re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=6152019-09-07T14:36:21.623190+00:00Eine Runde Justiz-Lotto2019-09-07T14:36:21.623190+00:002019-09-07T14:36:21.623190+00:00Joan Adalarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/eine-runde-justiz-lotto/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Eine Runde Justiz-Lotto</h1>
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<span class="content-copyright">Alper Çuğun</span>
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<div class="rich-text"><p>Alles begann mit exzessiver Polizeigewalt und einer behördlich orchestrierten Machtdemonstration gigantischen Ausmaßes. Es sind die Tage im Juli vor zwei Jahren, die Zeit des G20-Gipfels in Hamburg und die Proteste gegen das Treffen der Staatschefs samt Entourage. Die Zahl der Verletzten und Schwerverletzten bei den Übergriffen durch die Polizei, etwa bei der Welcome-to-Hell-Demonstration oder rund um die Straße <a href="https://revoltmag.org/articles/nach-rechts-buckeln-nach-links-treten/">Rondenbarg</a> waren hoch. Abseits von einigen kritischen Stimmen aus dem linken Spektrum wurde öffentlich vor allem die Anzahl der verletzten ( zumeist durch Hitzeschlag und Pfefferspray-Eigenbeschuss ausgeknockten) Sicherheitskräfte oder die kaputten Schaufensterscheiben im Schanzenviertel diskutiert.</p><p>Wenige Wochen später richtet sich auf einer Berliner Solidaritätsveranstaltung für die Betroffenen der Polizeigewalt in Hamburg die staatliche Gewalt erneut gegen Aktivist_innen. Austragungsort diesmal: der Heinrichplatz mitten in Kreuzberg. Am Ende werden drei Menschen festgenommen. Derzeit laufen die Prozesse gegen sie. Die Anklage: Die drei „Heinis“, wie sich die Betroffenen selbst bezeichnen, sollen (gemeinschaftlich) Gegenwehr gegen den Polizeieinsatz geleistet haben. Zudem stehen Landfriedensbruch, tätlicher Angriff, Körperverletzung und versuchte Gefangenenbefreiung auf dem Programm.</p><h2><b>Donnerstag, 15. August 2019, Amtsgericht Tiergarten</b></h2><p>Schon um neun Uhr versammeln sich erste Unterstützer_innen vor dem Gebäude. Passant_innen können sich über den anstehenden Prozesstermin und die Hintergründe informieren, es gibt Kaffee und Obst. Heute wird Jürgen, alias „der zweite Heini“ angeklagt. Ein erster Heini hatte bereits einen Gerichtstermin im Mai, auch hier ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen. </p></div>
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<p>Die Drei Heinis samt Unterstützer_innen haben es sich vor dem Gerichtsgebäude gemütlich gemacht.</p>
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<div class="rich-text"><p>Der heutige Heini hat entschieden, sich selbst zu verteidigen, ohne anwaltliche Unterstützung. <i>„Während der Vorbereitungen auf den Prozess des ersten Heinis und meinen eigenen ist die Willkür vor und vom Gericht immer wieder ganz klar aufgeploppt. Ich habe mich zunehmend gefragt: Wofür denn dann eigentlich eine Vertretung? Streng genommen sind Anwält_innen auch ein Teil dieses Rechtssystems, von welchem ich mich ganz klar distanziere und welches ich nicht als ‚meins‘ anerkenne“</i> berichtet Jürgen später in einem Gespräch mit dem re:volt magazine. Er habe deshalb die Konsequenz gezogen, sich selbst zu verteidigen. In Folge dieser Entscheidung setzte er sich immer weiter mit Aspekten des Strafrechts, Gefängnissen, Prozessen gegen andere linke Aktivist_innen und so weiter auseinander. Jürgen berichtet, dass die Recherchen seinen Blick auf den anstehenden Prozess veränderten: <i>„Da wurde mit erstmal klar, dass es keinen roten Faden in der Härte der Verurteilungen gibt. Die mögliche Höhe meiner Verurteilung hat deshalb in meiner Auseinandersetzung zunehmend eine geringere Rolle gespielt. Die gewonnene Freiheit, die ich durch die fehlende anwaltliche Vertretung erhielt, konnte ich dazu nutzen, um mich selber und mit Hilfe meines Unterstützer_innen-Kreises zu empowern und mich gegen die Richtenden zu behaupten. Auf diese Weise konnte ich den Prozess führen, so wie ich ihn am ehesten für angemessen halte.“</i></p><h2><b>Lasst den Prozess beginnen...</b></h2><p>Der Prozess beginnt mit der Verlesung der Anklageschrift. Dann kommt Unruhe auf: Als erste Amtshandlung im Saal lässt Richterin Stoppa dann den Saal räumen. Der Grund: Es gibt offiziell 30 genehmigte Plätze für Unterstützer_innen, aber noch mehr freie Stühle. Angeklagter und Publikum forderten, drei weitere potenziell verfügbare Sitzplätze an Unterstützer_innen zu vergeben. <i>„Es waren draußen noch Leute die hinein wollten, durch die freien Sitzplätze war die Öffentlichkeit nicht komplett hergestellt. Dies ist prinzipiell ein totaler Revisionsgrund der alle Urteile zunichte macht“</i> erklärt Jürgen später – allerdings nur, wenn ein Antrag gestellt wird, der die Richterin dazu auffordert, diese Situation zu Protokoll zu geben. Dieser Antrag kann mündlich oder schriftlich gestellt werden. Befindet sich diese Sachlage im Protokoll, kann damit eine Revision erwirkt werden. <i>„Für mich war das ein sehr entscheidender Moment“ </i>erinnert sich Jürgen. „<i>Ich musste mich an dieser Stelle zum ersten Mal gegen die Richterin behaupten. Ich habe sie insgesamt dreimal mündlich dazu aufgefordert, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben – was sie einmal komplett ignorierte und dann zum zweiten Mal sagte, sie werde das nicht tun. Beim dritten Mal, gekreuzt durch die Aufruhr im Besucher_innenraum, platzte ihr der Kragen und sie hat alle hinaus geschickt.“ </i>Jürgen verlässt den Saal mit den Zuschauer_innen. Draußen verfasst er einen schriftlichen Antrag, um die Richterin dazu zu zwingen, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben.</p><p>Nach zehn Minuten geht es zurück in den Saal. Der Anfrage wird nicht stattgegeben. Als Begründung wird auf die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen verwiesen . Auch die Prozessbeobachter_innen wurden im Vorfeld aus Sicherheitsgründen auch nur einzeln und nach ausgiebigen Kontrollen ins Gerichtsgebäude eingelassen; nur einige Papierblätter und Bleistifte sind erlaubt.<i> „Damit war die Richterin aus dem Schneider. Das Verlesen beziehungsweise Einreichen meines Antrags war dadurch nicht mehr notwendig. Allerdings: Hätte sie das nicht getan, ihre Begründung abgegeben, wäre sie durch meinen schriftlichen Antrag dazu gezwungen gewesen, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben“</i> erklärt Jürgen später das Hin und Her. Hoch lebe die Justizinszenierung.</p><p>Die Richterin verkündet, jede weitere Äußerung, jedes Schnalzen, Lachen, Klatschen im Gerichtssaal werde mit einem sofortigen Ausschluss der Zuschauer_innen bestraft. Zwei Sicherheitskräfte nicken sich grinsend zu, lassen ihren Blick dann warnend über die Zuschauer _innen wandern. Ob sich der Angeklagte zur Sache selbst äußern möchte, fragt die Richterin. Wolle er nicht, meint der Heini; wohl aber hätte er einige Überlegungen mitgebracht, die er für die Zuschauer_innen gerne ausführen wolle. Dem Vortrag seiner über 18 Seiten langen Prozesserklärung wird stattgegeben. Wider Erwarten wird der Aktivist auch während seiner über 45minütigen Rede nicht verbal unterbrochen. Wohl aber blättern Staatsanwältin und Richterin immer wieder einmal unbeeindruckt in ihren Unterlagen herum, oder tauschen Blicke mit den überall im Saal verteilten Sicherheitskräften und Polizist_innen aus. Die Bullen - so wird der Heini die Ausführenden der Staatsgewalt ausschließlich nennen. Respekt hat er nicht. Nicht vor den Personen, die vor ihm sitzen, und noch weniger vor den Ämtern und Funktionen, die sie innehaben. Staatsanwaltschaft und Gericht werden im Verlauf seiner Erklärung als willige Diener eines repressiven und autoritären Staatsapparats bloßgestellt. Ein Ausschnitt daraus:</p><p><i>„Bei genauerer Betrachtung der politischen Verfahren in den vergangenen Jahren ist zwar im Strafgesetzbuch eine klare Linie der Rechtsprechung zu erkennen, jedoch nicht in den Verurteilungen. Menschen, die erstaunlich milde verurteilt wurden, trotz ihrer ablehnenden Haltungen, und Menschen, an denen ein Exempel statuiert wurde – trotz Entschuldigungen und Einigungen. […] Ich hatte irgendwie damit gerechnet, dass der Staat, der sich so sehr für sein Rechtssystem rühmt, weniger mit Willkür zu tun hat. Ich wurde eines Besseren belehrt. Die Abhängigkeiten von Polizei und Staatanwaltschaft, die Willkür in der Anklageerhebung gegen Bullen, fehlende Kontrollinstanzen auf allen Ebenen: bei der Polizei, bei der Staatanwaltschaft,</i> <i>bei gerichtlichen Gutachter_innen, in den Knästen, und auch im Maßregelungsvollzug, der ja eh sehr gerne lieber tot geschwiegen wird. Die Situation, in der ich mich gerade befinde, hat für mich nichts von einem Prozess, es ist auch kein Pokern. Es ist ein Lottospiel. Das Ganze ist historisch gewachsen: Von Staatsanwaltschaften, welche seit den Reichsjustizgesetzen 1877 Teil des Rechtssystems sind, und Richter_innen, die nahezu kaum für ihre Handlungen verurteilt wurden. Ich verweise auf das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse Artikel 131 des Grundgesetzes, durch welches mehr als 55.000 NS-Beamt_innen, die ihre Beschäftigungs- und Rentenansprüche im Zuge der „Entnazifizierung“ verloren hatten, die Rückkehr in den Staatsdienst ermöglicht wurde. Dadurch konnte sich ein strukturell menschenverachtendes und erniedrigendes System über die Grenzen des Faschismus hinaus behaupten. Und zwar in Form von erlassenen Gesetzen wie auch in den richtenden Strukturen des Strafsystems.“</i></p><p>Das treffe auch auf die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Tiergarten zu, führt Jürgen weiter aus. Er macht es an einigen Beispielen deutlich: <i>„Eine Aussage, die mir über den Staatsanwalt zugetragen wurde, der unsere Anklage erhoben hat, klang in etwa so: ‚Der Herr Storm hat da so einen Fetisch, der macht am liebsten Fußball und linke Szene und drückt eigentlich überall den Landfriedensbruch mit rein‘. Wie gesagt, ich behaupte nicht, dass es so ist, ich gebe lediglich wieder, was mir zugetragen wurde. Starkes Stück, hab‘ ich gedacht. Aber wie sich bei weiteren Recherchen herausstellen sollte, hat die Staatsanwaltschaft ohnehin keine sonderlich gute Presse zu vermerken: Der ehemalige Oberstaatsanwalt Roman Reusch ist ein AfD-Vorsitzender in Brandenburg. Seinen Sitz hatte er bis zum 1. Februar 2018. Nachdem er vermehrt aufgefordert worden war, zurückzutreten, kam er diesem Ersuchen nach, wurde Generalstaatsanwalt und in verwirrender, ekelerregender und abstoßender Weise hat dieser es nun in den Bundestag geschafft. Dort ist er Teil des parlamentarischen Kontrollgremiums, welches zuständig für die Kontrolle der drei Geheimdienste ist. Des Weiteren ist er im Ausschuss für Inneres und Heimat, ein Teil des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz und zu guter Letzt auch im Richter_innenwahlausschuss für Berlin.“</i> Aha. Noch Fragen?</p><h2><b>Rechte Sicherheitsdiskurse und Polizeigewalt</b></h2><p>Dass polizeiliche Gewalt derzeit überhaupt in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, ist unter Anderem einer im Herbst 2018 gestarteten Studie unter der Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein an der Ruhr-Uni Bochum zu verdanken. Seine Befragung mit über 1000 beteiligten Personen untersucht Polizeigewalt in Deutschland. Bislang werden jährlich rund 2000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamt_innen durch Staatsanwaltschaften bearbeitet; die Dunkelziffer der tatsächlichen Gewaltakte, so die Studie, sei aber um ein Vielfaches höher: Die ersten Hochrechnungen lassen vermuten, dass Polizeigewalt in der BRD mit bis zu 12000 vermuteten Fällen im Jahr viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Nur rund jeder fünfte Einsatz werde überhaupt angezeigt. Viele Betroffene wissen genau: Ihre Gewalterfahrung wird in einem Prozess gegen die Täter_innen für diese keine Konsequenzen nach sich ziehen. Im Schnitt werden 97 Prozent der Strafverfahren gegen Polizeibeamte eingestellt, ohne überhaupt vor Gericht zu kommen. Hauptverantwortlich, <a href="https://rp-online.de/panorama/deutschland/polizeigewalt-in-deutschland-forscher-sprechen-von-jaehrlich-10000-faellen_aid-44502861">so der Kriminologe</a>, seien die Staatsanwaltschaften, die „ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten“ wollten. Im September sollen weitere Ergebnisse der Studie veröffentlicht werden. Wahrscheinlicher als eine Verurteilung des Täters ist das Umdrehen des Spießes, wobei der_die Gewaltbetroffene plötzlich selbst als Gewalttäter_in gebrandmarkt und vor Gericht gezerrt wird. Das zeigt nicht zuletzt der brutale Übergriff auf einen Demonstranten auf dem CSD in Köln und die anschließende <a href="https://www.ksta.de/koeln/polizeigewalt-gegen-csd-besucher-staatsanwaeltin-sieht-rechtsfehler---revison-moeglich-32794052">komplette Missachtung</a> der offenkundigen Polizeigewalt durch die Staatsanwaltschaft.</p><p>Die qualitative Verschiebung der Polizeigewalt und die zunehmende Militarisierung des Polizeiapparats wurden nach dem G20-Gipfel offenkundig. Angebliche Gewalteskapaden der G20-Demonstrant_innen dienten als Vorwand, Polizeigesetze zu verschärfen oder bestehende Vorkehrungen für Betroffene von polizeilicher Gewalt, etwa die <a href="http://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/polizei-kennzeichnungspflicht-100.html">Kennzeichnungspflicht</a> in NRW, rückgängig zu machen. Zudem kam es zu <a href="https://revoltmag.org/articles/united-to-hell-g20/">etlichen Verurteilungen</a> gegen G20-Demonstrant_innen. Ihnen wurden teilweise mehrjährige Haftstrafen auferlegt. „Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit“, heißt es im Untertitel des Films „Hamburger Gitter“, welches das Medienkollektiv „leftvision“ im vergangenen Jahr in die Kinos des Landes brachte. Der Film macht den Sicherheitsdiskurs und die sicherheitspolitischen Nachwehen des Widerstands in Hamburg deutlich. Seit Mitte August 2019 kann man den Film auch <a href="https://youtu.be/6sTJChDG9Rw">frei im Netz</a> anschauen. Der Untertitel hätte ruhig auch „ein Schaufenster ewiger Polizeigewalt und ihrer rechtsstaatlichen Entsprechung“ heißen können, denn nichts anderes ist zurzeit zu beobachten.</p><p>Es ist eine breitangelegte Offensive der Sicherheitsbehörden gegen Linke und marginalisierte Gruppen, die durch den Ruf nach autoritären Law- & Order-Politiken von rechts befeuert wird. Dem Säbelrasseln von rechts wird zum einen mit der stetigen Ausweitung von Befugnissen für Sicherheitsbehörden und zum anderen mit der unerbittlichen Repression nach links Rechnung getragen. Um die herrschenden Zustände aufrechtzuerhalten, werden politische Gegner_innen kriminalisiert, sanktioniert, vereinzelt und rechtsstaatlich verfolgt. Nicht zuletzt werden sowohl Justiz als auch Polizei als Horte rechtsreaktionärer Umtriebe und faschistischer Strukturen sichtbar. Das <i>analyse & kritik-</i>Dossier „<a href="https://www.akweb.de/ak_s/ak649/33.htm">Wie rechtsradikal ist die Polizei?“</a> hat jüngst einige Fälle zusammengestellt und kommt zum Schluss: „Die Polizei ist eine Einstiegsszene in rechte Milieus und ein Verstärker rassistischer Weltbilder. Wie tief Rassismus in der Polizeiarbeit verankert ist, wird in der Öffentlichkeit nur sporadisch problematisiert“. Das muss auch in der Ausrichtung von Antirepressionsarbeit dringend mitgedacht werden.</p><h2><b>Heinis Plädoyer</b></h2><p>Mit einer Zukunftsvision einer Welt ohne Knäste kommt die Prozessrede von Jürgen zu einem Ende. Einige Zuschauer_innen klatschen. Anlass genug, die Beobachter_innen allesamt unverzüglich aus dem Gerichtssaal hinauszuwerfen. Auch die Pressevertretung darf nicht bleiben. Innerhalb weniger Minuten tummeln sich in Saal und engem Vorzimmer über 30 Bullen und Justizbeamt_innen. </p><p>Ein weiterer Moment der Selbstbehauptung vor Gericht: Der angeklagte Heini verlässt mit seinem Publikum das Gebäude: <i>„Durch meine Ladung bin ich belehrt worden, dass meine Anwesenheit nicht notwendig ist, und das gibt mir die Möglichkeit, Ihr ganzes Schauspiel nicht mitmachen zu müssen!“</i> Alles, was Richterin und Staatsanwaltschaft samt der geladenen polizeilichen „Zeug_innen“ danach besprechen, findet ohne Prozessbeobachter_innen statt. Pikant dabei: Von zwei Hauptbelastungszeugen, welche das Gericht vorlädt, hat einer entschuldigt gefehlt, ein weiterer war bis zum Moment der Saalräumung noch nicht anwesend. Es sei, so meint Jürgen, „<i>anzunehmen, dass er auch bei der Urteilsverkündung nicht anwesend war. Das macht das Urteil umso zweifelhafter</i>“. Vielleicht haben sie ja auch nur eine Runde Justiz-Lotto gespielt oder das Urteil erwürfelt, welches dem Angeklagten im Nachhinein durch einen <i>Neues Deutschland-</i><a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1124421.g-verurteilt-nach-protest-gegen-polizeigewalt.html">Zeitungsartikel</a> zugetragen wird: In Abwesenheit zu 150 Tagessätzen verurteilt. Bis zum Ende August hat Jürgen das Urteil noch nicht schriftlich erhalten. </p><hr/><p>Seit einiger Zeit ist auch der <a href="https://diedreiheinis.noblogs.org/">Soliblog</a> der Drei Heinis im Internet zu finden. Auf dem Blog sind nochmals einige vertiefende Überlegungen zur Antirepressionsarbeit und den bisherigen Prozessen zu finden. Der Gerichtsprozess des dritten Heinis findet indes am 24. September um 9 Uhr beim Amtsgericht Tiergarten statt. </p></div>
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Alles bloß Taktik?2019-08-07T15:20:11.571590+00:002019-08-07T15:20:11.571590+00:00Achim Schill, Detlef Georgia Schulze und Peter Nowakredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/alles-blo%C3%9F-taktik/
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<div class="rich-text"><p><i>Das Titelbild des Artikels zeigt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dieses Gericht wird zu einem noch nicht feststehenden Termin über die Klage entscheiden, welche die AdressatInnen der Verbotsverfügung gegen das Verbot der linken Internet-Plattform linksunten.indymedia erhoben haben. Für den Samstag vor Beginn der mündlichen Verhandlung wird für eine </i><a href="https://linksunten.soligruppe.org/call/"><i>Tag (((i))) -Demonstration</i></a><i> mobilisiert. Im Folgenden wird das Streitgespräch fortgeführt, bei dem in </i><a href="https://revoltmag.org/articles/ist-die-unterscheidung-zwischen-meinung-und-handlung-unklar/"><i>Teil eins</i></a><i> vor allem Fragen der Repression und das Verhältnis von Handlung und Meinung diskutiert wurden.</i> </p><h2>„Butter bei die Fische“: Was sagen wir dem Gericht</h2><p><b>Detlef Georgia: </b>Kommen wir im zweiten Teil doch mal zurück ins Hier und Heute. Du, Achim, meintest ja: „Taktisch und im Hinblick auf politische<i> Prozesse</i> ist es aber notwendig, die bestehenden Widersprüche (auch in den Rechtsauffassungen) auszunutzen und für möglichst große (politische) Freiheitsrechte einzutreten. […].“ Und dann sagst du weiter, sinngemäß: Selbst, wenn dies der liberalen Rechtsauffassung widerspricht, wäre es politisch falsch und gefährlich, dem bürgerlichen Staat seine ‚eigenen<i>‘</i> liberalen Rechtsgrundlagen entgegenzuhalten. Es würde Illusionen verbreiten. Vielmehr solle doch klargemacht werden, dass Rechtsprechung in der bürgerlichen Gesellschaft fast ausnahmslos einen Klassencharakter hat. Das hat für uns ja unmittelbar Relevanz: Wir diskutieren das Thema ja deshalb, weil uns die Berliner Staatsanwaltschaft beim Landgericht wegen <a href="http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/2017/08/31/linksunten-solidarisch-zu-sein-heisst-sich-dem-verbot-zu-widersetzen/">unserer <i>linksunten.indymedia</i>-solidarischen Erklärung vom 31.08.2017</a> angeklagt hat. Sagen wir dem Landgericht also: „Rein taktisch würden wir uns freuen, wenn Sie uns freisprechen. Aber in Wirklichkeit wissen wir, dass das weitgehend illusorisch ist – vor allem glauben wir selbst nicht an die juristischen Argumente, die wir beziehungsweise unsere Anwälte vortragen. Denn wir wissen, als revolutionäre MarxistInnen und Adorno-LeserInnen: ‚jegliche Rechtsprechung [hat] (oder [… hat] zumindest überwiegend) in der bürgerlichen Gesellschaft immer einen Klassencharakter’.“ – Ist <i>das</i> Dein Vorschlag für unsere Prozessstrategie? Oder ist Dein Vorschlag, im Gericht das eine und vor dem Gericht das andere zu erzählen?</p><p><b>Achim</b>: Weder noch. Im Gericht sind wir gezwungen, im Rahmen der gesetzlichen Legalität zu argumentieren – die aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum hat. Aber vor dem Gericht können wir diese gesetzliche Legalität noch in einen größeren politischen und historischen Rahmen stellen. Also etwas von beidem.</p><p><b>Peter</b>: Wir sollten vor Gericht wie auch davor sagen, dass wir mit <i>linksunten.indymedia</i> ein Medium verteidigen, in dem wir publiziert haben. Wir würden ja auch eine gedruckte Zeitung verteidigen, in der wir publiziert haben, wenn sie verboten würde. Wir bestreiten die These des Gerichts, dass wir einen verbotenen Verein unterstützen. <i>linksunten.indymedia</i> war ein Medium und kein Verein, wir kennen keinen Verein. Das würde ich vor dem Gericht, aber auch auf Veranstaltungen sagen. Da sehe ich keinen Widerspruch.</p><p><b>Achim</b>: Inhaltlich stimme ich dieser Aussage zu, würde aber noch anmerken, dass das ja nicht die These des Gerichts ist, sondern des Bundesinnenministeriums (im folgenden BMI, Anm. Red.) und folglich der Staatsanwaltschaft. Ich bin nicht sicher, ob „juristische Naivität“ (einfach zu sagen, wir haben von keinem Verein gewußt) eine gute Verteidigungsstrategie ist – will aber nicht in Abrede stellen, dass sie auch mal funktionieren könnte.</p><p><b>Detlef Georgia: </b>Das Argument von Peter wäre ja nicht, dass wir nicht wussten (juristisch gesprochen: eine Frage des subjektiven <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Tatbestand#Strafrecht">Tatbestandes</a>), dass es um einen Verein geht. Der entscheidende Punkt ist vielmehr: Wir haben uns in unserem Text vom 31.08.2017 ausschließlich zu einem Medium geäußert. Und das wäre ein Aspekt, der in Bezug auf den objektiven Tatbestand des <a href="http://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__20.html">§ 20 VereinsG</a> relevant ist, in dem es ausschließlich um Vereine, aber nicht um Medien geht. Dieses Medium, zu dem wir uns in der Tat geäußert haben, mag von einem Verein herausgegeben worden sein oder auch nicht. Mit dieser Frage (vereinsförmige HerausgeberInnen – ja oder nein?) hatten wir uns am 31.08.2017 aber gar nicht befasst.</p><p>Auf alle Fälle wussten wir, dass das BMI von Existenz eines Vereins ausgeht – aber dazu haben wir uns in unserem Text gar nicht geäußert: Erstens, weil das für uns nur ein Nebenaspekt ist. Zweitens, weil wir tatsächlich nicht wissen, wie die Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der <i>linksunten</i>-HerausgeberInnen ablief und das auch gar nicht beurteilen können. Die Hauptpunkte sind meines Erachtens Pressefreiheit und Zensurverbot, nicht der Vereins-Begriff.</p><p><b>Peter</b>: Genau so würde ich das auch sehen. Ich würde da auch nicht von einer Naivität gegenüber der Justiz sprechen, sondern vielmehr von unserer Position, die wir ihrer Position entgegensetzen. Es wäre naiv, wenn wir da von Waffengleichheit ausgehen würden, aber das tun wir alle drei nicht. Es ist aber nicht naiv, den eigenen Standpunkt offensiv auch vor Gericht zu vertreten, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir damit Erfolg haben. Das haben ja zum Beispiel die Gerichtsprozesse gegen die Bewohner*innen der Rigaer Straße 94 gezeigt.</p><h2>Rechtstheorie mit Adorno oder mit Althusser?</h2><p><b>Detlef Georgia</b>: Gut, dann vom Juristischen und Prozessstrategischen zum grundsätzlich Gesellschafts- und Staatsanalytischen. Du, Achim, schreibst in dem <a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben/">Text</a>, den wir ja zu einem der Ausgangspunkte dieses Gesprächs gemacht haben: „‚Demokratie’ unter dem ‚totalitären’ Kapitalverhältnis reduziert sich im Kern und in letzter Analyse auf den vorauseilenden (verinnerlichten) Gehorsam zur ‚Selbstverwertung’ und der Affirmation der ihr entsprechenden Bewusstseinsformen.“ Das mag Adorno so sehen, wie du durch dein einleitendes Adorno-Zitat hervorhebst. Das mögen auch andere Hegel-MarxistInnen so sehen. Mich überzeugt aber eher der Antideterminismus Althussers, der sagte, die Stunde der letzten Instanz schlage nie, sondern die letzte Instanz sei nur eine Tendenz <b>[1]</b>. Und zwei Hinweise von Lenin:</p><p>Hinweis 1: „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.“ <b>[2]</b>. In der wirklichen Geschichte gibt es – anders als vor Gericht – <i>nie</i> eine letzte Instanz; Revision und Berufung bleiben immer möglich. Auf eine Revolution kann die Konterrevolution folgen, aber auch nach-revolutionäre Übergangsgesellschaften, die sich wirklich in Richtung Kommunismus bewegen, bleiben – trotz aller Tristesse – möglich (ohne auch nur annährend garantiert zu sein).</p><p>Hinweis 2: „Identität der Gegensätze (vielleicht richtiger: deren ‚Einheit’? […]) bedeutet Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, <i>einander ausschließender</i>, gegensätzlicher Tendenzen in <i>allen</i> Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft).“ <b>[3]</b> Ergo: Wir haben es nicht mit einer homogenen Totalität, sondern – mit Althusser gesprochen – mit einem „komplex, strukturierten Ganzen“ <b>[4]</b> zu tun, das aus verschiedenen „Instanzen“ mit je „eigene[r] Konsistenz und Wirksamkeit“ <b>[5]</b> besteht.</p><p><b>Achim</b>: Mir war selbst nicht ganz wohl bei der Formulierung dieses Satzes. Er übertönt zu sehr die Tatsache, dass das Kräfteverhältnis ständig neu diskursiv ausgehandelt werden muss. Es ist also ein bisschen reduktionistisch – aber Überspitzungen können ja auch Erkenntnisse hervorrufen. Es wird dich vielleicht überraschen, Detlef Georgia, aber ich bin näher bei deinem (und Althussers) ‚Anti-determinismus’ als bei irgendwelchen ‚historischen Gesetzmäßigkeiten’. Für mich ist letzteres eher ein falsch verstandener [Vulgär]Marxismus. Gleichzeitig kann ich eben auch nicht (mehr) ignorieren, dass die strukturellen Zwänge quasi wie ein historischer Determinismus wirken. Sie kommen mir übermächtig vor, und die politische Linke wirkt immer schwächer und hilfloser. Sie zerlegt sich in gefühlt tausende Fraktionen und Unterfraktionen. Vielleicht ist das die Kehrseite dieser Schwäche.</p><h2><b>Über bürgerliches Recht</b></h2><p><b>Detlef Georgia</b>: Noch etwas Rechtstheoretisches: Achim, du zitierst in dem erwähnten Text Adorno mit den Worten: „Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über den selben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub.“ <b>[6]</b> Im Ernst? Das – im Grundsatz – gleiche Recht des bürgerlichen Staates ist <i>schlimmer</i> als das – von vornherein – ungleiche Recht des Feudalstaates und des Staates von SklavInnenhalterInnen-Gesellschaften? Ich würde demgegenüber sagen: Das ungleiche, vor-bürgerliche Recht <i>verdoppelte</i> die herrschaftlichen und ausbeuterischen (‚ungleichen’) gesellschaftlichen Verhältnisse; das gleiche, bürgerliche Recht hebt sie zwar nicht auf, aber <i>relativiert</i> sie. </p><p><b>Achim</b>: Ich würde das bürgerliche Recht nicht mit dem Recht in Feudalgesellschaften vergleichen wollen. Eher mit ‚postkapitalistischen’ Gesellschaften, und auch nur in diesem Kontext ergibt meines Erachtens die Kritik von Adorno einen (historischen) Sinn. ansonsten bin ich ganz bei Marx und seiner Rechtskritik aus der Kritik am Gothaer Programm. <b>[7]</b> </p><p><b>Detlef Georgia: </b>Einerseits schiebst Du den <i>„</i>ich kann halt nicht (mehr) ignorieren, dass sich die Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren zunehmend zu Ungunsten der politischen Linken entwickelt haben<i>“</i>-Blues; andererseits erschlägst Du die Verteidigung des liberalen Strafrechts – als kleineres Übel – gegenüber Gesinnungsstrafrecht mit Hinweis auf die Überwindung der Rechtsform im Kommunismus zweiter Phase. Wo bleibt denn da Lenins Einsicht, dass „die Form der Unterdrückung“ nicht gleichgültig ist, wie aber „manche Anarchisten ‚lehren’. Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebung der Klassen überhaupt.“ <b>[8]</b> </p><p><b>Achim</b>: Ich spiele nicht beides gegeneinander aus. Ich weiß sehr wohl, dass wir von jeglicher „Übergangsgesellschaft“ sehr weit entfernt sind. Neben der notwendigen Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte muss meiner Ansicht nach auch ein gewisser „Linker Rechtsfetischmus“ (der aber eher ein Problem des reformistischen Spektrums ist) kritisiert werden. Das war dann in meinem Artikel eben ein allgemeinerer Beitrag zur „marxistischen Staats- und Rechtstheorie“, der nicht direkt mit unserem Verfahren zu tun hatte. </p><h2><b>„Klassencharakter“ und „Klassenwiderspruch“ im Rechts- und im Justizsystem</b></h2><p><b>Detlef Georgia: </b>Ich möchte noch einen dritten rechtstheoretischen Punkt ansprechen. Achim schreibt: „Man muss dazu sagen, dass erst die bürgerliche Gesellschaft die Individuen als ‚Rechtssubjekte’ geschaffen hat. Sie haben aber nur insofern Rechte, wie sie [<i>abstrakt</i> gleiche] Eigentümer von Waren sind; und sei es die Ware Arbeitskraft. Kapitalistische Ökonomie und Rechtsverhältnisse sind die zwei Seiten derselben Medaille: die ‚bürgerliche’ Vergesellschaftung (‚Synthese’).“ Ist das wirklich so? Ist bürgerliches Recht ausschließlich Zivil- (oder noch enger: Vertrags)recht? </p><p><b>Achim</b>: natürlich gibt es auch politische (Freiheits)rechte, aber immer nur so lange, wie sie systemkompatibel sind. Und natürlich ist bürgerliche Demokratie besser als Faschismus. Aber letztlich ist es entscheidend, dass die sozialen Interessengegensätze nicht innerhalb der bürgerlichen Systemgrenzen befriedet werden können, zumindest nicht in langfristiger historischer Perspektive. Die bürgerliche Demokratie ist daher keine „Etappe“, sondern eine (andere) Kampfbedingung für die emanzipatorischen Kräfte.</p><p><b>Peter</b>: Gerade, wenn wir nicht nur von einen Klassenwiderspruch, sondern auch von einer patriarchalen und rassistischen Unterdrückung in unseren Gesellschaften ausgehen, müssen wir die Rechte genauer anschauen. Tatsächlich gab es in den letzten 20 Jahren in der deutschen Gesellschaft mehr Rechte für Schwule, Transpersonen und so weiter als zuvor. Die greifen sicher den Kapitalismus nicht an, aber das Argument würde ja unterschlagen, dass es aber noch andere Unterdrückungsformen gibt. Diese werden durch die neuen Rechte sicher nicht abgeschafft, aber zurückgedrängt.</p><p><b>Achim</b>: Mir geht es aber vor allem um den Klassenwiderspruch in der Form, wie er in der marxistischen Staatstheorie vorkommt. Andere Unterdrückungsformen sind Themen, die diskutiert gehören, keine Frage. Für die heutige Auseinandersetzung sollten wir sie aber erst einmal ausklammern wie die Fragen nach Rechtspopulismus und Faschismus auch. Das Ganze wird sonst zu unübersichtlich und überfrachtet. Es ist jetzt schon kompliziert genug! </p><p><b>Peter</b>: Ich würde die Unterdrückungsverhältnisse Rassismus und Patriachat nicht wie Rechtspopulismus/Faschismus behandeln. Sie sind ja mit der Klassenunterdrückung verbunden, aber durchaus eigenständig, was sich schon daran zeigt, dass es sie in anderer Form bereits vor dem Kapitalismus gab und sie mit ihm auch nicht automatisch enden. Zudem haben viele <i>Indymedia</i>-AutorInnen Patriarchat und Rassismus in ihren Texten thematisiert. Aber ich bin einverstanden, dass wir das Thema hier nicht vertiefen müssen.</p><p><b>Detlef Georgia: </b>Ich kann mir aber schon jetzt nicht verkneifen zu sagen: Bei <i>linksunten.indymedia</i> mögen sich viele AutorInnen als AntikapitalistInnen verstanden haben – sei es als KonsumkritikerInnen, UmweltschützerInnen, WertkritikerInnen und KritikerInnen des „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ und so weiter. Aber dieser Antikapitalismus war eher selten aus einer marxistischen Klassenanalyse heraus entwickelt. Auch deshalb scheint es mir nicht gerade naheliegend zu sein, das <i>linksunten.indymedia-</i>Verbot aus dem „Klassencharakter“ des Staates „abzuleiten“. – Wäre der deutsche Staat ein Deut weniger bürgerlich, wenn <i>linksunten.indymedia</i> <i>nicht</i> verboten worden wäre oder wenn es <i>kein</i> Strafverfahren gegen uns gäbe? </p><p>Bei unserem Strafverfahren geht nicht darum, die „sozialen Interessengegensätze“ zu lösen, sondern – implizit – um die etwas bescheidenere Frage, ob die ModeratorInnen von linksunten.indymedia weiterhin ihre Internet-Zeitung betreiben dürfen. Und um die noch bescheidenere Frage, ob wir unsere ablehnende Meinung zu dem – vom Bundesinnenministerium ausgesprochenen – Verbot äußern und diese Haltung mit einem Ausschnitt aus der Verbotsverfügung, der unter anderem das Logo der verbotenen Zeitung enthält, bebildern dürfen. Das ist doch von einer bürgerlichen Demokratie nicht zu viel verlangt, und es rüttelt auch nicht an der Systemgrenze. Oder doch? Daher noch mal zurück zur Frage vom Anfang und der Butter bei den Fischen.</p><h2>Was sagen wir dem Gericht?</h2><p><b>Peter</b>: Genau das ist der Gegenstand unserer Initiative: Dass es nicht zu viel von einer bürgerlichen Demokratie verlangt ist, dass <i>linksunten.indymedia</i> wieder erscheinen darf, und wir unsere Kritik an dem aktuellen Verbot äußern und – wie getan – bebildern dürfen.</p><p><b>Achim</b>: Wir bedienen eine Doppelstrategie, wie ich sie oben ausgeführt habe.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Es ist also okay, wenn wir uns gegen das Verbot von <i>linksunten.indymedia</i> und für unsere eigene Meinungsäußerung auf Artikel 5 Grundgesetz und einige Feinheiten des § 20 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 Vereinsgesetz (<a href="http://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__20.html">Zuwiderhandlung gegen Vereinsverbote</a>) berufen? Falls ja: Was ist dann als Differenz(en) zwischen uns noch übriggeblieben?</p><p><b>Achim</b>: Vielleicht, dass ich weniger Vertrauen in die „Liberalität“ des bürgerlichen Staates habe als du.</p><p><b>Peter</b>: Ich denke, wir alle drei haben kein großes Vertrauen in die Liberalität des bürgerlichen Staates, nur ist der Liberalismus nun mal dessen Geschäftsgrundlage. Wenn es in Deutschland eine so große Kampagne zum <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Tag_der_Pressefreiheit">Tag der Pressefreiheit</a> (3. Mai) gibt, die die Einschränkungen der Pressefreiheit natürlich überall nur nicht in Deutschland sieht, ist es unsere Aufgabe, deutlich zu machen, dass es auch in Deutschland so gut damit nicht bestellt ist. Da passt ja das (((i)))-Verfahren gut.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Ja, auch ich würde weiterhin nicht sagen, dass ich besonders vertrauensselig bin. In dem weiteren <a href="http://tap2folge.blogsport.eu/2019/05/07/nicht-nur-linksunten-einige-beispiele-in-denen-es-sich-definitiv-um-vereine-handelt/">diskussionsauslösenden Text</a> zeige und kritisiere ich ja gerade, dass das Bundesverfassungsgericht in dem dort behandelten Fall den ideologisch-diskursiven Staatsschutz der Meinungsäußerungsfreiheit übergeordnet hat. Auch wenn wir keine KBW-SympathisantInnen <b>[9]</b> sind, und es den KBW auch schon längst nicht mehr gibt und unser Text um ein ganz anderes Thema geht als die Artikel und Flugblätter, um die es in der damaligen Verfassungsgerichtsentscheidung ging: Die damalige BVerfG-Entscheidung zum Maßstab zu nehmen, hieße damit zu rechnen, dass die Gerichte auch in unserem Fall (und im Fall von <i>linksunten.indymedia</i> selbst) den ideologisch-diskursiven Staatsschutz über die Meinungsäußerungsfreiheit stellen. Aber das heißt ja nicht, dass sich dagegen keine Argumente vorbringen lassen. Falls sie nicht die zuständigen Gerichte überzeugen, sensibilisieren sie vielleicht zumindest einen Teil der Öffentlichkeit für das Problem.</p><p><b>Achim</b>: Ich habe da eher geringe Hoffnungen. Das stärkste Argument für eine breitere Sensibilisierung scheint mir zu sein, dass das Aushebeln der Pressefreiheit über das Vereinsrecht potentiell alle Medien betreffen kann. Da sollten eigentlich die Alarmglocken schrillen; insbesondere im Angesicht der geschichtlichen Vergangenheit des Landes.</p><p></p><hr/><h2><b>Anmerkungen</b></h2><p><b>[1]</b> „die ökonomische Dialektik [bringt sich] einfach niemals im reinen Zustand zur Geltung […], […] man [kann] in der Geschichte niemals sehen […], wie etwa diese [anderen] Instanzen, die Überbauten, respektvoll Platz machen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben (oder sich einfach auflösen, wie ein reines Phänomen), um ihre Majestät die Ökonomie auf dem Königsweg der Dialektik allein voranschreiten zu lassen, weil ihre Zeit gekommen ist. Die einsame Stunde der ‚letzten Instanz’ schlägt niemals, weder im ersten noch im letzten Augenblick.“ (Louis Althusser, <i>Für Marx</i>, Suhrkamp: Berlin, 2011, S. 139)</p><p><b>[2]</b> <a href="http://kpd-ml.org/doc/lenin/LW38.pdf">LW 38</a>, S. 339.</p><p><b>[3]</b> ebd. S. 338, Herv. i.O.</p><p><b>[4]</b> Althusser, a.a.O. (FN 2), S. 243.</p><p><b>[5]</b> ebd., S. 111, s.a. 137: „relative Autonomie der Überbauten und ihre spezifische Wirksamkeit“.</p><p><b>[6]</b> GS 6, 304 zit. n. Eugen Paschukanis, <a href="http://kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Eugen_Paschukanis_-_Allgemeine_Rechtslehre_und_Marxismus.pdf"><i>Allgemeine Rechtslehre und Marxismus</i></a>, S. 7.</p><p><b>[7]</b> <i>Kritik des Gothaer Programms</i>; <a href="http://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band19.pdf">MEW 19</a>, 20 f.: </p><p>„Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“</p><p><b>[8]</b> <a href="http://kpd-ml.org/doc/lenin/LW25.pdf">LW 25</a>, S. 467.</p><p><b>[9]</b> = <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistischer_Bund_Westdeutschland">Kommunistischer Bund Westdeutschlands</a>. Die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf Flugblätter und Zeitungsartikel der dem KBW nahestehenden Antimilitaristischen Gruppe Delmenhorst. </p></div>
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Ist die Unterscheidung zwischen Meinung und Handlung unklar?2019-07-28T12:27:18.101862+00:002019-07-28T12:33:03.593811+00:00Achim Schill, Detlef Georgia Schulze und Peter Nowakredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ist-die-unterscheidung-zwischen-meinung-und-handlung-unklar/
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<div class="rich-text"><p><i>Im Sommer 2017 wird die Internetplattform linksunten.indymedia verboten und damit assoziierte Personen – vor allem in der Region Freiburg – mit staatlicher Repression überzogen. Die Solidarität innerhalb der linken und linksradikalen Szene ist zunächst groß. Auch Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze zeigen sich in einer Erklärung mit dem Medienportal und ihren Betreiber_innen solidarisch: Ihr Aufruf, der wenige Tage nach dem Verbot erscheint, ist mit „Solidarisch zu sein, heißt: sich dem Verbot zu widersetzen“ überschrieben; sie fordern darin, die Beiträge der Plattform wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Erklärung ist mit einem Ausschnitt aus der Verbotsverfügung des Innenministeriums bebildert, der seinerseits das bekannten Logo von linksunten.indymedia enthält - den Buchstabe I, von jeweils drei schallwellenartigen Klammern auf jeder Seite umrandet. Ein Jahr später erhalten die drei Post: Die Berliner Staatsanwaltschaft legt ihnen diese Bebilderung als Verwendung eines Kennzeichens einer verbotenen Vereinigung aus; den Inhalt der Erklärung als Unterstützung ebenjenes Vereins. Derzeit läuft das Verfahren. Anlass genug für Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze, in einer zweiteiligen Reihe ausgiebig über den Unterschied von Meinungsäußerungen und (anderen) Handlungen zu diskutieren</i> <b>[1].</b></p><p></p><p><b>Achim (an Detlef Georgia gewandt):</b> Du hattest im Zusammenhang mit einer Presseerklärung kürzlich einen Text dreier, damals allesamt radikaldemokratischer, Juristen zitiert. Die Autoren forderten, „die tradierte liberale Unterscheidung von Meinen und Handeln [...] wiederzubeleben: Der ‚Wert’ einer Meinung, eines Kunstwerks, einer politischen Aktivität etc. ist prinzipiell nicht vom Staat, und das heißt eben auch nicht von einem Gericht nachzuwiegen“. Du selbst hast anschließend an dieses Zitat <a href="http://tap2folge.blogsport.eu/2019/05/07/nicht-nur-linksunten-einige-beispiele-in-denen-es-sich-definitiv-um-vereine-handelt">formuliert</a>: „Dieses Postulat bleibt um den <a href="https://twitter.com/analysekritik/status/1124253148087050242">25. Internationalen Tag der Pressefreiheit</a> herum auch in Deutschland weiterhin ein Desiderat“ – also etwas Erwünschtes, das fehlt. Dem möchte ich entgegensetzen: „Tatsächlich muss man dem ‚bürgerlichen’ Gesetzgeber zu Gute halten, dass die Trennung von ‚Meinung’ und ‚Handlung’ nicht so hermetisch ist, wie es vielleicht die liberale Tradition postuliert. Zwar mag diese liberale Trennung <i>gut gemeint</i> sein, aber politisch ist sie eher ‚naiv'.“</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Inwiefern ist diese Unterscheidung Deines Erachtens unklar? Ist der Unterschied zwischen den, möglicherweise als beleidigende Meinungsäußerungen zu wertenden, Sätzen „Du bist ein Miststück“ oder „Du bist eine elende Charaktermaske des Kapitals“ einerseits und der Abgabe eines Schusses auf Herz oder Kopf der gemeinten Person andererseits nicht ein ziemlich deutlicher Unterschied? Genauso der Unterschied zwischen einem Steinwurf und der Rechtfertigung eines Steinwurfs?</p><p><b>Achim:</b> Zum einen gibt es natürlich einen Unterschied zwischen einer mentalen Verfassung und der Tat (das heißt der Ausführung). Aber es lässt sich doch nicht leugnen, dass die mentale Verfassung schlussendlich zur Tat führt, oder jedenfalls eine Voraussetzung der Tat darstellt. Nicht zufällig wird ja zum Beispiel beim Tatbestand des Mords nach den „(niedrigen) Beweggründen“ gefragt, die dann erst den Tatbestand erfüllen.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Da möchte ich einhaken. Abgesehen davon, dass die „niederen Beweggründe“ und die anderen heutigen Kriterien für Mord erst von den Nazis eingeführt wurden <b>[2]</b>; also nicht dem klassisch liberalen Strafrecht zuzurechnen sind <b>[3]</b>: Findest Du nicht, dass es ein fundamentaler Unterschied ist, ob bloß beim Strafmaß für eine <i>Tat</i>, die tatsächlich stattgefunden und bei irgendeiner Person einen materiellen (körperlichen oder finanziellen) Schaden verursacht hat, die die Beweggründe des Tuns (das Motiv) berücksichtigt werden, oder aber ob eine bloße <i>Absicht</i>, die eventuell gar nicht zu einer Tat, und damit weder zu einem körperlichen, noch zu einem finanziellen Schaden, führte, bestraft, also zum Strafgrund<b>,</b> gemacht wird? Würdest Du nicht zustimmen, dass, solange es überhaupt Recht und Strafjustiz gibt, der Unterschied zwischen Täter- und Gesinnungsstrafrecht einerseits und Tatstrafrecht andererseits nicht nur etwas ist, was von Linken in der Situation der Defensive aus Eigeninteresse zu verteidigen ist, sondern auch für das Strafrecht einer sozialistischen Übergangsgesellschaft von fundamentaler Bedeutung ist? Ist da nicht folglich auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Herrschaft etwas gründlich schiefgegangen, wenn Übergangsgesellschaften, die dem Anspruch nach „sozialistisch“ waren, jahrzehntelang Gesinnungsstrafrecht als geltendes Recht hatten und anwandten?</p><p><b>Peter:</b> Du verweist mit dem letzten Satz unter anderem auf die Zeit und Rechtsprechung in der Sowjetunion. Der erste Kommissar für Justiz in der Sowjetunion war Isaac Steinberg von den linken Sozialrevolutionären. Er hatte durchaus Vorstellungen einer <a href="https://www.academia.edu/22628428/Isaak_Nachman_Steinberg_Als_ich_Volkskommissar_war_oder_Eine_soziale_Revolution_die_die_Rechte_ihrer_Klassengegner_verteidigt_das_w%C3%A4re_eine_gro%C3%9Fe_moralische_Lehre_der_Menschlichkeit_gewesen_1">sozialistischen Justiz</a>, die nicht einfach die kapitalistische Unterdrückung nur unter umgekehrten Vorzeichen praktizieren wollte. Es gab auch bei den Bolschewiki am Anfang Widerstand gegen die Fortsetzung der alten Unterdrückung unter neuem Vorzeichen. So wurde zunächst die Todesstrafe abgeschafft. Statt Strafe sollte Resozialisierung vor allem von Menschen der Arbeiter*innenkasse im Mittelpunkt stehen. Das war auch in den ersten Jahren der Sowjetunion Praxis, wurde aber dann mit der stalinschen Konterrevolution über Bord geworfen.</p><p><b>Achim:</b> Ja, schon. Vielleicht kommen wir trotzdem noch mal zurück zum bürgerlichen Staat. Zumindest wäre es verwunderlich, wenn der bürgerliche Staat nicht so handeln würde, wie er handelt. Genau darin, eben darüber verwundert oder „entsetzt“ zu sein, besteht die „Naivität“ und Illusion des auch links auftretenden „Rechtsfetischismus“ (also: die Betrachtung von Rechtsnormen als etwas Absolutes/Unverrückbares – statt sie in ihrer historischen Bedindigtheit [und auch als situativ] zu verstehen). Auch das gehört zur Realität des Klassenkampfs: dass die Gegner*innen (immer) „gemein“ sind. Aber vielleicht geht mir da auch meine leninistische Taktiererei durch. Meines Erachtens ist das ein positiver Aspekt des „leninistischen Realismus“. Er bewahrt einen vor unnötigen Enttäuschungen.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Was ist denn <i>das</i> Interesse <i>des</i> bürgerlichen Staats? Wenn wir, da wir in den Kopf oder die Seele des bürgerlichen Staates nicht hineinsehen können, das Interesse des bürgerlichen Staates aus seiner Praxis folgern, dann scheint es nicht so zu sein, dass es immer im Interesse des bürgerlichen Staates ist, auf alles, was sich dissident regt, am härtest Möglichen einzuschlagen. Und wenn der Staat nicht auf alles einschlägt, dann ist das nicht immer das Resultat des Widerstandes der proletarischen Massen. Es scheint doch vielmehr so zu sein, dass auch innerhalb der herrschenden Klasse <i>umstritten</i> ist, was das richtige „Interesse“ oder die richtige Strategie ist. Und es scheint auch so zu sein, dass <i>nicht immer</i> das, was die jeweils hegemoniale Fraktion in den Staatsapparaten und den herrschenden gesellschaftlichen Gruppen als ihr „Interesse“ ansieht, das <i>aller</i>schlechteste für die Ausgebeuteten und Beherrschten ist. <b>[4]</b> Oder anders gesagt: Wenn die Repression mal wieder besonders hart zuschlägt, dies allein aus „dem Klasseninteresse“ zu erklären, scheint mir eine Pseudo-Rationalisierung zu sein, die in Wirklichkeit nichts, weder die Konfliktdynamik, noch die Kräfteverhältnisse erklärt.</p><p><b>Achim:</b> Dem stimme ich zu. Die „herrschende Klasse“ ist natürlich fraktioniert und kein homogener Block. Aber der Staat ist der ideelle Gesamtkapitalist (wie es Engels es seinem Anti-Dühring [5] ausdrückte), und die vorherrschende Staatslinie ist quasi das „durchschnittliche Gesamtinteresse“ des Kapitals. Das ist natürlich auch diskursiv umkämpft. Dieses durchschnittliche Gesamtinteresse des Kapitals scheint mir derzeit stark nach rechts zu gehen. Nicht, weil der linke Widerstand, trotz der Stärke bei G20 zum Beispiel, insgesamt so stark wäre, sondern weil das Kapital seine Privilegien selbst gegen mögliche Alternativen absichern will. Historisch ist das natürlich ziemlich aussichtslos. Aber darin zeigt sich auch das stark irrationale Moment in bürgerlichen Gesellschaften.</p><h2>Die Realgeschichte der Politischen Justiz in Deutschland</h2><p><b>Achim:</b> Das zweite Argument, das ich vorbringen wollte, lautet: Die Realgeschichte der Politischen Justiz in Deutschland zeigt, dass die Gesinnung unterschiedlich gewichtet wurde und wird. Dass die „Feinde links stehen“, ist dem bürgerlichen Staat durchaus bewusst. Und er hat ja auch „recht“ damit.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Das bestreite ich gar nicht. Diese Realgeschichte ist doch vielmehr gerade Gegenstand meiner politischen und, soweit Meinungsfreiheit und Zensurverbot reichen, auch juristischen Kritik.</p><p><b>Achim:</b> Mir geht es aber darum, die Grenzen dieser Kritik aufzuzeigen.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Was folgt aber denn aus diesen „Grenzen“? Du stehst links. Der vom bürgerlichen Staat identifizierte Staatsfeind steht logischerweise links. Gesinnungsjustiz ist seit Jahrzehnten Realität. Du hast keiner Person auch nur ein Härchen gekrümmt, sondern mit Peter und mir Deine Gesinnung geäußert. Also ist es zwar alles andere als angenehm, aber folgerichtig, dass du verurteilt wirst?</p><p><b>Achim:</b> Ich hoffe, das ist eine rhetorische Frage. Natürlich habe ich keinen Bock, für dieses „Verbrechen“ bestraft zu werden. Aber ich mache mir eben auch nicht viele Illusionen über den bürgerlichen Justizbetrieb. Ich weiß auch nicht, wie unsere Chancen stehen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn versucht würde, uns einen Denkzettel zu verpassen. Vielleicht will ich mich einfach auf dieses mögliche Ergebnis mental einstellen.</p><p><b>Peter:</b> Natürlich drückt sich auch in der Justiz das Klasseninteresse des Staates aus. Aber eben nicht so bruchlos, wie es sich bei Achim anhört. Die Gewaltenteilung ist ja mehr als ein theoretisches Konstrukt. Sie funktioniert und hat auch Vorteile für den bürgerlichen Staat. Als 2016 der Konflikt um die Rigaer Straße 94 und die Räumung mehrerer Räume dort eine große Solidaritätswelle der Nachbarschaft hervorrief, entschied ein Gericht, dass die Räumung rechtswidrig sei. Die Bewohner*innen konnten sie unter großem Jubel der Anwohner*innen wieder in Besitz nehmen. Der rechte CDU-Innensenator war einerseits der Verlierer. Andererseits konnte er sagen, dass hier eben die Justiz entschieden habe. Als Demokrat habe er das zu akzeptieren. Hier wird die Funktion der Justiz gerade nicht als blinder Vollstecker von Klasseninteressen deutlich. Die Justiz hat im bürgerlichen Sinne einen Konflikt entschärft, der von der Politik auf die Spitze getrieben worden war. So kann die Justiz, gerade weil sie nicht einfach Kapitalinteressen oder die Interessen der Politik exekutiert, zum bürgerlichen Gesamtinteresse beitragen. Staaten, wo die Politik direkt in die Justiz hineinregiert, wie beispielhaft aktuell in der Türkei, sind viel instabiler. Solche Fälle wie in der Rigaer Straße gibt es immer wieder. Das bedeutet in unserem Fall, dass es überhaupt keine Prognose gibt, wie das ausgehen wird. Das wäre reine Kaffeesatzleserei. Aber eine verstärkte Solidarität kann mit dazu beitragen, dass wir schlussendlich nicht verurteilt werden.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Ich möchte nochmal kurz auf Achims Punkt eingehen. Dagegen, sich vorsichtshalber auf das Schlimmste einzustellen, will ich gar nichts sagen. Aber daraus ergibt sich ja noch keine Strategie, um zumindest das Schlimmste zu verhindern und vielleicht sogar noch mehr zu erreichen. Du schreibst doch selbst, dass die <a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben">„politische Justiz, namentlich in Deutschland</a> <a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben">[…]</a> <a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben">durchaus unterschiedliche Ausprägungsphasen hatte“</a>. Da kommen weitere Fragen auf: Lässt sich das von Linken beeinflussen – oder bedeutet jeder Versuch, dies zu beeinflussen, nur Opportunismus? Bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob die Herrschenden gerade gute Laune haben oder gerade besonders bösartig sind? Bleibt uns nur, darauf zu hoffen, dass eine Revolution lieber früher als später die linken politischen Gefangenen befreit?</p><p><b>Achim:</b> Beeinflussungsversuche sind notwendig. Aber ich kann nicht mehr ignorieren, dass sich die Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren zunehmend zu Ungunsten der politischen Linken entwickelt haben. Die Gründe dafür mögen vielfältig und komplex sein. Aber ich sehe derzeit wenig Grund zu Optimismus.</p><p><b>Peter:</b> Trotzdem gibt es, auch unter den insgesamt für Linke ungünstigen Kräfteverhältnissen, immer wieder Urteile, die für die Linke eher positiv ausfallen. Wie eben das oben genannte Beispiel Rigaer Straße 94. Man muss immer auch den Einzelfall sehen. Es gibt ja keine Generalstrategie für die Justiz, die in einem Ministerium ausgeheckt wird. Gerade beim <i>indymedia.linksunten</i>-Verfahren ist festzustellen, dass das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung über die Klage gegen das Verbot auf die lange Bank geschoben hat. Das kann auch daran liegen, dass das Gericht seine Urteile auch mit dem europäischen Recht abgleichen muss. Da wird das Verfahren ja letztlich enden; das Freiburger und das von uns. Wir müssen also einen langen Atem haben. Gäbe es eine größere Solidaritätsbewegung, zum Beispiel durch Unterschriften unter unseren Aufruf, wäre wahrscheinlich auch unser Verfahren schon längst eingestellt. Dabei denke ich, dass die derzeitige linke Inaktivität in Bezug auf das Verbot von <i>indymedia.linksunten</i> nicht daher rührt, dass nicht an die Beeinflussung der Justiz geglaubt wird, sondern an politischer Schwäche.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Ich sehe tatsächlich auch „wenig Grund zu Optimismus“. Es ist doch aber eine ganze andere Kritikebene, ob du – wie Achim – sagst: „Ich halte für unwahrscheinlich, dass du das Landgericht von deiner Rechtsauffassung überzeugen wirst“. Dieser These würde ich sofort zustimmen. Oder aber ob du sagst: „Deine Argumentation, dem bürgerlichen Staat seine ‚eigenen<i>‘</i> liberalen Rechtsgrundlagen entgegen zu halten, ist letztlich falsch und gefährlich, weil es Illusionen verbreitet“. Letzterer These stimme ich <i>nicht</i> zu, sondern antworte darauf: Illusionen würde ich verbreiten, wenn ich mit großen Erfolgsversprechen hausieren gehen würde. Das mache ich aber nicht. Vielmehr steht in dem diskussionsauslösenden Text (zum <a href="http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__89.html">StGB-Paragraphen über „</a><a href="http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__89.html">Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr</a><a href="http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__89.html">“</a>), dass das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen Gesinnungsstrafrecht für verfassungsgemäß hält, was das BVerfG allerdings logischerweise <i>so</i> nicht ausdrückt. Das ist doch wohl kein Anlass, um in optimistische Stimmung zu verfallen.</p><p>Unzutreffend wäre meine Argumentation nur dann, wenn sich Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht offensiv zum Gesinnungsstrafrecht bekennen würden. Um ein Beispiel zu geben: Vom NS-Staat ein liberales Strafrecht zu fordern, wäre genauso Unsinn gewesen, wie es Unsinn ist, von bürgerlichen Staaten den Kommunismus zu fordern. Aber der BRD-Fall liegt ja nun doch ein ganzes Stück anders, als der NS-Fall. Durch die so genannte <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Reichstagsbrandverordnung#%C2%A7_1">Reichstagsbrandverordnung</a> Hindenburgs vom Februar 1933 wurde unter anderem die Meinungsfreiheit „bis auf weiteres außer Kraft“ gesetzt. Dagegen lautet <a href="http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html">Artikel 5 Grundgesetz</a> ziemlich ähnlich wie der <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Verfassung_des_Deutschen_Reichs_(1919)#Artikel_118">Artikel 118 der Weimarer Verfassung</a>, der dadurch außer Kraft gesetzt wurde. Das ist doch wohl ein Unterschied, auf den sich bezogen werden kann, <i>ohne</i> opportunistisch zu sein, oder nicht?</p><p><b>Achim:</b> Ich habe nichts gegen die Verteidigung liberaler Rechtsprinzipien. Ich habe nur nicht viel Vertrauen darin, dass sich die Realität von Klassenkämpfen, wozu auch der ideologische Kampf gehört, an moralische und rechtliche Prinzipien hält. Auch wenn mich diese Erkenntnis nicht gerade erfreut. Ich bin in dieser Hinsicht eher ein „naiver“ und recht wohl behütet aufgewachsener Mensch, der auch nicht gerne Illusionen aufgibt zugunsten der „harten Wirklichkeit“.</p><p><b>Detlef Georgia:</b> Sind denn liberale Rechtsprinzipien einfach nur „moralisch“ beziehungsweise eine zeitweilig gespendete Großzügigkeit? Stehen denn nicht auch die liberalen Rechtsprinzipien in einem, wenn auch gewiss nicht geradlinigen, Verhältnis zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen? Ich meine ohne, dass liberale Rechtsprinzipien, solange es überhaupt Recht gibt, deshalb zu verwerfen wären?</p><p><b>Achim:</b> Ich denke, die „Liberalität“ ist einerseits abhängig von den politischen Kräfteverhältnissen, aber andererseits auch von der Funktionsweise der Ökonomie. Rein von der Kapitallogik ist „Freiheit“ immer besser als Zwang und Regulation. Aber politisch ist ein gehöriges Maß an Regulation erforderlich. Nicht nur auf Grund des Auftretens von sozialer Oppositionsbewegungen, sondern auch, weil das gesellschaftliche, arbeitsteilige Zusammenwirken niemals komplett selbstgesteuert funktionieren kann. Dieses Problem würde natürlich auch für post-kapitalistische Gesellschaften zutreffen. Grundsätzlich denke ich, dass es <i>immer</i> einen Kampf oder Interessenskonflikt zwischen liberalen und eher regulativen Tendenzen im Staatsapparat geben wird.</p><p><b>Peter:</b> Ich würde den Begriff des Liberalismus von seiner moralischen Aufladung trennen und bin tatsächlich der Auffassung, dass er ganz genau zum Kapitalismus passt und nicht nur Ideologie ist.</p><h2>Sozialdemokratie – rechtsfetischistisch oder mordlustig?</h2><p><b>Detlef Georgia:</b> Ich möchte noch auf einen Punkt aus Achims Kritik-Artikel zurückkommen. Du hältst dort meiner These, „Soweit das geltende Recht einen reformerisch richtigen Inhalt hat, ist es unbedingt richtig und notwendig, den bestehenden Staat beim Wort zu nehmen“, folgende Anti-These entgegen<i>:</i> „Die Kritik des Illusionären besteht genau darin, zu denken, dass der ‚reformerisch richtige Inhalt’ in Stein gemeißelt sei. Denn das ist nichts weiter als ‚Rechtsfetischismus’ (als [unkritische] ‚Ergänzung’ zum ‚Wertfetisch’). Die sozialdemokratischen Parlamentarier in Hitlers Gefängnissen und Konzentrationslagern hätte davon sicherlich ein Lied singen können.“</p><p>Darauf möchte ich wie folgt antworten: Dass der ‚reformerisch richtige Inhalt’ in Stein gemeißelt sei, sagen ja nun weder ich noch meine drei Referenzautoren. Auch den meisten Sozialdemokrat*innen dürfte damals wie heute bewusst sein, dass Gesetze geändert werden können. Also abgesehen davon, dass schon seit Beginn der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidialkabinett">Präsidialdikaturen</a> Parlamentarismus und „civil rights and liberties“ in der sterbenden Weimarer Republik einen schweren Stand hatten, gab es ab Februar 1933 – anders als heute – keine politischen Freiheitsrechte mehr, auf die sich hätte berufen werden können. Und ab Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes Ende März 1933 gab es, jedenfalls de facto<i>,</i> auch <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz#Artikel_1">kein</a><a href="https://de.wikisource.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz#Artikel_1"> parlamentarisches Gesetzgebung</a><a href="https://de.wikisource.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz#Artikel_1">s</a><a href="https://de.wikisource.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz#Artikel_1">system</a> mehr. Und angesichts der faktischen Verhältnisse und der bereits umfassend suspendierten Grundrechte bedürfte es schon eines sehr großzügigen Begriffs von „frei“, um auch nur die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_M%C3%A4rz_1933#Wahlkampf">Reichstagswahl von Anfang März 1933</a> noch als „frei“ zu bezeichnen<b>. [6]</b></p><p><b>Achim:</b> Trotzdem denke ich, dass die sozialdemokratische Bürokratie und nicht unbedingt die proletarische Basis, die gewiss, zumindest in Teilen, kampfbereit gewesen wäre, damals weiterhin am bürgerlich-demokratischen „Rechtsfetischismus“ festhielt. Selbst dann noch, als schon de facto der Übergang zur NS-Diktatur vollzogen war.</p><p><b>Peter:</b> Die zentrale Kritik an der Sozialdemokratie ist aber doch nicht ihr „Rechtsfetischismus“, sondern die von ihrer Spitze vorangetriebene Bewaffnung der Konterrevolution in den Jahren 1918/1921. Und die von dieser verübten Morde an tausenden Arbeiter*innen, beispielsweise im Januar 1919 und März 1919 in Berlin, im Mai 1919 in München und so weiter. Da war von „Rechtsfetischismus“ nicht viel zu sehen.</p><p><b>Achim:</b> 1918 war aber auch eine andere Zeit als 1933! 1918 stand die bürgerliche Gesellschaft in Gefahr von einer proletarischen Revolution überwunden zu werden. Allerdings stimmt es, dass die Politik der SPD in den Wirren der Novemberrevolution schlussendlich 1933 mit vorbereitet hat. Aber das ist ja auch keine ganz neue Erkenntnis, dass „Demokrat*innen“ auch ganz schnell zu „Militarist*innen“ mutieren können, wenn es um den Bestand des Kapitalismus geht – also ums Eingemachte! Unter psychologischen Aspekten würde ich sagen, dass die konterrevolutionäre Gewalt eine größere Legitimität vor dem eigenen Gewissen hat, als die revolutionäre. Insbesondere dann, wenn Teile des Parteiapparates „verbürgerlichen“ oder sich „bürokratisieren“ („Ich hasse die Revolution wie die Sünde“ [sic!!] [Ebert]). Der Witz, dass die Deutschen vor dem Revolution machen noch eine Bahnsteigkarte kaufen, spricht da schon eine tiefe Wahrheit aus. Eine tiefere, als vielleicht immer erkannt wird.</p><p></p><h2><b>Anmerkungen und Quellen</b></h2><p><b>[1]</b> Ausgangspunkte sind je ein Blog-Artikel von Detlef Georgia und Achim, auf die im Folgenden an einigen Stellen des Streitgesprächs Bezug genommen wird. Es handelt sich dabei um diese Veröffentlichungen:</p><ul><li><a href="http://tap2folge.blogsport.eu/2019/05/07/nicht-nur-linksunten-einige-beispiele-in-denen-es-sich-definitiv-um-vereine-handelt/">Nicht (nur) „linksunten“ – einige Beispiele, in denen es sich DEFINITIV um Vereine handelt</a> (im hier aufgeführten Streitgespräch auch: Text „im Zusammenhang mit einer Presseerklärung“ / „diskussionsauslösende[r] Text“ genannt) sowie</li><li><a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben/">Kann es Meinungsfreiheit im Kapitalismus geben?</a> (im Text auch „Achims Kritik-Artikel“ genannt).</li></ul><p><b>[2]</b> Vergleiche die <a href="https://web.archive.org/web/20190618071133/https:/lexetius.com/StGB/211,6">Fassung bis 1941</a>, ab <a href="https://web.archive.org/web/20190618071229/https:/lexetius.com/StGB/211,5">1941</a> und die <a href="http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__211.html.">heutige Fassung</a> im Strafgesetzbuch.</p><p><b>[3]</b> Dabei liegt das Antiliberale der Nazi-Konzeption nicht einmal in einer Ausweitung des Mordbegriffs. Die ursprüngliche Gesetzesformulierung von 1871 „mit Überlegung“ dürfte <i>weiter</i> als die Summe der heutigen beziehungsweise NS-Mordmerkmale gewesen sein, die in der NS-Konzeption allerdings als bloße Regelbeispiele galten, also durch die Rechtsprechung im Einzelfall erweiterbar waren. Das illiberale Moment liegt im Wechsel von einer von einer <a href="https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Tatstrafrecht&redirect=no"><i>tat</i></a><a href="https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Tatstrafrecht&redirect=no">strafrechtlichen</a> („wegen Mordes [… wird] bestraft“) zu einer <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A4terstrafrecht"><i>täter</i></a><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A4terstrafrecht">strafrechtlichen</a> („Der Mörder wird […] bestraft“) Konzeption (siehe den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Mord_(Deutschland)#Neukonzeption_(1941)">Wikipedia-Artikel</a> als Einstieg).</p><p><b>[4]</b> Achim hatte schon in seinem <a href="https://systemcrash.wordpress.com/2019/05/07/kann-es-meinungsfreiheit-im-kapitalismus-geben/">Kritik-Artikel</a> aus einem älteren Papier von Detlef Georgia zitiert: „Rechtsfragen lösen sich nicht vollständig in Machtfragen auf; das Recht kann [im Großen und Ganzen] nur herrschaftsstabilisierend wirken, wenn nicht in jedem Einzelfall schon vorab feststeht, daß sich ‚die Macht’ durchsetzt. Das Recht kann [auch im Sinne der Herrschenden] nur funktionieren, wenn seine eigene ‚Rationalität’ [der Argumentation] / Funktionsweise nicht [vollständig] von einem Opportunismus der Macht untergraben wird.“</p><p><b>[5]</b> „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“ (<a href="http://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band20.pdf">MEW 20</a>, 260)</p><p><b>[6]</b> Das Obenstehende gilt unabhängig davon, ob der nationalsozialistische Regierungstritt für (weitgehend oder irgendwie) legal gehalten wird (wie die herrschenden Lehre sagt), oder, ob er in vielen Schritten und auch dem letzten Akt – dem Ermächtigungsgesetz – für illegal gehalten wird (wie die Analysen besagen, die mich (Detlef Georgia, Anm. Red.) überzeugen [*]). Denn auch auf der Grundlage letzterer Auffassung kann ja nicht bestritten werden, dass die „nationale Revolution“ der Nazis erfolgreich (wenn auch illegal) war und eine neue Legalordnung etablierte. Das heißt, dass etwaige Leute, die meinten, sich ab April 1933 (<a href="http://www.scharf-links.de/46.0.html?&tx_ttnews%5btt_news%5d=69889&tx_ttnews%5bbackPid%5d=56&cHash=dc40248ec3">wenn nicht schon deutlich früher</a>) noch auf Grundrechte und bürgerliche Demokratie berufen zu können, <i>nicht die falsche Rechtstheorie</i>, sondern einfach die Zeitung nicht aufmerksam gelesen hatten.</p><p>[*] Siehe zum weiteren Verständnis etwa:</p><ul><li><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhelm_Hase">Friedhelm Hase</a> / <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Ladeur">Karl-Heinz Ladeur</a> / <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Ridder">Helmut Ridder</a>, Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung 1981, 794 - 798 (797): „Bekanntlich ist das Ermächtigungsgesetz, mit dem die Weimarer Verfassung formal weitgehend außer Kraft gesetzt wurde (wie es um ihre ‚Geltung‘ in den Jahren ab 1930 gestanden hatte, wollen wir hier mal ganz außer Betracht lassen), unter erheblichen Druck von SA und NS-kontrollierter Polizei zustande gekommen (die KPD-Abgeordneten waren bereits verhaftet […]). Ein auf die <i>Verfahrens</i>rationalität rekurrierendes politisch informiertes Konzept von formaler und gesellschaftlicher Demokratie kann ein solches Verfahren […] <i>nicht</i> als verfassungsgemäß anerkennen“, da es die freie parlamentarische Debatte und Entscheidungsfindung aufhebt. „Man stelle sich im übrigen die ‚Machtergreifung‘ einmal mit vertauschten Rollen vor, daß also Kommunisten das Ermächtigungsgesetz unter gleichen Bedingungen durchgesetzt hätten. Ob die h. M. [herrschende Meinung] auch dann behaupten würde, formal sei ja alles in Ordnung gewesen?“ (Hv. i.O.)</li><li>A.W. (= <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Nawiasky">H[ans] Nawiasky</a>), <i>War die nationalsozialistische Revolution legal?</i>, in: <i>Schweizerische Rundschau</i> 1933/34 (Jan.-Heft 1934), 891 - 902 (Entschlüsselung des pseudonymen Autorkürzels gemäß <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Dreier">Horst Dreier</a>, <i>Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus</i>, in: <i>Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer</i> Band 60, 2001, 9 - 72 [21, FN 57]). Nawiasky schreibt auf S. 893 in Bezug auf die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_M%C3%A4rz_1933">Reichstagswahl vom 5. März 1933</a> (<i>nach</i> Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit und <i>vor</i> Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes): „Es wird schwer sein, zu behaupten, daß dem Wortlaut dieser Vorschrift [der Weimarer Reichsverfassung über die Wahlfreiheit] entsprochen worden sei.“ Und auf S. 896 über die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz: „verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Fernhaltung“ der kommunistischen Abgeordneten = „schwerer Mangel des Verfahrens“.</li><li>Dreier, a.a.O. argumentiert in o.g. Fußnote ähnlich wie die vorstehend zitierten Autoren, gibt weitere Literaturhinweise und weist außerdem auf Folgendes hin: „Als entscheidend erweist sich die fehlerhaft Zusammensetzung des Reichsrates, da entgegen <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Verfassung_des_Deutschen_Reichs_(1919)#Artikel_63">Art. 63 I WRV</a> und dem Urteil des Staatsgerichtshofes im Prozeß um den ‚<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fenschlag">Preußenschlag</a>‘ 34 der 66 Stimmen von Reichskommissaren ausgeübt wurden […].“ (Links im Zitat hinzugefügt)</li><li>Weitere Analysen von Detlef Georgia Schulze zur Thematik:</li></ul><p>Rechtsstaat versus Demokratie. Ein diskursanalytischer Angriff auf das Heiligste der Deutschen Staatsrechtslehre, in: <a href="http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/04/04/rechtsstaat-statt-revolution-im-buchladen-vorraetig/">Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010</a>, 553 - 628 (569 - 571) und <i>Der Rechtsstaat in Deutschland und Spanien</i> unter <a href="https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/19502">Refubium FU Berlin</a>, S. 56-58.</p><hr/><p>Das Titelbild zeigt das Kriminalgericht Moabit, Sitz der Strafsenate des Berliner Kammergerichts (analog: Oberlandesgericht in anderen Bundesländern) und der Strafkammern des Berliner Landgerichts. Unter der Creative Commons Lizenz von <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fridolin_freudenfett">Fridolin freudenfett</a> <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fridolin_freudenfett">[</a><a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fridolin_freudenfett">Peter Kuley</a><a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Fridolin_freudenfett">]</a>. Modifiziert und dem Artikel angepasst vom re:volt magazine.</p></div>
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Antifaschistischer Kampf ist nur gegen das System möglich2018-09-28T17:33:01.348700+00:002018-09-28T17:34:09.670921+00:00Yannis Elafrosredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/antifaschistischer-kampf-ist-nur-gegen-das-system-m%C3%B6glich/
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<h1>Antifaschistischer Kampf ist nur gegen das System möglich</h1>
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<img alt="Pavlos Fyssas" height="420" src="/media/images/pfyssas.f61fb6fb.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Es sind fünf Jahre vergangen, seitdem der antifaschistische Musiker Pavlos
Fyssas im Stadtteil Keratsini in Athen – in der Nachbarschaft, die er sein
Zuhause nannte – ermordet wurde. Sowohl die Mörder als auch die weiteren
Beteiligten an dem Angriff waren Mitglieder der Neonazi-Organisation Chrysi
Avgi (Goldene Morgendämmerung). Seit fünf Jahren ist der Name Pavlos Fyssas zu
einem Lied und einem Signal der antifaschistischen Kämpfe in Griechenland
geworden. Seine Mörder schienen verurteilt und auf den Müllhaufen der
Geschichte verbannt.
Allerdings: obwohl er den Mord gegenüber dem
Gericht zugegeben hatte, wurde sein Mörder, George Roupakias, im März 2016 aus
der Untersuchungshaft entlassen. Seitdem darf er sein Haus nicht verlassen –
abgesehen von Auftritten vor Gericht, bei denen ihn bewaffnete Wachen begleiten
und beschützen.</p>
<p>Indes kamen
neue
aufschlussreiche Beweise
dafür ans Licht, was genau am dramatischen Abend des 17. September 2013 geschah. Die <a href="https://www.forensic-architecture.org/"><i>Forensic Architecture Research Group</i></a> wurde von der Familie
Fyssas und ihren gesetzlichen Vertreter_innen beauftragt, die Ereignisse der
Nacht anhand des dem Gericht zur Verfügung gestellten Audio- und Videomaterials
zu rekonstruieren. Die daraus resultierende Videountersuchung und der begleitende
Bericht wurden am 10. und 11. September 2018 vor dem Gericht in Athen
präsentiert und brachten CCTV-Aufnahmen, Aufzeichnungen der Kommunikation
zwischen Polizei und Rettungsdiensten, sowie Zeugenaussagen zusammen. Das
Ergebnis der Forschung erwies sich als ein Boomerang für die griechische Polizei.</p>
<p>Die Untersuchung ergab nämlich, dass Angehörige der
Goldenen Morgenröte, einschließlich hochrangiger Beamter, in Bezug auf den Mord
koordiniert vorgingen. Das Material zeigte, dass Mitglieder der Elite-Spezialeinheit
der Polizei, bekannt als DIAS, vor, während und nach dem
tödlichen Angriff vor Ort waren
– und nicht
eingriffen.</p>
<h2><b>Polizei hätte Mord verhindern können</b></h2>
<p>Im Rückblick: der
erste Anruf bei der Spezialeinheit der Polizei (DIAS) ging um 23:54:14 Uhr ein. Um 23:58:11 Uhr kamen acht Polizist_innen
mit
Motorrädern am Tatort an. Dies belegt, dass die Aussagen der Polizeibeamt_innen vor Gericht falsch waren: dort sagten
sie aus,
dass sie vom Hauptquartier um 23:59 Uhr angewiesen wurden, zum Tatort zu gehen.
Mehr noch: die Auswertung
der Kamera-Daten legt nahe, dass spezielle Polizeikräfte am Tatort
anwesend waren,
bevor die verstärkte Golden Dawn Gang überhaupt ankam. Pavlos wurde etwa fünf Minuten nach
Mitternacht ermordet. Das
heißt acht
vollbewaffnete Polizist_innen waren sechs Minuten vor dem Angriff
vor Ort – und
haben nichts unternommen. Im Gegenteil entschlossen sie sich laut den Kameradaten dazu, mit
ihren Motorrädern eine Runde um den Block zu machen – eine Tatsache, die sie ebenfalls in ihren Aussagen
verheimlichten. Um 00:05:20 Uhr informierte einer von ihnen
schließlich
das Polizeipräsidium, dass Pavlos Fyssas mit einem Messer verletzt worden sei.
Wenige Minuten später war Pavlos tot ...</p>
<p>Fünf Jahre
nach diesem grausamen und vorsätzlichen Mord an dem jungen Musiker erweist sich
der antifaschistische Kampf in Griechenland als immer notwendiger. Nicht nur,
weil seine Killer jetzt frei umherlaufen, sowohl der physische Täter, George
Roupakias als auch seine Stichwortgeber der kriminellen Nazitruppe der Goldenen
Morgenröte, samt ihres Anführer Nikos Michaloliakos. Sondern auch deshalb, weil
wir uns heute in Griechenland, in Europa, in den USA und anderswo einem
internationalen Erstarken der nationalistischen, rassistischen und
faschistischen Bedrohung stellen müssen. Von der parlamentarischen Stärkung der rechtsradikalen Parteien in der EU
(neuerdings auch in Schweden) über die Chemnitz-Zustände in Deutschland, bis
hin zu den rassistischen und extrem rechten Pogromen
auf Lesbos, wird eine vielgestaltige faschistische Strömung befeuert
und bestärkt.
</p>
<h2><b>Der antifaschistische Kampf muss seine Intensität
steigern</b></h2>
<p>Um dieser Situation zu
begegnen, müssen sowohl die Arbeiter_innenbewegung als auch die linken
Kräfte insgesamt die
Ursachen ihres Wachstums gründlich untersuchen. Zunächst sollten die
Ursachen dargestellt und untersucht werden, die daher rühren, dass der Kapitalismus heute
eine facettenreiche reaktionäre Wende zu vollziehen versucht, um seine tiefe
strukturelle Krise zu überwinden. Diese Verschiebung äußert sich in einer tiefgreifenden
Verstärkung
der Ausbeutung, einer völligen Umgestaltung des Arbeitsmarktes, sowie in der
Verschärfung kapitalistischer Gegensätze und der Umgestaltung des politischen
Systems. Die Verschärfungen stärken den Nationalismus und erhöhen die Kriegsgefahr. Darüber hinaus
findet ein enormer Angriff auf ideologischer Ebene statt, der rassistische Deutungsangebote und Feindseligkeiten gegenüber jeglicher Art von Aufklärung verstärkt.</p>
<p>Die extreme Rechte, die Nationalist_innen und die Faschist_innen, werden in dieser neuen
überreaktionären Phase des kapitalistischen Systems vorne
angestellt,
und sie werden (immer im Kontext der Konkurrenz mit anderen bürgerlichen
Parteien) zugunsten der Errichtung der neue Kannibal_innenpolitik genutzt: Sie
spielen die
Rolle eines „Schlagrings“ gegen die fortschrittliche
Bewegung
und die kämpfenden Teile der Gesellschaft.</p>
<p>Es ist kein Zufall, dass
wir in Griechenland solche Kräfte immer auf der Seite der Kapitalist_innen und damit auf
der entgegengesetzten
Seite der Arbeiter_innenbewegung finden. Kürzlich wurde zum Beispiel die Gründung einer
Arbeitsgewerkschaft im Sinne der Arbeitgeber_innen der Firma Cosco vorangetrieben
– das
Unternehmen gehört zur China
Ocean Shipping (Group) Company, die einen Anteil von 51 Prozent des Hafens von
Piräus gekauft hat und jetzt besitzt und kontrolliert. In diesem Fall haben die
extrem rechten Kräfte den vorhergegangenen Streik der Decksleute sabotiert und zugunsten der
chinesischen Unternehmensgesellschaft gehandelt.</p>
<p>Ein
wichtiger Punkt in Bezug auf Griechenland ist auch, dass sich der Faschismus an der Verzweiflung nährt und
entwickelt, welche
durch die Barbarei des
Memorandums
und die
Sparpolitik hervorgebracht wird. Gefördert von Regierungen und Kapitalist_innen führen diese Maßnahmen zu einer
voranschreitenden
Explosion von Armut und Arbeitslosigkeit, zu einer Ausweitung der Ungerechtigkeit gegenüber
den Armen
und unteren Klassen im Namen der Krise und zu einem generellen Fehlen positiver Perspektiven.</p>
<p>All dies sollte in Betracht gezogen werden. Es zeigt
die Notwendigkeit für die antifaschistische Bewegung, ihren Kampf auf eine nächste Ebene zu heben. Der antifaschistische Kampf sollte zu einer permanenten Angelegenheit
und Forderung der Bewegung insgesamt werden und Verbindungen mit den unteren und ärmeren Klassen schaffen. Dabei bleibt ein klarer Klassenbezug zentral: Die Verbindung des antifaschistischen
Kampfs mit der
umfassenderen Durchsetzung von Arbeitnehmer_innenrechten, dem Kampf gegen die Austeritäts- und die Memoranda-Politiken. In
dieser Hinsicht könnte er mit dem weiteren antikapitalistischen Kampf verbunden sein, mit dem
Kampf gegen die Kriege der NATO und der EU, die Tausende von Menschen dazu
zwingen, Flüchtende zu werden – und nicht
zuletzt mit dem kompromisslosen Kampf gegen Rassismus und
jegliche Art von Diskriminierung in Verbindung gebracht werden.</p>
<p>Um siegreich zu sein, sollte die antifaschistische Bewegung von der
Regierung, den bürgerlichen Parteien und Institutionen unterschieden werden.
Dies ist eine Voraussetzung, um eine zutiefst demokratische und daher
antisystemische Logik zu entwickeln und nicht in einer Verteidigungslogik der
systemischen bürgerlichen Demokratie gefangen zu bleiben, die in den Augen
vieler Arbeiter_innen zum Synonym für Heuchelei und Ungerechtigkeit geworden
ist.</p>
<p>Die jüngsten Ereignisse in Griechenland, auch die Ermordung von Pavlos Fyssas,
haben gezeigt, dass der Faschismus von der bürgerlichen Demokratie und den
Zivilgerichten nicht gestoppt werden kann. Sie kann nur durch die massive
Jugend - und Arbeiter_innenbewegung erreicht werden. Es sind die täglichen
Kämpfe, welche Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit hervorbringen: Kämpfe
für die Abschaffung von Ausbeutung und Diskriminierung, gegen die Interessen
und Bestrebungen des Kapitals, der EU und der Regierungen.</p>
<p>Auf der Grundlage einer solchen Logik sollte sich die antifaschistische
Bewegung zusammenschließen und die verschiedenen Strömungen in sich vereinen.
Die massiven Demonstrationen gegen den Faschismus, die am 17. September in
Gedenken an Pavlos, in Athen und in anderen griechischen Städten stattfanden
und von einer großen, dynamischen Anzahl von Organisationen und politischen
Kräften der Linken sowie von Gewerkschaften und Solidaritätsinitiativen
organisiert wurden, könnten ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung
sein.</p><hr/>
<p>Yannis Elafros ist Autor bei der griechischen Zeitung Prin.</p><p>Übersetzung: Eleni Triantafyllopoulou und Johanna Bröse.<br/></p></div>
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