diesem Text wollen wir die Frage des „wie“, die von K&P aufgeworfen wurde, den Entwicklungen angepasst weiterdenken und konkretisieren. Dabei darf es zu keiner falschen Dichotomie von Theorie und Praxis und zu keiner verzweifelten Suche nach dem heilbringenden Novum revolutionären Handelns kommen.</i></p><p></p><h3><b>Kapitalistische Pandemiebekämpfung</b></h3><p>Die Corona-Pandemie ist eine Gesundheitskrise historischen Ausmaßes. Hunderttausende Infizierte, tausende Tote, ungeklärte Folgen für Geheilte und so weiter. Der Staat hat darauf zunächst mit so genannten Kontaktbeschränkungen reagiert. In der Folge vermeldet die Bundesagentur für Arbeit 10,1 Millionen Meldungen zur Kurzarbeit. Nichtsdestotrotz werden Millionen von Arbeiter*innen weiterhin in ihre Lohnarbeitsstätten gezwungen und irrsinnigen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt. Trotz der umfangreichen Sicherungs- und Auffangmaßnahmen des Staats für die Industrien, lief das Kapital gegen diese Mindestbeschränkungen Sturm und gebärt sich dabei als vermeintliche „Freiheitsrechtlerin“. Bei dieser Strategie wird – nicht unbedacht – mit Rufen nach Bewegungsfreiheit und Versammlungsrecht ein über die Grenzen der jeweiligen Klassen hinaus gemeinsames Interesse, nämlich das nach „Freiheit“, imaginiert. Dieses gemeinsame Interesse existiert aber nicht. Was <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/christian-lindner-kontakte-trotz-corona-wieder-smart-ermoeglichen-16720150.html">Christian Lindner</a> stellvertretend für das deutsche Kapital formulierte, ist die Forderung der totalen Freiheit des Warenaustauschs. Der bürgerliche Staat ist diesem Druck naturgemäß nachgekommen und baut die Lockdown-Maßnahmen sukzessive ab. So kann man nun wieder bei T€DI für 1€-Unterhosen auf Corona-Partys gehen, oder im Fitnessstudio Viren verschleudern. Für Arbeiter*innen in diesen Bereichen ist das aber, anders als für andere, keine optionale Angelegenheit. Sie werden dort hin gezwungen. Diesen Lockerungen gegenüber äußern ernstzunehmende Virolog*innen erhebliche Bedenken.</p><p>K&P liegt also unserer Meinung nach gleichzeitig richtig und falsch, wenn sie die Rolle des „epidemiologischen Wissens und seiner Träger*innen“ zur Antriebsfeder der Lockdown-Maßnahmen mit all ihren Folgen erklären. Richtig, weil die wissenschaftliche Expertise zunächst natürlich handlungsanweisend für den Staat gewirkt hat. Falsch, weil sich diese wissenschaftliche Vernunft nicht gegen die Logik des Kapitals durchsetzen konnte, um neue Infektionsherde zu unterdrücken. Folglich sind es nicht vernünftige Gesundheitsmaßnahmen, die die Lebensbedingungen des Proletariats grundsätzlich verschlimmern, sondern die aggressiven Angriffe des Kapitals auf das Arbeitsrecht.</p><p>Fast im Stillen wurde der 12-Stunden-Tag in einigen Branchen wiedereingeführt, die Ruhezeiten verkürzt und die Lohnkosten auf den Staat umverteilt. Mancherorts kam es zudem zu Urlaubssperren. Dabei ist zu erkennen, dass die Phase des Neoliberalismus des späten 20. Jahrhunderts, in dem es zur relativen Befriedung der Arbeiter*innenklasse (bezogen auf Arbeitsverhältnisse und Lohn) kam, einen Kurswechsel erfährt. Das zeigt sich während Corona ganz besonders. Einerseits lassen sich keynesianische Regulierungsprogramme in den USA, der EU und anderswo beobachten, die der Beruhigung des Marktes dienen sollen. Das ist in Krisenzeiten ein ganz normaler Vorgang. Andererseits wird in Deutschland und darüber hinaus in ungekannter Intensität an den Arbeitsrechten und -verhältnissen gerüttelt. Diese Angriffe belegen, dass die aufkommende Krise nicht eine zyklische, ähnlich der von 2008 ff. ist, sondern eine von historischem Ausmaß, vergleichbar mit der von 1929 ff., sein wird.</p><p></p><h3><b>Wo stehen wir?</b></h3><p>Diese Verschärfungen der Lohnarbeitsverhältnisse, sowie die lächerlich geringen Maßnahmen zum Infektionsschutz in den Arbeitsstätten, stellen genau jene „sozialdarwinistische Logik der Auslese“ dar, die K&P beschreibt. Eine nicht beherrschbare Zirkulation des Virus ist schon jetzt, kurz nach den Rücknahmen der Beschränkungen, zu verzeichnen. So ändert das Robert-Koch-Institut ständig seine Angaben dazu, ob die effektive Reproduktionszahl des Virus nun unter oder über 1,0 liegt. Weiterhin wurde bereits eingestanden, dass die scheinbar sinkenden Neuinfektionen vielleicht auch mit weniger durchgeführten Tests zu erklären sind. Die fehlende Kontrolle ist deutlich erkennbar.</p><p>Und trotzdem: Zwanghaft versuchen sich die Virolog*innen des RKI in Schönfärberei der Situation und geben dabei nicht mal überzeugend vor, das gesundheitliche Wohl der Menschen im Fokus zu haben. „Verreckt für die Wirtschaft oder verreckt am Hunger“, schreien sie den Arbeiter*innen entgegen, die sie (nun wieder) in den normalen Arbeitsalltag zwingen. Dabei zeigen überfüllte Geschäfte und S-Bahnen, erneute Schulschließungen und die Corona-Ausbrüche in Großbetrieben die Infektionstendenz an. Leben und Gesundheit der Arbeiter*innen werden geflissentlich aufs Spiel gesetzt, um die nationale Wirtschaft gerade auch im Hinblick auf die internationale Konkurrenz zu stärken. Die Arbeit des RKI ist folglich nicht einfach eine neutrale, ideologiefreie Darlegung von Fakten, keine einfache epidemiologische Gewissheit.</p><p>Die Frage, die K&P aufwirft, wie nun mit dem ganzen Schlamassel umzugehen sei, erfordert eine strukturelle Analyse des Bestehenden und eine langfristig angelegte Strategie im Sinne der kommunistischen Sache, statt einer nur scheinbar konkreten Widerständigkeit. Wenn K&P also schreibt: „Die gegenwärtige Situation lässt sich nicht in der binären Logik einer einseitigen Parteinahme auflösen: Es gibt nicht einfach ein dafür und dagegen“, dann liegen sie natürlich nicht falsch. Dennoch ist das unbefriedigend. Wenn es nämlich kein einfaches ‚dafür‘ oder ‚dagegen‘ gibt, dann muss auch eine ausdifferenzierte Position formuliert werden. Einen Monat nach dem Beitrag von K&P, der eine solche Position gerade nicht ausformulierte, halten wir das für eine dringliche Aufgabe.</p><p></p><h3><b>Alter Wein in neuen Schläuchen</b></h3><p>Kritisieren wir also am Beitrag von K&P die fehlende Konkretisierung einer grundsätzlich richtigen Initiative, so weisen wir dagegen die Vorschläge von ÖRL entschieden zurück. Die Bemühungen und selbstgesteckten Ziele von ÖRL nach Aufklärung der Gesellschaft über besonders marginalisierte und prekarisierte Gruppen, nach neuen Formen politischer Praxis und nach einer Learning by Doing-Strategie sind weder neu, noch haben sie Konsistenz. Das merkt man auch schon bei der Lektüre des Debattenbeitrags.</p><p>In völligem Tunnelblick darauf, „spontan“ und „widerständig“ zu werden, attestiert ÖRL mehrfach ein Totdiskutieren der Praxis, während diese doch angeblich „allein durch aktives Agieren und Ausprobieren entsteht“. Im Widerspruch dazu steht die eigene angebotene Bildungsarbeit. Generell führt die Fetischisierung der Spontaneität nach dem Motto: spontane Bewegungen hier, wenig spontane Organisationsformen dort, zu einigen weiteren Widersprüchen. Wird der radikalen Linken zuerst noch die totale Ohnmacht bescheinigt (aus der aufzuwachen sei), wird dann im Weiteren gefordert, die eigene Handlungsmacht auf die Probe zu stellen. Müssen wir nun erst geweckt werden, oder sollen wir schon losschlagen? Wird auf der einen Seite eine „neue politische Praxis“ gefordert, so wird im nächsten Zug erklärt, dass Nachbarschaftshilfen „keine neue Bewegung“ ersetzen. Sie seien zwar „Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Zusammenhalts“, werden dann aber instrumentell herabgewürdigt als „eine Plattform, um lokal mehr Menschen als üblich zu erreichen“. Stattdessen wird dann an Menschenketten und „widerständigeren Aktionen“, mit Graffitis, Kundgebungen und (Online)-Demonstrationen die „neue politische Praxis“ ausgemacht.</p><p>Schon Lenin schrieb: „Aber es gibt Spontaneität und Spontaneität“, und hielt fest:</p><p><i>„Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideo1ogie. Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des Credo, denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschaftlerei. Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie.“</i> <b>[1]</b></p><p>Ähnliches geschieht im Text von ÖRL auch, die die „intellektuelle Distanz“ verfluchen, und damit eben die genaue Analyse meinen. Sie rufen zur spontanen Erprobung der Handlungsmacht auf, fordern aber zugleich maximal reformistische Etappenziele ein, nämlich die Wiedereinführung der „demokratischen Freiheitsrechte“, das Demonstrieren und aktionistisch sein. Die wirklich ernsten Fragen, also die nach dem Verlauf der Corona-Krise und der sich zuspitzenden Kapitalkrise, werden zum „schwierigen Dilemma für die radikale Linke“ erklärt, und damit nicht angegangen. „Aktiv werden!“, scheint da wichtiger.</p><p></p><h3><b>Was tun?</b></h3><p>Statt der konfusen Spontaneität bedarf es einer planvollen kommunistischen Organisation der Arbeiter*innenklasse. Da die autoritäre Zuspitzung der Lebensverhältnisse unseres Ermessens nach einerseits an den Angriffen der Kapitalist*innenenklasse auf die Lohnarbeitsverhältnisse und andererseits natürlich auch an den Einschränkungen des öffentlichen und vor allem privaten Lebens festzumachen ist, müssen diese Kampffelder zentraler Gegenstand von Theorie und Praxis sein. Das heißt im Konkreten:</p><ul><li>Die Kommunist*innen als Teil der Arbeiter*innenklasse müssen den Angriff auf das Arbeitsrecht und auf die Lohnarbeitsverhältnisse in den Betrieben und Fabriken beantworten und bekämpfen. Unter strategischer Leitung der zu errichtenden Kommunistischen Partei müssen wir in die Betriebsräte drängen und zusätzlich Arbeiter*innenräte in Unternehmen und Abteilungen etablieren. Nicht um die schlechte Reformpolitik der Gewerkschaften vermeintlich besser zu machen, sondern um die Stärkung der „sozialistischen Ideologie“ in der Arbeiter*innenklasse voranzutreiben. Reformorientierte Auseinandersetzungen wie beispielsweise Lohnerhöhungen oder Corona-Schutzmaßnahmen sind dabei natürlich nicht außen vor zu lassen, sondern im Gegenteil zu forcieren. Das kann jedoch nicht das Ziel, sondern allenfalls Etappe des Kampfes der Partei, im Gegensatz zu dem von „Widerstandsgruppen“, sein. Wichtiger ist die Verankerung im Proletariat, die Errichtung einer Massenbasis für kommunistische Politik und Organisation.</li></ul><p></p><ul><li>Die in beiden Texten gelobten Nachbarschafts- und Solidaritätsnetzwerke sind ein weiterer sehr wichtiger Arm kommunistischer Organisation. Hier in Frankfurt am Main, und auch anderswo, lässt sich deutlich erkennen, dass es sich um erfolgreiche Aufbauversuche handelt. So platzen schon die Tafeln, auch ohne Corona, in vielen Städten aus allen Nähten. Die Gabenzäune, die vielerorts installiert wurden, werden viel genutzt. Wir müssen diese Angebote dauerhaft ausbauen, mit hydroponischen Systemen <b>[2]</b>, Gartenkollektiven und so weiter die Versorgung, auch für das Prekariat, stabilisieren und somit verdeutlichen, dass trotz aller ökonomischer und pandemischer Krisen nur die Kommunist*innen es sind, die die materielle Grundsicherung der Arbeiter*innen auf lange Sicht gewährleisten wollen und auch können. Somit, oder auch mit den solidarischen Einkaufssystemen für Risikogruppen, werden Beziehungen in der Arbeiter*innenklasse aufgebaut. Gerade in Zeiten der massenhaften Kurzarbeit und den zu erwartenden Krisen auf dem Arbeitsmarkt werden auf diese Solidaritätsnetzwerke immer mehr Arbeiter*innen angewiesen sein.</li></ul><p></p><ul><li>Die entstehenden Beziehungen, sowie die kommunistische Organisation der Arbeiter*innen in Partei und Räte stellen überhaupt erst die Voraussetzungen dar, um marginalisierten Menschen Unterstützung zu bieten. Diese wurden in beiden Debattenbeiträgen zu Recht als die am stärksten Betroffenen des kapitalistischen Vollzugs in der Corona-Krise identifiziert. Das zeigt sich gut an der Frankfurter Drogenhilfe, wo sich Arbeiter*innen aus verschiedenen Einrichtungen zusammen getan haben, um die menschenunwürdigen Zustände der Szene im Bahnhofsviertel zu kritisieren und <a href="https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/corona-in-frankfurt-drogenhilfe-beklagtunhaltbare-">die Stadt zum Handeln aufzufordern</a>. Ähnlich und in größerem Umfang muss dies auch bezogen auf die Lage der Geflüchteten getan werden. Auch Problemen der immer mehr zunehmenden häuslichen Gewalt kann, solidarisch, erst durch einen Ausbau dieser Beziehungsweisen entgegengewirkt werden. So können sich Frauen ja erst an Strukturen oder Netzwerke wenden, wenn diese existieren.</li></ul><p></p><ul><li>Die ersten drei Punkte stellen Eckpfeiler der theoretischen und praktischen Arbeit einer Kommunistischen Partei – auf Höhe der Corona-Zeit – dar. Dabei ist die Darstellung verschiedener Betroffenheitsgrade von Lohnarbeiter*innen, Prekariat und so weiter nicht als Einbettung in irgendwelche Milieutheorien zu verstehen. Das ist kein Aufruf, sich jetzt auf dieses oder jenes Milieu, welches ob seiner Lage vermeintlich besonders ansprechbar für unsere Politik sei, zu stürzen. Die Kommunistische Partei hat sich an der marxistischen Klassenanalyse zu orientieren, und somit den Klassenantagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze zu treiben.</li></ul><p>Das bedeutet in diesen Pandemie-Zeiten vor allem auch die Gesundheit der Arbeiter*innen gegen die Profitinteressen der Kapitalist*innen zu verteidigen. Großflächige Desinfektionsstationen müssen überall im öffentlichen Raum angebracht werden, gerade vor dem Eintritt in ÖPNV oder Supermarkt. Weiterhin muss der Bekämpfung der Pandemie alle Unterstützung zugetragen werden, die Verharmlosungen und Lockerungsforderungen, seien sie nun vom Kapital oder irgendwelchen Verschwörungstheoretiker*innen, rigoros zurückgeschlagen werden, beispielsweise durch koordinierte Propaganda- und Medienkampagnen, oder die benannte Beziehungsarbeit.</p><p>Die „Hygienedemos“ können dabei eine nützliche Funktion einnehmen. Nicht um „antifaschistischem Widerstand“ eine Bühne zu liefern, sondern als Sprungbrett für die eigenen Positionen. So ist die öffentliche Meinung einhellig dahingehend, dass es sich bei den Corona-„Skeptiker*innen“ um „Verrückte“ handelt, die unser aller Gesundheit aufs Spiel setzen. Wir müssen als radikale Linke diese gesellschaftliche Stimmung zuspitzen und sagen: „Genauso skrupellos ist die Bourgeoisie, die euch in Fabrikhallen quetscht, die euch in engen Zügen Fahrkarten kontrollieren lässt und allerhand weitere Angriffe auf die Gesundheit organisiert.“</p><p>Das heißt der Aufbau der Kommunistischen Partei ist die Organisation der Vernunft gegen jeden Angriff auf die Gesundheits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter*innen. Diese Vernunft gebietet es, nicht spontan und reaktiv jeder Eintagsfliege hinterher zu jagen, sondern den Aufbau langfristiger Strukturen zu betreiben. Die Corona-Krise ist schon jetzt eine umfassende Kapital- und Gesellschaftskrise, der nur beizukommen ist, wenn die essenzielle Funktion der Kommunistischen Partei mit ihren hier konkretisierten Teilaufgaben erkannt und danach gehandelt wird.</p><p></p><hr/><p></p><h3>Anmerkungen:</h3><p><b>[1]</b> Lenin, <i>Was tun?</i>, Kapitel II „Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie“.</p><p><b>[2]</b> Hydroponik ist eine Untergruppe der Hydrokultur, bei der Pflanzen ohne Boden gezüchtet werden, indem stattdessen mineralische Nährlösungen in einem Wasserlösungsmittel verwendet werden.</p></div>
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Über den Widerstand in einem Land der Frauenmorde2020-03-09T10:44:42.651186+00:002023-02-02T09:28:00.058594+00:00Juliana Ramirezredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/%C3%BCber-den-widerstand-in-einem-land-der-frauenmorde/
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<div class="rich-text"><p>Frauen* aus verschiedenen Städten Mexikos gehen bereits seit vergangenem Jahr gegen geschlechtsspezifische Gewalt, Frauenmorde und damit verbundene Straffreiheit auf die Straßen. Darunter sind Frauen, die sich in feministischen Kollektiven organisieren, aber auch solche, die Betroffene von Gewalt oder Familienangehörige von Ermordeten und Verschwundenen sind. Sie alle organisierten sich in den sozialen Netzwerken, in Solidaritätskampagnen oder im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zu einer nie dagewesenen Kraft, um ihren Frust über die Gewalt, die sie täglich erleben müssen, Ausdruck zu verleihen. Die Lebensrealität mexikanischer Frauen ist ein täglicher Kampf zwischen sexueller Belästigung auf den Straßen und bei der Arbeit, ein Kampf gegen häusliche Gewalt, Entführungen, Vergewaltigungen und Ermordungen.</p><p>Die Gewalt gegen Frauen ist so eingeschrieben in die mexikanische Gesellschaft, dass ein großer Teil der Frauen zumindest einmal im Leben Betroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt wurden. Es gibt keine Sicherheit für sie, wenn sie alleine die Straße entlanglaufen oder ein Taxi nehmen, um nach Hause zu fahren – zu jedem Zeitpunkt besteht die Möglichkeit, auf dem Weg angegriffen, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Und auch zu Hause hört es nicht auf: Neun von zehn Frauenmorden beginnen mit häuslicher Gewalt. Die Mörder sind die Ehemänner, Beziehungspartner oder eifersüchtige Ex-Freunde.</p><p></p><h2><b>Die Komplizen der Mörder</b></h2><p>Die aktuellen massiven Proteste der Frauen* in Mexiko – unter anderem gingen gestern, am weltweiten Frauen*kampftag, mehrere Millionen Frauen* auf die Straße – entzündeten sich aufgrund eines Leaks von sensiblem Beweismaterial durch einen Beamten der Bundespolizei oder der Staatsanwaltschaft. Das Material bezeugt einen der brutalsten Feminizide der jüngsten Zeit. Einen der ungefähr 250 Frauenmorde seit Beginn des Jahres 2020. Die 25-jährige junge Frau wurde in ihrem eigenen Haus ermordet, ihr Körper vom Täter grausam verstümmelt. Als dieser durch die Polizei am Tatort festgesetzt wurde, war er mit dem Blut der Ermordeten überströmt. Während der Festnahme des Täters vernahm ein Beamter der Staatsanwaltschaft und/oder Polizei den Täter über die Gründe der Ermordung. Dieser gab an, er habe die Frau nach einem Streitgespräch ermordet.</p><p>Das Video dieser Vernehmung wurde anschließend in den sozialen Netzwerken verbreitet. Der Fall ging viral. Am darauffolgenden Tag glänzten die mexikanischen Boulevard-Zeitungen mit der Rechtfertigung des Frauenmordes. Sie verhöhnten die Ermordete in den Überschriften, machten satirische Kommentare und veröffentlichten Informationen über sie ohne den geringsten Respekt vor dem verlorenen Leben, geschweige denn vor den Angehörigen des Opfers. Die Veröffentlichung des Videos durch Beamte führte schließlich dazu, dass der Mörder freigelassen wurde, da er den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte im Rahmen seiner Verhaftung einfordern konnte. So nährten nicht nur die mexikanische Presselandschaft, sondern auch die staatlichen Autoritäten erneut ein frauenverachtendes System, das im vergangenen Jahr allein 3800 Leben von Frauen kostete. <b>[1]</b> Im direkten Vergleich wurden im Jahr 2018 in Deutschland laut Bundeskriminalamt 122 Frauen* durch ihre Ex-Partner und/oder Ehemänner ermordet.</p><p></p><h3><b>Ein Ausdruck von kulturellem Konservatismus</b></h3><p>Bei den Opfern von Feminiziden handelt es sich häufig um Menschen der popularen Klassen, also Arbeiterinnen*, Hausfrauen*, Studentinnen* und so weiter. Das Gleiche gilt auch für die männlichen Täter. Das heißt jedoch nicht, dass die Gewalt notwendigerweise mit dem sozialen Status in der Gesellschaft zusammenhängt. Vielmehr äußert sie sich je nach gesellschaftlicher Klasse unterschiedlich. Vielleicht kommt der einen oder anderen von uns der Gedanke, dass es sich hier um psychisch kranke Männer oder unmenschliche Monster handeln muss – aber das entspricht nicht der Realität. Vielmehr handelt es sich um ganz normale Typen. Die Täter haben gemeinsam, dass sie sich in ihrer Ideenwelt und bei ihren Taten auf gesellschaftlich hegemoniale konservative und patriarchale Männlichkeitsvorstellungen beziehen. Männlichkeitsvorstellungen, die direkt damit einhergehen, dass die Unterwerfung einer Frau etwas vollkommen Normales und sogar Notwendiges ist. Eine Unterwerfung, die mit machistischen Praktiken einhergeht, die irgendwann am Ende der Fahnenstange dieser Logik endet: der sexualisierten Gewalt und dem Frauenmord.</p><p>Dass diese Form konservativer Männlichkeit in Mexiko nach wie vor hegemonial ist und in anderen Ländern nicht im selben Maße, hat natürlich Gründe. In Mexiko gab es nur wenige gesellschaftlich relevante feministische Bewegungen, die auch nicht in der Lage waren, das klassische Rollenbild nachhaltig in Frage zu stellen. Bislang nicht.</p><p></p><h3><b>Zuckerbrot, Aussitzen und Peitsche</b></h3><p>In den Tagen nach dem grauenhaften Mord an der 25-Jährigen organisierten sich die Frauen über die sozialen Netzwerke, um gegen das Komplizentum der mexikanischen Presselandschaft und der Behörden in Mexiko-Stadt Proteste loszutreten. Sie forderten Gerechtigkeit und eine gerechte Strafe auch für diejenigen, die die sensiblen Informationen über die Tat veröffentlicht hatten. Die Antwort des Staates war Tränengasbeschuss durch die eigens für Frauenproteste aufgestellte und eingesetzte Fraueneinheit „Grupo Atenea“ gegen die Demonstrierenden. Darüber hinaus lancierte die Oberbürgermeisterin der Hauptstadt, Claudia Sheinbaum, ihres Zeichens Mitglied der Linkspartei MORENA, eine Polizeioperation zum Schutz von historischen Monumenten in unmittelbarer Nähe zu den Demonstrationen – aus „Angst“, diese könnten „beschädigt werden“. In der Vergangenheit waren bei ähnlich gelagerten Protesten gegen sexualisierte Gewalt durch Polizisten historische Denkmäler mit feministischen Slogans gegen Frauenmorde und Vergewaltigungen bemalt worden.</p><p>In direkter Folge der Proteste und dem öffentlichen Druck präsentierte die Oberstaatsanwältin von Mexiko-Stadt, Ernestina Godoy, vor dem Kongress der Hauptstadt zudem <a href="https://www.congresocdmx.gob.mx/el-congreso-local-recibio-iniciativa-de-la-fiscal-general-cdmx-para-castigar-filtraciones-de-informacion-e-imagenes-que-lesionen-la-dignidad-de-la-victima/">eine Gesetzesinitiative</a>: Diese sieht die Implementierung eines Artikels vor, der es künftig ermöglichen soll, jenen Teil der Beamtenschaft zur Rechenschaft zu ziehen, der sensibles Beweismaterial im Rahmen einer Ermittlung ohne Erlaubnis veröffentlicht. Die Strafe soll abhängig von der Schwere des Falls nach zwischen zwei und zwölf Jahren Gefängnis schwanken, bei einer Strafzahlung zwischen 2000 und 4000 Euro.</p><p>Während die Stadtoberen sich jedenfalls um ihre historischen Monumente sorgten, wurde in der gleichen Woche ein sieben Jahre altes Mädchen nach dem Verlassen der Schule entführt, vergewaltigt und ermordet. Die von sexueller und physischer Gewalt gezeichnete Leiche des Mädchens wurde Tage später in einer Plastiktüte aufgefunden. Dieser erneute Mord trat eine weitere Welle der Empörung gegen die Stadtverwaltung der Hauptstadt und diesmal auch gegen die Regierung des derzeitigen Präsidenten Mexikos, Andres Manuel López Obrador (MORENA) los. Letzterer hatte bis zu diesem Zeitpunkt eher einen Kurs der Vermeidung des Themas Frauenmorde gefahren. Am 19. Februar nun lobte der mexikanische Präsident die Initiative zur Verschärfung der Strafen bei Morden an Frauen und sexualisierter Gewalt. Es sollte jedoch klar sein, dass Initiativen dieser Art das Grundproblem nicht angehen – insbesondere in einem Land, in dem täglich mindestens 50 Frauen Opfer von Vergewaltigungen werden und täglich zehn Frauen getötet werden.</p><p></p><h3><b>Die Statistiken der Gewalt überschlagen sich</b></h3><p>Bei den Frauenmorden handelt es sich weder um Zufall noch um isolierte Einzelfälle, sondern um Gewalttaten aus einer noch stark von patriarchalen Ideenwelten dominierten Gesellschaft. Das verdeutlichen auch nachfolgende Zahlen verschiedener internationaler Institutionen.</p><p>Die Feminizide an dem sieben Jahre alten Mädchen oder der 25-jährigen Frau sind Teil einer Statistik, die sich Jahr für Jahr weiter überschlägt: In den vergangenen Jahren nahmen laut dem Staatsanwalt Alejandro Gertz Manero die Zahl der registrierten Morde an Frauen <a href="https://www.jornada.com.mx/ultimas/politica/2020/02/11/gertz-aumentaron-los-feminicidios-137-en-cinco-anos-4329.html">um nahezu 137 Prozent zu</a>. Laut dem US News & World Report 2019 belegt Mexiko <a href="https://www.google.com/amp/s/www.forbes.com.mx/guatemala-el-peor-pais-para-ser-mujer-en-america-latina/amp/">den vierten Platz</a> in Lateinamerika und <a href="https://www.google.com/amp/s/www.forbes.com.mx/mexico-entre-los-20-peores-paises-para-ser-mujer/amp/">den zwanzigsten Platz weltweit</a>, was negative Lebensbedingungen von Frauen anbelangt. Es überrascht vor diesem Hintergrund wenig, dass Mexiko das Land mit den meisten Frauenmorden <a href="https://www.jornada.com.mx/2019/04/09/politica/010n1pol">auf dem amerikanischen Kontinent</a> ist.</p><p>Zwischen 2015 und 2019 wurde einer von zehn Frauenmorden an einer minderjährigen Frau verübt. So ist Mexiko laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OWZE) ganz vorne mit dabei bei <a href="http://comunicacion.senado.gob.mx/index.php/informacion/comision-permanente/boletines-permanente/41220-mexico-ocupa-el-primer-lugar-mundial-en-delitos-de-abuso-sexual-de-menores.html">Delikten des sexuellen Missbrauchs</a>, der häuslichen Gewalt und der Ermordungen von Kindern, die jünger als vierzehn Jahre alt sind. Laut dem Netzwerk für Kinderrechte in Mexiko (REDIM) sterben in Mexiko <a href="https://www.forbes.com.mx/violencia-en-mexico-cobra-la-vida-de-3-6-ninos-al-dia/">täglich mindestens drei Kinder aufgrund von Gewalt</a>. Das alles, während die Nationale Kommission zur Suche von verschwundenen Personen im vergangenen Jahr feststellte, dass sieben Kinder täglich verschwinden. Mal abgesehen von dem schändlichen ersten Platz für Produktion und Vertrieb von Kinderpornographie laut dem Security Department der USA – neben dem Drogenhandel eines der lukrativsten Geschäfte auf dem mexikanischen Schwarzmarkt.</p><p></p><h3><b>Der Widerstand wächst</b></h3><p>Unter den Hashtags #undiasinnosotras („Ein Tag ohne uns“) und #elnueveningunasemueve („Am 9. März bewegt sich keine“) fand sich in den vergangenen Wochen eine feministische Kampagne zusammen, die zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zu einem nationalen Streik der Frauen am 9. März aufruft. Der Aufruf appelliert an alle Frauen, einen Tag nach dem weltweiten Frauen*kampftag einen klassenkämpferischen Streik durchzuführen; das heißt, weder zu arbeiten, noch einzukaufen, noch zu Schulen, Universitäten oder sonst wo hin zu gehen.</p><p>Die Organisatorinnen gehen davon aus, dass die täglichen Frauenmorde aus der patriarchalen Vorstellung resultieren, dass Frauen weniger wert seien als Männer, oder eben sogar gar nichts wert seien. Das Zentrum zur Frauenforschung im Business Management (CIMAD) geht aber davon aus, dass ein Streik der Frauen die Abwesenheit von bis zu 22 Millionen regulären Arbeitskräften bedeuten könnte – und damit rund 40 Prozent des Personals der Firmen Mexikos betreffen. Das entspräche einem 24-Stunden Streik der mexikanischen Automobilindustrie <a href="https://www.elfinanciero.com.mx/economia/paro-de-mujeres-costara-a-la-economia-26-300-mdp-estima-la-concanaco-servytur">mit einem Einnahmenausfall</a> von ungefähr 1.252.446.190 Euros. Dieser Streik würde also die Verzerrung der patriarchalen Logik offenlegen und wäre so der schlagende Beweis, dass ohne die Arbeitskraft der Frauen, ohne die Präsenz der Frauen in der Gesellschaft, Mexiko und die Welt stillstünde.</p><p></p><hr/><p></p><p>Übersetzung: Jan Schwab</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Dazu treten in den Jahren 2013 – 2017 mindestens <a href="https://issuu.com/letra-s/docs/informe_crimenes_2017">381 Morde</a> an LGBTI*s, davon 209 Morde an Trans-Frauen*, die aus Hass-Motiven begangen wurden.</p></div>
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Für den Erfolg unserer Praxis2019-08-12T10:13:05.729944+00:002019-08-12T10:13:05.729944+00:00kollektiv! Bremenredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/f%C3%BCr-den-erfolg-unserer-praxis/
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<div class="rich-text"><p>Etwa 800 Teilnehmende aus unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen; Redebeiträge, in denen Arbeitsbedingungen, Leiharbeit und Sozialpartnerschaft, Immobilienkonzerne wie vonovia und die Mietsituation, der rassistische Integrationsdiskurs und der Kampf des Bündnis<i> Together-we-are-Bremen</i> sowie die Situation von geflüchteten Menschen allgemein thematisiert wurden; viele kämpferische Parolen; Solidaritätsaufrufe mit aktuellen Kämpfen in anderen Ländern und internationalistische Musik: Mit der revolutionären internationalistischen 1. Mai-Demonstration gab es in diesem Jahr in Bremen zum ersten Mal eine erfolgreiche Alternative zur traditionellen Zeremonie von DGB & Co. Insgesamt sehen wir die Demo als Erfolg und hoffen, dass sie den Anfang für eine neue 1. Mai-Tradition in Bremen bildet.</p><p>Da wir vom <i>kollektiv</i> ursprünglich zum Bündnis für die Vorbereitung der Demo <a href="https://endofroad.blackblogs.org/archive/6265">aufgerufen</a> hatten, wollen wir mit diesem Artikel einige Gedanken zum Konzept der Demo und den Erfahrungen mit der Bündnisarbeit mit anderen Genoss*innen teilen. Erfahrungen aus der Praxis „gehören“ unserer Ansicht nach nicht den beteiligten Gruppen, sondern sind Teil des Erfahrungsschatzes der gesamten Bewegung. Nur wenn Erfahrungen geteilt und einer gemeinsamen kritischen Reflexion zugänglich gemacht werden, können sie als Lernmöglichkeit für die Gesamtbewegung wirken.</p><h2><b>I. Der Charakter der Demo</b></h2><p>Wie vielen anderen Gruppen und Genoss*innen war es auch uns wichtig, dass der 1. Mai in Bremen und damit die soziale Frage wieder von revolutionärer Perspektive aus angeeignet wird. Unser Ziel war es, das Monopol des DGB und der von ihm repräsentierten Sozialpartnerschaft und Vertreter*innenpolitik zu brechen und der alljährlichen 1. Mai-Zeremonie eine klassenkämpferische Alternative von unten gegenüber zu stellen. Damit dies gelingt, waren uns einige Voraussetzungen für den Charakter der Demonstration wichtig:</p><h3><b>1. Eine Alternative von unten</b></h3><p>Eine der wichtigsten Voraussetzungen war für uns, den 1. Mai nicht als Szene-Event oder revolutionäre Parade zu begehen, sondern eine Plattform zu schaffen, auf der diejenigen zu Wort kommen und sichtbar werden, die von den unterschiedlichen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen betroffen sind und sich in ihrem Alltag dagegen wehren oder wehren wollen. Der revolutionäre Charakter einer Demonstration spiegelt sich unserer Meinung nach nicht in einer militanten Parade revolutionärer oder linksradikaler Gruppen oder dem Zeigen typischer Symbole wider. Er hat vielmehr mit dem Aufbau eines Prozesses zu tun, der in der Lage ist, Menschen auf die Straße zu bringen, die für ihre alltäglichen Kämpfe eine kollektive und kämpferische Perspektive entwickeln. Mit anderen Worten: Unter einer revolutionären Demonstration verstehen wir nicht (nur) eine Demonstration von Revolutionär*innen. Das setzt voraus, dass die 1. Mai-Demo zu einem Ort wird, zu dem sich Menschen zugehörig fühlen und deshalb ihre eigenen alltäglichen Probleme und Kämpfe einbringen.</p><p>Ob diese Herangehensweise aufgeht und der revolutionäre 1. Mai in Bremen in Zukunft weiter wächst und mehr Menschen mit ihren alltäglichen Kämpfen sich darin wiederfinden, hängt davon ab, ob die radikale und revolutionäre Linke auch außerhalb des 1. Mai in der Lage ist, eine Praxis zu entwickeln, die innerhalb der Gesellschaft wirkt. Eine Wiederaneignung der sozialen Frage von revolutionärer Perspektive aus und ein Kampf gegen den Aufstieg der Rechten kann nur dann erfolgreich sein, wenn die revolutionäre Linke mit ihren Inhalten und Organisierungsangeboten im Alltag derjenigen sichtbar und spürbar wird, die in diesem System unterdrückt werden. Seit einigen Jahren wird dieser Ansatz bundesweit unter den Begriffen „revolutionäre Basisarbeit/Basisorganisierung“ oder „Politik von unten“ wieder vermehrt <a href="https://lowerclassmag.com/">diskutiert</a>. Im Mittelpunkt steht die Frage, mit welchen Strategien und Praxen eine Verankerung der radikalen Linken in der Gesellschaft auf- und ausgebaut werden kann. <b>[1]</b></p><h3><b>2. Mit oder ohne den DGB?</b></h3><p>Eine zweite Voraussetzung war für uns, dass die Demonstration parallel zur Gewerkschaftsdemo stattfindet und nicht als revolutionäre Ergänzung oder Zusatzprogramm am Nachmittag. Grund dafür war, die Legitimität und Normalität der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftszeremonie als dominante Repräsentation des 1. Mai auch symbolisch infrage zu stellen. Ein Teil der Gruppen, die dem ersten Aufruf gefolgt waren, haben deshalb nach zwei oder drei Treffen das Bündnis wieder verlassen und sich entschieden, einen revolutionären Block auf der DGB-Demo zu organisieren. Sie teilen zwar unsere Kritik am DGB, halten es aber für möglich und notwendig, innerhalb der DGB-Gewerkschaften revolutionäre Politik zu machen und dadurch den gesamten Apparat zu radikalisieren. Wir selbst – wie die anderen verbleibenden Gruppen im Bündnis – sehen diese Möglichkeit aufgrund der historischen Erfahrungen und strukturellen Rolle und Stärke des Gewerkschaftsapparates nicht (auch wenn es natürlich kämpferische und revolutionäre Gewerkschafter*innen und Betriebsgruppen gibt). Vielmehr sehen wir in der Politik des DGB und der von ihm vertretenen (national orientierten) Sozialpartnerschaft einen der Gründe, warum es kaum noch Klassenbewusstsein innerhalb der BRD gibt und ein Großteil der Arbeiter*innen in den nationalistischen Diskurs eingebunden werden konnte. Die Tatsache, dass ein <a href="https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/afd-bayern-gewerkschaften-1.4206091">nicht unwesentlicher Anteil</a> der DGB-Mitglieder inzwischen die AfD wählt, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich.<b> [2]</b> Klar ist aber auch, dass eine Kritik an den DGB-Gewerkschaften nicht bedeuten kann, dass wir am Ende ohne jegliche Kampforganisationen der Arbeiter*innen dastehen. Vielmehr ist es eine historische Aufgabe der radikalen Linken, den Aufbau von ernsthaften klassenbewussten und kämpferischen Strukturen in Betrieben voranzutreiben, in und mit denen Klassenkämpfe von unten geführt werden können und jenseits von reinen wirtschaftlichen Forderungen auch auf eine Gesellschaftsänderung hingewirkt werden kann. Beim Aufbau solcher alternativen betrieblichen Kampfstrukturen können kritische und revolutionäre Gewerkschafter*innen mit ihren Erfahrungen und mit ihrem Wissen eine wichtige Rolle spielen.</p><h3><b>3. Aktiver Internationalismus</b></h3><p>Die dritte Voraussetzung umfasst den internationalistischen Charakter der Demonstration. Internationalismus bedeutet für uns nicht nur die Solidarität mit kämpfenden Bewegungen weltweit. Aufgrund des zunehmend global organisierten Kapitalismus und der Folgen des Imperialismus weltweit ist Internationalismus für uns nur als Aufforderung zu verstehen, Strategien zu entwickeln, um innerhalb dieser Gesellschaft internationalistische Kämpfe anzustoßen oder zu stärken. Damit soziale und politische Kämpfe innerhalb der Bundesrepublik einen solchen internationalistischen Charakter entwickeln, spielt die breite Beteiligung von Menschen eine zentrale Rolle, die in die BRD migriert sind oder hier inzwischen in der dritten oder vierten Generation leben, aber aufgrund von Bezügen zu den jeweiligen Herkunftsländern häufig direkte oder indirekte Erfahrungen mit den Auswirkungen imperialistischer Politik haben. Um diese unterschiedlichen Communities zu erreichen und zusammenzubringen, ist es notwendig, dass revolutionäre Linke aus unterschiedlichen Ländern, die innerhalb der BRD leben, eine gemeinsame Strategie der Gesellschaftsveränderung für die hiesige Gesellschaft entwickeln, anstatt sich nur vereinzelt miteinander zu solidarisieren oder für einzelne Aktionen gemeinsam zu mobilisieren. Im Hinblick auf revolutionäre migrantische Linke (und in Teilen auch Exilorganisationen) bedeutet dies, nicht nur den revolutionären Kämpfen und Entwicklungen in den eigenen Herkunftsländern zu folgen und in der BRD sozialdemokratische oder linksliberale Politik zu betreiben, sondern auch für die hiesige Gesellschaft eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln.<b> [3]</b></p><h2><b>II. Bündnisarbeit – die Gerüchteküche kocht</b></h2><p>Die Organisation einer kraftvollen 1. Mai-Demo ist ohne ein breites Bündnis von linksradikalen Gruppen mit einem gemeinsamen Austausch und Reflexion weder möglich noch sinnvoll. Deshalb hatten wir uns dazu entschieden, mit einem öffentlichen Aufruf all diejenigen zum ersten Vorbereitungstreffen einzuladen, die unser Konzept mehr oder weniger teilen und einen ähnlichen Zugang zu linksradikaler oder revolutionärer Politik (Basisorganisierung) haben oder daran interessiert sind. Aufgrund der allgemein geteilten Frustration über die bisherigen 1. Mai-Demos in Bremen, die nach der Einladung des Vize-Präsidenten der Polizeigewerkschaft als Hauptredner im Vorjahr nochmals verstärkt wurde, gingen wir davon aus, dass sich viele Gruppen an dem Bündnis beteiligen würden. Leider war dies nicht der Fall. Vielmehr hatten wir von Beginn an mit zahlreichen Vorbehalten, Vorurteilen und Gerüchten gegenüber dem Bündnis und der Demonstration als solcher zu kämpfen, obwohl fast alle mit der grundlegenden Notwendigkeit einer solchen Demo übereinstimmten. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen möchten wir einige Gedanken zu unserem Verständnis von Bündnisarbeit beziehungsweise der Zusammenarbeit von linksradikalen Gruppen in einer Stadt teilen:</p><p>Leider gibt es in der radikalen Linken eine zunehmende Tendenz, pauschal Vorwürfe gegen Gruppen oder Einzelpersonen zu erheben, ohne diese inhaltlich zu begründen und/oder eine offene und transparente inhaltliche Auseinandersetzung zu führen. In Bezug auf das Bündnis gab es unter anderem die Vorwürfe, das Bündnis sei „antisemitisch“ und „dogmatisch“. <b>[4]</b> Diese nicht öffentlich erhobenen Vorhaltungen führten dazu, dass viele Einzelpersonen und Gruppen sich während der Vorbereitung vom Bündnis distanzierten oder passiv dazu verhielten – ohne jedoch auf Nachfrage erklären zu können, aus welchem Grund genau sie dies taten oder welche eigene Position sie dazu entwickelt hatten. Reaktionen wie diese kennen wir auch aus anderen Kontexten: Aus Sorge, selbst abgestempelt oder isoliert zu werden, ziehen es Gruppen oder Einzelpersonen im Umgang mit solcherlei Vorwürfen vor, passiv zu bleiben, sich vorsichtshalber zu distanzieren oder vermeintlich neutral zu verhalten, anstatt in Auseinandersetzung zu gehen, eine eigene Position zu entwickeln und diese selbstbewusst zu vertreten.</p><p>Die Tendenz, innerhalb der linken Bewegung pauschal Vorwürfe zu erheben beziehungsweise sich ohne inhaltliche Auseinandersetzung zu distanzieren, halten wir für sehr gefährlich. Sie führt dazu, dass eine emanzipatorische Diskussionskultur durch eine künstliche Starre und Atmosphäre der Angst und Einschüchterung ersetzt wird. Die daraus resultierenden Distanzierungs- und Spaltungsprozesse führen zudem regelmäßig dazu, dass in Städten die breitere Zusammenarbeit linksradikaler Gruppen zum Erliegen kommt. Diese Art und Weise, Sprech- und Denkverbote zu erheben, die teilweise mit einer dogmatischen und machtpolitischen Auslegung des Ansatzes der „political correctness“ zu tun hat, ist in dieser zugespitzten Form vor allem in der deutschen linken Szene zu beobachten. Uns ist klar, dass die Kritik an<i> political correctness</i> auch von Reaktionären und Rechten benutzt wird, um emanzipatorische Werte zu delegitimieren und Unterdrückungsmechanismen aufrechtzuerhalten oder zu fördern. Dennoch halten wir eine Kritik des Ansatzes und der entsprechenden Praxis innerhalb der radikalen Linken für dringend notwendig. Unsere Kritik bezieht sich dabei insbesondere auf die Fokussierung auf die politisch korrekte <i>Form</i>. Anstatt die Überwindung von nicht-emanzipatorischen Verhaltens- und Denkweisen sowie Sprachgebräuchen als (Lern-)Prozess zu begreifen, wird durch Mittel wie Ausschluss, Abbruch der Zusammenarbeit, Stigmatisierungen und Verbote Machtpolitik betrieben.</p><p>In den letzten Jahrzehnten wurden darüber hinaus insbesondere unter dem Vorwurf des Antisemitismus und Dogmatismus grundlegende Konzepte revolutionärer Politik und Praxis aus dem linksradikalen Diskurs gedrängt, wie zum Beispiel Imperialismus und Anti-Imperialismus, Internationalismus bis hin zu Antikapitalismus und Klassenkampf oder allein das Wort revolutionär. Wenn allein die Verwendung dieser Begriffe pauschal als antisemitisch oder dogmatisch abgestempelt wird, werden undogmatische revolutionäre Tendenzen verleugnet, unsichtbar gemacht und damit indirekt blockiert. Eine Folge davon ist auch, dass sich innerhalb der radikalen Linken zunehmend reformistische oder linksliberale Politikansätze verbreitet haben. Auffällig ist, dass viele Gruppen, die einen wesentlichen Teil ihrer Energie in solche Vorwürfe und Spaltungen investieren, selbst keinerlei Strategien für eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung haben, beziehungsweise in Teilen <a href="https://revoltmag.org/articles/ein-outing-als-dammbruch/">staatlichen oder reformistischen Ansätzen</a> nahe stehen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den genannten Tendenzen ginge an dieser Stelle zu weit. In diesem Text beschränken wir uns deshalb darauf, einige Punkte in Bezug auf die genannten Erfahrungen zu benennen, die unserer Ansicht nach Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sind.</p><p>Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse ist es unserer Ansicht nach essentiell, dass linksradikale und revolutionäre Gruppen und Einzelpersonen in der Lage sind, trotz inhaltlicher Differenzen einige als notwendig erachtete Aktivitäten gemeinsam durchzuführen. Dazu bedarf es einer Kultur der Zusammenarbeit, in der offene Fragen und Kritik in der direkten Auseinandersetzung geklärt werden. Anstatt in der Betrachtung aus der Ferne die gegenseitigen Vorbehalte und Vorwürfe zu pflegen oder Gerüchte zu verbreiten, sollten wir uns in der gemeinsamen Praxis gegenseitig kennenlernen, Differenzen anerkennen, Vertrauen aufbauen und auf dieser Basis miteinander inhaltlich diskutieren und auseinandersetzen. In Bündnisarbeit geht es nicht darum, eine inhaltliche Einheit zu bilden, sondern trotz bestehender Unterschiede gewisse strategische Ziele gemeinsam umzusetzen und im Bündnisprozess hierfür gemeinsame Eckpunkte festzulegen. Dazu bedarf es einer lebendigen und respektvollen Streitkultur.</p><p>Obwohl die genannten Vorgehensweisen selbstverständlich erscheinen, sind vielfältige Spaltungen leider eine Realität innerhalb der radikalen Linken. Sie haben ihre Entstehungsgeschichten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, um sie überwinden zu können. Denn Spaltung ist ein Mechanismus, der sich ohne große Kraftanstrengung, fast automatisch, vollzieht. Diese Spaltungstendenzen haben unter vielen anderen Faktoren dazu beigetragen, dass die radikale Linke marginal geworden ist und derzeit leider kaum Relevanz für Gesellschaftsveränderung mehr hat. Deshalb ist es umso wichtiger und gleichzeitig eine der Herausforderungen, unnötigen Spaltungen aktiv entgegenzuwirken, um an strategisch notwendigen Punkten zusammen arbeiten zu können. Denn umso gespaltener die Linke ist, umso marginaler und isolierter wird sie.</p><h2>III. Nach vorne schauen!</h2><p>Was die Bündnisarbeit für den 1. Mai selbst betrifft, so konnten wir feststellen, dass wir es trotz der bestehenden Unterschiede zwischen den beteiligten Gruppen und der geringen Teilnahme von Gruppen und Einzelpersonen geschafft haben, einen gemeinsamen Rahmen für die Demonstration zu entwickeln und diese auf die Beine zu stellen. Das werten wir als großen Erfolg. Für das nächste Jahr hoffen wir dennoch, dass sich mehr Gruppen an dem Prozess beteiligen. Unser Ziel ist es zudem, in die Vorbereitung mehr Menschen einzubinden, die selbst in alltäglichen Kämpfen stehen beziehungsweise unter ihnen stärker zu mobilisieren. Zudem würden wir uns freuen, wenn mehr kritische Gewerkschafter*innen sich mit dem Konzept der Demonstration in Verbindung bringen und eine alternative klassenkämpferische Demonstration im nächsten Jahr mitgestalten.</p><p>Abschließend lässt sich sagen: Unsere Erwartungen an eine erste revolutionäre internationalistische 1. Mai-Demonstration in Bremen wurden übertroffen. Um jedoch in Zukunft eine Demonstration zu organisieren, auf der unterschiedliche soziale und politische Kämpfe sichtbar werden, liegt noch viel Arbeit vor uns. Umso dynamischer unsere Basisarbeit und Praxis während der restlichen 364 Tage im Jahr ist, umso lebendiger und kraftvoller wird die nächste 1. Mai-Demonstration sein. Sie wird in diesem Sinne ein guter Indikator für den Erfolg unserer Praxis in der Zwischenzeit.</p><p></p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> In vielen Städten haben Gruppen in den vergangenen Jahren begonnen solche Praxen zu entwickeln, etwa in Münster, Hamburg, Berlin, Frankfurt und so weiter. Auch in Bremen gibt es seit einigen Jahren eine Praxis revolutionärer Stadtteilarbeit.</p><p><b>[2]</b> Auch wenn der DGB sich ideologisch gegen die AfD positioniert und rassismuskritische Bildungsarbeit betreibt, bereitet er strukturell dennoch den Boden für den Anstieg rechter Tendenzen innerhalb der Arbeiter*innenklasse: Durch die konsequente Orientierung an nationalwirtschaftlichen Interessen und die Etablierung (und Verteidigung) von hierarchischen Schichten innerhalb der Arbeiter*innenklasse hat die Gewerkschaftspolitik wesentlich dazu beigetragen, dass sich in Arbeitskämpfen aber auch gesamtgesellschaftlich kaum internationalistische und klassenkämpferische Perspektiven entwickelt haben.</p><p><b>[3]</b> Ausführlicher hierzu siehe These 3 „Internationalismus als strategischer Leitfaden“ in <a href="http://endofroad.blogsport.de/2016/05/24/11-thesen-um-organisierung-und-revolutionaere-praxis/">Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik – Kritik & Perspektiven um Organisierung und revolutionäre Praxis</a>.</p><p><b>[4]</b> Der Vorwurf, das Bündnis sei antisemitisch, bezog sich auf folgende Punkte: 1. Im <a href="http://freiesicht.org/2018/bremen-internationalistische-revolutionaere-1-mai-demonstration/">ersten Aufruf</a> für das Bündnis wurde an der Stelle, an der die Bundesregierung wegen ihrer Unterstützung von reaktionären Regierungen im Mittleren Osten kritisiert wurde, unter anderen Staaten auch die israelische Regierung benannt. 2. Auf einem Treffen des Bündnisses wurde ein Foto von mehreren Frauen aus dem palästinensischen Widerstand für das Mobilisierungsplakat vorgeschlagen und 3. wurde auf dem <a href="https://endofroad.blackblogs.org/archive/7047">endgültigen Plakat</a> ein Foto der Gelbwesten-Bewegung verwendet. Nachdem ein Großteil der sich selbst als linksradikal bezeichnenden Gruppen dem Bündnis deswegen fern blieb, wurde dann erklärt, das Bündnis sei als Ganzes dogmatisch. Dieser Vorwurf bezog sich sowohl auf die Teilnahme einzelner Gruppen im Bündnis als auch auf die Sprache des Aufrufs und darin verwandter Begriffe wie revolutionär, imperialistisch, Klasse und so weiter.</p></div>
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Bau auf. Bau auf! Revolutionäre Stadtteilarbeit neu organisieren2019-04-30T06:33:18.314552+00:002019-04-30T06:34:06.531852+00:00Hände Weg vom Weddingredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/bau-auf-bau-auf-revolution%C3%A4re-stadtteilarbeit-neu-organisieren/
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<div class="rich-text"><p>Im Zuge der Debatten um <a href="http://www.sebastian-friedrich.net/neue-klassenpolitik/">„Neue Klassenpolitik“</a> und die Frage, wie eine revolutionäre Stadtteilarbeit organisiert werden kann, möchten wir als „Hände weg vom Wedding“ unseren politischen Beitrag leisten. Wir wollen nachfolgend unsere bisherige Arbeit kritisch reflektieren und unsere Lösungsstrategien damit zur Diskussion stellen. Als Grundlage diente uns in einzelnen Diskussionspunkten unter anderem der <a href="https://revoltmag.org/articles/zum-ende-einer-bewegung-und-eines-organisationsansatzes/">Text von Geronimo Marulanda</a>, der im April 2018 im re:volt-Magazine veröffentlicht wurde. Der nun von uns vorgelegte Text soll anregen, die eigenen Strukturen politisch zu hinterfragen und Ideen für mögliche Strukturdebatten und Veränderungsprozesse geben.</p><p>Seit 2012 sind wir als Gruppe, Nachbar*innen (meist mit politischer Vorerfahrung) aus und um den Berliner Stadtteil Wedding, organisiert. Unser geteilter Schwerpunkt liegt auf der lokalen Realisierung antikapitalistischer und revolutionärer Politik. Nach langen Erfahrungen in der politischen Arbeit in unseren Kiezen wollen wir die engen Grenzen unserer bestehenden Organisation überwinden. Unser Ziel ist, sowohl Nachbar*innen, als auch politische Unterstützer*innen aktiver einzubinden und die Basis für eine revolutionäre Stadtteilarbeit zu verbreitern. Dabei ist es an uns als linke Bewegung, klassenkämpferische Politik von unten zu stärken. Wie kann das funktionieren?</p><h3><b>Problemaufriss</b></h3><p>Wir sehen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen, beispielsweise durch die immer stärker werdende (außer-)parlamentarische Rechte, sowie die repressiven Maßnahmen des Staates gegen linke Bewegungen, unsere Handlungsspielräume zunehmend einengen. Beide kriminalisieren (nicht überraschend) revolutionäre Inhalte. Gesellschaftliche Vorstellungen eines Bruches mit den gegebenen Verhältnissen werden immer mehr an den Rand gedrängt. Als Gegenstrategie setzen wir auf Stadtteilkämpfe, beispielsweise gegen steigende Mieten, neoliberalen Stadtumbau, Patriarchat und nationalistisch-rassistische Ausgrenzungen als zentrale Aktionsfelder. Wir nennen diese nachfolgend „Kampffelder“. Die kapitalistischen Zuspitzungen um Miete und (Wohn-)Eigentum mobilisieren viele Menschen in den Kiezen und bieten einen starkes Potenzial für linke, antikapitalistische Gegenentwürfe in einer Stadt wie Berlin. Doch in der politischen Arbeit mit Interessierten kamen wir regelmäßig an unsere Grenzen. Dabei standen wir uns mit unserer bisherigen Organisationsform häufig selbst im Weg.</p><p>In den vergangenen Jahren haben wir die klassischen, fast schon naturgemäßen Problemlagen eines post-autonomen Zusammenschlusses immer wieder durchlebt. Die politische Verfasstheit der Gruppe hängt großteils vom individuellen Bezug zur politischen Arbeit, der Qualität eigener politischer Bildung, der emotionalen und freundschaftlichen Bezüge zueinander, sowie den zeitlichen Kapazitäten ab. Neben der starken Fluktuation der personellen Zusammensetzung und des politischen Engagements der Einzelnen stand, neben vielen anderen Hindernissen, das Fehlen einer klaren politische Linie und einer sich daraus ergebenden Strategie. Die politische Handlungsfähigkeit ist somit starken Konjunkturen unterworfen. Die Kontinuität und Verbindlichkeit des politischen Arbeitens sind nicht immer gewährleistet.</p><p>Zudem war die aktive Teilnahme an der Gruppe und ihren Prozessen jenseits öffentlicher Veranstaltungen, die auf eine kurzweilige und unverbindliche Mobilisierung von Menschenmassen abzielten, wie zum Beispiel Demonstrationen, Kundgebungen und Informationsveranstaltungen, meist schwer möglich. Dabei gingen viele Möglichkeiten der politischen Vernetzung und des personellen Aufbaus verloren. Zu exklusiv ist unsere Organisierung, die geschlossen nach außen auftritt und dadurch selten ansprechbar ist. Durch das Leben einer „linksradikalen Subkultur“, scheuen viele von uns die reale Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen. Stattdessen setzen wir uns in dieser ausweglos erscheinenden Subkultur häufig selbstreferenziell, gewollt oder ungewollt, mit „Szenedebatten“ auseinander. Inhalte und Diskussionsformen unserer Organisationsform, wie beispielsweise akademisierte Sprache, ausufernde Plenarsitzungen und eine Überbetonung der eigenen, individuellen Meinung stellen weitere Hemmnisse dar. Die Anschlussfähigkeit für Menschen, die nicht Anfang bis Ende 20 und ungebunden sind, im besten Fall aufgrund eines Studiums „Zeit haben“, sind schlichtweg nicht gegeben.</p><p>Dabei drängt uns der sich verschärfende gesellschaftliche Faschisierungsprozess dazu, unsere Inhalte gegenüber der Gesellschaft deutlicher kommunizieren und vermitteln zu müssen. Dazu zählt unter anderem, soziale Fragen und Kämpfe konsequent von links zu besetzen. Es gilt, den Spagat zwischen dem taktischen Aushalten von gesellschaftlichen Widersprüchen einerseits und zeitgleich dem konsequenten Eintreten gegen beispielsweise rassistische und sexistische Positionen andererseits zu schaffen. Hier sollte beispielsweise nicht jedem*r Nachbar*in direkt über den Mund gefahren werden, wenn sich sexistisch geäußert oder rassistische Vorurteile formuliert werden, sondern vielmehr einen Beziehungsaufbau ermöglicht werden, um diese Widersprüche schrittweise zu verhandeln. Es gilt aber auch klar gegen bereits gefestigte chauvinistische Positionen und Weltbilder einzutreten, sowohl in eigenen Strukturen, als auch bei unseren Nachbar*innen und Bündnispartner*innen.</p><p>Das (alleinige) Einfordern einer „Organisierung von unten“, zum Beispiel über Demonstrationen und Redebeiträge, schafft noch keine organisatorischen Strukturen für eine breite Bewegung im Kiez. Dabei mangelt es sogar immer mehr an ausreichend physischen Räumen für eine solche Organisierung. Aus dieser Analyse heraus entwickelten wir mit anderen Gruppen und Engagierten die Idee eigener Räume für die politische Praxis. Mit dem Aufbau des „Kiezhaus Agnes Reinhold“ haben wir es schließlich gemeinsam geschafft, linker Politik im Wedding einen Raum zu geben.</p><h3><b>Organisieren…</b></h3><p>Als Arbeitsgrundlage wurde eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen im Wedding vorgenommen. Daraus entstanden vier strategisch gleichwertige Kampffelder, deren Bearbeitung wir als bedeutend für die Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt betrachten:</p><ol><li><b>Mietenkämpfe</b></li><li><b>Feminismus</b></li><li><b>Arbeitskämpfe</b></li><li><b>Kampf gegen Faschismus und Rassismus / Antifaschismus</b></li></ol><p>Diese aktuellen Kampffelder könnten bei zunehmendem Organisierungsgrad um Themen wie Ökologie, Jugend und so weiter erweitert werden. In den Kommissionen (Arbeitsgruppen), die sich um die genannten vier Kampffelder gruppieren, werden Inhalte, Strategie und Taktik revolutionärer Stadtteilarbeit diskutiert und umzusetzen versucht. Dies bedeutet konkret, dass sich „Hände weg vom Wedding“ öffnet und für den Aufbau dieser Kommissionen verantwortlich ist. Die Kommissionen bestehen aus den im jeweiligen Kampffeld aktiven Personen, die eine Verbreiterung der Organisierung und die Verknüpfung der Kampffelder unter der Struktur „Hände weg vom Wedding“ als sinnvoll erachten. Dabei stehen Fokussierung auf das entsprechende Politikfeld, sowie Verbindlichkeit im Vordergrund. Die Aufgabe dieser Verantwortlichen ist es, Kämpfe zu initiieren, zu vernetzen und zu bündeln. Hierfür können sie auf die Ressourcen und Kontakte der Gesamtstruktur „Hände weg vom Wedding“ zurückgreifen. Aus den Kommissionen werden offene Angebote zur Partizipation an der politischen Praxis geschaffen. Dies kann über offene Treffen, regelmäßige Veranstaltungen oder Beteiligung an konkreten Kämpfen umgesetzt werden. Angebote dieser Art dienen als politische Vorfeldorganisationen. Sie schaffen erste praktische Zugänge zu Themen und Praxen, bringen Menschen zusammen, politiseren sie und machen sie handlungsfähig. Somit werden niedrigschwellige Zugänge zur politischen Selbstermächtigung geschaffen. Idealerweise festigen sich darüber Personen politisch und werden Teil der verantwortlichen Struktur „Hände weg vom Wedding“.</p><p>Die Kommissionen wählen jeweils <b>Delegierte (Kommissionsverantwortliche)</b>, die in einem <b>Rat (Kerngruppe)</b> die strategischen Linien in den jeweiligen Kampffeldern diskutieren und als Anregung an die Kommissionen wieder zurückgeben. Die Verantwortlichen vertreten ausschließlich die Interessen, Ideen und Beschlüsse ihrer Kommissionen auf verbindliche Weise im Rat (imperatives Mandat). Somit tritt die Formulierung von kollektiven Interessen und kollektive Arbeitsprozesse in den Vordergrund. Individualistische Positionen in den Kommissionen verlieren gleichzeitig an Gewicht. <i>Alle interessierten Personen diskutieren in den Kommissionen</i>, während durch die Kommissionsverantwortlichen Verlässlichkeit und Verbindlichkeit gegeben ist. Das Ziel ist sowohl die Herstellung eines Minimalkonsens, als auch der stetige Ausbau politischer Positionen und Arbeit.</p><p>Der Rat ist das Organ für die Besprechung von Strategie und Taktik. Hier werden Vorschläge für die politische Theorie und Praxis entwickelt und an die Kommissionen weitergereicht. Die im Rat sitzenden Verantwortlichen werden dabei durch regelmäßige Wahlen in ihren Kommissionen demokratisch legitimiert, oder wieder abberufen. Sie müssen stets das Vertrauen und die Verlässlichkeit der Mitstreiter*innen ihrer Kommissionen genießen. Der Rat fungiert somit als Ort intensiver inhaltlicher Debatten und erfüllt gleichzeitig inhaltliche, sowie strukturelle Verantwortung gegenüber allen Mitgliedern der Gruppe und dem aktiven Umfeld. Der Rat schafft damit eine möglichst feste und sichere Organisation für alle Beteiligten bei gleichzeitiger Dynamik und Autonomie in den Kommissionen.</p><p>Die Aufgabe des Rates besteht außerdem darin, regelmäßige <b>Bildungsangebote</b> zu den verschiedenen Kampffeldern zu organisieren und durchzuführen, um eine gemeinsame Reflexion und Diskussion zu ermöglichen. Bildung wird als fester und wichtiger Bestandteil der kollektiven Entwicklung verstanden. Durch kollektive statt individueller Bildung arbeiten wir an einer solidarischen Debattenkultur und breiter Strategiebestimmung. Diese soll möglichst viele Teile der ausgebeuteten Klassen in unseren Kiezen einbeziehen. Neben der Etablierung offener, themenbezogener Angebote, stellt die regelmäßig stattfindende <b>kommissionsinterne Vollversammlung</b> ein wichtiges Organ dar. Eingeladen sind alle Kommissionsmitglieder, sowie das direkte politisch-aktive und interessierte Umfeld. Hier werden gemeinsame Bezüge zwischen den Kommissionen geschaffen. Im Vordergrund stehen in diesem Organ die Vorstellung der jeweiligen politischen Arbeit und deren Widersprüche, das gegenseitige Kennenlernen, die Übung solidarischer Kritik und Selbstkritik an Inhalten und Vorgehensweisen, sowie politische Vorschläge gegenüber dem Rat.</p><p></p><img alt="Organigramm.jpg" class="richtext-image full-width" height="329" src="/media/images/e2o37p7j.width-800.jpg" width="800"><p></p><h3><b>Über den Tellerrand schauen…</b></h3><p>Dabei wäre es falsch, es sich in der eigenen Arbeit im eigenen Kiez gemütlich zu machen und andere Kämpfe darüber hinaus zu ignorieren. Vielmehr bedarf es auch einer globalen Perspektive lokaler Arbeit: eine internationalistische und antiimperialistische Ausrichtung der eigenen Arbeit, sowie eine Anbindung an größere revolutionäre Organisierungsprozesse, die den Aufbau von Rätestrukturen anstrebt sind essenziell.</p><p>Die Folgen kapitalistischer Krisen und Kriege werden als Fluchtbewegungen in unsere Städte auch in unseren Kiezen sichtbar. Gleiches gilt für die Präsenz von z.B. Fluchtverursacher*innen, wie der Rüstungsindustrie. Daher suchen wir den Austausch und die Vernetzung mit fortschrittlichen Vereinen, Initiativen und Aktiven, die sich hier vor Ort engagieren. Wir wollen von revolutionären Bewegungen und fortschrittlichen Kämpfen weltweit lernen. Ihre Erfahrungen in der Organisierung von Gesellschaften kann als wichtiger Wissens- und Inspirationsquelle dienen. Nicht zuletzt die praktische Erfahrungen mit Halkevleri (<i>Volkshäuser</i>) in der Türkei, oder von TEV-DEM (<i>Bewegung für eine demokratische Gesellschaft</i>) in Rojava haben uns zum Aufbau des „Kiezhaus Agnes Reinhold“ inspiriert.</p><h3><b>... und Kämpfen!</b></h3><p>Mit diesem skizzierten organisatorischen Transformationsprozess zu einer transparenteren, demokratischeren und handlungsfähigeren Struktur möchten wir eine organisatorische Antwort auf die drängenden gesellschaftlichen Erfordernisse bieten. Wir werden weiterhin unsere praktischen Erfahrungen und Reflektionen sammeln und zur Diskussion stellen. Gleichzeitig hoffen wir auf eine Vielzahl ähnlicher Projekte und Organisierungsansätze in anderen Städten und Kiezen. Wir brauchen wirkmächtige Organisationsformen, die linke Kämpfe greifbarer und vermittelbarer machen. Wir freuen uns auf breite kollektive Kämpfe für eine Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Ausgrenzung.</p><p></p><h3><b>Weiterführende Informationen</b></h3><p><a href="http://haendewegvomwedding.blogsport.eu/">http://haendewegvomwedding.blogsport.eu</a></p><p><a href="https://www.unverwertbar.org/">https://www.unverwertbar.org</a></p><p><a href="https://twitter.com/unverwertbar">https://twitter.com/unverwertbar</a></p><p><a href="https://www.facebook.com/organize.hwvw">https://www.facebook.com/organize.hwvw</a></p><p><a href="https://www.kiezhaus.org/">https://www.kiezhaus.org</a></p><p><a href="https://twitter.com/Kiezhaus_65">https://twitter.com/Kiezhaus_65</a></p><p><a href="https://www.facebook.com/KiezhausAgnesReinhold">https://www.facebook.com/KiezhausAgnesReinhold</a></p><p></p></div>
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Ein anderer Journalismus ist möglich!2019-03-05T23:25:10.259232+00:002019-03-14T22:44:11.317732+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-anderer-journalismus-ist-m%C3%B6glich/
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<div class="rich-text"><p><i>Gemeinsam schreiben, gemeinsam streiken: Als Redakteurinnen des re:volt unterstützen wir den Aufruf „Ein anderer Journalismus ist möglich“. Den Aufruf haben schon am ersten Tag über 80 Redakteurinnen* und (freie) Journalistinnen* unterschiedlicher Zeitungen und Magazine unterzeichnet. Uns eint die spitze Feder, mit der wir gegen Ausbeutung und Unterdrückung anschreiben. Der Aufruf ist aber nicht nur für uns Schreibende, sondern eine Aufforderung an alle Frauen*: Wir geben uns nicht mit dem Bestehenden zufrieden. Unseren Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und damit verbunden gegen patriarchale und frauenverachtende Verhältnisse führen wir nicht alleine, sondern weltweit gemeinsam. In diesem Sinne: Wir träumen nicht nur von revolutionären Zeiten, sondern setzen alles daran, diese Wirklichkeit werden zu lassen!</i></p><h2>Zum Aufruf</h2><p>Am 8. März 2019 werden Frauen und Queers [1] weltweit streiken. Die Streikenden setzen sich gegen all die Formen von Unterdrückung und Ausbeutung zur Wehr, die Frauen betreffen: weil sie übermäßig häufig prekär beschäftigt sind – etwa in Teilzeit oder im Niedriglohnbereich; weil sie sexualisierte und körperliche Gewalt und Belästigung erfahren; weil sie von klein auf mit massiv abwertenden Geschlechterbildern konfrontiert sind; weil von Frauen erwartet wird, den Großteil der Hausarbeit, Familienpflege und Kindererziehung unbezahlt zu leisten. Und nicht zuletzt, weil sie sich dagegen wenden, dass einige Wenige sich ihre Arbeit aneignen und zugleich patriarchale Machtverhältnisse am Leben halten. Ihre Arbeit ist für den Staat und die Unternehmen unersetzlich: Wenn Frauen und Queers all ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit niederlegen, steht die Welt still!</p><p>Wir wollen den Streik unterstützen und daher ebenfalls am 8. März unsere Arbeit niederlegen. Als Medienschaffende haben wir die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen. Wir stehen mit diesem Aufruf für die Forderungen aller streikenden Frauen und Queers am 8. März ein und wollen zudem die bestehenden Ungleichheiten in unserer eigenen Branche sichtbar machen.</p><p>Die schlechte Bezahlung und hohe Belastung in der Medienbranche trifft Frauen in besonderem Maße. Als Frauen leisten wir zusätzlich zu unserer bezahlten Arbeit wesentlich mehr unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit als Männer. Auch wir Journalistinnen sind auf allen Ebenen benachteiligt: als Festangestellte, als freie Mitarbeiterinnen, als Mütter und unbezahlte Hausarbeiterinnen. Im Medienbereich gibt es wie in allen anderen Bereichen strukturellen Sexismus: Er offenbart sich in sexistischen Sprüchen, die Einzelnen von uns signalisieren, dass sie nicht ernst zu nehmen seien, in männerbündischen Netzwerken auch in unserer Branche, der Abwertung unserer Themen, der Geringschätzung unserer Arbeit, niedrigeren Honoraren und Gehältern oder auch darin, wer befördert wird. Auch Belästigung und Gewalt im Arbeitskontext gehören für viele von uns zur »Berufserfahrung«. Hinzu kommt die Arbeitsverdichtung, die Redaktionen und Freie zunehmend in Zeitnot bringt.</p><p>Wir bestreiken am 8. März Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Journalismus und fordern ohne Wenn und Aber:</p><ul><li><b>das Ende der Lohndiskriminierung:</b> Abseits von Symbolpolitiken und zahnlosen Tigern wie dem Entgeltgleichheitsgesetz fordern wir umfassende Transparenz bei Gehalts- und Honorarverhandlungen – sowohl für Festangestellte in unterschiedlichen Positionen als auch für freiberufliche Journalistinnen.</li><li><b>Gewalt als strukturelles Problem zu behandeln</b>: Laut einer Umfrage von 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kennen 60 Prozent der befragten Personalverantwortlichen und Betriebsrät_innen keine Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in ihrem Unternehmen beziehungsweise ihrer Verwaltung; in fast der Hälfte der Betriebe gibt es keine Beschwerdestelle für diese Fälle. Wir fordern von den Gewerkschaften, den Einsatz gegen Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen.</li><li><b>Arbeitszeitverkürzung:</b> Als Frauen tragen Journalistinnen weiterhin die Hauptlast in der Haus- und Fürsorgearbeit. Wir fordern daher Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.</li><li><b>Durchsetzung der Tarifbindung</b>: Wir fordern eine generelle Tarifbindung für Journalist_innen und damit verbunden ein Ende des Ausspielens von oft noch prekäreren Freien, die als Druckmittel genutzt werden, damit Kolleg_innen Verträge mit schlechteren Konditionen annehmen.</li><li><b>Gute Arbeit auch in Haushalt und Fürsorge:</b> Wir fordern eine öffentliche Infrastruktur mit ausreichenden und hochwertigen Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Horten und Ganztagsschulen, damit Kolleginnen, die Kinder haben und/oder Angehörige versorgen, entlastet werden.</li><li><b>Outsourcing zu beenden</b>: Damit wir als Journalistinnen überhaupt arbeiten können, brauchen Medienhäuser Reinigungspersonal, Kantinenpersonal, Gebäudesicherheit und Menschen am Empfang. Zusteller_innen bringen die gedruckte Zeitung zu den Leser_innen. Beschäftigte in diesen Bereichen werden immer häufiger outgesourct und verdienen besonders wenig. Doch unsere Kämpfe sind nicht begrenzt durch unsere Position in einem Gebäude; wir gehören alle zusammen. Wir fordern die Eingliederung von outgesourctem Personal in die jeweiligen Unternehmen.</li><li><b>feministischen Journalismus</b>: Wir fordern einen Ausbau der Strukturen für guten Journalismus! Das heißt: Schluss mit Geschlechterstereotypen in den Medien und dem Desinteresse gegenüber Problemen, die Frauen betreffen, Schluss mit der inhaltlichen Verflachung. Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum, gegen elitären Journalismus! <b>Für einen anderen, feministischen Journalismus!</b></li></ul><h2>Unsere Arbeitsbedingungen: Lohndiskriminierung, Belästigung und Gewalt</h2><p>Der Journalistinnenbund fordert Journalistinnen auf, Lohndiskriminierung nicht als »nervig« abzutun, sondern ihre Rechte einzufordern. Und an dieser Stelle endet die Benachteiligung von Frauen in Medienberufen noch lange nicht.</p><p><b>Die Lage von Redakteurinnen</b></p><p>Ein paar wenige Journalistinnen in Leitungsfunktionen sind oft das Feigenblatt der männlich geprägten Redaktionen. Befristete Verträge, konstanter Stress und unbezahlte Überstunden – die Arbeitsbedingungen sind ohnehin mies, doch noch mieser für Frauen, die Kinder haben, einen Großteil der Haushaltsarbeit erledigen müssen und kranke Angehörige zu versorgen haben. Journalistinnen verdienen durchschnittlich 5,6 Prozent weniger als Journalisten – selbst wenn sie die gleiche Berufserfahrung haben und immer Vollzeit arbeiten. Auch innerhalb der Redaktionen ist männliche Dominanz tagtäglich zu spüren – zum Beispiel, wenn es darum geht, wer die Themen setzt, wessen Beitrag einen prominenten Platz erhält oder wer als kompetenter gilt, ein Thema zu kommentieren. Hinzu kommt, dass feministische Themen und Themen, die Frauen betreffen, mitunter so behandelt werden, als ob sie keine Expertise voraussetzten. Doch Feminismus und Genderthemen sind keine Kleinigkeit, die man sich mal eben nebenbei aneignet. Auch diese Themen setzen jahre- und jahrzehntelange Beschäftigung und Erfahrung voraus. Auch hierdurch wird die Arbeit von Frauen und Queers unsichtbar gemacht, ihre Kenntnisse abgewertet.</p><p><b>Die Lage von freien Journalistinnen</b></p><p>Es ist bekannt, dass die soziale Lage freier Journalistinnen schlecht ist, weil auch Medienunternehmen sich bei Honoraren immer weiter gegenseitig unterbieten. Weniger bekannt ist der Gender Pay Gap, also die unterschiedliche Bezahlung nach Geschlecht, unter freiberuflichen Journalistinnen: Rund 35 Prozent der weiblichen Freelancer sind Geringverdienende, bei ihren männlichen Kollegen sind das nur etwa 23 Prozent. Freiberuflichkeit trifft Frauen also härter. Honorare sind außerdem häufig intransparent, was Raum für Diskriminierung lässt. Außerdem werden in vielen Redaktionen bei der Auftragsvergabe Männer bevorzugt.</p><p><b>… und darüber hinaus als Frau</b></p><p>Eine Journalistin in Deutschland verdient durchschnittlich 2.436 Euro netto, ein Journalist 3.151 Euro. Der Unterschied liegt somit bei 22,7 Prozent. Ein Grund: Frauen »setzen aus«, weil sie Menschen versorgen müssen, oder sie arbeiten in Teilzeit. Wenn sie dann wieder voll in den Beruf einsteigen, haben Männer, die ohne Unterbrechung gearbeitet haben, einen Vorsprung. Doch dass Frauen am Ende ihrer Berufslaufbahn als Journalistinnen durchschnittlich 600 Euro weniger verdienen, hat auch damit zu tun, dass sie nicht die gleichen Chancen haben – selbst wenn sie, wie viele es tun, kinderlos bleiben und durchgängig Vollzeit arbeiten.</p><p>Ob in der Redaktion oder als Freie: Wir Frauen tragen die Hauptlast nicht nur für Kindererziehung, sondern auch für Hausarbeit und Fürsorge für ältere und kranke Menschen. In heterosexuellen Paarhaushalten, in denen beide Vollzeit berufstätig sind, arbeiten Frauen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung pro Tag etwa drei Stunden mehr. Da Männer in heterosexuellen Beziehungen immer noch weniger Haus- und Fürsorgearbeit verrichten als Frauen, und dies immer häufiger zu Konflikten führt, wählen finanziell besser gestellte Paare oft den Weg, Haus-und Fürsorgearbeit an migrantische Frauen auszulagern. Durch diesen Kompromiss wird das Konfliktpotenzial von Hausarbeit in Partnerschaften abgemildert. Dass die öffentliche Infrastruktur aus Kindertagesstätten, Horten oder Ganztagsschulen unzureichend ist, verstärkt diesen Trend zur Auslagerung an Migrantinnen, die Tätigkeiten wie Kinderbetreuen, Waschen, Putzen oder Pflegen zu geringen Löhnen und häufig illegal erledigen. Doch Emanzipation für reichere, die mit der Benachteiligung und geringerem Lohn für migrantische Frauen einhergeht, kann nicht das Ziel von Feminismus sein. Die Kämpfe von illegal und prekär Beschäftigten, etwa Haus- und Pflegearbeiterinnen, hängen mit unseren Kämpfen als Journalistinnen zusammen; Erstere ermöglichen unsere journalistische Arbeit oft erst. In diesem Sinne fordern wir: ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie bessere Bedingungen auch in diesen Arbeitsbereichen.</p><p><b>Gewerkschaften müssen sich stärker politisch positionieren</b></p><p>Angemessener Lohn ist die Grundlage für guten Journalismus. In letzter Zeit gehen immer mehr Medienhäuser dazu über, die Tarifbindung und vormals vereinbarte Tarifstandards zu umgehen (eine Liste dieser Verlage findet man etwa bei ver.di). Redakteur_innen werden in eigenständige, nicht tarifgebundene Gesellschaften</p><p>ausgelagert, Leiharbeit wird außertariflich geregelt und Personen im Volontariat werden nicht mehr direkt beim Verlag oder Medienhaus angestellt. Ver.di wirft zudem dem Bundesverband Druck und Medien vor, durch die Möglichkeit der »OT-Mitgliedschaft« (ohne Tarifbindung) an der Tarifflucht beteiligt zu sein. Weil Frauen nicht nur von Sexismus betroffen sind, sondern viele von uns auch aufgrund von Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit oder Abwertung aufgrund der sozialen Herkunft Diskriminierung erleben, fordern wir, dass alle Benachteiligungen, die Frauen erleben, ernst genommen werden, und dass Gewerkschaften diese zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen. Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz müssen als allgemeines und strukturelles Problem behandelt werden.</p><h2>Gegen die geltenden »Standards« und die Strukturen der Branche</h2><p><b>Gegen Geschlechterstereotype in den Medien und gegen das Desinteresse an Problemen von Frauen</b></p><p>Wenn über Gewalt gegen Frauen, Strafprozesse wegen sexualisierter Gewalt oder familienrechtliche Fragen berichtet wird, sind sexistische Stereotype omnipräsent. Frauen werden wahlweise dargestellt als stumme Opfer, als intrigante Lügnerinnen oder als rachsüchtige Mütter, die ihren Ex-Ehemännern oder Ex-Partnern die Kinder vorenthalten wollten. Einzelfälle sexualisierter Gewalt werden von antifeministischen rassistischen Kräften instrumentalisiert und medial umfassend begleitet. Medial ignoriert werden dagegen häufig die Erfahrungen von Frauen, die als Reinigungskräfte in Hotels, in der Gastronomie, als Angestellte in Massagesalons oder als Sexarbeiterinnen tätig sind und kaum Schutz vor sexualisierter Gewalt erfahren. In vielen journalistischen Formaten, etwa im Fernsehen, sind Frauen und Queers extrem unterrepräsentiert. Laut der Studie »#frauenzählen« der Universität Rostock präsentieren etwa 80 Prozent aller non-fiktionalen Unterhaltungsprogramme Männer. Ab Mitte 30 werden Journalistinnen hier quasi aussortiert. Auch auf Bildern sind Frauen und Queers systematisch unterrepräsentiert. Wenn Frauen gezeigt werden, dann oft auf klischeehafte Weise. Die Unterrepräsentanz von Frauen im Zusammenhang mit einer beruflichen Funktion ist ebenso untragbar wie die Ergebnisse des Global Media Monitoring Projects, demzufolge drei von vier Personen, die in den Nachrichten Erwähnung finden, Männer sind. Wir fordern mediale Inhalte und eine Bebilderung, in denen Frauen und Queers der Realität entsprechend divers und differenziert vorkommen. Dass sich im Journalismus rassistische, sexistische, bürgerliche und weitere Ausschlüsse widerspiegeln, scheint fast schon ein Allgemeinplatz. Gerade aus diesem Grund müssen Redaktionen stärker sensibilisiert werden und kritischer, feministischer, antirassistischer Journalismus gestärkt werden. Wir fordern mehr Ressourcen, um Ausmaß und Folgen sexistischer, rassistischer und sozialchauvinistischer Medienberichterstattung zu analysieren und öffentlich zu machen. Hierfür sind grundlegende Veränderungen in den Redaktionen nötig, auch personelle. Es braucht zudem klare Mechanismen, um mit Konkurrenz- und Dominanzverhalten umzugehen, ebenso wie gewerkschaftlich oder anderweitig abgesicherte Räume, in denen Frauen ihre Forderungen als Lohnarbeitende artikulieren können und Konsequenzen daraus gezogen werden.</p><p><b>Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum</b></p><p>Dieser Punkt richtet sich insbesondere an die Ressortleiter_innen und Chefredakteur_innen: Wenn über feministische Forderungen berichtet wird, konzentrieren sich Journalist_innen oft auf Forderungen nach Repräsentation oder andere Aspekte, die besonders griffig sind – wie die Einführung des 8. März als Feiertag in Berlin. Wir weisen darauf hin, dass feministische Kritik schon immer darin bestand, den männlichen Standard in allen Bereichen der Gesellschaft – ob Ökonomie, Kultur, Politik, Psychologie oder Wissenschaft – aufzudecken, zu hinterfragen und ihm andere, eigene Werte entgegenzusetzen. Für den Journalismus heißt das: Einzelkämpfer_innen, die sich durch Dominanz und männlich dominierte Netzwerke durchsetzen, sind von gestern. Der Fall Relotius sollte gezeigt haben, dass ein Journalismus, der die Genialität von Einzelnen als preiswürdig betrachtet, keine Zukunft hat. Statt also diejenigen zu feiern, die angeblich alleine und unter großem Zeitdruck scheinbar geniale Texte produzieren, sollten eher langfristig angelegte, kollaborative Recherchen, hinter denen tiefgehende Einblicke stehen, Anerkennung erfahren. Das heißt zum Beispiel, solidarische Netzwerke mit feministischem Anspruch verstärkt zu fördern und anderen Journalistinnen gegenüber zu öffnen. Wir kritisieren zudem Auslandsberichterstattung, die zuarbeitenden lokalen Reporter_innen die Anerkennung verweigert; dies geschieht allzu häufig, etwa indem die Namen dieser Mitautor_innen nicht erwähnt werden oder deren Arbeit nicht vergütet wird.</p><p><b>Gegen elitären Journalismus</b></p><p>Die Inhalte, die Menschen in Deutschland über Medien rezipieren, werden bestimmt von einer kleinen Elite, die hauptsächlich aus Männern besteht, und die häufig dieselben politischen Perspektiven und Ziele teilen. Journalismus wird mehr und mehr zum Elitenjob, den sich nur leisten kann, wer finanzielle Unterstützung durch Eltern, Großeltern, Lebenspartner, den Ehemann oder die Ehefrau erhält.</p><p><b>Gegen die inhaltliche Verflachung des Journalismus und gegen die Monopolisierung</b></p><p>Eine weitere Folge der schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne ist Qualitätsverlust. Der Journalistinnenbund beobachtet etwa eine »Orientierung am Mainstream und oberflächliche Recherche, Nachrichtenfaktoren, die die Perspektive von Frauen ausblenden, und einseitige Interpretationen von Fakten«. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit gesellschaftlicher Polarisierung, der mit kritischer, seriöser und gründlich recherchierter Berichterstattung begegnet werden sollte. Dafür braucht es Zeit und Geld. Wir fordern ausreichend Ressourcen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, insbesondere auch für eine feministische Berichterstattung. Derzeit dominieren einige wenige mächtige Medienhäuser den medialen Diskurs. Unterdessen geht das Zeitungssterben weiter und die Medienkonzentration wächst. Doch Medien sind für Demokratie essenzielle Mittel der Kritik und Kontrolle. Es braucht neue medienpolitische Strategien, um der gefährlichen Monopolisierung etwas entgegenzusetzen: Die Medienförderung darf nicht dem Markt überlassen werden. Ein anderer, feministischer Journalismus ist möglich!</p><p>Dafür streiken wir am 8. März 2019!</p><p>---</p><p><i>Am 8. März wird alle Redaktionsarbeit des re:volt magazine durch die Redakteurinnen bestreikt. Alle Redakteur_innen des re:volt magazine unterstützen den Aufruf „Ein anderer Journalismus ist möglich!“. Erstveröffentlichung am 5. März</i> <a href="https://frauenstreik.org/streik-divers-aufrufe-von-ortsgruppen-und-initiativen/"><i>auf der Seite des feministischen Streiks</i></a><i>. Dort ist auch der Link zu den Unterzeichnerinnen* zu finden.</i></p><p></p><h2><b>Anmerkung</b>:</h2><p>1) Queer kommt aus dem Englischen und beschreibt Dinge, Handlungen oder Personen, die von der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Norm vermeintlich oder tatsächlich abweichen. Ab den 1980er Jahren wurde der Begriff zunehmend zur positiven Selbstbezeichnung, die einige Schwule und Lesben sowie bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen und trans-Personen verwenden. Wenn wir von Frauen reden, meinen wir damit selbstverständlich auch trans Frauen. Darüber hinaus sind wir uns bewusst, dass nicht alle Menschen sich selbst als Frau identifizieren, nur weil sie von außen so eingeordnet werden.</p></div>
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Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte2018-08-12T11:35:23.025241+00:002018-08-12T16:43:12.772359+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-humanismus-zur-linken-migrationsdebatte/
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<img alt=""Herzlich Willkommen"" height="420" src="/media/images/Refugees_3_Rasande_Tyskar_fli.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Rasande Tyskar (flickr)</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p>Einer
der derzeitigen Hauptstreitpunkte der deutschen Linken insgesamt,
sowie vor allem der LINKEN als Partei im Besonderen, ist die
sogenannte „Flüchtlingsfrage“, die eigentlich eher als
Migrationsfrage zu begreifen ist. Die Debatte bewegt sich zwischen
den beiden entgegengesetzten Polen einer national-chauvinistischen
Perspektive und eines liberalen Humanismus. Gleichzeitig
werden Fragen der unmittelbaren Taktik (Abwehrkampf gegen die
vorwärtsmarschierende Reaktion) mit denen der Strategie
(Handlungsmöglichkeiten und -optionen, falls wir mal in der
Offensive <i>wären</i>;
längerfristige Ziele und Perspektiven) vermischt. Das
Ergebnis ist ein heilloses Durcheinander, das die zentrale Erkenntnis
von Klassenkämpfen unter den Tisch fallen lässt, namentlich dass
sie heftig geführte soziale<i> Kämpfe</i> um Gesellschaft sind. Die
linke Debatte in Deutschland befindet sich auch in dieser Thematik in
einer Sackgasse, aus der wir schleunigst rauskommen müssen, wollen
wir aktionsfähiger werden, bevor die Rechte endgültig die Hegemonie
gewinnt.<p>
</p><p>
</p><h2><b>Die Migrationsfrage,
der Imperialismus und die Weltwirtschaftskrise</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Fangen
wir an mit dem Hintergrund. Woher überhaupt diese Debatte? Von etwa
68,5 Millionen Geflüchteten weltweit (<a href="http://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns/zahlen-im-ueberblick">Stand:
Ende 2017</a>) sind etwa 40 Millionen
Binnenflüchtlinge, das heißt verbleiben im jeweiligen Krisengebiet.
Der Rest verteilt sich <a href="https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/GlobalTrends_2017.pdf">zum
Großteil</a> auf umliegende Länder – zu 85
Prozent werden Refugees in sogenannten „Entwicklungsländern“
aufgenommen. Nur ein kleiner Teil schafft es in die Festung Europa.
Deutschland, das Land, welches in Europa die meisten
registrierten (sic!) Geflüchteten aufnimmt, beherbergt <a href="http://popstats.unhcr.org./en/overview#_ga=2.187541288.1444157030.1533898723-382352773.1533898723">derzeit</a>
knapp 1,4 Millionen Geflüchtete. Knapp 30 Prozent von ihnen warten
noch auf ihren Bescheid, mit dem ihr Status geklärt wird. Um einen
frappanten historischen Vergleich zu ziehen: Zwischen 1850 und 1920
emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa, was in etwa 17 Prozent
der Bevölkerung Europas im Jahre 1900 entsprach. Damit entledigte
sich Europa eines großen Teils seiner kapitalistisch überflüssig
gemachten Bevölkerung. Würden heute anteilig so viele Menschen des
Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären
das 800 (!) Millionen Menschen. Die derzeitige Emigration aus
„Entwicklungsländern“ in „Industrieländer“ entspricht
„vernachlässigbaren 0,8 Prozent“ (ILO) der Arbeitsbevölkerung
der „Entwicklungsländer“. [1] Die derzeitig so abwertend
hochstilisierte „Flüchtlingswelle“ nach Europa ist also im
historischen Vergleich wie auch im Vergleich zum hier existierenden
Wohlstand keine; wer sie als solche bezeichnet, ist wirr, verblendet
– oder verfolgt offensichtlich eigennützige Interessen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Europa
schottet sich seit den Dubliner Abkommen in den 1990ern zunehmend ab
und lässt gezielt Geflüchtete an seinen Grenzen sterben; schiebt
sie in Kriegsgebiete ab oder überlässt sie dem rassistischen Mob im
eigenen Land. Gleichzeitig macht man gute Mine zum bösen Spiel,
indem in zahlreichen europäischen Ländern parallel Tausende Töpfe
und Förderprojekte aus dem Boden gestampft werden, die irgendwas mit
Migration, Flüchtlingen und so weiter, vor allem aber mit viel
ehrenamtlicher Arbeit zu tun haben. Das Gesicht bleibt gewahrt, denn
Merkel war ja verantwortlich für den „Willkommenssommer 2015“
oder für die „große Umvolkung“, je nach politischer
Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der
rassistische Diskurs gegen Geflüchtete wird nicht per Zufall in
dieser extremen und über alle Lager greifenden Form erneut seit
Anbeginn der Großen Weltwirtschaftskrise 2007-08 systematisch von
Massenmedien und Parteien bis weit in das politische Establishment
hinein gefördert und hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die <a href="https://www.theguardian.com/world/2018/jun/13/populist-talkshows-fuel-rise-of-far-right-german-tv-bosses-told">sogar</a>
vom Deutschen Kulturrat kritisiert werden. Die erzreaktionäre
Bearbeitung der Migrationsfrage ist immanenter Teil der Bearbeitung
der Weltwirtschaftskrise seitens der Herrschenden: Fand einerseits
eine kaum nachhaltige „Normalisierung“ der führenden
kapitalistischen Wirtschaften auf niedrigem Niveau mittels einer
immensen Liquiditätsflut statt, wurden andererseits die Kosten der
Krisenbewältigung auf die Bevölkerungen abgewälzt mittels „jobless
growth“ (Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswachstum),
Austerität, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse und so weiter.
Derweil schlägt die imperialistische Konkurrenz um Märkte und
Kostenabwälzung in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise Blüten in
Form von Brexit, Trump, Elementen von Handelskrieg(en) und realen
Kriegen – in Mali, in Libyen, in Syrien, im Irak und so weiter und
so fort. Es ist offensichtlich, dass die Migrationsströme erneut
wegen diesen Kriegen und Krisen zunehmen. Selbstverständlich
flüchtet ein Teil der Menschen auch aus „wirtschaftlichen
Gründen“. Aber nur wer von wohlstandschauvinistischen Reflexen
oder Interessen schon durchsetzt ist, nimmt nicht wahr, dass die
Superausbeutung von Millionen von Arbeiter*innen des Globalen Südens
seitens westlicher Großkonzerne für unsere billigen T-Shirts oder
iPhones; das fröhlich betriebene Land Grabbing und die damit
einhergehende Vertreibung von Millionen vom Land; sowie das
erbarmungslose Niederkonkurrieren von schwächeren kapitalistischen
Wirtschaften mittels Produktivitätsvorteilen und Subventionen in den
imperialistischen Zentren die dem derzeitigen Imperialismus
entspringenden „wirtschaftlichen Gründe“ sind, die hauptsächlich
zu „Arbeitsmigration“ führen. Die wohlstandschauvinistische
Ideologie verkehrt die Verhältnisse: Nicht „Wirtschaftsflüchtlinge“
beuten unsere Sozialsystem aus, sondern wir beuten verarmte Länder
aus, aus denen einige wenige es zu uns schaffen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
genau in Bezug zur sich erneut verschärfenden Konkurrenz zwischen
den Imperialismen wie auch zur Abwälzung der Kosten der Krise auf
die Werktätigen lässt sich die Funktion der erzreaktionären
Thematisierung der Migrationsfrage verstehen. Es wurde oft genug
aufgezeigt, wie durch diese diskursive Verschiebung Fragen
klassenförmiger Verteilung und Teilhabe kulturalisiert und
Spaltungslinien inklusive gegenseitiger Aufhetzung innerhalb der
Subalternen nicht bloß ideologisch, sondern sehr praktisch und
materiell gefördert werden. Eine Thematisierung der wirklichen
Krisengewinner und der Entstehung einer Solidarität der Subalternen
wird damit vorgebeugt, zugleich lassen sich Wut und Unmut der
werktätigen Bevölkerungsteile hübsch nutzen im kapitalistischen
Konkurrenzkampf um die enger werdenden Profitaussichten. Die riesige
Solidaritätswelle mit Geflüchteten in Deutschland und Österreich
in den Jahren 2014 bis 2015 sowie die derzeitige Solidarität mit der
Seebrücke zeigen andererseits auf, dass die Rechnung nicht einfach so
aufgeht. Es ist ausgemachtes Ziel der Herrschenden, diese Form
demokratischer Tiefenreflexe der Gesellschaften zu brechen, wofür
dann eine „<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Kölner
Silvesternacht</a>“ nach der anderen und andere
„Skandale“ migrationsfeindlich konstruiert werden.
</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Wohlstandschauvinistische
Verschiebung der Migrationsfrage innerhalb der Linken</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Nun
organisiert sich die hiesige Rechtsverschiebung auch in Teilen der
Linken und LINKEN in Form einer national-chauvinistischen oder
exklusiven Reorientierung auf das Gemeinwohl, das mal verdeckter mal
offener rassistisch und abwertend auftaucht. Bei Sahra Wagenknecht
und Oskar Lafontaine ist der Wohlstandschauvinismus oft eher latent
oder verdeckt: Wird ihnen Rassismus für ihre Ansichten vorgeworfen,
verweisen sie entrüstet auf ihre soziale Programmatik.
Reden oder schreiben sie jedoch über die Migrationsfrage, taucht
nirgends auf, dass sich Solidarität mit Geflüchteten und
Fluchtursachenbekämpfung gar nicht ausschließen, sondern sogar
immanent zusammenhängen. Denn bei der Aufnahme von Geflüchteten
geht es darum, unmittelbare Unterstützung und würdevolles Leben für
alle zu ermöglichen in einer Welt, wo wir eben noch nicht
erfolgreich darin waren, Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen.
Letztlich dient die <i>ausschließliche</i> Fokussierung auf die
Thematisierung von Fluchtursachen dazu, das aktive Desinteresse an
Solidarität mit Geflüchteten hier zu übertünchen und
rationalisieren. Ebensowenig taucht auf, dass die ja tatsächlich
zunehmende Konkurrenz auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch
Einwanderung von abgewerteten Arbeitskräften nur deshalb eine
Konkurrenz sein kann, weil der Wohnungs- und Arbeitsmarkt schon seit
Jahren und insbesondere seit der Agenda 2010 im Sinne von Kapital und
Eigentümer*innen aktiv umstrukturiert wurde. So wurden (großteils)
Unternehmer*innen und Wohlhabenden in den Jahren 2000 bis 2013
<a href="http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07705.pdf">Steuergeschenke</a>
in Höhe von insgesamt 490,35 Milliarden € (also jährlich
durchschnittlich 37,71 Mrd. €) gemacht. Allein die <a href="https://www.hintergrund.de/feuilleton/literatur/die-doppelte-zweiteilung-der-welt-nord-und-sued-arm-und-reich/">Anhebung
der bundesdeutschen Immobiliensteuer</a> auf
OECD-Durchschnitt würde jährlich an die 27 Milliarden € in die
Kassen spülen. Und dann gibt es natürlich noch die <a href="https://derstandard.at/2000067318099/Steueroasen-kosten-EU-Staaten-60-Milliarden-Euro-pro-Jahr">„legale“
Steuerflucht in Steueroasen</a>, wodurch der
deutsche Staat allein schon nach öffentlich zugänglichen Daten 17
Milliarden € im Jahr, real aber vermutlich <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1069171.steuerflucht-neue-enthuellungen-zu-den-paradise-papers.html">viel
mehr</a> verliert. Die aktuellen Ausgaben in
Deutschland für alles, was irgendwas mit „Geflüchteten“ zu tun
hat (Sicherheitsdienste, Wieder-Aufbau sozialer Infrastruktur, …),
sind mit, <a href="http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/bundeshaushalt-2017-mehr-geld-fuer-soziales-und-fluechtlinge-aber-die-schwarze-null-steht-14319349.html">je</a>
<a href="https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-05/bundesfinanzministerium-fluechtlinge-kosten-21-milliarden">nach</a>
<a href="https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-und-zahlen-101.html">Berechnungsmethode</a>,
20 bis 30 Milliarden € im Jahr ein Witz dagegen. Und dabei reden
wir noch von einem Vergleich mit <i>Exzessen</i> des bundesdeutschen
Kapitals und der Wohlhabenden, noch gar nicht von den enormen
Profiten und Reichtümern, die „normal“ und ohne Exzesse gemacht
und angehäuft werden. In Tiraden gegen „Banken und Konzerne“
reden Lafontaine wie Wagenknecht und ihre Anhänger*innen oft von
dieser Art Konsequenzen des „ungezügelten Kapitalismus“, nicht
jedoch dann, wenn es um die Migrationsfrage geht. Wer aber bei der
Migrationsfrage vom BRD-Kapitalismus, wie er derzeitig konkret
verfasst ist, nicht redet, sondern gar noch <a href="https://www.fabio-de-masi.de/de/article/1923.thesenpapier-linke-einwanderungspolitik.html">ernsthaft</a>
scheinwissenschaftlich-positivistisch über den Beitrag von
Geflüchteten zum Wirtschaftswachstum sinniert, der übt schon längst
Anpassungspolitik an das Bestehende und hofft darauf, im bestehenden
Klassengefüge doch irgendwie integriert zu werden und Privilegien zu
ergattern oder zumindest zu behalten.</p><p>
</p><p>
</p><p>So ist
es dann auch nicht verwunderlich, dass insbesondere von dieser Art
Linken Argumente und Echauffierungen kommen, die ganz knapp am
rechten Lager vorbei schrammen. So vergisst man alle Kritik an
„Banken und Konzernen“, wenn es ausgerechnet bei Geflüchteten
heißt, „der Staat habe Grenzen der Belastbarkeit“, die linke
Form des populären reaktionären Slogans: „Das Boot ist voll“.
Teils wird auch von dieser Art Linken ernsthaft behauptet,
Geflüchtete seien Schuld an Gewalt gegen Frauen, an allgemeiner
Unsicherheit in der Gesellschaft, an steigender Kriminalität. Dass
<a href="https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie--lebenssituation--sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland/80694?view=DEFAULT">Studien</a>
zeigen, dass Gewalt an Frauen in
Deutschland über die Jahre hinweg auch ohne
„Flüchtlingswelle“ <a href="http://www.taz.de/!5271854/">konstant
hoch</a> und deshalb ein hausgemachtes
Problem ist; dass die Kriminalitätsrate über die Jahre sogar
gesunken ist; dass zudem Kriminalitätsstatistiken nicht zuverlässig
und ihre Interpretationen insbesondere in Bezug auf Geflüchtete
<a href="https://www.rundschau-online.de/politik/statistik-mehr-gewalt-durch-junge-fluechtlinge-29429344">heftig</a>
<a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1075039.fluechtlinge-und-kriminalitaet-kriminelle-fluechtlinge-ja-und-nein.html">umstritten</a>
<a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-die-afd-die-polizeiliche-kriminalstatistik-verbiegt-15636317.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0">sind</a>
– all das wird von einer Flut pathischer Projektionen überdeckt,
die durchaus auch multimedial gefördert werden (siehe die Debatte um
„<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Terrornacht
der Nafris</a>“ 2015/16 und 2016/17).</p><p>
</p><p>
</p><p>Es
bleibt festzuhalten, dass die sozialpsychologischen und
gesellschaftlichen Sturmwinde, die die Weltwirtschaftskrise
entfesselt hat, nicht nur „die Gesellschaft“ durcheinander
wirbeln und alles Feste zum Schwanken bringen, sondern eben auch die
Linke, die Teil „der Gesellschaft“ ist. Wir haben uns bisher
nicht als fest genug erwiesen, diesen Sturmwinden stand zu halten und
gegen sie selbständig und organisiert anzukämpfen mit einer
überzeugenden Perspektive ihrer Überwindung. Das permanente
multimediale Bombardement, die bewusst herbei inszenierte Panikmache,
die Phantasmagorie des „islamistischen Terrors“, der unabhängig
und geradezu surreal von jeder realen Relation zum „islamistischen“
und sonstigen Terror existiert, die Aura von Angst,
Perspektivlosigkeit und Unsicherheit haben auch Teile von uns
zermürbt, beziehungsweise noch mehr zermürbt. Einige von uns haben
innerlich, sicherlich oft ohne böse Absicht und vermutlich teils
ohne bewusste Absicht, kapituliert und sich dem ergeben, was so
erscheint, als ob es Festigkeit inmitten der Sturmwinde gewähren
könnte.</p><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://www.facebook.com/notes/andreas-gr%C3%BCnwald/migration-ein-und-zuwanderung-bei-marx-engels-lenin-/1054499487902610">Einst</a>
hatten wir einen festen Stand in dieser Angelegenheit: Marx, Engels,
große Teile der Vorkriegs-SPD und Lenin plädierten durchgehend für
die Aufnahme von Arbeitsmigrant*innen und brandmarkten
Migrationsbeschränkungen als „spießbürgerlich“ oder
„aristokratistisch“, wenn auch zugegebenermaßen in der etwas
mechanistisch-deterministischen Vorstellung, dass dadurch die klare
Unterscheidung in Kapital und Arbeit und hierüber vermittelt der
Klassenkampf im Sinne der Arbeiter*innen gefördert und unser Sieg
beschleunigt würde. Der ist zwar nicht eingetreten, aber die
Geschichte migrantischer Kämpfe (z.B. im Italien der 1970er, aber
auch in der BRD der 1970er Jahre) zeigt: als Deklassierteste waren
sie stets diejenigen, die am radikalsten kämpften, und in betreffs
Arbeitskämpfen praktisch betrachtet oft zur Avantgarde wurden. So
waren es vor allem die türkischen Gastarbeiter*innen im <a href="https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/">Ford-Streik
in Köln 1973</a>, die den illegalen und von der
Gewerkschaftsführung nicht unterstützten Kampf gegen die ungleiche
Behandlung entfachten und letztlich auch die ansässigen deutschen
Arbeiter*innen zum Kampfe motivierten. Es ist vor diesem Hintergrund
ebenfalls kein Zufall, dass, um beim deutschen Beispiel zu bleiben,
die Grauen Wölfe ihre Organisierung in Deutschland erst mit den
1970ern aufnahmen und staatlich unterstützt wurden, wobei die
Gewerkschaften schon damals vor den Konsequenzen warnten, mit denen
wir uns heute auseinanderzusetzen haben.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Liberaler Humanismus
als Alternative?</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Viele
von uns haben sich dem national-chauvinistischen backlash aber auch
widersetzt und sind von ihren antirassistischen, die Kämpfe der
refugees unterstützenden Ansätzen nicht abgerückt. Ihrer
unendlichen, teils kleinteiligen Mühe, gekoppelt mit der
migrantischen Selbstorganisierung, ist es zu verdanken, wenn eine
Abschiebung verhindert werden oder eine Küche zum Selberkochen für
ein Geflüchtetenlager erkämpft werden kann. Oder wenn es dann eben
doch staatlich geförderte Projekte und Programme für
Geflüchtetenarbeit gibt, die zwar die Pflichten des Staates auf die
Öffentlichkeit abwälzen, aber genau so gut auch einfach gar nicht
hätten stattfinden könnten, gäbe es nicht die Kämpfe darum und
nach wie vor vorhandene demokratische Tiefenreflexe in Teilen der
deutschen Gesellschaft.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aus
diesen Kreisen mehren sich Stimmen – und sie schlagen sich manchmal
in <a href="https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/">Positionspapieren</a>
und dergleichen nieder –, die im Angesicht des Rechtsruckes und der
Verbreitung national-chauvinistischen Gedankenguts innerhalb der
Linken offensiv weiterhin den alten Slogan „no nations, no borders“
beziehungsweise „offene Grenzen für alle“ verteidigen und zu
einer eigenständigen politischen Ideologie des Transnationalismus
und Ähnlichem formieren. Es ist ohne Zweifel richtig, dass die
Bewegungsfreiheit der Menschen im allgemeinen ein Ziel sein sollte,
für das wir streiten müssen. Das Problem liegt bei diesen
Positionen an zwei Stellen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Erstens
stehen ihre ideologischen Wortführer*innen zunehmend für eine
De-Thematisierung der Geflüchtetenfrage im Zusammenhang mit dem
Imperialismus, der ja diese Ströme in dieser Art erst hervorbringt,
und dem Neoliberalismus hier im Lande. Trotz dass unterschiedlichste
<a href="https://www.jungewelt.de/artikel/324701.hartz-iv-muss-weg.html">Studien</a>
und Modediskurse um „Post-Demokratie“ zeigen konnten, dass
wegbrechende Lebens- und Arbeitsstandards oder teils berechtigte
Abstiegsängste zu Selbstschutzmechanismen und grassierender Angst
sowie Unmut führten, auf denen basierend erst die Rechten bei
Abwesenheit einer linken Offensive ihren zumindest <i>massenhaften</i>
Aufstieg feiern konnten, wird dies vehement bestritten. Es schleicht
sich zunehmend ein identitär-elitäres Element ein, das auf dem
moralisch Richtigen (offene Grenzen hier und überall, transnationale
Rechte jetzt sofort) beharrt und sich über alles andere erhebt. Wer
Kämpfe zusammenführen will, gilt als doktrinär, AfD-Wähler*innen
sind sowieso alle per se „Faschisten“ oder zumindest
„Erzrassist*innen“, die offensiv bekämpft werden müssen. Als ob
Rassist*innen nicht gemacht, sondern geboren werden; als ob die
rassistischen Ressentiments des widersprüchlichen
Alltagsbewusstseins, der auch ganz andere Elemente enthält, nicht
erst aktiv organisiert werden müssten, bevor der
Wohlstandschauvinismus und Rassismus zu zentralen Elementen eines
geglätteten erzreaktionären politischen Programm erhoben werden und
die Geflüchtetenheime als Konsequenz brennen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dabei
ist nicht zwangsläufig das separate oder teils autonome Führen von
Kämpfen das Problem – Menschen fangen oft dort an zu kämpfen, wo
es für sie am brenzligsten ist oder wo sie die größte Empörung
und Wut fühlen. Das Problem beginnt dort, wo diese Separation aktiv
und ideologisch unterfüttert betrieben sowie andere Deklassierte
oder Subalterne abgewertet werden. Wagenknechts Popularität speist
sich nicht allein aus ihren teils reaktionären Positionen in der
Geflüchtetenfrage, sondern auch daraus, dass sie ihre Positionen
stets im Zusammenhang mit einem Angriff auf Konzerne und Banken
zugunsten der Subalternen hier vorbringt. Solange die Kämpfe der
hier am heftigsten Deklassierten, Prekarisierten und unter Druck
geratenen Arbeiter*innen nicht mit aufgenommen und perspektivisch als
gemeinsamer Kampf mit den Geflüchteten zusammengeführt werden, so
lange wird uns einerseits die Kraft, weil Masse der werktätigen
Bevölkerung, fehlen, tatsächlich Veränderungen umzusetzen.
Andererseits wird sich bei unserer Abkehr von den Subalternen
schlicht die Rechte ihres Unmutes noch erfolgreicher annehmen und ihn
für ihre Zwecke funktionalisieren.</p><p>
</p><p>
</p><p>Das
zweite, eng mit dem ersteren verbundene Problem dieser Positionen
liegt darin, dass sie ein strategisches Ziel als unmittelbares Ziel
ausgeben und kein Programm für deren Umsetzung zu geben imstande
sind. Und zwar deshalb, weil sie auf der bloßen humanen und
ethischen<i> Richtigkeit</i> der Position beharren, ohne die sozialen
Konsequenzen der Umsetzung aus der Perspektive von sozialen<i>
Kämpfen</i> mitzubedenken. Damit meine ich auch nicht, dass nicht
mitbedacht wird, dass man technisch betrachtet nicht sofort alle
Grenzen aufmachen kann und es deshalb Übergänge in der Regulation
von Migration geben muss. Diesbezüglich <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/was-ist-linke-migrationspolitik/">gibt</a>
es <a href="https://www.welt.de/politik/deutschland/article169847813/Unangemessene-Grenzueberschreitung-Wagenknechts.html">Vorschläge</a>,
die, im Übrigen, ebenfalls dafür kritisiert werden, nicht
konsequent genug „offene Grenzen für alle“ zu verteidigen. Was
ich meine, ist etwas anderes. Wenn es genug Reichtum für alle gibt,
dieser aber nur ungleich verteilt ist und man bei einer gerechten
Verteilung in der BRD problemlos alle Geflüchteten vermutlich der
ganzen Welt versorgen könnte – dann heißt das eben nichts
anderes, als dass die sozialen Kräfteverhältnisse<i> derzeit</i>
das nicht ermöglichen und dass man eine Veränderung gegen die
bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ihre Profiteure<i> erzwingen</i>
muss im permanenten Klassenkampf. Das heißt, dass die
Migrationsfrage nicht eine Teilfrage der menschlichen Ethik oder
Moral und parallel hierzu im Bereich des Politischen eine Frage der
konkreten Technik von Finanzierung, Aufnahme, Unterbringung,
Integration und so weiter ist – <i>sondern Kernelement eines von
unterschiedlichen Interessen intensiv geführten Kampfes um die
Struktur und Zukunft von Gesellschaften.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>Und die
Profiteure der hiesigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse
sind nicht einfach nur die paar Eigentümer*innen und Manager*innen
von Siemens und Bosch. Die gesamte kapitalistische Wirtschaft der BRD
hängt am bestehenden imperialistischen Weltsystem, das dem deutschen
Kapital durch das „Exportwunder“ immense Profite beschert,
gleichzeitig jedoch auch ein, im weltweiten Vergleich, weiterhin
ordentliches Sozialsystem, ordentliche Löhne für
Stammbelegschaften, noch akzeptable Prekarität – man vergleiche
allein die Prekarität hier im Unterschied zur Prekarität in der
Türkei – und dergleichen ermöglicht. Zusätzlich gibt es so etwas
– vor allem von „antinationalen“ Linken unterschätztes – wie
den deutschen Pass, der eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, von dem
der Großteil der Welt derzeit nur träumen kann. Versucht man nun
diese teils imperialistischen Extraprofite des deutschen Großkapitals
auch nur mit relativ milden Methoden wie beispielsweise der
Veränderung des Steuersystems oder der staatlichen Ausgaben zwecks
Ermöglichung eines würdevollen Lebens für alle Geflüchteten
anzugreifen, dann schlägt die Bourgeoisie zurück, weil sie um ihre
Profite und Hegemonie im Allgemeinen fürchtet. Gleichzeitig
mobilisiert sie – wie derzeit – diejenigen Teile der
Mittelklassen, der privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse und
der nicht-privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse, die relativ
oder auch nur <i>scheinbar</i> vom deutschen Imperialismus
profitieren. Und zwar dadurch, dass sie auch deren Positionen als
gefährdet darstellt, weil es ja – so die bürgerliche Ideologie –
konkurrenzfähige und profitable Unternehmen sind, die Arbeitsplätze
schaffen, und Schmarotzer jeder Art („Hartzer“, Geflüchtete,
usw.) unseren Wohlstand, den Wohlstand der rechtschaffenen, fleißigen
Deutschen gefährden. Schaffen wir es nicht, bei den Werktätigen
hier praktisch zu verankern und erkämpfen, dass sie ihre
selbständigen Interessen mittel- und langfristig besser dadurch
wahren können, dass sie gemeinsam auch mit den zugezogenen und
hierher geflüchteten Werktätigen gegen die selbständigen
Interessen des Kapitals kämpfen, wird es schlicht nicht möglich
sein, mehr für Werktätige hier wie auch für Geflüchtete
herauszuholen, als das Kapital aufgrund seiner
Akkumulationsmöglichkeiten und seinem Spielraum im Kräfteverhältnis
mit anderen Kapitalen erlaubt.</p><p>
</p><p>
</p><p>Falls
wir die Realität und die Konsequenzen des Klassenkampfes und seine
Verknüpfung mit anderen Kämpfen, die nicht nur und derzeit nicht
mal hauptsächlich von uns geführt werden, nicht begreifen und in
diesem Bezug die nächsten taktischen Schritte erörtern, werden
beide Richtungen einknicken: Der chauvinistische Flügel wird sich
immer mehr an die deutsche Staatsräson anpassen, der
linksliberal-humanistische, beständig herausgefordert dazu „mal
einen konkret umsetzbaren und realistischen Plan vorzulegen“ und
aufgrund der Mobilisierungsunfähigkeit wegen fehlender Verknüpfung
der Kämpfe, pragmatisch werden; humanere Möglichkeiten der Aufnahme
und Unterbringung von Geflüchteten vorschlagen und das strategische
Fernziel als ein Fernziel, das mit dem Heute keine Verbindung hat,
belassen. Die hardcore Idealist*innen werden sich am moralisch
absolut Richtigen festklammern und Sektiererei betreiben. Beide
Flügel werden sich tendenziell, ob aktiv oder aus der Defensive
heraus dazu gedrängt, aneinander annähern.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Perspektiven
der Offensive</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Demgegenüber
gilt es die Migrationsfrage auch schon im Abwehrkampf offensiv als
eines der Kernelemente der sozialen Frage im derzeitigen Kontext von
Kapitalismus und Imperialismus zu thematisieren. Nur so auch können
perspektivisch die Spaltungslinien zwischen den „einheimischen“
Werktätigen und „zugezogenen“ Werktätigen überwunden und
bürgerliche Hegemonien gebrochen werden. Es ist dabei klar, dass die
Ziele und Methoden unterschiedlich gelagert sind: Geflüchtete kommen
hier her, weil sie vor Krieg, Krisen und Perspektivlosigkeit
flüchten, nicht um Klassenkampf zu betreiben. Es gilt, gegen den
rechten Vormarsch für ein gutes Leben für sie und mit ihnen zu
streiten und klar zu machen, dass es nur die derzeitigen sozialen und
politischen Kräfteverhältnisse und nicht etwa irgendwelche
neutralen, von menschlicher Praxis unabhängigen wirtschaftlichen
oder kulturellen Parameter sind, die dem im Wege stehen. Das ist
ideologisch betrachtet auch der Punkt, der die Brücke zu den Kämpfen
der „einheimischen“ Werktätigen schlägt, da sie genau so von
Kosteneinsparungen, Klassismus, Rationalisierungen, Spaltungen und
dergleichen kapitalistischen Offensiven betroffen sind, auch wenn sie
gegenüber Geflüchteten relativ privilegiert dastehen. Das wichtige ist, dass die
unterschiedlichen Schritte richtig miteinander und in richtiger
Perspektive kombiniert werden, um Erfolg zu zeitigen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Es ist
zudem offensichtlich, dass – strategisch betrachtet – der
internationale Kampf organisiert und ausgeweitet werden muss, um
Kapitalismus und Imperialismus auf Weltebene und damit die
hauptsächlichen Fluchtursachen bekämpfen zu können. Gleichzeitig
verschiebt die Utopie eines Transnationalismus der Kämpfe das
Kämpfen auf einen Sanktnimmerleinstag, was sich schlagend im
linksliberalen Dogma „es gab keine Alternative“ in Bezug auf die
Niederlage von Syriza in Griechenland zeigte. In betreffs der
Migrationsfrage zeigt sich dies im Dilemma des Transnationalismus,
offene Grenzen und globale Rechte für alle erreichen zu wollen,
gleichzeitig jedoch Politik machen zu müssen in einer Welt der
Grenzen und Unterschiede. Nicht nur gibt es eine Ungleichzeitigkeit
der Kämpfe. Es gibt auch nach wie vor eine ungleiche Organisation
der Kämpfe. Es gibt derzeit keine Subjekte oder Organisationsformen,
die im wirklichen Wortsinne international oder gar transnational
wären. Alle paar Monate mal zu einem „transnationalen“ Treffen
oder zu einer „transnationalen“ Demo zu fahren ist kein
Transnationalismus. International wären die Kämpfe dann, wenn sie
miteinander koordiniert wären, damit sich die Ungleichzeitigkeit der
Kämpfe nicht negativ auf die an unterschiedlichen Orten
unterschiedlich intensiv stattfindenden sozialen/antikapitalistischen
Kämpfe auswirkt, sondern dass sich im Gegenteil die Kämpfe
wechselseitig stärken. Eine Aufhebung der Unterschiede und
Ungleichzeitigkeiten, also Transnationalismus im starken Wortsinn
steht aber kurz- bis mittelfristig nicht an. Praktische Solidarität
hinsichtlich der Migrationsfrage beinhaltet zwecks
„Fluchtursachenbekämpfung“ dann in strategischer Perspektive
auch, die Kämpfe im Globalen Süden um Emanzipation und sozialen
Fortschritt mit aller Kraft zu unterstützen. Diese können durchaus
auch die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen – eine Form von
Grenzen –, Beschlagnahmung von Eigentum
(Nationalisierungen/Vergesellschaftungen) und Aufbau alternativer
internationaler Währungs- und sonstiger Institutionen beinhalten, um
potenzielle populare und wehrhafte Gegenhegemonien gegen die derzeit
dominanten Machtverhältnisse im imperialistischen Weltsystem zu
errichten. Insofern sind Grenzen selbstverständlich nicht per se
abzulehnen. Es hängt auch bei Grenzen davon ab, wer welche zu
welchem Zweck errichtet. Und Grenzen gegen das Kapital werden wir
genau so wie die Länder, die große Fluchtbewegungen erleiden,
ziehen müssen, um unsere eigenen antikapitalistischen Interessen
durchdrücken zu können.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Anmerkungen:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1]
John Smith,<i> Imperialism in the Twenty-First Century.
Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism’s Final Crisis</i>,
New York, 2016, S. 108–09.</p></div>
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Recht auf Nürnberg!2018-07-11T18:49:16.258498+00:002018-07-11T19:50:09.392246+00:00Daniel Meierredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/recht-auf-n%C3%BCrnberg/
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<div class="rich-text"><p>Wer
hätte es gedacht: Deutschland befindet sich in einer Phase des wirtschaftlichen
Aufschwungs – zumindest weisen darauf seit Jahren alle im bürgerlichen Spektrum
weitgehend akzeptierten Institutionen und Institute hin. Wer daran zweifelt,
kann sich mit einer kurzen Internetrecherche schnell beruhigen lassen: die
Stimmung bei VertreterInnen der Wirtschaft ist nahezu euphorisch. und auch die
Zahlen der Bundesregierung diagnostizieren ein stetiges wirtschaftliches
Wachstum. Doch wie sieht es im realen Alltag der Lohnabhängigen aus? In
Nürnberg etwa ist von einer euphorischen Stimmung nichts zu bemerken. Im
Gegenteil: Einst ein wichtiger Standort für bekannte Unternehmen, die Tausende
Menschen beschäftigten, wie zum Beispiel AEG, Siemens, Schöller, Triumph-Adler
und das Markforschungsinstitut GfK, ist Nürnberg zwischenzeitlich von einer
Welle der Massenentlassungen und Betriebsschließungen geprägt. Gleichzeitig
entwickeln sich die Lebenshaltungskosten nach oben, vor allem getrieben durch
galoppierende Mieten und Wohnungsknappheit, was verschärfte Konkurrenz um
Wohnungen bedeutet. Besonders deutlich ist dies im Stadtteil Gostenhof in den
letzten Jahren zu beobachten. Angestellte und Führungskräfte, die in boomenden
Branchen wie dem IT-Bereich arbeiten, ziehen in den Innenstadt-nahen, urbanen
Stadtteil und können die dortigen hohen Mieten bezahlen. Andere Menschen werden
dadurch verdrängt. Doch selbst die Zuziehenden müssen oftmals einen hohen
Anteil ihres Einkommens für Mieten aufwenden. Für alle Menschen gilt also, dass
der Druck steigt. Dieser Befund geht über das Wohnen hinaus:
Arbeitsverdichtung, Lohndumping und Leistungsdruck sind prägend für die
lohnabhängigen Klassen, gleichzeitig zelebriert das Kapital den Aufschwung: Die
Stadt Nürnberg – obwohl selbst hochverschuldet – leistet sich indes im Größenwahn
die Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt. Während also Prestigeprojekte
Priorität genießen nehmen prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu. Verschärfend
kommt hinzu, dass die Löhne stagnieren, mehr noch, dass im Kontext der letzten
drei Jahrzehnte die durchschnittlichen Löhne aufgrund starker Inflationen und
Ausgaben, beispielsweise bei Lebensmitteln, Nahverkehr und Wohnraum statistisch
sogar gesunken sind.
</p><h2><b>Klassenkampf von Oben mit wenig Gegenwind</b></h2>
<p>Während die herrschende Klasse den Klassenkampf von Oben
seit Jahren zu ihren Gunsten vorantreibt, ist der Klassenkampf von unten
dagegen nur schwach ausgeprägt. Organisierter Widerstand gegen die rasant
vorangetriebenen Verschärfungen der Arbeitsbedingungen sind kaum vorhanden –
oder werden vorschnell institutionell befriedet, wie etwa im Kita-Streik Und
auch an den Schulen und Unis ist nach den großen Bildungsstreiks der
Vergangenheit längst wieder relative Ruhe eingekehrt. Zwar wächst die
gesellschaftliche Verunsicherung und Unzufriedenheit angesichts dieser
Bedingungen spürbar, die Bereitschaft, sich aktiv in Kämpfe einzubringen oder
gar selbst welche zu organisieren, ist bisher jedoch leider nicht im selben
Ausmaß angewachsen. Das ist auch in politischen Basisaktivitäten in Nürnberg zu
sehen. Diese stoßen oft auf viel Zustimmung innerhalb der lohnabhängigen Klassen,
die aktive Beteiligung bleibt allerdings hinter der Unzufriedenheit noch weit
zurück. Wen wundert’s? Die meisten Menschen sind vorsichtig, wem sie vertrauen
und skeptisch, ob die Basisinitiativen auch die notwendige Stärke haben, soziale
Verbesserungen zu erkämpfen. Diese und ähnliche Kommentare hören wir hin und
wieder von Menschen, mit denen wir auf der Straße oder rund um den
Stadtteilladen „Schwarze Katze“ in Gostenhof ins Gespräch kommen. Bei vielen Menschen
wächst das Gefühl, dem rasanten Umbau Nachkriegsdeutschlands zu einem auch nach
Innen höchst repressiv organisierten Staat isoliert und ohnmächtig gegenüber zu
stehen. Die soziale Frage wird demagogisch von Rechts besetzt, vorhandene Unzufriedenheit
aufgrund sozialer Widersprüche und der Angst vor dem sozialen Abstieg
rassistisch und nationalistisch kanalisiert. Die amtierende Bundesregierung
kann Grundrechte inzwischen nahezu ohne nennenswerten Widerstand schleifen, was
aktuell vor allem in Bezug zu Reformen am Asyl- und Polizeirecht sichtbar wird.
Dort ist auch der Widerstand noch am ehesten präsent. Dabei gerät die Große
Koalition absurderweise nicht durch die von ihr voran getriebene Demontage des
Rechtsstaates durch den Abbau von Grundrechten in die Krise, sondern durch eine
wachsende nationalistisch bis völkische rechte Bewegung, die stets noch reaktionärere
Maßnahmen fordert. In diese Bewegung, die eine „konservative Revolution“
fordert, reiht sich auch die regierungsbeteiligte CSU inzwischen nicht nur in
Bayern, sondern bundesweit ein. Ob die auch in Nürnberg gut besuchten
Demonstrationen gegen das bayerische Polizeiaufgabengesetz eine Vorbote einer
politischen Wende dieses Trends waren, lässt sich noch nicht wirklich
beurteilen. Faktisch war, nachdem das Gesetz selbstherrlich von der
CSU-Mehrheit im Landtag beschlossen wurde, die Luft erst mal raus aus der
Bewegung, die immerhin Zehntausende auf die Straße mobilisieren konnte. <br/></p>
<h2><b>Es geht um die Basis!</b></h2><p>In
Nürnberg gibt es zwischenzeitlich zahlreiche Basisaktivitäten. Einige davon
konnten wir – als organisierte autonomie (OA) – auch direkt mit anstoßen, insbesondere
in den Bereichen Lohnarbeit und Einkommen, MieterInnenkämpfe und der
Stadtteilarbeit im Nürnberger Stadtteil Gostenhof. In diesem haben wir zusammen
mit der Initiative „Mietenwahnsinn Stoppen“ in einer Umfrage zur Mietsituation
mit über 1000 TeilnehmerInnen nicht nur die wachsende Wut über teure Wohnungen
und Vertreibung von Menschen mit niedrigem Einkommen sichtbar machen können,
sondern auch den Problemkomplex Gentrifizierung in die breite Öffentlichkeit
getragen. Im Bereich der Unterstützung von Arbeitskämpfen konnten etwa die
Union-Busting-AnwältInnen von Schreiner und Partner bereits mehrmals aus
Nürnberger Tagungshotels vertrieben werden; teilweise reichte dazu zuletzt
schon eine E-Mail an die BetreiberInnen der Hotels, in der erklärt wurde, wer
sich hinter dieser Anwaltskanzlei versteckt. Diese und andere Aktivitäten sind
auf langfristige Verankerung in der gesellschaftlichen Basis und auf das
inhaltliche Wirken in diese hinein ausgerichtet. Ihren Fokus haben sie in
Kämpfen vor Ort, was Vernetzung mit anderen AkteurInnen und Initiativen
andernorts nicht ausschließt.
</p><p>
</p><p>Die
politischen Abwehrkämpfe, die aufgrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen
notwendigerweise geführt werden müssen, dürfen also nicht dazu verleiten, die
soziale Frage außer Acht zu lassen. Die politischen Angriffe der herrschenden
Klasse, die sich vor allem gegen die Lohnabhängigen richten, müssen als
Klassenkampf von Oben deutlich benannt werden. Denn die Grundlage
revolutionärer Politik ist eine revolutionäre, emanzipierte Basis, die sich von
der in Deutschland (auch gesetzlich fixierten) StellvertreterInnenpolitik
deutlich abgrenzt. Der Aufbau einer solchen Basis ist notwendigerweise ein
langfristig und auf Kontinuität ausgelegtes Projekt. Diese Basis kann nur auf
Grundlage eines kämpferischen Klassenbewusstseins entstehen, das generell alle
Lohnabhängigen als <i>potentielle</i> Verbündete miteinschließt und versucht,
möglichst viele Menschen, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, für einen
Kampf um universelle Ziele, wie zum Beispiel ein Leben ohne Ausbeutung und
Unterdrückung – beispielsweise durch rassistische Ausgrenzung oder immer weiter
prekarisierte Lohnarbeitsverhältnisse – zu gewinnen.<br/></p><p>Basiskämpfe
sind Kämpfe, die konkrete Ziele, wie etwa niedrigere Arbeitszeit, höhere Löhne,
bessere Arbeitsbedingungen, verfolgen. Dabei bleiben sie als einzelne konkrete
Kämpfe – zum Beispiel gegen einen Immobilienkonzern, der seine AltmieterInnen
loswerden möchte, um nach Sanierungen höhere Mieten mit neuen MieterInnen zu
erzielen – selbst im Erfolgsfall systemimmanent. Das bedeutet, dass der
Klassencharakter der Gesellschaft dadurch, dass manchmal die „Underdogs“
gewinnen, nicht in Frage gestellt wird. Im schlechtesten Fall folgt aus einen
gewonnen Kampf der Fehlschluss, dass das System doch „gerecht“ sein kann. Es
kommt darauf an, diese Kämpfe mit systemsprengender Perspektive zu führen und
die konkreten Forderungen, welche die Wirtschaftsordnung an sich nicht in Frage
stellen, mit über das Bestehende und explizit Erlaubte hinausgehenden
Forderungen zu verbinden. Darin liegt die Aufgabe als RevolutionärInnen in den
Kämpfen.</p><p>Da
es mittlerweile eine größere Anzahl kontinuierlicher Basiskämpfe in Nürnberg
gibt, können verbindende Elemente und die systemsprengende Dimension leicht aus
dem Blick geraten. Es besteht immer die Gefahr, nur noch den einzelnen Kampf,
den einzelnen Bereich zu sehen und dabei die möglichen Verknüpfungen mit
anderen Kämpfen, anderen Verbündeten gar nicht mehr wahr zu nehmen. Dabei
schreien die gesellschaftlichen Verhältnisse in Nürnberg nach einer größeren
gesellschaftlich wahrnehmbaren klassenkämpferischen Aktivität. Es ist an der
Zeit, verschiedenste Basisansätze in Nürnberg und der Region zusammenzuführen,
um gesellschaftliche Stärke zu demonstrieren, AkteurInnen zu verbinden, zur
Zusammenarbeit zu ermutigen und noch weitere Menschen zu motivieren, die noch
passiv sind. Dort, wo kontinuierlich Kämpfe im Bereich Wohnen und Miete, als
auch im Bereich der Existenzsicherung geführt und zum Thema gemacht werden,
lassen sich Fortschritte im Klassenkampf insgesamt erkennen. Vor allem in den Großstädten,
etwa in Hamburg und Berlin, gibt es sehr positive Entwicklungen, die auch in
Nürnberg möglich erscheinen: Beispiel
geben können die verschiedenen „Recht auf Stadt“-Initiativen und dezidiert politische
Stadtteilarbeit, wie sie etwa die Initiative „Hände weg vom Wedding“ auf die
Beine stellt.</p>
<h2><b>Konkrete Aktion vor Ort</b></h2><p>Als
ersten Schritt, die Zusammenführung verschiedener sozialer Kämpfe und AkteurInnen
in Nürnberg weiter zu entwickeln, wurde eine Demonstration unter dem Motto „Auf
die Straße gegen Sozialraub und Mietenwahnsinn! Mieten runter – Einkommen rauf!
Kapitalismus abschaffen!“ initiiert. Bisher haben sich über zwanzig
Initiativen, Gruppen und Bündnisse dieser Initiative angeschlossen und bereiten
eine Demonstration vor, die am 14. Juli stattfinden wird. Das Ziel der
Demonstration ist es, eine öffentliche Wahrnehmung für klassenkämpferische und
soziale Kämpfe zu schaffen. Wir gehen, davon aus, dass Klassenkampf, der Kampf
der gesellschaftlichen Mehrheit gegen die herrschende Klasse der
KapitalistInnen, der einzige mögliche Hebel ist, den Kapitalismus zu
überwinden. In Nürnberg heißt das, dass die drängende Aufgabe eine Vernetzung
der verschiedenen kämpfenden AkteurInnen zunächst Gemeinsamkeiten als Grundlage
kollektiver Kämpfe sein muss. Warum sollten sich Individuen zusammen finden und
Spaltungen überwinden, wenn es dafür keine Basis gibt? Wenn wir es ernst meinen
mit der Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, müssen wir die
Soziale Frage zu unserer zentralen Frage machen und den Klassenkampf von unten organisieren.
Wenn Klassenkämpfe sich weiter zuspitzen, müssen Menschen, die auf der Suche
nach Veränderung sind, uns finden und uns vertrauen können. Dies ist nur durch
eine gesellschaftlich wahrnehmbare kontinuierliche Praxis, die unmittelbar an
den Klasseninteressen der Mehrheit ansetzt, zu erreichen. Wenn die Verknüpfung
verschiedener Praxisbereiche (zum Beispiel an den Kämpfen, die sich um die
Frage nach Einkommen und Wohnen entwickeln) fehlt, birgt dies die Gefahr des
nebeneinander her Arbeitens und der Verzettelung. Statt Gegenmacht und
Selbstorganisation der Klasse entsteht im schlechtesten Fall eine Konkurrenz
der Kämpfe um die Zeitressourcen der wenigen Aktiven und um (mediale) Aufmerksamkeit. </p><p>Als
revolutionäre Linke dürfen wir unsere politischen Ziele nicht verheimlichen. Die
potentiell systemsprengenden Kernforderungen im Aufruf zur Demonstration am 14.
Juli in Nürnberg sind deshalb auch „Globale Bewegungsfreiheit für alle“ und
„Produktion und Wohnraum vergesellschaften“. Dabei handelt es sich natürlich um
Ziele, die nicht von heute auf morgen und wohl kaum mit der jetzigen Stärke
linker Bewegungen erreicht werden können. Die Demonstration soll aber dennoch dazu
beitragen, die Grundlagen für weitergehende Aktionen und Kämpfe zu schaffen.
Gerade um hier nicht an den realen Bedingungen vorbei zu arbeiten, braucht es
den Schritt, sich zusammenzufinden und dann gemeinsam auf die Straße zu gehen.
Was danach kommt, hängt vom Erfolg der Initiative ab und wie sich
RevolutionärInnen auch tatsächlich in die vielfältigen alltäglichen Kämpfe
einbringen. Seit einigen Jahren existiert eine Arbeitsgruppe des Nürnberger
Sozialforums, in der verschiedene linke AkteurInnen zur Wohnungspolitik
arbeiten. Hier könnten sich durchaus noch weitere Initiativen beteiligen. Für
Kämpfe im Einkommensbereich gibt es derzeit noch wenig Vernetzung, wobei
Lohnarbeit und Arbeitskämpfe zentrale Bestandteile gesellschaftlicher
Verteilungskämpfe sind. Es ist höchste Zeit, in Nürnberg wieder eine linke
sozialkämpferische Perspektive auf die Straße zu tragen und gesellschaftlich in
die Offensive zu kommen. Dabei muss es sich um eine Perspektive handeln, die die
herrschenden Zustände an ihrer Basis angreift, Vergesellschaftung statt
privater Profite propagiert und die gesellschaftliche Verhältnisse und die
daraus resultierenden Spaltungen als Ergebnis von Kämpfen beschreibt, die durch
diese überwunden werden können.
</p>
<p>Gerade
in Zeiten von Überproduktion, Handelskriegen, wachsender Kriegshetze und
Nationalismus ist es alternativlos, die soziale Frage auf die Straße zu tragen.
In einem weltweiten Maßstab droht, bei Beibehaltung des Marktprinzips, ein
Rückfall in die Barbarei des Nationalismus und Rassismus von beispiellosem
Ausmaß. Während in den letzten Jahrzehnten vor allem in den ehemaligen Kolonien
und den erst spät industrialisierten Regionen Krieg und Elend deutlich sichtbar
waren, kommt die Krise nun wieder in den kapitalistischen Zentren an. Für reine
Abwehrkämpfe ist es nun zu spät, es wird Zeit, dass wir unsere Forderungen nach
einer Abkehr vom Kapitalismus in den Mittelpunkt stellen und klassenkämpferisch
zu agieren.</p><hr/>Daniel Meier ist in
der <i>organisierten autonomie (OA)</i> aus Nürnberg engagiert. Dort
findet am kommenden Samstag, den 14. Juli 2018, die <a href="http://www.redside.tk/cms/2018/07/06/auf-die-strasse-gegen-sozialraub-und-mietenwahnsinn-mieten-runter-einkommen-rauf-kapitalismus-abschaffen-3/">antikapitalistische
Demonstration</a> „Auf die Straße gegen Sozialraub und Mietenwahnsinn! Mieten
runter – Einkommen rauf! Kapitalismus abschaffen!“ statt. Um 13:30 Uhr wird
sich vor dem historischen Rathaus an der Sebalduskirche getroffen.</div>
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