re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5672018-07-06T09:00:35.149810+00:00Katz und Maus in Nordkurdistan2018-07-06T09:00:35.149810+00:002018-07-06T09:00:35.149810+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/katz-und-maus-nordkurdistan/
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<h1>Katz und Maus in Nordkurdistan</h1>
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<img alt="Ein Wahllokal in der Provinz, Juni 2018." height="420" src="/media/images/2018-06-24_11-08_Wahl_Tuerkei.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Hinrich Schultze</span>
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<div class="rich-text"><p></p><p>Es ist der letzte Tag vor den Wahlen.
Aus den Trümmern der Viertel, die im Zeitraum 2015 bis 2016 in Grund
und Boden bombardiert wurden und in denen sich die „Keller des
Grauens“ befanden – über <a href="https://de.scribd.com/document/373008068/Cizre-Report-in-English-5th-March2018#from_embed">170
Menschen wurden in den Kellern</a>, in denen
sie Schutz suchten, durch Angriffe der türkischen Armee getötet –
ragen schroff Neubauten hervor. Die Viertel sind abgesperrt, die
Präsenz der Sicherheitskräfte enorm. Seit unserer Ankunft
beschatten sie uns durchgehend, natürlich zu unserer Sicherheit. Bei
der Einfahrt in die Stadt werden wir eine Stunde lang kontrolliert,
der andere Übersetzer der Gruppe und ich auf einen Plausch mit den
Beamten des Sicherheitsdezernats „eingeladen“. Es geht darum, was
wir machen, aber auch um unsere Bildungswege, darum wie es ist, als
Türke in Deutschland zu leben und viele andere Dinge. Ich erzähle
von meinen persönlichen Erfahrungen, doziere ausgiebig über das
„Paradox der 3. Generation“, wie es in der Mainstream
Migrationsforschung genannt wird. Dann werden wir abrupt, einfach so,
gehen gelassen: „Ihr macht ja nichts Illegales hier. Es gibt auch
keine Probleme mehr hier wie einst. Ruft uns an, wann immer ihr
wollt, wir werden unser Bestes versuchen, um euch zu helfen.“ Zuvor
tuschelte der eine dem anderen zu: „Ach lass sie doch gehen, wir
können sie doch eh in der Stadt beschatten."</p><p></p><p>Als wir später die Zivis in der Stadt,
die uns ganz unverdeckt an den Fersen kleben, ansprechen und sie
darauf hinweisen, dass noch mehr Delegationsmitglieder später am
Abend kommen werden, antworten sie nur: „Machen Sie sich keine
Sorgen, wir geben das durch. Eure Kollegen werden keine Probleme
haben beim Kontrollpunkt.“ Die haben sie dann auch tatsächlich
nicht. Die HDP-Leute und die Zivis reden sich freundschaftlich mit
Vornamen an. „Was willst du machen? Irgendwann kennt man sich
halt“, meint unser Begleiter nur leicht zynisch und fügt hinzu:
„Die vom Sicherheitsdezernat sind ok. Hauptsache nicht die<i> Özel
Harekat</i>“ – also die hochmilitarisierten Sondereinsatzkräfte
der Polizei – „denn dann haben wir ein Problem.“ Barış bey,
so der Name eines penetrant freundlichen Zivis des
Sicherheitsdezernats, wird eine Konstante unseres Aufenthaltes in
Cizre bilden. Er taucht immer mal wieder irgendwo extrem freundlich
auf, wir schütteln Hände, die HDP-Leute bieten ihm Wasser an, er
verschwindet wieder unter Achtung aller Höflichkeitsfloskeln. Ich
stelle mir vor, wir sind in einem surrealen Film und spiele mit.</p>
<h2><b>Unbeachtete Geschichten</b></h2>
<p>Yasin wird uns ins angrenzende Idil
fahren, wo wir am Wahltag unsere Wahlbeobachtungsmission ausführen
werden. Davor gehen wir noch an den Ufern des Tigris Çay und die
ganz besondere Zitronenlimonade Cizres trinken, die mit Milch
hergestellt wird. Ein paar Stunden zuvor haben wir noch einen kleinen
Geschichtsunterricht über Cizre erhalten, eine der ältesten Städte
der Region, in der der Legende zufolge einst auch die Arche Noah
stationiert war. Die Altstadt wurde angeblich sogar nach ihrem Muster
gebaut. Ähnlich geschichtsträchtig ist Idil: Erst dieses Mal
erfahre ich, dass es dort eine aramäische Kirche gibt – ein
wunderschöner Bau inklusive eines mehrstöckigen Gästehauses mit
einem großen Garten. Alles dort lädt zum Verweilen ein. Unter dem
angenehmen Schatten der Bäume blicken wir auf die vor Hitze
flimmernden Weiten des Tals. Keine paar Dutzend Meter von uns
entfernt befindet sich die älteste Zisterne von Idil, der
Timur-Brunnen, der während der Auseinandersetzungen völlig
zweckfrei zerschossen wurde, sowie ein uralter Sonnentempel, von dem
niemand so richtig die Geschichte kennt. Viele weitere Ruinen alter
Bauten erstrecken sich durch das ganze aramäische Viertel. „Waren
denn noch keine verrückten deutschen Archäologen hier? Die reisen
doch überall hin“, witzele ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass
all dies noch nicht erforscht wurde. Mir wird bewusst, dass ich in
diese Gegend bisher nur als Journalist oder anderweitig in
Krisenzeiten gekommen bin. Ich hoffe inbrünstig, dass ich in meinem
Leben noch Zeiten erleben werde, in denen ich unbeschwerten Gemütes
auch mal als historisch und kulturell interessierter Tourist in die
Region reisen kann.</p>
<h2><b>Gestern Kugeln, heute Katz und Maus</b></h2>
<p>Yasin hat Glück: Er hat seinen Job
noch. Das liegt vermutlich daran, dass er zwar an das
Bildungsministerium angebunden ist, aber an einer Privatschule
arbeitet, was Entlassungen erschwert. Jedenfalls hält er sich
dennoch politisch bedeckt und taucht ungern in HDP-Büros auf. Sein
großer und sein kleiner Bruder sind wegen des Vorwurfs der
Mitgliedschaft bei der PKK eh schon im Knast, einer ist noch
rechtzeitig geflohen. Aber natürlich gehen er und seine gesamte
Familie kollektiv am Wahltag an die Urne und wählen HDP. Sein
Familienhaus liegt in Idil in einem Gebiet, in dem 2015 bis 2016 die
kurdische Autonomie ausgerufen wurde. Damals war ich als Journalist
bei ihm zu Gast. Wir hüpften in der Dunkelheit von Häuserwand zu
Häuserwand in der Illusion, den Snipern somit entgehen zu können
und führten Interviews mit den Kämpfenden auf kurdischer Seite.
Nachts lagen wir ganz flach im Wohnzimmer auf dem Boden, um nicht von
den Kugeln getroffen zu werden, die nur so durch die Gegend
schwirrten.</p>
<p>Irgendwann, als die Gefechte zu heftig
werden, flieht Yasin mit seiner Familie. Als sie zurückkommen, ist
das Haus durchlöchert und von innen komplett ausgebrannt, inklusive
der teuren<i> beyaz eşya</i>, die „weißen Möbel“, wie
Kühlschrank sowie Wasch- und Spülmaschine im Türkischen genannt
werden. Eine typische Vorgehensweise der Sicherheitskräfte damals,
die damit die Bevölkerung „bestraften“. Das gesamte Haus muss
komplett saniert werden, was mehrere zehntausend Liras kostet. Nur
die Hälfte erhalten sie vom Staat erstattet. Überhaupt sieht man in
Idil noch sehr viele Gefechtsspuren: teils mehr schlecht als recht
überkleisterte Einschusslöcher, Ruinen, hässliche Neubauten. Idil
ist eine Kleinstadt von 25.000 Einwohner*innen, hier kommt niemand
aus dem Ausland hin. Deshalb hat der Staat auch keine Eile damit,
„sauber“ zu machen – anders zum Beispiel in Diyarbakır, <a href="https://revoltmag.org/articles/ein-antifaschistischer-wind-weht/">wo
das Gras scheinbar friedlich vor sich hin wächst</a>.</p>
<p>Aber die Gastfreundschaft ist nach wie
vor dieselbe. Yasins Mutter begrüßt mich strahlend. „Endlich
siehst du mal nach was aus!“, übersetzt mir Yasin ihr Kurdisch.
Diesmal habe ich Piercing und Ohrringe entfernt und ein dezent
kariertes Hemd an. Ich witzele, ein Übersetzer müsse eben schick
sein. Das opulente Abendbrot auf Silbertablett im Schneidersitz
inmitten des zweiten Wohnzimmers, das nur an den Wänden mit Kissen
ausgelegt ist und sonst keine Möbel besitzt, der Tee, die Gespräche
– alles fühlt sich auf eine angenehme Art und Weise bekannt an.
Nur die Polizei nicht, die uns bis vors Haus folgt und Yasin erzürnt
zur Rede stellt: „Woher kennst du diese Leute? Was machen die hier?
Wie lange bleiben die???“ Am nächsten Morgen ein ähnliches
Theater. Ganze vier Mal ruft tagsüber – als wir schon längst das
Haus verlassen haben mit dem festen Vorsatz, nicht mehr zu kommen, um
Yasin und seiner Familie Unannehmlichkeiten zu ersparen – ein
Kommissar bei Yasin an. Er hat irgendwie seine Nummer aufgetrieben
und fragt nach, wer wir sind, was wir tun und so weiter und so fort.
Bei der nächsten Polizeikontrolle der Antiterrorpolizei, in die wir
geraten, bin ich kurz davor, dem Beamten erzürnt zu verstehen zu
gehen: „Hier, das sind wir, ihr könnt euch auch einfach an uns
wenden statt an Yasin, ihr wisst doch sowieso, wo wir zu jeder
Tageszeit sind.“ Dann aber fällt mir wieder ein, dass ich hier in
der Rolle des Übersetzers bin, und ich nehme mich zurück. Letztlich
weiß ich ja, dass es hier um pure Schikane geht und um sonst nichts
Anderes.
</p>
<p>Der Kollege von der HDP, bei dem wir
dann am Abend darauf bleiben, ist eigentlich ein sehr ruhiger,
angenehm schweigsamer Mann, der sich mit Juristerei und Autohandel
beschäftigt. Auf unsere besorgten Nachfragen hin, ob es dann auch
wirklich keine Probleme für ihn mache, wenn wir bei ihm bleiben –
wir hören noch aus seinem Innenhof heraus das Brummen des extra für
uns abgestellten Panzerfahrzeuges in der Straße vor seinem Haus –
meint er leicht erheitert: „Hach ja, das Tor zu meinem Innenhof
haben sie vier Mal, die Wand zwei Mal und die Tür zur Wohnung einmal
aufgebrochen. Insofern ist das alles altbekannt.“</p>
<h2><b>Das ganz große Theater</b></h2>
<p>Am Wahltag selbst erheben wir und all
die unterschiedlichen Staatsapparate, die sich am Spiel beteiligen
wollen, das Katz-und-Maus-Spielchen auf eine höhere Stufe, zu einem
ganz großen Theater. In die erste Schule – gewählt wird in der
Türkei in Schulen, jede Schule beherbergt mehrere Urnen, jede Urne
in etwa 300 bis 400 Stimmen – rauschen wir einfach so rein,
begrüßen ganz freundlich die sich rechtswidrig überall aufhaltende
Bereitschaftspolizei, die so ein wenig überrumpelt ist von unserem
offiziösen Auftreten, schütteln Hände, lächeln und lachen. Die
Delegationsteilnehmer*innen machen erste Fotos. Auch die erste
Begegnung mit dem Antiterrorbeamten, mit dem sich im Laufe des Tages
unsere Wege noch mehrmals kreuzen werden, gestaltet sich recht
angenehm. Erst nach Rücksprache mit wem auch immer und aufgrund des
Umstandes, dass wir keine vom türkischen Staat offiziell anerkannten
Beobachter sind, verweist er uns höflich des Schulgebäudes. Wir
dürften uns, heißt es, nur im Schulhof aufhalten, aber dort auch
Fotos machen. Die Angaben dazu, was wir machen dürfen und was nicht,
werden sich allerdings ab jetzt quasi stündlich ändern. „Habt ihr
hier Fotos gemacht?“ beginnt der Antiterrorcop zu fragen, „Nein,
nein, quatsch, wir müssen jetzt auch los, danke Herr Beamter“,
wiegelt der uns begleitende Anwalt professionell die drohende
Löschung der wenigen Bilder, die wir machen konnten, ab und wir
rauschen so schnell wieder los, wie wir ankamen.</p>
<p>„Schnell, ins Dorf!“, ist die
Ansage vom Anwalt. „Das gehört quasi uns und da gibt es keine
Polizei, nur Gendarmerie, und die ist lässiger. Da können wir noch
mehr Bilder machen.“ Ich sehe, irgendwie macht es auch dem Anwalt
Spaß. Wir flitzen in sein Geburtsdorf, Sulak, und rauschen in die
dortige Schule hinein. Hier gibt es nur zwei Urnen. Fast alle wählen
HDP, wir werden königlich empfangen. Nur einer der offiziellen
Wahlbeobachter, der offensichtlich nicht von der HDP ist, schaut ein
bisschen mürrisch drein, mischt sich aber nicht ein. Wir gehen in
den Urnenraum, schütteln der gesamten Wahlurnenkommission die Hände,
verbeugen uns höflich – und machen Bilder. Als wir wenige Minuten
später zügig die Schule wieder verlassen, kommt der lokale
Gendarmeriekommandant gemütlich um die Ecke. Er wird ebenfalls
königlich empfangen, ist sehr entspannt, schüttelt uns die Hände
und setzt sich hin. Irgendwo im Schatten, 100 Meter vom Wahlort
entfernt, stehen drei Gendarmeristen mit G3-Gewehren ebenfalls sehr
entspannt herum. Alles ist easy, den Umständen entsprechend. Bis wir
wieder losfahren. Da setzt der Telefonterror beim Anwalt ein. Zuerst
das Sicherheitsdezernat: „Sofort zum Kontrollpunkt kommen!“ Dann
der Gendarmeriekommandant, gleich zwei Mal hintereinander. Er ist
erzürnt: „Der Provinzgouverneur hat mich gerade angerufen! Ihr
seid gar nicht offizielle Beobachter! Ihr dürft das gar nicht!
Sofort her mit den Personalien!“ Der arme Anwalt. Aber er ist ein
professioneller Abwiegler, der seines gleichen sucht. Chapeau! Die
Bilder jedenfalls nimmt uns niemand mehr ab.</p>
<p>„Den ganzen Tag schon laufen wir euch
hinterher! Schaut mal, lasst das sein, wir haben auch keine Lust auf
das Prozedere“, meint ein Polizist vom Sicherheitsdezernat am
Kontrollpunkt. „Das Prozedere“ heißt hier: Untersuchungshaft.
Was er sagen will, ist: Wenn ihr so weitermacht, muss ich euch halt
festnehmen. Das Dealen darum, was wir dürfen und was nicht, geht
wieder los: Dürfen wir dies, dürfen wir das, geht jenes nicht, aber
dieses schon? Diesmal heißt es: Nicht mal in den Schulhof dürft
ihr, aber außerhalb rumstehen, mit den Leuten reden und Fotos
machen. Na immerhin! Unsere Aufgabe – den Ablauf der Wahlen zu
beobachten – ist damit hinfällig, aber wir lassen uns nicht
unterkriegen. „Dann erst recht“, ist so ein bisschen die
Mentalität der Gruppe. Im HDP-Büro witzelt man schon über die
Menge an Staatsapparaten, die uns hinterherläuft. „Fehlt nur noch
das Büro für Drogenbekämpfung“, meint schallend lachend unser
Fahrer.</p>
<p>Wir hüpfen mit der
Parlamentskandidatin der HDP sowie den abgesetzten
Co-BürgermeisterInnen von Idil von Schule zu Schule. Sie gehen rein,
wir stehen draußen rum, machen Späße mit den für uns abgestellten
Polizeibeamten, die so langsam gute alte Bekannte werden. Jeder von
ihnen lässt die zwei, drei Wörter Deutsch raus, die er mal irgendwo
aufgeschnappt hat. Irgendwann brummt ganz, ganz langsam ein
Panzerfahrzeug der<i> Polis Özel Harekat</i> vorbei. Es passiert
nichts, Glück gehabt. Während wir uns im Gespräch mit der
Antiterrorpolizei – das sind so quasi fast die härtesten Jungs im
Staate – erneut die Erlaubnis für das „vor der Schule rumstehen“
holen, meint irgendein anderer vom Sicherheitsdezernat zum Anwalt:
„Ihr lasst das lieber sein.“ Wem sollen wir glauben? Es herrscht
Chaos im Staat, die Zeiten sind exzellent, interpretieren wir die
Sachlage, und machen weiter. Ein Gigolo mit gegelten Haaren und nicem
Style läuft gemeinsam mit einem Kollegen vor der nächsten Schule
breit lächelnd und mit einem brüchigen „Hallooooo Freunde!“ auf
Deutsch auf uns zu, meint nur kurz und wie nebenbei – woran wir
überhaupt merken, dass er Polizist ist –: „die Regeln kennt ihr,
ja? Alles klar, keine Probleme, alles easy.“ Dann umarmt er mich
seitlich: „Hier schau mal, komm das nächste Mal mit Akkreditierung
und ich persönlich werde dir alles zeigen.“ Sein Arm macht einen
großzügigen Halbbogen, der die gesamte Stadt und das Tal
einschließt. Welch guter Freund. Er verabschiedet uns ganz herzlich
und voller Lebensfreude.</p>
<p>Kurz darauf ist Schluss mit „lustig“.
Die Vorsitzende der Bezirkswahlkommission selbst, die höchste
Richterin im Bezirk, hat keinen Sinn für Humor. Sie ruft im HDP-Büro
an und gibt kurz und knapp durch: „Meine letzte Warnung. Wenn die
nochmal rausgehen, lass ich sie festnehmen.“ Drei andere
Delegationsmitglieder, die ins nahe gelegene Uludere zur
Wahlbeobachtung gefahren sind, wurden schon in Gewahrsam genommen und
werden die ganze Nacht dort bleiben; rechte Revolverblätter
verbreiten schon die Bilder ihrer Personalausweise mit dem Kommentar:
„Deutsche Agenten, die Unruhe stiften wollen“. Es ist kurz vor
fünf Uhr. Wir finden, wir haben alles versucht, was wir konnten und
begeben uns in die freiwillige Büro-Haft. Bald werden die ersten
Ergebnisse eintrudeln.</p>
<h2><b>Zwischen Feier und Ernüchterung</b></h2>
<p>In Cizre kommen wir ein paar Stunden
später wieder an – kurz bevor die HDP laut offiziellen Zahlen der<i>
</i>regierungstreuen Nachrichtenagentur<i> Anadolu Ajansı</i> die 10
Prozent-Wahlhürde knackt. Als das passiert, erheben sich aus der
ganzen Stadt Jubelstimmen, sofort fangen die Autokonvois an. Ich kann
das natürlich sehr gut nachvollziehen; gleichzeitig weiß ich, dass
alle anderen Zahlen nicht sehr gut aussehen, weshalb ich mich bedeckt
halte. Kurze Zeit später heißt es aus der HDP-Zentrale, dass nicht
gefeiert werden soll und die Autokonvois verstummen fast unmittelbar.
Die Straßen werden wieder dominiert von Wasserwerfern und
Panzerfahrzeugen.</p>
<p>Ich weiß, dass Barış bey, der mir
noch vor ein paar Stunden bei meiner Rückkehr nach Cizre voller
Sympathie und bei Einhaltung aller Respektfloskeln anerkennend mit
„Alp bey, ich hoffe Sie sind zufrieden“ die Hände geschüttelt
halt, uns folgt und uns beschattet. Wenn ich mich umdrehe,
verschwindet er in einer Seitengasse. Sein Auto und das seiner
Kollegen folgen uns bis spät nachts, tauchen mal aus einer
Seitenstraße vor, mal aus einer hinter uns auf, geradezu als ob sie
uns in ihrer penetrant höflichen Art zu verstehen geben wollen: „Alp
bey, keine Sorge, wir sind auch noch da, stets zu Diensten!“ Bei
meinem Abflug – ich reise alleine ab – werde ich nicht mehr
beschattet und sowieso überhaupt nicht belästigt. Ich bin ja der
Übersetzer der Gruppe und von den Sicherheitskräften offensichtlich
als Türke, also als „einer von uns“ kategorisiert. Es gibt ein
türkisches Sprichwort,<i> elçiye
zeval olmaz</i> – frei übersetzt: Der Botschafter trägt
keine Schuld. Weshalb ihm auch nichts angetan wird. „Ihr seid nur
ein paar Tage hier und geht dann wieder; wir sind immer hier“, ist
das, was wir oft in Cizre und Idil hören. Was wird mit Yasin
passieren? Wird er „bestraft“ werden dafür, dass er uns
beherbergt hat? „Passt schon“, entgegnet er, als er mich zum
Flughafen von Şırnak fährt, auf meine tausenden betretenen
Entschuldigungen, dass wir ihn in diese missliche Lage gebracht
haben. „Wir sind das gewohnt. Und ansonsten komm ich einfach zu
euch. Ihr werdet mir doch Tür und Tor öffnen, oder nicht?“, meint
er mit einem verschmitzten Lächeln.</p></div>
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