re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5432023-05-18T14:41:20.835366+00:00Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?2023-05-17T22:46:37.991060+00:002023-05-18T14:41:20.835366+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/den-gordischen-knoten-zerschlagen-aber-wie/
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<h1>Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?</h1>
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<span class="content-copyright">Johanna Bröse</span>
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<div class="rich-text"><p>Um es von Anfang an unmissverständlich zu sagen: Die Ergebnisse der Doppelwahl in der Türkei vom 14. Mai 2023 – für Parlament und Präsidentschaft – waren ein relativer Sieg für den amtierenden türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdoğan und ein relativer Misserfolg der Opposition, sowohl der linken als auch der rechten. Selbst wenn das Präsidentschaftsrennen noch nicht entschieden ist – keiner der Kandidaten konnte die für den Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erforderlichen 50 %+1 der Stimmen für sich verbuchen, so dass am 28. Mai eine zweite Runde anberaumt ist – können wir schon jetzt einige wichtige analytische Schlussfolgerungen ziehen und Perspektiven diskutieren. Nicht zuletzt gibt es auch genügend Gründe, den Kampf um den Sieg über Erdoğan am 28. Mai nicht aufzugeben. Nähern wir uns dem vertrackten gordischen Knoten Schritt für Schritt.</p><h2><b>Die Beständigkeit des institutionalisierten autoritären Populismus an der Macht</b></h2><p>Die Wahlergebnisse der ersten Runde zeigen einen relativen Sieg von Erdoğan. Klar, autoritäre Repression, stark ungleiche Ausgangsbedingungen im Vorfeld und am Wahltag sowie Wahlbetrug in einer erneut von mysteriösen Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahlnacht sind wie gehabt sehr wichtige Elemente, die diesen relativen Sieg ermöglicht haben. Es gibt bereits deutliche Anzeichen dafür, dass sich der Wahlbetrug vor allem darauf konzentriert hat, Stimmen für die linke, pro-kurdische Grüne Linkspartei (<i>Yeşil ve Sol Partisi,</i> YSP) in Stimmen für die rechtsextreme nationalistische Partei, die Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi,</i> MHP), den wichtigsten Verbündeten von Erdoğan, umzuwandeln (siehe z. B. den Hashtag #YeşilSolPartininOylarıNerede – „Wo sind die Stimmen für die YSP?“ – auf Twitter). Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, ist das Ausmaß des Betrugs noch nicht klar und auch nicht, ob dieser entscheidende Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben wird. Die Entwicklungen sind, wie so oft in der Türkei, hochdynamisch. Dennoch: Der Betrug kann an sich nicht die enorme Unterstützung der Bevölkerung für Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten und sein regierendes Bündnis, die Volksallianz (<i>Cumhur Ittifakı</i>, CI) erklären.</p><p>Erdoğan kam nach den offiziellen (staatlichen) Zahlen mit bisher 49,50 % der Wähler:innenstimmen (gegenüber 52,60 % und einem Sieg in der ersten Runde im Jahr 2018) knapp an den Sieg in der ersten Runde des Präsidentschaftsrennens heran, während sein Konkurrent, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (<i>Cumhuriyetçi Halk Partisi,</i> CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der auch das wichtigste bürgerliche Oppositionsbündnis, die Allianz der Nation (<i>Millet Ittifakı</i>, MI), anführt, etwas weniger als 45 % der Wähler:innenstimmen auf sich vereinte. Obwohl Erdoğans CI mit einer Wähler:innenunterstützung, die nahe an der von Erdoğan liegt (49,46 % gegenüber 53,60 % im Jahr 2018 nach den bisherigen Zahlen), etwas weniger als die absolute Mehrheit gewonnen hat, verfügt die CI aufgrund der Wahlarithmetik mit 322 von 600 Abgeordneten immer noch über die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Obwohl die CI und Erdoğan Stimmenanteile verloren haben und Erdoğan es nicht geschafft hat, in der ersten Runde zu gewinnen, sollte die Tatsache, dass die MI und der zweite, linke Oppositionsblock, das Bündnis für Arbeit und Freiheit (<i>Emek ve Özgürlük Ittifakı,</i> EÖI) unter Führung der YSP, es nicht geschafft haben, die Macht der CI im Parlament zu brechen, sowie die Tatsache, dass Kılıçdaroğlu die erste Runde des Präsidentschaftswahlkampfs weder gewonnen noch angeführt hat, eindeutig als relativer Sieg für Erdoğan verstanden werden. Warum?</p><p>Im Gegensatz zu liberal-demokratischen Behauptungen über das starke Abschneiden der Opposition in der Türkei, wenn man sie mit der Opposition in Russland und Ungarn vergleiche (ein ausgezeichneter Artikel entlang dieser Argumentationslinie findet sich <a href="https://www.journalofdemocracy.org/seven-lessons-from-turkeys-effort-to-beat-a-dictator/">hier</a>), sollte man den entscheidenden Unterschied des autoritären Regimes in der Türkei im Vergleich zu den genannten betonen, der das Wahlergebnis zu einem relativen Sieg für das Regime macht: Es ist nämlich im Verhältnis zu den tiefen und vielfältigen Krisen zu sehen, in die das Regime das Land gestürzt hat. Die Türkei befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit über 20 Jahren (zumindest für die breite Masse der Bevölkerung), wobei das Schlimmste wahrscheinlich erst noch bevorsteht. Das Land hat bei der Pandemie im Bereich der öffentlichen Gesundheit sehr schlecht abgeschnitten und Anfang diesen Jahres die schlimmsten Erdbeben in der modernen Geschichte der Türkei durchlebt, für deren fatale Auswirkungen die Regierung eine <a href="https://revoltmag.org/articles/das-staatsbeben-in-der-t%C3%BCrkei/">große Verantwortung</a> trägt. Trotz alledem behält das Erdoğan-Regime die Oberhand. Und dies, im Übrigen, <a href="https://www.dwturkce.com/tr/erdo%C4%9Fan-deprem-b%C3%B6lgesinde-ilk-s%C4%B1rada-%C3%A7%C4%B1kt%C4%B1/a-65631057">auch im Erdbebengebiet</a>, wo der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-hangi-parti-ve-ittifak-ne-kazandi-ne-kaybetti-hangi-surpriz-sonuclar-var,40007">Rückgang der Unterstützung</a> für die CI und insbesondere für die AKP zwar nicht zu vernachlässigen ist, sie aber trotzdem weitab vorne liegen, während Erdoğan als Präsidentschaftskandidat <a href="https://substackcdn.com/image/fetch/f_auto,q_auto:good,fl_progressive:steep/https://substack-post-media.s3.amazonaws.com/public/images/13bcf876-0874-4b2f-832c-41200a25096d_795x566.jpeg">kaum Verluste</a> hinzunehmen hat im Vergleich zu 2018. Keines der etablierten rechtsautoritären Regime weltweit durchlebte bisher auch nur im Entferntesten derartig tiefe Krisen wie dasjenige unter Führung von Erdoğan.</p><hr/><h4><b>Dies führt zu einer ersten wichtigen theoretischen Schlussfolgerung, die auch im globalen Maßstab relevant ist: Ein institutionalisierter autoritärer Populismus an der Macht und seine Mechanismen der polarisierten Identitätsbildung können selbst angesichts tiefer und massiver Krisen hartnäckig Bestand haben.</b></h4><hr/><p>Einem Großteil der schockierten Reaktionen auf die Wahlergebnisse scheint ein liberaler, aufklärungsphilosophischer Ansatz zugrunde zu liegen, der davon ausgeht, dass niemand aus rationalen Gründen ein Regime wählen würde oder sollte, das die Bevölkerung – erneut aus vermeintlich rationalen Gesichtspunkten betrachtet – immer wieder im Stich lässt. Diese Argumentation war und ist erkenntnistheoretisch und ontologisch offensichtlich unangemessen, um zu verstehen, was in der jetzigen Wahl geschehen ist und was seit Jahren geschieht.</p><p>Erdoğan und die AKP konnten zunächst auf der Welle eines „eingebetteten Neoliberalismus“ reiten, das heißt, den Neoliberalismus in Mechanismen der minimalen Gesundheitsversorgung und oft recht paternalistische und klientelistische Formen der Umverteilung integrieren. Dies ging einher mit Diskursen und Praktiken, die das Gefühl einer umfassenden sozialen Teilhabe vermittelten. Diese waren wiederum vermittelt durch Subjektivierungsmechanismen nach konservativem Muster und einer nur restriktiven, das heißt nicht-strukturellen Ermächtigung der subalternen Teile ihrer Unterstützer:innenbasis. Diese gesellschaftliche Verankerung von Erdoğan und der AKP ist der Schlüssel zum Verständnis, wie es Erdoğan gelungen ist, seinen verschwörungstheoretisch-autoritären Diskurs und seine Politiken der Polarisierung so zu verankern, dass er ein veritables Maß an gesellschaftlicher Zustimmung auf sich vereinen und ein Bündnis mit extrem nationalistischen Kräften wie der MHP schmieden konnte. Ohne diesen tiefenanalytischen Hintergrund bleibt man schlicht an der Oberfläche der Ereignisse kleben, wie so viele <a href="https://www.gmfus.org/news/erdogan-just-short-another-victory-election-not-over-until-its-over">politikwissenschaftliche Analysen</a>, die beispielsweise die Polarisierungstaktiken oder den ökonomischen Populismus von Erdoğan hervorheben, aber nicht erklären können, warum das bei Erdoğan seit Jahren trotz tiefen Krisen klappt, bei Trump, Bolsonaro und Johnson aber nicht.</p><p>Der Erfolg, sich als Führer und die AKP als führende Partei zu präsentieren, die die Anliegen des Volkes vorantreibt entlang der oben genannten Linien und des oben genannten historischen Hintergrunds, verlieh der Anziehungskraft von Erdoğan/CI auch in Krisenzeiten eine gewisse Beständigkeit und verhinderte eine massive Abnahme der Zustimmung unter der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft. Hinzu kommt die reale und symbolische Selbst-Erhebung, die die Unterstützer:innen durch die Annahme des autoritären Angebots, Teil des von Erdoğan/CI vertretenen „nationalen Willens“ (<i>millî irade</i>) zu sein, erlangen. Auch die Auswirkungen der populistischen Wirtschaftspolitik im Vorfeld der Wahlen dürfen nicht unterschätzt werden: Deckelung der Mieten, Erhöhung des Mindestlohns, Ausweitung der Rentenansprüche und Erhöhung der Renten, Energieverbrauchssubventionen, Versprechen, das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, Versprechen, die Hälfte der Kosten für neue Wohnungen im Erdbebengebiet zu finanzieren und so weiter. Nichts von alledem dürfte nachhaltig sein. Aber die Versprechungen förderten das bereits bestehende erfolgreiche Führerimage. Eine typische Erdoğan/CI-Wähler:inmentalität, die in den letzten Wochen häufig zu sehen und zu hören war, besteht in der Klage über viele Dinge, etwa die Wirtschaft; gekoppelt aber mit dem Glauben, dass immer noch Erdoğan/CI die beste/einzige Option zur Lösung der Probleme sei.</p><p>Es ist also auch die Unzufriedenheit innerhalb der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft groß, was sich in den Stimmenverlusten für Erdoğan und die CI im Vergleich zu 2018 und in bestimmten qualitativen Feldstudien und öffentlichen Umfragen widerspiegelt. Warum ist es der Opposition dann nicht gelungen, diese Unzufriedenheit stärker als bisher von Erdoğan/CI weg zu kanalisieren?</p><h2><b>Die Grenzen eines halbherzigen progressiven Neoliberalismus</b></h2><p>Wie bereits mehrfach von kritischen Stimmen hervorgehoben wurde, ist der wichtigste bürgerliche Oppositionsblock eher schwach darin, eine überzeugende alternative Vision für Staat und Gesellschaft zu präsentieren – und noch weniger gut darin, eine solche Perspektive in sozialen Praktiken zu verankern, die mit den Menschen in Verbindung stehen. Ihre politökonomische Perspektive beinhaltet die Restauration eines klassischen neoliberalen Akkumulationsregimes, möglicherweise mit einem developmentalistischen Einschlag. Sie stehen damit für ein Akkumulationsregime, das hauptsächlich verantwortlich ist für ein Wachstum ohne Beschäftigungszuwachs (<i>jobless growth</i>), die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zerstörung der Organisation der Arbeiter:innenklasse – und damit für ein Akkumulations, das die Grundlage bot und bietet für die Bündelung der Unzufriedenheit auf reaktionäre Weise, wie es Erdoğan tat und weiterhin tut.</p><hr/><h4><b>Auch in dieser Hinsicht ähnelt der Fall der Türkei dem globalen Trend einer vorherrschenden innersystemischen Dialektik zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus vor dem Hintergrund einer tiefen und vielschichtigen Krise der globalisierten neoliberalen Weltordnung. In der Türkei jedoch mit einer noch weniger ausgeprägten „Progressivität“ auf der neoliberalen Seite der Dialektik als etwa bei Macron in Frankreich, Biden in den USA oder der „Fortschrittskoalition“ in Deutschland. Wie und warum ist das so?</b></h4><hr/><p>Die Forderung der MI nach Demokratie bleibt recht unbestimmt, da vor allem die innerstaatliche Dimension der Demokratisierung von der Hauptopposition dargelegt wird im Rahmen einer Perspektive hin zu einem gestärkten parlamentarischen System. In den einschlägigen Dokumenten der MI finden sich viele gute Vorschläge, zum Beispiel in Bezug auf das Justizwesen. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass das derzeitige Präsidialregime in der Türkei nicht mit dem Fallschirm vom Himmel auf die Erde gesprungen ist, sondern sich aus eben einem parlamentarischen System heraus entwickelt hat – genauer gesagt dadurch, dass Erdoğan/CI gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert haben, um vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise den Übergang zu einem autoritären Präsidialregime zu forcieren. In dieser Hinsicht bleibt die Forderung der Hauptopposition nach Pluralismus in den gesellschaftlichen Beziehungen weit weniger detailliert, da hoch umstrittene Themen wie die kurdische und alevitische „Frage“ und das Thema der LGBTQI+-Rechte umgangen werden. Positive Verweise auf historische Institutionen ausgrenzender religionsbasierter Politik wie das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) finden sich bei der CHP, aber auch bei anderen Parteien der MI. Ebenso finden sich positive Verweise auf neuere symbolische und institutionelle Elemente des Rechtsnationalismus und Autoritarismus, etwa auf die Einleitung und die ersten vier Paragraphen der vom Militär auferlegten und immer noch gültigen Verfassung von 1982. Diese beinhalten ein ethnisch-ausgrenzendes Verständnis der türkischen Nation und einen autoritären „Atatürkismus“. Elemente wie diese, gepaart mit einem starken Fokus auf aggressiven Nationalismus und patriarchale Werte, waren die Schlüsselthemen, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert wurden, um auf dem Weg zum aktuellen Präsidialsystem auf Zustimmung zu drängen. Und sie bleiben die Schlüsselelemente, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert werden, um aktuell den autoritären Konsens zu konsolidieren. Nicht zuletzt ähnelte die Mobilisierung der Hauptopposition jener von Erdoğan/CI: Das hieß, die Menschen kleinzuhalten und zu demotivieren, selbst aktiv zu werden oder auf die Straße zu gehen, indem sie sie vor schlimmen Dingen warnen, die sonst passieren könnten. Sie setzen darauf, dass die Menschen demobilisiert bleiben oder nur auf eine paternalistische und kontrollierte Weise mobilisiert werden.</p><p>Ein ausgrenzender (extremer) Nationalismus, eine ausgrenzenden religionsbasierten Politik sowie die einem autoritären Staatsglauben und der Staatssicherheit eingeräumte Vorrangstellung gegenüber der selbsttätigen Aktivität der Massen und der popularen Demokratie sind zentrale Themen der herrschenden Blöcke seit der Gründung der modernen Republik Türkei. Nichts davon war und ist unangefochten und unverändert. Ein Intermezzo großer sozialer Auseinandersetzungen 1960-80 stellte diese autoritären Grundlagen der Republik in Frage. Diese wurden jedoch von der Militärjunta des Staatsstreichs vom 12. September 1980 und ihrer autoritären Verfassung in modifizierter Form wiederhergestellt.</p><p>Seitdem ist das zunehmende Erstarken eines rechtsgerichteten Konservatismus zu verzeichnen, der Nationalismus und Islamismus einschließt. Er wird von den wichtigsten bürgerlichen Parteien und dem Militär propagiert und instrumentalisiert und füllt das Vakuum, das die zerstörte revolutionäre Linke hinterlassen hat. Stärkere oder schwächere Alternativ- oder Gegentrends gab und gibt es nach wie vor, wie der kurzlebige Aufstieg der Sozialdemokratie in den frühen 1990er Jahren, die illusionären Versuche eines „progressiven Neoliberalismus“ unter der frühen AKP und in jüngerer Zeit vor allem der Gezi-Aufstand von 2013 gezeigt haben. Die Republikaner und die republikanische Linke haben es jedoch vermieden und vermeiden es weiterhin, Gegentendenzen zu einer umfassenden nicht-neoliberalen Alternative zu formulieren, während die revolutionäre Linke nach 1980 viel zu schwach blieb und bleibt oder in Teilen liberal wurde. Das ist der Hauptgrund, warum es seit geraumer Zeit eine unabhängige dritte, linke und pro-kurdische Koalition in der Türkei gibt.</p><p>Dass der wichtigste Oppositionsblock heute ebenfalls versucht, auf der dominierenden Welle des Konservatismus zu reiten, sollte daher nicht überraschen. Noch weniger, wenn man bedenkt, dass im Grunde alle Parteien innerhalb der MI neben der CHP Abspaltungen von der AKP (Davutoğlus GP, Babacans DEVA) oder der MHP (Akşeners IYI) sind, außerdem eine Nachfolgepartei der Vorgängerpartei der AKP (Karamollaoğlus SP) und eine Partei, die in der Haupttradition der rechten Mitte in der Türkei steht (Uysals DP). Es handelt sich also um Parteien der rechten Seite des politischen Spektrums, weswegen die manchmal zu vernehmende Rede von einer „großen, parteienübergreifenden Koalition“ in Bezug auf die MI schlicht falsch ist.</p><p>Es gibt keine offene Zusammenarbeit mit der YSP oder dem EÖI, diese wird von fast allen Parteien innerhalb der MI außer der CHP rundweg abgelehnt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die YSP und ihre Vorläuferin, die Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP) bei den Kommunalwahlen 2019 maßgeblich zum Erfolg der Opposition beigetragen haben und jetzt wieder dazu beitragen, den Stimmenanteil von Kılıçdaroğlu zu erhöhen. In der Tat erzielte Kılıçdaroğlu in den überwiegend kurdischen Gebieten der Türkei die höchsten Werte, oft weit über 60 % der Stimmen. Im Gegensatz dazu hört man oft Aufrufe aus dem liberalen Lager an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich zugänglich gegenüber konservativen und nationalistischen Wähler:innen zu zeigen, um eine erfolgreiche demokratische Koalition zu schmieden und die Macht von Erdoğan/CI über diese Wähler:innenschaft zu brechen. Ähnliche Aufrufe an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich der HDP/YSP oder dem EÖI anzunähern, gibt es allerdings kaum. Offensichtlich ist die MI nicht nur aus pragmatischen Gründen der Ansicht, dass ein Einlenken gegenüber einer scheinbar dominanten konservativen Strömung ihr die Oberhand bei den Wahlen verschaffen würde. Der Schluss ist naheliegend, dass die Mehrheit der MI auch aktiv davon überzeugt ist, dass der Konservatismus die „richtige“ Art und Weise ist, zu regieren und die Gesellschaft zu gestalten. Gerade dieses Appeasement an den rechtskonservativen Trend machte es schon vor den Wahlen fragwürdig, wie weit eine Demokratisierung unter Führung der MI gehen könnte.</p><p>Allerdings scheint diese Anpassung an den dominanten rechtskonservativen Trend als Alternative gar nicht erst überzeugend genug zu sein, um einen Wandel in der Legislative einzuleiten, wie schon vor den Wahlen oft kritisch angemerkt wurde: Die MI blieb bei den Parlamentswahlen im Wesentlichen bei ihren Stimmenanteilen von 2018 (damals 33,94%, jetzt 35%), wobei die IYI etwas weniger (jetzt 9,7% gegenüber 9,96% 2018) und die CHP etwas mehr als bei den letzten Wahlen (25,33% gegenüber 22,65%) erzielte. Da die CHP jedoch nur durch die viel gepriesene Taktik, mit allen MI-Mitgliedern außer der IYI mit gemeinsamen Listen in den Wahlkampf zu ziehen, mehr Abgeordnete gewinnen konnte, werden sich diese Gewinne in Verluste verwandeln, da die CHP mehr Sitze an MI-Mitglieder abgeben wird, als sie gewonnen hat. Man fragt sich schon, ob die Taktik, eine Mitte-Rechts-Koalition zu schmieden, um das demokratische Potenzial gegen den Autoritarismus zu kanalisieren, doch nicht so gut aufgegangen ist und ob ein alternatives Mitte-Links-Bündnis, etwa mit der CHP und der HDP im Kern, bei guter Durchführung, nicht erfolgreicher gewesen wäre.</p><p>Die Lehren aus dem relativen Scheitern der Opposition sind meines Ermessens daher diese hier: Ohne eine umfassende alternative gesellschaftliche Vision, inklusive einer alternativen politökonomischen Vision, plus einer Praxis, die sich im Alltag und in der sozialen Praxis der Menschen mit diesen verbindet, um die Alternative tatsächlich zu verankern und die Menschen umfassend handlungsfähig subjektiviert und daher die reaktionären Subjektivierungsmechanismen ersetzt, wird es kaum gehen. Oder es wird gehen zu einem immer stärker steigenden Preis, das heißt auf dem Hintergrund von immer schwereren Krisen, deren Materialität dann irgendwann die Materialität und Superstruktur des Erdoğanismus brechen wird, allerdings dann mit einer Stoßrichtung, die radikal offen bleibt in alle Richtungen, fortschrittlich wie reaktionär.</p><hr/><h4><b>Schlimmer jedoch als die nur mittelmäßige Performance der MI ist,</b> <b>dass das Einlenken gegenüber dem Rechtskonservatismus, um dessen extremste autoritäre Form, nämlich das faschistoide Regime unter Erdoğan, zu stürzen, dazu beigetragen hat – wohl unbeabsichtigt, nehme ich an, aus der Sicht der Mehrheit der Republikaner:innen –, die steigende Flut des rechten (extremistischen) Konservatismus zu stärken. Auch das war eine große Gefahr, vor der kritische Analysen schon seit geraumer Zeit gewarnt haben.</b></h4><hr/><h2><b>Der Aufstieg des extremen Rechtskonservatismus</b></h2><p>Der heimliche Gewinner der Wahlen in der Türkei vom 14. Mai 2023 scheint derzeit der (extreme) Rechtskonservatismus zu sein, der als allgemeine Tendenz bündnisübergreifend erstarkt und verschiedene Unterströmungen wie extremen Nationalismus und extremen Islamismus umfasst. Zählt man die (rechtsextremen) nationalistischen Parteien aus der Regierungskoalition wie die MHP, aber auch aus der Opposition wie die bereits erwähnte IYI, aber auch die rasend flüchtlingsfeindliche Partei des Sieges (<i>Zafer Partisi</i>, ZP), die ihrerseits eine Abspaltung der IYI ist, zusammen, ergibt sich für diese Strömung ein Gesamtstimmenanteil von etwa 24-25 %. Das große bisher ungelöste Rätsel in dieser Gleichung ist die starke Performance der MHP. Waren ihr im Durchschnitt aller Umfragen vor den Wahlen 6-7% der Stimmen vorhergesagt worden, konnte sie mit knapp über 10% der Stimmen ihre Zustimmungswerte von 2018 im Allgemeinen fast ohne Verluste verteidigen. Eine ähnliche massive Fehlvorhersage fast aller Wahlumfrageinstitute für das Abschneiden der MHP war schon 2018 aufgetreten.</p><p>Auf der anderen Seite, während die AKP als Partei, obwohl sie immer noch die stärkste Partei bleibt, der große Verlierer dieser Wahlen ist (35,58% im Vergleich zu 42,56% im Jahr 2018), werden die extremen Islamisten von Erbakans Neuer Wohlfahrtspartei (<i>Yeniden Refah Partisi,</i> YRP) mit 2,82% der Stimmen als Teil der CI fünf Mitglieder ins Parlament schicken. Darüber hinaus sind vier Abgeordnete der kurdisch-islamistischen Partei der Freien Sache (<i>Hür Dava Partisi,</i>HÜDA-PAR) über die AKP-Listen ins Parlament eingezogen. Die YRP wurde der CI hinzugefügt, um deren Anziehungskraft im islamistischen Lager zu verstärken, während die HÜDA-PAR dem Bündnis hinzugefügt wurde, um die Anziehungskraft unter konservativen Kurd:innen zu erhöhen. Während HÜDA-PAR in der Tradition der türkischen Hizbullah steht, die in den 1990er Jahren für barbarische Massaker und Fälle brutaler Folter verantwortlich war, pflegen sowohl HÜDA-PAR als auch YRP eine aggressive Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen und Frauen*rechten. Wie der erfahrene republikanische Journalist Murat Yetkin zu Recht <a href="https://yetkinreport.com/2023/05/16/turkiyenin-en-milliyetci-ve-muhafazakar-meclisi-kuruldu/">feststellt</a>, ist das derzeitige Parlament auf dem besten Wege, das nationalistischste und islamistischste Parlament in der Geschichte der modernen Türkei zu werden. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der rechtsextrem-nationalistische Kandidat Sinan Oğan, der sich ebenfalls von der IYI abgespalten hat und sich für das im Rennen um das Parlament an sich unbedeutende ATA-Bündnis (wortwörtlich „Bündnis der Vorfahren“) aufstellen ließ, mit einem Gesamtstimmenanteil von 5,17 % entscheidend dazu beigetragen, dass das Rennen nun in eine zweite Runde geht.</p><p>Auch wenn wir noch nicht über wissenschaftlich fundierte Analysen der Wähler:innenströme verfügen, können wir vorläufig davon ausgehen, dass verärgerte AKP-Wähler:innen für Parteien innerhalb desselben Bündnisses (wie etwa die YRP) und in geringem Maße für Parteien außerhalb der Regierungskoalition, die dieser ideologisch nahe stehen, gestimmt haben.</p><p>Es zeichnet sich ab, dass nationalistisch orientierte Neuwähler:innen und verärgerte Wähler:innen anderer Parteien, <a href="https://turkiyeraporu.com/arastirma/cumhurbaskani-adaylari-hangi-parti-secmenlerinden-oy-aldi-15309/">insbesondere</a> diejenigen, die IYI gewählt haben, Sinan Oğan ihre Stimme gaben. IYI-Parteichefin Meral Akşener scheint durch das Wahlergebnis nicht so sehr aus der Fassung gebracht zu sein zu sein wie die Republikaner oder die Linke; sie hat sich in der Wahlnacht und bis zum jetzigen Zeitpunkt (Mittwoch, 17. Mai) überhaupt nicht zu den Wahlergebnissen geäußert. Man kann nur vermuten, dass ein extremer Nationalist aus der gleichen Tradition wie Akşener als mutmaßlicher Königsmacher in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sie ebenso erfreut wie das allgemein starke Abschneiden des (extremen) Nationalismus bei den Wahlen.</p><hr/><h4><b>Zusammenfassend haben die jahrelange Dämonisierung der relativ zentristischen CHP und insbesondere der HDP/YSP als terroristisch von einem extrem nationalistischen Standpunkt aus ebenso wie das Fehlen einer Alternative zum Rechtskonservatismus und die Beschwichtigung desselben durch den wichtigsten Oppositionsblock zu diesen Ergebnissen geführt.</b></h4><hr/><p>Das heißt, Politik hat zu dieser Situation beigetragen und nicht irgendeine mysteriöse allgemeine Soziologie der Türkei, derzufolge reaktionärer Konservatismus/Nationalismus irgendwie ein fester Bestandteil der türkischen Nation seit ehedem sei. Dennoch: Wie beispielsweise Cihan Tuğal <a href="https://www.bbc.com/turkce/articles/c3gpj1p1e7eo">hervorgehoben</a> hat, werden diese strukturellen Verschiebungen in der allgemeinen Wähler:innenstimmung und der Identitätsbildung in den wenigen Tagen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen höchstwahrscheinlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können, auch wenn Kılıçdaroğlu das wollte (was er, übrigens, offensichtlich nicht tut; siehe weiter unten). Bevor ich mich der Wahlnacht und den Perspektiven für den zweiten Wahlgang zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf den Zustand der Linken werfen.</p><h2><b>Revolutionäre Fehlzündungen</b></h2><p>Nach den aktuell vorliegenden offiziellen Ergebnissen bleibt das Abschneiden des linken EÖI mittelmäßig. Sie könnte sogar Stimmenanteile verloren haben (10,54 % jetzt gegenüber 11,70 % für die HDP im Jahr 2018). Dies gilt insbesondere für die YSP (jetzt 8,81 %), unter deren Dach die HDP kandidierte, da letztere mit einem politisierten Schließungsverfahren vor dem Verfassungsgericht konfrontiert ist. Da sich die Diskussionen um Wahlbetrug jedoch speziell auf die Stimmen für die YSP und in geringerem Maße für die Arbeiterpartei der Türkei (<i>Türkiye Işçi Partisi,</i>TIP), die Teil des EÖI ist, konzentrieren, werden detaillierte Diskussionen über den Wahlerfolg oder das Scheitern des EÖI warten müssen, bis sich der Nebel des Krieges gelichtet hat. Dennoch lassen sich bereits jetzt einige allgemeinere Aussagen treffen.</p><p>Der bereits erwähnte Betrug und die autoritäre Repression sowie der allgemeine Anstieg des Rechtskonservatismus der letzten Jahre haben den Aktionsradius des EÖI eingeschränkt. Dennoch bleibt das EÖI eine wichtige Kraft, mit der man rechnen muss, und zwar seit Jahren. Das Bündnis stellt den einzigen wirklichen Garant für die Demokratisierung in der Türkei dar, und aufgrund der sozialistischen und linken Tendenzen innerhalb des EÖI auch für die Möglichkeit einer sozialen Perspektive für die Türkei über den Neoliberalismus hinaus. Das ist einer der Gründe für die Dämonisierung des EÖI und insbesondere der HDP/YSP durch die meisten Parteien des politischen Spektrums: Sie wollen diese Ausrichtung einer Alternative für die Türkei auf die Kurd:innen und einige marginalisierte Elemente der Linken beschränken, da der Rechtskonservatismus von den dominierenden politischen Parteien als soziale Vision für die Türkei bevorzugt wird.</p><p>Das EÖI wurde erst kurz vor den Wahlen gegründet und bezog noch mehr sozialistische Parteien als zuvor in ein strategisches Bündnis mit den pro-kurdischen linken Kräften ein. Dies war ein wichtiger Schritt, da es die Reichweite eines strategischen Bündnisses von Sozialist:innen und pro-kurdischen Linken um diejenigen Parteien und Organisationen erweiterte, die früher in relativer Distanz zur kurdischen Bewegung standen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man über gemeinsame Listen unter dem Dach der HDP/YSP oder über verschiedene Listen in den Parlamentswahlkampf eintreten sollte, zu schwerwiegenden Reibereien innerhalb des Bündnisses. Letztendlich entschied sich nur die TIP aus den Reihen des EÖI, über eine unabhängige Liste neben der HDP/YSP anzutreten, während alle anderen sozialistischen Parteien über HDP-Listen kandidierten. Positiv am Wahlergebnis für das EÖI ist die Tatsache, dass die TIP aus dem Stand heraus vier Abgeordnete mit 1,73% der Stimmen gewinnen konnte, das ist die gleiche Anzahl an Abgeordneten wie bei und nach ihrer ersten Kandidatur 2018 über HDP-Listen. Dies ist prinzipiell zu begrüßen, da es zeigt, dass eine sozialistische Partei in strategischer Allianz mit der HDP/YSP in der Lage ist, selbst als Newcomer im parlamentarischen Wettbewerb Stimmen und Sitze zu gewinnen. Auch hier liegt bislang keine klare Analyse der Wähler:innenströme vor, so dass nicht genau festgestellt werden kann, woher die Stimmen für die TIP kamen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass TIP Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen, bisherigen Nichtwähler:innen und HDP/YSP-Wähler:innen erhalten hat. Sollte die TIP mehr Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen und Nichtwähler:innen als von HDP/YSP-Wähler:innen erhalten haben, könnte man davon ausgehend argumentieren, dass die eigenständigen Listen der TIP im Prinzip zum Wachstum des Gesamtstimmenanteils des EÖI beigetragen hat.</p><p>Wie auch immer die Wähler:innenströme im Einzelnen aussehen mögen: Auf der negativen Seite des Wahlergebnisses für das EÖI steht die Tatsache, dass die Kandidatur über getrennte Listen nach einigen Berechnungen für das EÖI aufgrund der Spaltung der linken Wähler:innenschaft in bestimmten Wahlbezirken zu einem Verlust von <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-ittifak-politikalari-ne-kazandirdi-ne-kaybettirdi-tip-in-ayri-listesi-hangi-illerde-sonucu-etkiledi,40029">etwa vier Abgeordneten</a> führte (Berechnungen über potenzielle Verluste von Parlamentssitzen bleiben noch provisorisch). Während ein Zusammenschluss mit dem vorrangigen Ziel, mehr Abgeordnete zu erhalten – und damit der Verzicht auf unabhängige Organisation und Propaganda – in normalen Zeiten als eine autoritäre Perspektive des Ausbügelns von Differenzen um des stärksten Teils der Einheit willen aus rein pragmatischen Gründen (= mehr Abgeordnete) angesehen und kritisiert werden muss, war die Türkei am 14. Mai nicht auf normale Wahlen eingestellt: Die absolute Mehrheit der CI im Parlament zurückzudrängen und Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten zu schlagen, war und bleibt der Schlüssel, um den konsolidierten Autoritarismus an diesem kritischen historischen Punkt empfindlich zu treffen. Darum ging es am 14. Mai. Der Zeitpunkt der TIP-Initiative, mit eigenen Listen anzutreten und auch dort separat zu kandidieren, wo dies absehbar zu einem Verlust von Abgeordneten für das EÖI insgesamt führen würde, muss daher als grober Fehler gewertet werden, der die gemeinsame Dynamik des Bündnisses beschädigte und als solcher scharf kritisiert werden sollte.</p><p>Andererseits hat der Geist der Debatten über die Listenfrage und die Perspektive nach den Wahlen zuweilen die Grenzen des legitimen Wettbewerbs und der Kritik innerhalb eines Linksbündnisses verlassen und war auch für den Geist des Bündnisses äußerst destruktiv. Wenn wir die bisherigen offiziellen Ergebnisse für bare Münze nehmen (und dabei immer den Betrugsvorbehalt im Hinterkopf behalten), hat die HDP/YSP mehr Stimmen <a href="https://t24.com.tr/haber/hdp-ve-yesil-sol-parti-den-secim-sonuclarina-iliskin-aciklama,1110004">verloren</a> als die TIP gewonnen hat, <a href="https://twitter.com/alkanfrkan/status/1658036982721675264">selbst</a> in Gebieten, in denen die TIP nicht parallel zur HDP/YSP antrat, wie in (Teilen von) Izmir, Ankara, Bursa, Aydın, Kocaeli und Manisa. Die Beschädigung des Bündnisgeistes könnte zu einer Demoralisierung und folglich zu einem Verlust von Stimmenanteilen insgesamt beigetragen haben. Eine nüchterne Selbstreflexion und -kritik ist notwendig, um die Gründe für den relativen Verlust von Stimmenanteilen zu finden. Innerhalb des Bündnisses stehen an den beiden extremen Polen der Debatte die Klage des TIP-Abgeordneten Ahmet Şık über „kurdische Faschisten“ und die Behauptung der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan, jede Stimme für eine andere Partei innerhalb des EÖI als die HDP/YSP sei eine Stimme für Erdoğan (beide entschuldigten sich später). Auch nach der Wahlnacht ging die Suche nach einem Sündenbock innerhalb des EÖI viral. Dies ist keine akzeptable Form, eine bündnisinterne Debatte zu führen.</p><hr/><h4><b>Die EÖI-Mitglieder und -Mitgliedsparteien sollten sich rasch wieder auf die Wiederherstellung des Bündnisgeistes besinnen, ohne sich dabei berechtigte Kritik zu verkneifen. Gerade jetzt sind alle Kräfte notwendig, um die seit der Wahlnacht einsetzenden allgemeinen Demoralisierungstendenzen umzukehren, um auf dem steinigen Weg zum 28. Mai wieder die Initiative zu ergreifen.</b></h4><hr/><p>Man kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich so schnell wie möglich auf die zweite Wahlrunde vorzubereiten. Zudem: Mittel- bis langfristig, unabhängig von den Ergebnissen des 28. Mai, ist eine starke und geeinte EÖI notwendig, um dem Aufstieg des Rechtskonservatismus entgegenzuwirken, mehr Kräfte für eine Demokratisierung der Türkei mit einer starken sozialen Perspektive zu sammeln und das Kräftegleichgewicht in eine solche Richtung zu bewegen. Dies wird der EÖI nicht gelingen, wenn sie in eine Psychologie der Niederlage zurückfällt, die die destruktiven Energien nach innen lenkt, anstatt sie in positive Energien nach außen zu wenden.</p><h2><b>Ein harter Kampf steht bevor</b></h2><p>Momente und Elemente, die keine zentralen Bestandteile von Strukturen oder von mittel- bis langfristigen Tendenzen darstellen, können dennoch kurzfristig von großer Bedeutung sein. Sie werden historisch entscheidend, wenn das Kurzfristige selbst ein kritischer historischer Kreuzungspunkt ist.</p><p>Die Wahlnacht bleibt nach wie vor geheimnisumwittert, da die Veröffentlichung neuer Daten zum Wahlergebnis durch alle relevanten Instanzen, einschließlich des von CHP und MI konstruierten alternativen Systems, mitten in der Nacht für einige Stunden gestoppt wurde. Selbst die sonst sehr lautstarken CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş, die die offizielle Auszählung und die AKP-Blockademanöver am Abend und in der Nacht angefochten hatten, verstummten ohne jede Erklärung. Dabei hatte Imamoğlu bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 die ganze Nacht hindurch die offizielle Auszählung in ganz ähnlicher Weise angefochten, was als entscheidendes Element für den Sieg der CHP gegen den versuchten Wahlbetrug durch die AKP angesehen wird. Was ist dieses Mal passiert? Drei Tage danach gibt es immer noch keine befriedigende Erklärung. Es gibt viele Gerüchte und Anzeichen – wie den Rücktritt der Person, die innerhalb der CHP für die Wahlsicherheit und die Wahlberichterstattung zuständig ist –, die darauf hindeuten, dass innerhalb der CHP etwas grundlegend schief gelaufen ist. Aber die breite Bevölkerung wird über Details im Unklaren gelassen und dadurch demobilisiert. Hinzu kommt, dass Wahlbetrug, dessen Ausmaß nach wie vor hoch <a href="https://twitter.com/alicanuludag/status/1658580790773440514?t=RD_k8mk4GHrW0UesNWklkw&s=35">umstritten</a> ist, bereits zwei Tage nach den Wahlen aufgedeckt wurde. Vielleicht ist es reiner Zufall und die hohe analytische Begabung des Innenministers Süleyman Soylu (AKP), dass er das Wahlergebnis am Wahltag fast <a href="https://www.sabah.com.tr/yazarlar/ovur/2023/05/16/secimin-kazanani-kaybedeni-ve-surprizi">exakt genau</a> vorhersagte (49,50% für Erdoğan, 320-325 Sitze für CI). Oder vielleicht auch nicht.</p><p>Selbst wenn der Betrug die immer noch hohe Wähler:innenunterstützung für Erdoğan und die CI nicht erklärt: Wenn Betrug das Wahlergebnis auch nur um 1-3% zugunsten von Erdoğan und der MHP und gegen Kılıçdaroğlu und die YSP verändert hat, wird er entscheidend für den Moralfaktor im Vorfeld der zweiten Runde des Präsidentschaftsrennens sein. Was in der Wahlnacht vor aller Augen geschah – zahllose Einwände von AKP-Militanten gegen die Auszählung von Wahlurnen in Istanbul und Ankara – könnte dann als Ablenkungsmanöver interpretiert werden, um Aufmerksamkeit, Zeit und Energie von den Wahlurnen abzulenken, wo der eigentliche Betrug stattfand. Die Entlarvung dieses möglichen Wahlbetrugs wird Kılıçdaroğlu höchstwahrscheinlich keinen Sieg in der ersten Runde bescheren und vermutlich auch nicht die absolute Mehrheit der CI im Parlament zunichte machen. Aber das unerwartet starke Abschneiden der MHP im Parlament und der Beinahe-Sieg von Erdoğan in der ersten Runde waren die beiden Schlüsselelemente der weit verbreiteten Demoralisierung in und nach der Wahlnacht. Sicherlich tragen auch die von den politischen Parteien genährten überzogenen Erwartungen ihren Teil der Verantwortung für diese Demoralisierung. Dennoch würde eine Verringerung des Stimmenanteils der MHP und von Erdoğan durch die Aufdeckung dieser Betrugsfälle die Moral erheblich stärken.</p><hr/><h4><b>Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, den genauen Umfang des Wahlbetrugs so gut wie möglich zu ermitteln und die Ergebnisse so schnell wie</b> <b>möglich zu kippen, um die</b> <b>allgemeine Stimmung auf dem steinigen Weg zum 28. Mai zu ändern. Trotzdem: Auch ohne die Aufdeckung des Betrugs ist der selbst in manchen kritischen Analysen festzustellende Defätismus im Hinblick auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen von vornherein ein falscher Ansatz.</b></h4><hr/><p>Sinan Oğan und die rund 5 % der Stimmen, die er auf sich vereinigen konnte, sind entscheidend geworden für den 28. Mai. Oğan hat erklärt, er werde mit beiden Seiten sprechen und seine Forderungen für eine Unterstützung seinerseits am 28. Mai vorlegen. Diese lassen sich im Wesentlichen auf die Forderung reduzieren, dem extremen türkischen Nationalismus und der Anti-Geflüchteten-Hetze Respekt zu zollen. Oğan scheint im Moment dazu zu tendieren, Kılıçdaroğlu am 28. Mai zu unterstützen, während er bereits mit vorgezogenen Neuwahlen in zwei bis drei Jahren rechnet – unabhängig davon, wer gewinnt, da er, nicht ganz zu Unrecht, eine instabile Situation nach dem 28. Mai voraussieht. Andererseits ist der Charakter von Oğans Wähler:innenschaft noch nicht wirklich klar. Sie sind offensichtlich in Opposition zu Erdoğan und durch nationalistische Gefühle motiviert, zugleich aber auch auf Distanz zu Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu kann sich entscheiden, dem türkischen Nationalismus noch mehr Zugeständnisse zu machen, als er ohnehin schon gemacht hat, um die Oğan-Wähler:innen für sich zu gewinnen. Hierdurch läuft er jedoch Gefahr, die Unterstützung der Linken und der Kurd:innen zu verlieren. Oder er setzt auf die Betonung der anti-Erdoğan und antifaschistischen, pro-demokratischen Perspektive, die von Teilen der Oğan-Wähler:innen geteilt zu werden scheint – und riskiert, im Gegenzug die Unterstützung der Hardcore-Nationalist:innen zu verlieren. Mit Stand heute (Mittwoch, 17. Mai) scheint er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-vatanimizi-birakmayacagiz-dedi-10-milyon-duzensiz-multeciyi-icimize-soktular,1110466">ersteres zu bevorzugen</a> und beginnt mit einer aggressiven Anti-Geflüchteten-Hetze sowie einem Lob auf das Vaterland und den nationalistischen Militarismus.</p><p>Wie dem auch sei, ein Sieg von Kılıçdaroğlu wäre der Schlüssel zur Schwächung von Erdoğan und der CI, da das autoritäre Präsidialsystem dem Präsidenten die Möglichkeit gibt, die gesamte Regierung und einen großen Teil der oberen Bürokratie zu bestimmen, unabhängig davon, wer das Parlament kontrolliert. Eine Situation der Doppelherrschaft, in der ein Block den Präsidenten und der andere das Parlament kontrolliert, würde also nicht automatisch zu einem Verwaltungschaos führen, wie manche meinen. Die Exekutive und die Bürokratie unter Kılıçdaroğlu, einschließlich der Sicherheitsapparate, der wirtschaftspolitischen Institutionen und großer Teile der oberen Gerichtsbarkeit, könnten so agieren, dass sie die absolute Mehrheit der CI im Parlament umgehen. Aus hegemonialer Sicht wäre eine solche Situation jedoch höchstwahrscheinlich nicht für längere Zeit haltbar, insbesondere angesichts des Versprechens der MI, das Präsidialsystem zu beenden.</p><p>Die Opposition gegen den Faschisierungsprozess in der Türkei hat auf dem steinigen Weg zum 28. Mai einen schweren Stand. Zwar hat die partielle Aufdeckung des Betrugs, dessen Ausmaß nach wie vor umstritten ist, die Moral bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, doch haben Erdoğan und die CI nach wie vor die Oberhand, und es sieht aus heutiger Sicht wahrscheinlicher aus, dass sie den 28. Mai gewinnen werden. Das ist jedoch keine ausschließliche Notwendigkeit, und es besteht eine realistische Chance, dass auch Kılıçdaroğlu gewinnt. Dies sollte nicht leichtfertig abgetan werden, da der Erfolg oder Misserfolg des Kampfes gegen die Demoralisierung und die Wiedererlangung der Initiative mit darüber entscheidet, ob Erdoğan am 28. Mai besiegt wird oder nicht. Der Erfolg oder Misserfolg am 28. Mai ist nicht nur eine intellektuelle, erkenntnistheoretische Übung der rationalen Analyse dessen, was mehr oder minder wahrscheinlich geschehen wird, sondern eben auch eine Frage der Praxis, die den Ausgang der Wahl mit entscheidet. Nichts anderes bedeutet es in praktischer Hinsicht, von Möglichkeiten statt von Notwendigkeiten zu sprechen. Defätismus à la „Erdoğan hat eh schon gewonnen, ich mach mir überhaupt keine Hoffnungen“ ist eine Luxusware aus der Sicht all jener oppositionellen und dissidenten Menschen, die im Falle eines Erdoğan/CI-Doppelsieges keine realistische Perspektive haben, aus dem Land zu fliehen. Die Depression, die aus der Wahrnehmung einer ausweglosen Perspektive von weiteren fünf Jahren Erdoğan in Koalition mit der Hizbullah entstanden ist, hat schon jetzt die 20-jährige Kübra Ergin <a href="https://sendika.org/2023/05/kadin-savunmasi-genc-kadinin-intihar-ettigi-yenikapi-marmaraya-cicekler-birakti-685070/">in den Freitod</a> getrieben. Die Verbreitung einer solchen Wahrnehmung der Ausweglosigkeit lässt sich stoppen, das sind wir Kübra Ergin und vielen anderen schuldig. Alle Kräfte müssen jetzt gebündelt werden, um für eine Niederlage von Erdoğan am 28. Mai zu kämpfen. Nur so besteht die Möglichkeit, dass der faschistische Ansturm kurzfristig etwas nachlässt, was notwendig ist, um die Grundlagen für den Aufbau einer sozialen Kraft und einer Vision zu schaffen, die den gordischen Knoten durchschlagen könnte. All dies natürlich ohne der Illusion zu verfallen, dass eine Präsidentschaft von Kılıçdaroğlu der Türkei Demokratie und Sozialismus bringen wird, umso weniger, wenn Konzessionen ultranationalistischer Art an Oğan damit einhergehen. Die Alternative ist jedoch, dass die Tore der Hölle sperrangelweit geöffnet werden. Dann kann man sich die revolutionären mittel- bis langfristigen Perspektiven vermutlich auch erst mal gründlich abschminken. Darüber sollte man sich schon im Klaren sein, bevor man in einen bequemen Pessimismus verfällt oder sich umgekehrt in einen <a href="https://umutgazetesi42.org/arsivler/98701">revolutionären Ultralinksradikalismus</a> stürzt.</p></div>
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„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“? Hegemoniekämpfe in der Türkei2022-05-05T18:38:01.852883+00:002022-05-06T11:02:42.616042+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kartoffeln-zwiebeln-auf-wiedersehen-erdo%C4%9Fan-hegemoniek%C3%A4mpfe-in-der-t%C3%BCrkei/
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<div class="rich-text"><p>Nach dem <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">Inferno des vergangenen Sommers</a>, als die größten Waldbrände der Geschichte der modernen Türkei ganze Landstriche verwüsteten, folgte ein langer Winter im Land. Im Januar 2022 legte ein heftiger Schneesturm das gesamte Leben Istanbuls lahm. Hunderte Autos und Busse blieben im hohen Schnee auf den Hauptverkehrsachsen stecken, keine Fähren fuhren mehr, die Menschen übernachteten improvisiert in den Vierteln, in denen sie der Schneesturm erwischt hatte. Zwei Monate später waren Stadt, Gouverneursamt und Bevölkerung besser vorbereitet. Erneut zogen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im März heftige Schneestürme über Istanbul hinweg und bedeckten die Stadt mit eisigem Frost.</p><p>In diesem langen Winter fegte jedoch nicht nur der Schnee über Istanbul, sondern mit <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">fast 70 Prozent</a> auf seinem bisherigen Gipfel (April 2022) auch die höchste Inflationsrate seit 20 Jahren über die Türkei hinweg. Lebensmittel, Strom, Gas zum Heizen und Kochen – viele Grundgüter des modernen Lebens wurden zu fast unbezahlbaren Luxusgütern. Die Preise steigen teils wöchentlich. Menschen kaufen wenige und schlechtere Lebensmittel ein und beginnen, alles mögliche auf Vorrat im Sonderangebot zu kaufen. Ladenbesitzer*innen sitzen in dicken Mänteln, Schals und Polarhandschuhen in ihren Läden, weil die Heizkosten explodieren. Der Winter kann als eine lange, niederschmetternde Depression für den Großteil der Bevölkerung bezeichnet werden. Aber ganz oben wird weiterhin das altbekannte makabre Theater der Hybris gespielt: Die Türkei <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-oncu-gostergelerimiz-cok-iyi-2302041">erringe</a> „einen [wirtschaftlichen] Erfolg nach dem anderen“ (Wirtschafts- und Finanzminister Nureddin Nebati), sie werde zu „einem der mächtigsten Länder der Welt“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-yatirimcilar-turkiye-ye-gelsin-diye-kosacagiz-2302140">ebenfalls</a> Nebati); „wir gehören zu denen, die am besten wissen, wie man Inflation bekämpft“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-burokratik-engeller-cikaranlarin-onunde-duracagiz-2302054">wieder</a> Nebati); „die Türkei ist so stark wie noch nie in den letzten 300 Jahren“ (Innenminister Süleyman <a href="https://www.birgun.net/haber/soylu-nun-hedefinde-kilicdaroglu-ve-6-parti-var-bildiriyi-hangi-buyukelcilige-duzeltmeye-gonderdin-382037">Soylu</a>).</p><p>Wer auf Regimeseite die beinharten Realitäten nicht mehr ignorieren konnte, versuchte diese <a href="https://www.yeniakit.com.tr/yazarlar/abdurrahman-dilipak/goz-gore-gore-37197.html">verschwörungsideologisch</a><a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/ibrahim-karagul/biden-o-an-ne-dusundu-chp-hdp-turkiyeyi-boler-o-mudahale-yapilmali-ic-komplo-da-cokecektir-2060036">zu prozessieren</a>. Das heißt zum Beispiel, Wirtschaftskrise und politische Instabilität als großes Spiel böser Mächte gegen „die Türkei“ darzustellen (Abdurrahman Dilipak, Ibrahim Karagül), die – selbstredend von der AKP betriebene – <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/yusuf-kaplan/hem-kendimizle-hem-de-batiyla-yuzlesmeden-asl-2060760">Polarisierung</a> der Gesellschaft als Ergebnis früherer Verwestlichung zu beklagen (Yusuf Kaplan), oder <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3205516-millet-ittifaki-kopruden-onceki-son-cikisa-dikkat-etmeli">Existenzängste</a> vor einem bevorstehenden Generalzusammenbruch der Türkei zu schüren, sollten Regierung und Opposition nicht zusammenarbeiten (Nagehan Alçı). Ihr verschwörungstheoretisches Vorbild haben sie in Recep Tayyip Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-erken-secim-yapmak-ilkel-kabilelerin-isidir,995442">höchstpersönlich</a>: „Hinter allen Ereignissen der letzten acht Jahre in unserem Land […] steht ein Plan, ein Szenario, eine Falle“. Wie seit geraumer Zeit so funktionieren auch heute regimetreue Verschwörungsideologien in dem Sinne, dass sie die Objektivität der Hegemoniekrise dethematisieren und die Menschen der rationalen Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse berauben, damit sie, in Angst und Panik versetzt, handlungsunfähig werden.</p><p>Aber mit dem langen Winter der Depression kommt auch der Frühling des Widerstands: Eine <a href="https://emekcalisma.files.wordpress.com/2022/03/eccca7t_2022-grev.pdf">Welle an Streiks</a> fand in den beiden ersten Monaten des Jahres 2022 über über die gesamte Türkei verteilt statt – noch größer als die bisher größte Streikwelle der AKP-Ära, dem <a href="http://diebuchmacherei.de/produkt/partisanen-einer-neuen-welt-eine-geschichte-der-linken-und-arbeiterbewegung-in-der-tuerkei/">„Metallsturm“ von 2015</a>. In der gesamten Türkei inklusive der AKP-Hochburg der östlichen Schwarzmeerregion protestierten Menschen gegen die exorbitanten (Strom-)Preise (unter dem Slogan <i>geçinemiyoruz!</i> - Wir kommen nicht mehr über die Runden!), Studierende gegen den Mangel an Wohnheimen (<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-university-students-camp-parks-protest-rent-hikes"><i>barınamıyoruz!</i></a> – Wir kommen nicht mehr unter!); Werktätige des Gesundheitssektors gingen in zahlreichen Weißen Märschen (<a href="https://sendika.org/2021/11/beyaz-yuruyus-suruyor-eskisehirde-hekimler-polis-engelini-tanimadi-638464/"><i>beyaz yürüyüş</i></a>) in vielen Städten der Türkei gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf die Straßen. Trotz einer tiefgreifenden Änderung im Wahlprozedere der Anwaltskammern zugunsten des Regimes <a href="https://yetkinreport.com/2021/12/06/barolar-birligi-secimi-kaybeden-yalniz-feyzioglu-olmadi/">gewann</a> der kämpferische Oppositionskandidat Erinç Sağkan die Wahl und kündigte ein Ende der Appeasementpolitik seitens der Spitze der Anwaltskammern gegenüber dem Regime an. Der 8. März und Newroz, das kurdische Frühjahresfest, wurden gegen alle Verbote auf den Straßen und den Plätzen mit Hunderttausenden Beteiligten gefeiert. Und tatsächlich, es kam wieder so etwas wie ein Geist von Gezi und die darin ausgedrückte kreative Lebensfreude auf: <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531"><i>Patates, soğan, güle güle Erdoğan</i></a> – „Kartoffeln und Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan!“, wurde zu einem gängigen Slogan gegen die Preisexplosion und deren politischen (Mit-)Verursacher. Wie immer in den letzten Jahren wurden auch diesmal alle diese legitimen sozialen Kämpfe und ihre Forderungen seitens der Regierung mit „<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-students-continue-protests-despite-arrests-erdogans-accusations">Terrorismus</a>“ <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-yurt-bahanesiyle-eylem-yapanlar-teror-baglantili,984434">in Zusammenhang</a> gebracht; oder in kontrafaktischer Hybris davon fabuliert, die Regierung löse alle Probleme – oder diese gäbe es eigentlich gar nicht erst: „Wir haben <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-vatandasi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-2298681">nicht zugelassen</a>, dass unsere Bürger von der Inflation erschlagen werden, und werden dies auch weiterhin nicht tun“, so Erdoğan; fast <a href="https://haberglobal.com.tr/ekonomi/bakan-nebati-hic-kimseyi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-166939">wortgleich</a> der Wirtschafts- und Finanzminister Nebati.</p><p>Während das Regime mit altbekannten und neuen Tricks versucht, aus seiner bis dato tiefsten Hegemoniekrise mittels eines wiederaufgenommenen Prozesses der autoritären Konsolidierung herauszukommen, versammeln sich die Hauptoppositionsparteien des bürgerlichen Blocks, um den wachsenden Unmut für einen restaurierten Neoliberalismus zu vereinnahmen. Der Ausgang der tiefen Hegemoniekrise bleibt bislang offen und umkämpft zwischen den Kräften der autoritären Konsolidierung, der neoliberalen Restaurationsperspektive und den popularen Kräften. <b>[1]</b></p><h2><b>Mit Vollgas in die Sackgasse: Die Verschärfung der Wirtschaftskrise</b></h2><p>Leser*innen <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">früherer Artikel</a> von mir wissen um die wirtschaftspolitische Taktik der permanenten Kehrtwenden beziehungsweise „Erdoğans Zickzackkurs“, der seit geraumer Zeit die politische Ökonomie des Landes bestimmt: Um sich eine politische Basis unter den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und ihrer Arbeiter*innen zu erschaffen, beziehungsweise zu konsolidieren, schlägt das Regime um Erdoğan regelmäßig eine nicht der neoliberalen Orthodoxie entsprechende Wirtschaftspolitik der Niedrigzinsen und der Kreditexpansion ein. Dies führt jedes Mal zu einem weiteren Fall des Wertes der Lira und wegen der hohen Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft damit zu einer sehr hohen Inflationsrate. Um diese Folgen dann wieder abzudämpfen, reagiert das Regime um Erdoğan daher immer wieder mit einer Kehrtwende in Richtung orthodoxer Wirtschaftspolitik: Eine Hochzinspolitik gegen die Inflation – einerseits, um ausländisches Kapital anzuziehen (weil Zinsen höher als die Inflation Gewinne garantieren), andererseits, um die Kreditexpansion und damit die durch erhöhten Konsum bedingte Inflation zu drosseln. Damit im Zusammenhang stehen dann regelmäßig auch andere kontraktive Maßnahmen.</p><p>Ein Ausweg aus diesem Zickzackkurs schien unmöglich, solange der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei fest in die transatlantische neoliberale Weltordnung integriert blieb. Denn dies macht die türkische Wirtschaft abhängig von Kapital- und Produktionsgüterimporten und volatil angesichts der Situation der Weltwirtschaft insgesamt, in der nach den Krisenzeiten um 2008/09 und insbesondere nach 2013 die Kapitalzuflüsse in (semi-)periphere Länder abnahmen oder stark schwankten. Die aus dieser Volatilität hervorgehende wirtschaftliche Instabilität sowie die Erschöpfung des semi-peripheren Akkumulationsmodells in der Türkei (unter Anderem wegen dem Erreichen der Grenzen der Lohndrückerei im internationalen Vergleich sowie wegen dem fehlenden technologischen Upgrade der türkischen Wirtschaft) sorgten schon ganz von selbst ohne Erdoğans Autoritarismus und der zunehmend heterodoxen Wirtschaftspolitik für eine Verlangsamung des türkischen Wirtschaftswachstums. Letztgenannte wirken nur – zugegebenermaßen immer stärker – verschärfend auf diese Krise des semi-peripheren Neoliberalismus in der Türkei.</p><p>Dieser Zickzackkurs scheint mittlerweile aber verlassen worden zu sein zugunsten eines einseitigen Fokus auf die heterodoxe Seite. Wie schon im Artikel „Türkisches Inferno“ erwähnt, wurde im März 2021 erneut ein heterodox agierender, Erdoğan-treuer Zentralbankchef, Şahap Kavcıoğlu, von Erdoğans Gnadentum eingesetzt. Dieser konnte aber über Monate hinweg wegen der drastischen Reaktion der Märkte die Zinsen nicht senken. So blieb der Zentralbankzins bei 19 Prozent – nur ganz leicht über der damaligen Inflationsrate. Eine Inflationsrate von etwas weniger als 19 Prozent, zwischenzeitlich undenkbar. Die Schockstarre hielt selbstredend nicht lange an: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/bowing-erdogans-pressure-turkish-central-bank-makes-risky-rate-cut">Von Ende September</a> <a href="https://www.bloomberght.com/merkez-bankasi-faiz-kararini-acikladi-2290205">bis</a> Anfang Dezember 2021 wurde der Leitzins unter dem neuen Zentralbankchef auf 14 Prozent gesenkt, während die (offizielle) (Verbraucherpreis-)Inflationsrate <a href="https://www.bloomberght.com/tufe-yuzde-20-ye-dayandi-ufe-19-yilin-zirvesinde-2291219">sukzessive</a> von <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyonda-yayilim-2021-zirvesinde-2289021">fast 20 Prozent</a> im September und Oktober <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Enflasyon+Verileri/Tuketici+Fiyatlari">auf</a> 36 Prozent im Dezember 2021, über 48 Prozent im Januar 2022, über 54 Prozent im Februar, 61 Prozent im März und zuletzt auf fast 70 Prozent im April (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) stieg. Mitarbeitende der Zentralbank (<i>Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası</i>, TCMB), die sich gegen diesen Kurs stellten, <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/turkeys-erdogan-overhauls-cenbank-mpc-appoints-two-new-members-2021-10-13/">wurden gefeuert</a>, de facto <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasinin-eski-yoneticilerine-surgun-gibi-gorevlendirmeler-670265">strafversetzt</a> und durch regime-treue Personen <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasi-meclisinde-sessiz-sedasiz-kritik-bir-degisiklik-670403">ersetzt</a>. Zudem wurde der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Lütfi Elvan, der ebenfalls eher für eine orthodoxere Gangart stand und die Wirtschaftspolitik <a href="https://www.bloomberght.com/elvan-her-bir-kurum-uzerine-dusen-gorevi-yapmali-2292111">immer offener</a> kritisierte, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/sahi-hazine-ve-maliye-bakani-elvan-nerede,32854">noch handlungsunfähiger</a> gemacht, als er es sowieso schon war. Schon im November 2021 <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bakan-lutfi-elvanin-istifa-ettigi-iddia-edildi-berat-albayrak-ismi-yeniden-gundemde-1882173">sickerte durch</a>, dass Elvan seinen Rücktritt eingereicht hatte, weil er anderer Meinung war als der (damals noch) stellvertretende Minister Nebati, der noch zu Zeiten des Wirtschaftsministeriums unter Erdoğans Schwiegersohn Albayrak 2018ff. eingesetzt wurde und die heute verfolgte heterodoxe Negativzinspolitik verteidigte. Elvan hatte versucht, diesen aus dem Amt zu entfernen, was ihm misslang; zugleich sank sein Einfluss in der Ministerialbürokratie immer weiter. Im November wurde Elvans Rücktrittsgesuch, so die Gerüchte, noch abgelehnt von Erdoğan. Am 2. Dezember hingegen war es soweit: Sein „Gesuch auf Entbindung von Aufgaben/Verantwortung“ (<i>görevinden af dileği</i>), wie es im euphemistischen Jargon des Regimes neuerdings bei ordinären Ministerentlassungen durch Erdoğans Hand teils ohne vorherige Kenntnis der jeweiligen Minister heißt, wurde <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakanligina-nureddin-nebati-atandi-2293417">stattgegeben</a>, anstatt seiner der schon bekannte Nebati eingesetzt.</p><h4><i>Die Krisendynamik</i></h4><p>Entsprechend dieser Geldpolitik wuchs der Negativrealzins, also der Leitzins der Zentralbank minus die Inflationsrate. Vor allem in Banken gehaltene Lira (<i>Türk Lirası</i>, TL)-Guthaben wurden damit de facto sukzessive entwertet, Devisen und Gold wurden zu Vehikeln der Vermögensabsicherung und -steigerung, was nebst dem Negativrealzins den Druck auf die Lira erhöhte. Über das Jahr 2021 gerechnet verloren so <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">laut dem Statistischen Institut (</a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570"><i>Türkiye İstatistik Kurumu</i></a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">, TÜIK</a>) Lira-Einlagenbesitzer*innen 22,75 Prozent (real, also gegen die Inflation gerechnet) an Wert, Investor*innen in türkische Staatsanleihen dagegen 32,69 Prozent, während Investor*innen in US-Dollar, Euro und Gold jeweils 23,08 Prozent, 14,45 Prozent und 19,70 Prozent an Wert gewannen. Gekoppelt mit der Unvorhersehbarkeit, die diese aus Sicht neoliberaler Orthodoxie heterodoxe und irrationale Geldpolitik repräsentierte, führte diese unmittelbar zur massiven Entwertung der Lira, damit zur Erhöhung der Importkosten und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft zur erwähnten rasenden Erhöhung der Inflation. Die Schere zwischen (inländischer) Erzeugerpreis- und Verbraucherpreisinflationsrate mit im April 2022 über 50 Prozent nimmt mittlerweile historische Ausmaße an – die Erzeugerpreisinflationsrate liegt derzeit bei <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45853">über 120 Prozent</a>. Wegen der hohen Inflationsrate werfen mittlerweile alle vom TÜIK erfassten regulären finanziellen Anlagen real <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Mart-2022-45572">Verluste ab</a> (Januar-März 2022).</p><p>Der wegen der Billigkreditschwemme angekurbelte <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">Binnenkonsum</a> trug zum einen zwar wesentlich zum <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/turkeys-economy-11-growth-brings-risk">11 Prozent BIP-Wachstum 2021</a> bei (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bireysel-kredi-kullanimi-35-milyona-yaklasti-15-milyonluk-istanbulda-13-milyon-kisi-kredi-borclusu-haber-1534894">fast die Hälfte</a> der Bevölkerung der Türkei ist verschuldet mit individuellen Bedarfskrediten; in Istanbul sogar etwa 80 Prozent der Bevölkerung; das Kreditvolumen <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-inflation-hits-61-fallout-ukraine-war-continues#ixzz7PWQd6Oey">wuchs</a> um etwa 44 Prozent aufs Jahr gerechnet). Aber gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben für die Staatsbanken im Jahr 2021 exorbitant an: Deren <a href="https://www.dunya.com/finans/haberler/konut-sektoru-faiz-kampanyalarla-yuzde-1in-altina-inerse-doping-olur-haberi-637634">politisch bestimmte</a> <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-25/turkish-state-banks-follow-rate-gamble-by-pledging-cheaper-loans">Niedrigzinspolitik</a> führte wegen der galoppierenden Inflation zu hohen Verlusten, die dann vom zentralstaatlichen Budget <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2022/03/ayrntl-butce-analizi.html">beglichen werden</a> mussten. Aber all diese und andere Maßnahmen – wie beispielsweise die klassisch neoliberal-populistische vorübergehende <a href="https://www.bloomberght.com/yeni-enflasyon-tedbirleri-paketi-aciklandi-2298721">Senkung der Mehrwertsteuern</a> auf Grundnahrungsgüter und Strom auf 1 Prozent, die (mittlerweile von der Inflation längst überholte) <a href="https://www.bloomberght.com/2022-icin-asgari-ucret-4-bin-250-tl-oldu-2294450">Erhöhung des Mindestlohns</a> um 50 Prozent auf 4250 Lira Netto (weniger als 300 Euro) im Dezember 2021 seitens Erdoğans, die Durchführung von <a href="https://www.cnnturk.com/ekonomi/istanbuldaki-marketlerde-es-zamanli-fiyat-ve-etiket-denetimi">Preiskontrollen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/rekabet-kurumu-zincir-marketlere-ceza-yagdirdi-2291000">heftige Strafen</a> für Supermärkte mit „Wucherpreisen“ und die Einführung <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/tarim-kredi-marketleri-gida-fiyatlarini-dusurebilir-mi/635714">staatlich subventionierter</a> Märkte (wie schon 2019) <b>[2]</b> – konnten die mit 70 Prozent galoppierende Inflation und ihre Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse nicht oder nur sehr schwach bremsen. Hinter der durchschnittlichen Inflationsrate von 70 Prozent – unabhängige Berechnungen gehen sogar <a href="https://enagrup.org/">von über 155 Prozent</a> aus – verstecken sich exorbitante Preiserhöhungen von Gütern des alltäglichen Bedarfs. Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke stiegen <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">um fast 90 Prozent</a> (April 2022 gegenüber Vorjahreszeitraum) <a href="https://t24.com.tr/haber/disk-ar-yoksulun-gida-enflasyonu-yuzde-131-6,1032242">beziehungsweise</a> sogar <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/enflasyonla-mucadelede-tcmb-olmadiysa-tuik-verelim/653964">vermutlich noch mehr</a>, der Preis von <a href="https://t24.com.tr/haber/son-bir-yilda-benzine-yuzde-166-motorine-yuzde-235-zam-geldi,1019585">Benzin</a> stieg um 166 Prozent und der von Diesel um sagenhafte 235 Prozent (Anfang März 2022 gegenüber dem Vorjahr), <a href="https://tr.euronews.com/next/2022/03/29/akaryak-t-dogal-gaz-elektrik-turkiye-de-ve-avrupa-ulkelerinde-enerji-fiyatlar-ne-kadar-art">Energiepreise im Allgemeinen</a> (also inklusive Erdgas und Strom) um fast 100 Prozent (Februar 2022 gegenüber dem Vorjahr) und somit etwa drei mal so viel wie im EU-Durchschnitt. Die <a href="https://betam.bahcesehir.edu.tr/2022/04/sahibindex-kiralik-konut-piyasasi-gorunumu-nisan-2022/">Mietpreise explodierten</a> um durchschnittlich 123,5 Prozent türkeiweit (März 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat); <a href="https://haber.sol.org.tr/haber/kira-krizinin-arka-plani-neden-ev-bulamiyoruz-313611">unter anderem</a> deshalb, weil einige gutbetuchte Menschen ihre Geldvermögen in Immobilien stecken, um weiterhin hohe Gewinne zu garantieren, während gleichzeitig das Wohnungsangebot wegen der – <a href="https://artigercek.com/haberler/limak-holding-in-patronu-nihat-ozdemir-yabanci-sermaye-turkiye-ye-sadece-tatile-gelir">teils</a> ebenfalls durch die hohe Inflation hervorgebrachte – <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Krise des</a> <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Immobiliensektors</a> in Städten wie Istanbul <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/konutta-fiyat-artisi-surecek-mi-gelir-adaletsizligi-fiyat-dengesini-bozdu,32689">kaum mehr steigt</a>.</p><p>Die reale, weit gefasste Arbeitslosigkeitsrate bleibt <a href="http://disk.org.tr/2022/03/genis-tanimli-issiz-sayisi-salgin-oncesine-gore-1-milyon-103-bin-artti/">immer noch</a> bei über 20 Prozent, die eng gefasste weiterhin bei über 10 Prozent. Die Folgen der Corona-Pandemie sowie des Ukrainekrieges (vor allem erhebliche Lieferstörungen sowie Preisschocks in Grundgütern) kamen noch weiter verschärfend hinzu, insbesondere was die Energiepreise angeht. Sie können aber genau so wie die abhängige Integration der Türkei in die Weltwirtschaft nicht (allein) erklären, warum die Inflation in Grundgütern in der Türkei und die <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/iyimser-enflasyon-beklentileri,34827">Geldentwertung im internationalen Vergleich</a> so sehr hervorsticht. Es ist die heterodoxe Wirtschaftspolitik unter Erdoğan <i>bei der gegebenen Art der Integration der Türkei in die Weltwirtschaft</i>, die dafür verantwortlich ist, dass die durch die Struktur und Krise des Akkumulationsregimes sowieso schon schwierige Situation so dermaßen außer Rand und Band gerät.</p><p>Auf der Spitze der Zinssenkungsspirale im November-Dezember 2021 stürzte die Türkei daher erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise: Terminverkäufe oder Verkäufe überhaupt in mehreren Wirtschaftssektoren <a href="https://www.bloomberght.com/gubre-ve-zirai-ilac-satislari-gecici-olarak-durdu-2292667">wurden</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/dolar-10-24-tl-yi-de-gecti-bircok-sektorde-vadeli-satislar-durdu-bazi-ureticiler-siparis-iptaline-gitti,993724">ausgesetzt</a>, da die Entwertungs- und Inflationsspirale belastbare Preiskalkulationen verunmöglichte; der Verkauf von Kaffee, Zucker und Fett in Supermärkten wurde aus denselben Gründen <a href="https://www.haberler.com/marketler-yag-ve-sekerden-sonra-kahve-satisini-14549070-haberi/">quotiert</a>. Im Textilsektor pochten Rohstoffproduzent*innen auf <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/odemelerde-bize-tl-gondermeyin-6794788/">Vorauszahlung in Devisen</a>, die Istanbuler Börse musste an einem Tag <a href="https://t24.com.tr/haber/borsa-gunu-yuzde-8-52-dususle-kapatti,1001670">zwei mal schließen</a> wegen zu hohen Kursverlusten. Vom 1. bis zum 17. Dezember intervenierte die TCMB – dieses mal offen und nicht unter der Hand wie 2020-21 (s. „Türkisches Inferno“) – <a href="https://foreks.com/haber/detay/61d7f62d5908010001235169/PICNEWS/tr/tcmb-17-aralik-ta-2-1-milyar-dolar-satti-5-mudahale-miktari-7-3-milyar-dolar-oldu">insgesamt</a> fünf mal in den Geldmarkt und verkaufte 7,3 Milliarden US-Dollar, um den Wert der Lira zu stützen, was zu aller Überraschung zum x-ten mal scheiterte. Sukzessive entwertete die Lira bis zum historischen Tiefpunkt von <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/dolar-ve-euroda-bas-donduren-oynaklik-tl-yuzde-20-deger-kazandi-6838793/">zeitweise</a> über 18 Lira auf den Dollar und über 20 Lira auf den Dollar am 20. Dezember 2021 (zum Vergleich: Anfang 2021 lag der Wert des Dollar bei etwa 7,5 Lira, der des Euro bei etwa 9,10 Lira). Die Börse musste<a href="https://www.bloomberght.com/borsa-yeni-haftaya-sert-dususle-basladi-2294744">erneut</a> zwei mal im Laufe des Tages schließen wegen zu hohen Kursverlusten, die von der <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/12/lira-rallies-erdogan-unveils-new-financial-scheme-jitters-prevail">Devisenklemme</a> des verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde, das Großkapital war in heller Panik: Die Wirtschaft stand vor dem unmittelbaren Kollaps.</p><h4><i>Kaninchen aus dem Zauberhut?</i></h4><p>Am selben Tag verkündete Erdoğan ein <a href="https://www.bloomberght.com/erdogandan-ekonomik-onlem-paketi-aciklamasi-2294809">großes Maßnahmenpaket</a>, dessen wichtigstes Element das sogenannte <i>Kur Korumalı TL Mevduatı</i> (KKM, devisenabgesicherte TL-Einlagen) darstellte. Das Paket beinhaltete allerdings (unter bestimmten Umständen und Laufzeiten) auch <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-1-ay-vadeli-tl-uzlasmali-doviz-ihalesine-talep-gelmedi-2298408">Wechselkursgarantien</a> für kleine und mittlere Exporteure, was teils die begeisterte Aufnahme des Pakets bei Teilen des Kapitals zu erklären helfen vermag (siehe Abschnitt „Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise“).</p><p>Zuerst aber noch einige Worte zum KKM: Nutzt ein Kunde diese von allen Großbanken zur Verfügung gestellte Einlagenform, dann erhält er eine staatliche Garantie gegen die Lira-Entwertung, insofern ihm bei einer Entwertung der Lira gegenüber dem Dollar in einem bestimmten Zeitraum die Differenz zum Zins, den ihm eine normale Bankeinlage in diesem Zeitraum abwerfen würde (grob 17 Prozent aufs Jahr gerechnet), zusätzlich zu eben jenem von der jeweiligen Bank zu zahlenden Zins vom Staat auf die KKM-Einlage überwiesen wird. Prompt wertete die Lira innerhalb von 24 Stunden wieder auf auf grob 12 Lira auf den Dollar und 13 Lira auf den Euro. Wohlgemerkt: Das beste Ergebnis betreffs des Lira-Kurses, das mit dem KKM bisher und das auch nur für sehr kurze Zeit (um den 24. Dezember 2021 herum) erreicht wurde, bewegte sich mit 10 bis 11 Lira auf den Dollar beziehungsweise 12 Lira auf den Euro auf dem Niveau von Mitte November 2021 – dem Monat also, als sich schon Quotierungen im Einzelhandel, Probleme in der Produktion wegen Verunmöglichung der Preiskalkulation und massenweise Beschwerden vom Kapital eingestellt hatten.</p><p>Freilich <a href="https://www.dw.com/tr/d%C3%B6vize-m%C3%BCdahalede-imza-krizi-bakanl%C4%B1kta-o-gece-neler-ya%C5%9Fand%C4%B1/a-60240402">kam</a> <a href="https://halktv.com.tr/makale/ekonomi-mucizesi-mi-ikinci-128-milyar-dolar-mi-657879">im Nachhinein</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/arka-kapidan-doviz-satisinin-donusu,33564">heraus</a>, dass vermutlich sechs bis sieben Milliarden Dollar <a href="https://www.ft.com/content/ac397d03-d738-42ca-8a59-4a2179a6f8b4">von der TCMB selbst</a> am 20. und 21. Dezember in Lira umgewechselt wurden; sowie <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/20-aralik-operasyonu-kur-ve-dolarlasma,33788">vermutlich insgesamt</a> 20 Milliarden Dollar von den öffentlichen Banken vom 20. bis zum 22. Dezember (natürlich wird dies von offizieller Seite <a href="https://www.reuters.com/article/turkey-economy-minister-idUSA4N2DB02M">bestritten</a> und zwecks Herstellung eines ideologischen Mythos behauptet, das Volk habe quasi von selbst in Scharen Devisen eingetauscht). Mittlerweile ist es <a href="https://t24.com.tr/haber/eski-ziraat-bankasi-genel-mudur-yardimcisi-babuscu-doviz-mevduatlarinin-yuzde-10-unu-kkm-ye-donusturmeyenlere-komisyon-cezasi-geliyor,1025758">Pflicht für Banken</a> geworden, 10 bis 20 Prozent ihrer Deviseneinlagen in KKM umzuwandeln und ansonsten eine Strafe an die TCMB zu zahlen.</p><p>Da der Staat die Differenz zwischen Einlagenzins und Lira-Entwertung zahlt, ist das eine <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59736185.amp">de facto Erhöhung der Zinslast</a>auf das Staatsbudget. <a href="https://www.bloomberght.com/butce-2021-de-acik-yazdi-2296726">Das Staatsdefizit</a> wird daher wegen der erneut in Gang gesetzten Lira-Entwertung in die Höhe schießen, was zusätzlich zur de facto Erhöhung der Zinslast auf das Staatsbudget durch das KKM die <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/12/faizi-dusurdukce-faiz-yukseliyor.html">sowieso schon steigenden</a> unmittelbaren Zinsen auf die Verschuldung des Staates <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/ankaras-interest-liabilities-balloon-dizzying-heights">schon jetzt</a> <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/hazineden-2-milyar-dolarlik-borclanma-7018099/">weiter erhöht</a> und damit auch den Druck auf die Lira, und somit – gekoppelt mit den anderen weiter fortwirkenden Ursachen für die Lira-Entwertung wie die Negativrealzinspolitik und die generelle nicht-orthodoxe Wirtschaftspolitik – den Wechselkurs erneut in die Höhe treibt: Ende März 2022 lag der Wechselkurs wieder bei grob 14,80 Lira auf den Dollar und 16,30 Lira auf den Euro; bis Anfang Mai ist der Euro dann wieder auf 15,60 Lira gefallen, allerdings hauptsächlich wegen den Auswirkungen des Ukrainekrieges und der Aufwertung des Dollars wegen den Zinssteigerungen der us-amerikanischen Zentralbank. Deshalb wird freilich – entgegen den offiziellen Verlautbarungen – <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59751684">ebenfalls die Inflation</a> in die Höhe getrieben. Wegen der absehbaren Folgen wurde dieser – wie später herauskam <a href="https://www.reuters.com/markets/europe/turkey-launched-rescue-plan-when-lira-crossed-red-line-sources-2021-12-22/">schon 2018 entworfene</a> – Plan früher und auch noch unter dem ehemaligen Finazminister Elvan unter Verweis auf sehr hohe Risiken und Belastung des Staatsbudgets verworfen. Dennoch erklärten <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-acikladigimiz-program-amacina-ulasmistir-2295062">Erdoğan</a> wie <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-turkiye-geliyor-son-19-yilda-yaptigi-hamleyle-orta-koydu,1002546">Nebati</a> innerhalb von nur ein bis zwei (!) Tagen den vollen Erfolg ihres Programms. Ähnliches erlebte die Türkei in den 1970ern mit den von den Rechtsregierungen populistisch ausufernd ausgeweiteten<a href="https://tr.euronews.com/2021/12/21/dovize-cevrilebilir-tl-mevduat-hesaplar-dcm-nedir-daha-once-kullan-ld-m-sonuclar-ne-oldu"><i>Dövize Çevirilebilir Mevduat</i></a> (DÇM, devisenkonvertible Einlagen), die unter anderem zum Staatsbankrott Ende der 1970er führten und deren Zahlungslast noch bis in die 1990er-Jahre hinein schwer auf dem Staatsbudget lastete. Das ist ein monetärer Neokolonialismus sowie eine epische Zinserhöhung aus den Händen eines Regimes, das im Namen von Nation und Vaterland Gift und Galle spuckt gegen die gesamte Opposition im Land und geradezu einen Jihad gegen die „Zinslobby“ ausgerufen hat. Die Flexibilität und Halsverrenkungen des autoritären Populismus sind bemerkenswert.</p><p>Jedenfalls bringt die Devisen-Indexierung von Lira-Konten dem Großteil der Bevölkerung beziehungsweise der Kleinanleger*innen nicht viel. Für den Fall der Fälle, dass Ersparnisse vorliegen, werden diese vermutlich weiterhin in Devisen gehalten werden, da das neue Instrument nicht mehr als das bietet – oder sogar weniger, da das KKM nicht gegen Inflation absichert. Zudem beinhaltet es bestimmte Mindestlaufzeiten (à drei, sechs, neun oder 12 Monate), bei deren Unterschreitung die Einlegerin ihr Anrecht auf (den zusätzlichen) Zins verliert und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/kur-korumali-hesapta-anaparadan-olma-riski-de-var/643738">potenziell sogar Verluste</a> auf die Stammeinlagensumme machen kann, falls der Wechselkurs bei nicht laufzeitgerechter Auflösung des Instrumentes niedriger liegt als bei der Beanspruchung des Instruments. Dagegen können Devisen zu jeder Zeit problemlos flüssig gemacht werden. Die Lira-Einlagen, die für die laufenden Ausgaben von kleinen Bankeinlagenbesitzer*innen gebraucht werden, das heißt alltägliche Konsumausgaben und ähnliches, die bei Menschen mit kleinen Einkommen und/oder Vermögen immer den allergrößten Großteil der Ausgaben ausmachen, werden durch die Mindestlaufzeit von drei Monaten gar nicht abgesichert. <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/eriyen-tasarruflar-doviz-sinirlamalari-ve-endeksleme,33881">Etwa 90 Prozent</a> der bisherigen Devisen- wie Lira-Einlagen im türkischen Bankensystem haben eine verbindliche Laufzeit, die kürzer ist als drei Monate (also beispielsweise Tagesgeldkonten, wie es für uns Normalsterbliche üblich ist, auf die täglich zugegriffen und die täglich aufgelöst werden können). So blieb denn der Erfolg des neuen Instruments anfangs auch recht beschränkt, wurde daher ausgeweitet auf Unternehmer*innen sowie im Ausland lebende oder registrierte (türkische und nicht-türkische) Personen und Unternehmer*innen. Zusätzlich wurde <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/erdogan-saglam/kur-korumali-tl-mevduat-katilim-hesaplarindan-elde-edilen-gelirlerin-vergilendirilmesi,33613">eine Steuerbefreiung</a> für KKM-Einlagen verkündet. Letzteres macht das KKM besonders attraktiv für Vermögende, die nicht auf tägliche Verfügbarkeit ihres Vermögens angewiesen sind. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass bis Mitte April 2022 <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">vor allem</a> Devisen-Konten mit verbindlichen Laufzeiten in das KKM-Format konvertiert wurden und kaum Devisen-Konten ohne Laufzeiten.</p><p>Obwohl die Datenlage wegen der notorischen Intransparenz der Regierung und der eigentlich zur Transparenz strikt verpflichteten staatlichen Institutionen schlecht ist, lässt sich Ende März 2022 grob folgende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/turkish-taxpayers-outraged-cost-lira-protection-scheme">vorläufige Bilanz</a> des KKM-Instruments <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/halinin-altina-supurulen-enkaz,34700">ziehen</a>: Nur grob 9 Prozent aller Bankeinlagen in der Türkei (591 Milliarden Lira oder etwa 40 Milliarden Dollar) wurden in KKM angelegt und nur etwa 57 Prozent dieser Einlagen durch Eintauschen von Devisen gegen Lira. Der Rest besteht aus normalen Lira-Einlagen, die zu KKM-Einlagen konvertiert wurden. Es wurden eine Million KKM-Einleger registriert, davon 30.000 Unternehmenskonten. Zwar konnte die Dollarisierung der Privateinlagen (Anteil von Devisen/Dollar-Einlagen an allen Privateinlagen) etwas gesenkt werden, allerdings von einem sehr hohen Niveau von 71 Prozent kurz vor Deklarierung des KKM auf immer noch sehr hohe 64 Prozent. Da die Lira seit Einführung des Instruments erneut grob 30 Prozent ihres Wertes auf den Dollar verloren hat, muss der Staat etwa 25 Prozent Zinsen an KKM-Einleger der ersten Stunde einzahlen (gerechnet auf eine Drei-Monats-Einlagendauer bei einem Jahreszins auf normale Bankeinlagen von 17 Prozent, so dass der anteilige Zins, den die Bank auf die drei Monate auszuzahlen hat, um die 4,25 Prozent beträgt). Entgegen den Verlautbarungen des Regimes bleibt also die Beteiligung beim KKM überschaubar, die Kosten hingegen recht hoch. Zudem konnten weder Lira-Entwertung noch die Inflation gebremst werden, ganz im Gegenteil.</p><p>Der Chef der rechtsnationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi</i>, MHP) und derzeitiger Hauptverbündeter von Erdoğan, Devlet Bahçeli kann sich daher noch so sehr in seinen Tiraden gegen „ökonomische Putschisten“ und „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-kilicdaroglu-nereye-giderse-gitsin-milli-nefesimiz-ensesinde-olacaktir,996086">Wechselkursbombenattentäter</a>“ überschlagen, Erdoğan kann so viel gegen den ihm loyalen Zentralbankchef oder den Wirtschafts- und Finanzminister <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/exclusive-erdogan-is-cooling-his-latest-central-bank-chief-sources-say-2021-10-08/">poltern</a><a href="https://t24.com.tr/haber/erdal-saglam-bakan-nebati-nin-gorevden-alinacagi-konusuluyor-yerine-getirilmek-istenen-belli,1022768">; ihnen</a> drohen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/erdogan-ne-dedi-bakanlar-kurulunda-nebatinin-zor-anlari-1913885">und verlangen</a>, <a href="https://www.dw.com/tr/kulis-erdo%C4%9Fan-bakan-nebatiye-neden-k%C4%B1zg%C4%B1n/a-60379828">dass diese</a> ihre Versprechungen bezüglich eines Wirtschaftsaufschwungs gekoppelt mit einer Stabilisierung des Wertes der Lira auf niedrigem Niveau und der Senkung der Inflationsrate aber mit heterodoxen/expansiven Mitteln <i>bei gegebener Integration in die Weltwirtschaft</i> einhalten: Dieser versprochenen und eingeforderten Quadratur des Kreises sind schlicht objektive Grenzen gesetzt. Auch die dahinter stehende <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogana-ekonomiden-hayir-yok-makale-1558212">ideologische Konstruktion</a> zur Abwehr der Verantwortung für die Malaise – <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-fiyatlar-konusunda-vatandaslarimizin-asina-goz-dikenleri-acimayacagiz,1025168">es sind ja</a> die „geldgierigen Wucherer“ (<a href="https://t24.com.tr/haber/stokculuga-agir-yaptirim-getiren-yasa-teklifi-tbmm-de-kabul-edildi,1001419">Erdoğan</a>), die uns das Problem der Inflation einbringen; wir bekämpfen diese mit Strafen und helfen dem Volk mit Steuersenkungen – mag kaum mehr jemanden überzeugen (siehe Abschnitt „Restauration oder populare Demokratie?“). <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nabati-den-elektrik-sorusuna-yanit-bu-gunlerde-indirim-soz-konusu-degil,1022476">Allen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/merkez-bankasi-baskani-kavcioglu-enflasyondaki-baz-etkilerin-ortadan-kalkmasiyla-dezenflasyonist-surecin-baslayacagini-ongormekteyiz,1024205">realitätsfernen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakani-nebati-bloomberg-ht-haberturk-ortak-yayininda-2298653">verzweifelt übersteigerten</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Verlautbarungen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyon-yuzde-48-i-asti-2298052">Beschwichtigungen</a> zum Trotz ist die politökonomische Situation festgefahren.</p><p>Wozu dann also das Ganze?</p><h2><b>Neoliberale ISI oder Rekonsolidierungsversuch des Krisenmanagements?</b></h2><p>Ob der wirtschaftspolitische Zickzackkurs nun endgültig verlassen wurde zugunsten einer vereindeutigten heterodoxen Wirtschaftspolitik und wenn ja, zu welchen Zwecken; das ist eine große Streitfrage unter kritischen Theoretiker*innen in Fortsetzung der zuvor und auch weiterhin geführten Debatten um den (Klassen-)Charakter der heterodoxen Wirtschaftspolitik.</p><p>Schaut man sich die Verlautbarungen des Regimes und seiner wichtigen Wortführer an, dann wurde tatsächlich ein neuer politökonomischer Weg eingeschlagen. <a href="https://www.hurriyet.com.tr/gundem/erdogan-ekonomide-yol-haritasini-anlatti-cin-de-boyle-buyudu-41952854">Erdoğan selbst</a> legte mit seinen expliziten Verweisen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nahe, vom „chinesischen Modell“ zu sprechen. Das war offensichtlich nicht „national“ genug. Daher wurde wenig später vom damals neuen Wirtschafts- und Finanzminister Nebati das „<a href="https://www.bloomberght.com/hazine-tum-kurumlar-yeni-ekonomi-modeli-ni-destekleyen-adimlar-atacak-2294578">Türkische Wirtschaftsmodell</a>“ deklariert. Der Grundgedanke ist recht simpel und lässt sich als <i>neoliberale importsubstituierende Industrialisierung(sstrategie)</i> (ISI) begreifen: Teure Devisen (bzw. eine abgewertete Lira) sollen wegen hoher Preise Importe hemmen und zur Ersetzung von Importen durch einheimische Produktion anhalten, Exporte hingegen (wegen niedrigen Preisen durch die entwertete Lira) fördern und somit auch die Investition in (Export-)Sektoren, da diese höhere Profite versprechen. Die Niedrigzinspolitik soll parallel hierzu die kostengünstige Investition in die importsubstituierenden Sektoren anregen. Die reduzierte Importabhängigkeit solle sodann das Leistungsbilanzdefizit und <a href="https://t24.com.tr/haber/hazine-ve-maliye-bakan-yardimcisi-nebati-salginin-yol-actigi-arz-enflasyonunu-azaltmak-icin-faizlerin-dusurulmesi-gerekmektedir,996256">damit die Auslandsschulden senken</a>, durch erhöhte Exporte <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">sogar einen Leistungsbilanzüberschuss</a> <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">erzeugen</a>. Damit würde sich der durch die Importabhängigkeit ergebende Druck auf die TL und somit auf die Inflation <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/11/hukumetin-yeni-ekonomi-politikas.html">senken</a> und zugleich die Notwendigkeit einer Hochzinspolitik zur Stabilisierung des Wechselkurses und Attraktion von Kapitalimporten entfallen, sodass sich das Modell selbst tragen würde. Der Teufelskreislauf aus hohen Zinsen und hohen Leistungsbilanzdefiziten würde ersetzt werden durch niedrige Zinsen, hohe Beschäftigung und Produktion – so der <a href="https://www.bloomberght.com/kavcioglundan-piyasa-prensiplerine-baglilik-mesaji-2292947">TCMB-Chef Kavcıoğlu</a>. <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-bu-ekonomik-kurtulus-savasindan-zaferle-cikacagiz-2292587">Ähnlich</a> Erdoğan. Sein Finanzbüroleiter Göksel Aşan benennt das Modell daher auch <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskanligi-finans-ofisi-baskani-asan-cok-buyuk-ihtimalle-nisanda-cari-fazlayi-goruruz,1004674">explizit</a> als eine ISI. Und Nebati meint, es sei eine <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Unabhängigkeit</a> der Türkei in Energie und Landwirtschaft anvisiert. Das Türkische Wirtschaftsmodell, eine eierlegende Wollmilchsau.</p><p>Das ganz große Problem ist: Das Modell wird nicht im entferntesten in dieser Form realisiert. Das liegt daran, dass ganz wesentliche Elemente einer klassischen ISI <a href="https://haber.sol.org.tr/yazar/patron-akademisyen-bakan-yeni-turkiyenin-ruhu-320124">fehlen</a>, was gemeinsam mit der Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse den genuin neoliberalen Charakter des „Türkischen Wirtschaftsmodells“ ausmacht: In der historischen ISI war die staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens zentral, genauso die staatliche Kontrolle über den Kapitalmarkt und die Führungsfunktion von Staatsbetrieben durch Investition in für Privatkapital unprofitable, aber für die ISI wesentliche Sektoren und/oder durch Bereitstellung von billigen Zwischengütern für die privatwirtschaftlichen ISI-Betriebe. Ohne aktive staatliche Intervention wird sich die investitions- und exportfördernde Geldpolitik, zumal in einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld der Krise, nicht in importsubstituierende Investitionen umsetzen, sondern vielmehr in der Aufrechterhaltung des laufenden Geschäfts oder Investitionen in Immobilien und nicht-produktive Anlagen zwecks Vermögenswahrung/-mehrung angesichts der Inflation niederschlagen. Dies wird auch von einigen <a href="https://www.bloomberght.com/sadece-ihracata-yonelik-ekonomi-politikasi-olamaz-2294187">Industrie- und Handelskapitalisten</a> (etwa der Industrie- und Handelskammer Mersin) und den <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-da-orhan-turan-donemi-2302687">führenden Fraktionen des Kapitals</a> kritisch festgehalten. Denn auch die Ersetzung von Importen durch den Aufbau von importsubstituierenden Produktionskapazitäten geht ja nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern bedarf mehrerer Jahre, unter Umständen sogar Dekaden. Zudem beinhaltet sie – unter kapitalistischen Bedingungen – ein gewisses Risikos seitens der jeweiligen individuellen Investoren, da die Erfolgsaussichten der neuen Produktionskapazitäten unter anderem wegen noch fehlender Konkurrenzfähigkeit fraglich sind. Kein individueller Privatkapitalist wird ein solches Risiko eingehen, ohne mehr staatliche Unterstützung als bloß billige Kredite zu bekommen. Diese müsste auch Elemente einer protektionistischen Zollpolitik beinhalten, die die importsubstituierenden Produktionssektoren gegenüber der in der Aufbauphase wettbewerbsfähigeren ausländischen Konkurrenz schützt. Ganz zu schweigen von dem Hauptproblem der ISI: Jeder bisherige Versuch eines Aufbaus importsubstituierender Kapazitäten bedurfte <i>teils erheblicher</i> Importe, nämlich Importe von Kapitalgütern (Produktionsmittel, Technologien) zumindest bis zu dem Punkt, an dem eine Volkswirtschaft die Grundlagen für eine selbständige Hochtechnologiegüter- und Wissensproduktion errichtete. In der Türkei wurde letzteres – im Unterschied zu beispielsweise Südkorea – bis zum heutigen Tag nicht erreicht, weswegen ihr Status innerhalb der Weltwirtschaft immer noch semi-peripher ist. Daher würde die Türkei auch bei einem erneuten, diesmal neoliberalen Anlauf zu einer (vertieften?) ISI zumindest noch eine Weile lang von wichtigen Importen abhängig bleiben. Es ist daher mehr als fraglich, ob die Vorteile einer massiv entwerteten Lira aus Perspektive einer solchen neoliberalen ISI die Nachteile derselben aufwiegen würden (Vorteile: billigere und daher mehr Exporte; Nachteile: massiv verteuerte und für die Produktion notwendige Importe).</p><p>Der quasi-Cheftheoretiker des neuen Kurses, Şefik Çalışkan, <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/modelin-ozeti-uretim-ve-istihdami-korumak-haberi-642732">verteidigt</a> mit ganz viel populistischem Pseudo-Antiimperialismus gewürzt nicht nur eine neoliberale ISI durch die Kombination aus Negativzins- und Liraentwertungspolitik. Er ist zudem der Überzeugung, dass der daraus entstehende enorme Druck auf die Lira, den Binnenmarkt und -konsum sowie die massive Dollarisierung gut sei, weil der Zwang zum Export die Deviseneinkommen der Unternehmen, damit die Einkommen der in diesen Unternehmen Beschäftigten und des Staates sowie wegen der hohen Dollarisierung allgemein das Einkommen aller Bevölkerungsteile steigern würde. Damit wäre im Namen des Anti-Imperialismus de facto eine vollständige Kopplung der Lira an den Dollar vollzogen, ohne die Lira formell abzuschaffen. Wie die türkische Wirtschaft, die jetzt schon mit den Problemen der Entwertungs- und Inflationswelle kämpft (Unmöglichkeit der kurzfristigen Preis- und Zahlungs- und damit der Investitionsplanung und der wirtschaftlichen Tätigkeit überhaupt), ein solches Programm tragen soll, das bei Implementierung eine bisher noch nie gesehene rasende Entwertungs- und Inflationsspirale lostreten würde, taucht im Phantasiekonstrukt des Şefik Çalışkan nicht als Problem auf. Dem Narren erscheint die Welt als ein einfaches Spiel.</p><h4><i>Das große Durchwurschteln</i></h4><p>Letztlich zeigt ja die Einführung des KKM-Instruments, dass auch dem Regime klar ist, dass es ein Limit gibt, ab dem die Lira-Entwertung(sspirale) für die türkische Wirtschaft untragbar wird. Weitere im Verlauf der letzten Monate implementierte Maßnahmen unter dem Schlagwort der „<a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">Liraisierungsstrategie</a>“ (<i>liralaşma stratejisi</i>) dienen ebenfalls dem Ziel, den Wert der Lira durch Reduzierung der Dollarisierung beziehungsweise durch Erhöhung der Devisenreserven der TCMB (<a href="https://t24.com.tr/haber/kulis-merkez-bankasi-dovizi-tutabilmek-icin-aylik-10-12-milyar-dolar-satiyor,1031630">oder Verkauf</a> derselben gegen Lira) zu stabilisieren (40 Prozent der Devisenerlöse von Exporteuren <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-yeni-duzenlemesi-turizm-sektoru-icin-sikinti-olusturmuyor-2304453">müssen</a> an die Zentralbank verkauft werden; Devisennutzung bei kommerziellen Transaktionen im Inland wird immer stärker <a href="https://www.bloomberght.com/menkul-satislarinda-tl-ile-odeme-zorunlulugu-2304504">beschränkt</a>/<a href="https://halktv.com.tr/makale/dovizle-odeme-yasagi-1970lere-geri-donduk-673451">verboten</a>; zusätzliche Anreize für <a href="https://www.bloomberght.com/dovizini-tl-ye-ceviren-sirketlere-vergi-istisnasi-geliyor-2304060">Unternehmen</a> und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/o-ilk-dugme-yok-mu-ilk-dugme-yanlis-iliklenen/656089">Banken</a>, das KKM-Format zu nutzen, werden geschaffen).</p><p>Wahrscheinlicher ist es daher davon auszugehen, dass der derzeit eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs der x-te erneute Versuch des Krisenmanagements und der autoritären Konsoliderung darstellt anstatt des Übergangs zu einem neuen Akkumulationsregime. Die expansive Wirtschaftspolitik und insbesondere das KKM zielen offensichtlich darauf ab, die negativen Effekte der Wirtschaftskrise auf die Breite der Bevölkerung und der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) abzufedern und damit Zeit zu gewinnen, vermutlich bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (regulär im Sommer 2023). Derzeit sind weitere Maßnahmen und Finanzinstrumente angedacht, die ebenfalls darauf abzielen die Effekte der Inflation auf die Breite der Bevölkerung abzudämpfen (<a href="https://www.hurriyet.com.tr/ekonomi/ak-parti-calismalara-basladi-20-kalem-urunun-fiyati-sabitlenecek-mi-42037781">Preiskontrollen bei Grundgütern</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-den-enflasyon-mesaji-2303277">inflationsindexierte Finanzinstrumente</a>). Zudem wurde <a href="https://www.bloomberght.com/150-milyar-liralik-kredinin-fonlamasi-tcmbden-2304335">wieder ein Kreditpaket</a> für importsubstituierende Unternehmen (Produktionsmittelproduktion) und Exporteure zu sehr günstigen Konditionen (neun Prozent Zinsen) deklariert. Freilich geht all dies massiv zulasten des Staatsbudgets und ist wegen der symptomatischen Herangehensweise notwendig transitorischer Art. Sowieso ist es fragwürdig, ob die Rechnung des Regimes aufgeht – siehe Inflation. Die Probleme akkumulieren sich so immer mehr und ihre im kapitalistischen Sinne produktive Lösung wird weiter vertagt.</p><p>Dieser Versuch der Rekonsolidierung des Krisenmanagements bringt auch einen Kampf um hegemoniale Strategien mit sich, der nicht so einseitig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist daher genauer zu analysieren.</p><h2><b>Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise</b></h2><p>Es wurde zur Genüge und <a href="https://www.calismatoplum.org/makale/doviz-kuru-politikalarinin-ekonomi-politigi">detailreich</a> festgehalten, dass die heterodoxe/expansive Wirtschaftspolitik die Stabilisierung der Akkumulation binnenmarktorientierter oder weniger importabhängiger aber exportorientierter KMUs und des Binnenmarktkonsums, das heißt des Konsums der breiten Bevölkerungsmasse anvisiert. Betrachtet man die Reaktionen auf das „Türkische Wirtschaftsmodell“ und das KKM, kann man sehen, dass es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/istikrar-enflasyon-yatirim-ve-adalet-haberi-644447">tendenziell</a> die führenden Fraktionen des Kapitals (<a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-baskani-kaslowski-bunlar-dogru-adimlar-ise-neden-enflasyon-bu-denli-siddetli-yukseliyor,1006005">TÜSIAD</a>) und die Industriellen (Istanbuler Industriekammer, <a href="https://www.bloomberght.com/iso-baskani-bahcivan-dan-tcmb-yi-saskinlikla-izliyoruz-cikisi-2294653">ISO</a>) sind, die diese Maßnahmen scharf kritisieren. <a href="https://sendika.org/2021/12/musiad-erdogandan-pasi-aldi-turkiye-ekonomisi-yalnizca-doviz-kuruna-indirgenerek-degerlendirilemez-640906/">Umgekehrt</a> sind es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiaddan-10-maddelik-manifesto-haberi-643751">tendenziell</a> binnenmarktorientierte und/oder <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">exportorientierte</a> KMUs, die die Maßnahmen <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-yeni-modele-destek-2294913">teils</a> <a href="https://www.bloomberght.com/tim-baskani-gulle-model-ihracat-ekseninde-buyume-modeli-bundan-memnuniyet-duyuyoruz-2294946">mit</a> glühendem Eifer begrüßen.</p><p>Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Sache aber als etwas komplizierter: Einerseits beschweren sich die mit dieser Wirtschaftspolitik vom Regime anvisierten Kapitalfraktionen öfter, als auf den ersten Blick erscheint, über die Folgen der Wirtschaftskrise und des Krisenmanagements, andererseits profitiert das Großkapital mehr vom derzeitigen Regime, als <a href="https://birartibir.org/muharebenin-dugumu-para-politikasi/">die These</a> vom „Kampf zwischen international orientiertem Großkapital und binnenmarktorientierten/importschwachen aber exportorientierten KMUs“ nahelegt.</p><p>Der Reihe nach. <a href="https://sendika.org/2021/10/guncel-kriz-dinamikleri-ve-sosyalist-stratejiyi-tartismak-634684/">All die</a> als Hauptprofiteure der heterodoxen/expansiven Wirtschaftspolitik analysierten Kapitalfraktionen beziehungsweise Verbände haben sich im vergangenen halben Jahr eben so oft über die Wirtschaftspolitik und ihre Folgen beschwert, wie sie diese hochgelobt haben. So kritisierten die Union der Kammern und Börsen der Türkei (<i>Türkiye Odalar ve Barolar Birliği</i>, TOBB) und die Istanbuler Handelskammer (ITO) die <a href="https://www.bloomberght.com/tobbhisarciklioglu-kurlarin-artmasi-reel-sektorumuzu-tedirgin-etmektedir-2290340">Zinssenkungsentscheidungen</a>, die massive Entwertung der Lira über die dadurch gewährten kompetitiven Vorteile <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-faiz-yorumu-2292358">hinaus</a>, die <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">dadurch entstehende</a>wirtschaftliche Unvorhersehbarkeit und die Verunmöglichung der Preiskalkulation. Sie verlangten <a href="https://www.bloomberght.com/tobb-dan-piyasa-istikrari-icin-onlem-cagrisi-2294660">dringende Maßnahmen</a>, um die wirtschaftliche Stabilität wieder herzustellen. Der als Flaggschiff der AKP-nahen Kapitalfraktionen geltende Verband Unabhängiger Unternehmer (<i>Müstakil Sanayici ve İş Adamları Derneği</i>, MÜSIAD) benannte noch <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/musiad-baskani-mahmut-asmalidan-yil-sonu-dolar-tahmini-1888851">Ende November</a> und <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiad-baskani-asmali-kurdan-etkilenmiyorum-diyen-sanayici-dogru-soylemiyordur-haberi-642150">Anfang Dezember</a> 2021 ebenfalls alle diese Probleme als gewichtig. Der MÜSIAD-Vorsitzende Mahmuat Asmalı hielt einen Dollar-Kurs von 8 bis 9 Lira für vernünftig und kompetitiv, nicht jedoch darüber. <a href="https://www.bloomberght.com/musiad-baskani-asmali-politika-faizi-maalesef-reel-sektore-yansimadi-2296055">Noch Anfang des Jahres</a> beschwerte sich der MÜSIAD darüber, dass sich der niedrige Leitzins nicht auf die Zinsen für kommerzielle Kredite niederschlage. Eines der wichtigsten Ziele der heterodoxen Wirtschaftspolitik ist es ja gerade, Kredite zu niedrigen Zinsen für binnenmarktorientierte Unternehmen bereitzustellen. Die Inflation, die <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59332074">ökonomische Unsicherheit</a> und freilich die Macht der Banken erschwert diese Absicht allerdings.</p><p>Dass sich auch die binnenmarkt- und/oder exportorientierte KMUs beschweren, hat gute Gründe. Zu stark steigende Preise importierter Inputs sind ein riesiges Problem, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">wie</a> auch die Vereinigung Istanbuler Konfektionskleidungsexporteure (<i>İstanbul Hazır Giyim ve Konfeksiyon İhracatçıları Birliği</i>, IHKIB) <a href="https://www.dunya.com/sektorler/tekstil/hazir-giyimde-yaza-yuzde-80-zam-yolda-haberi-654097">oder</a> der Verband der Kleidungsunternehmer (<i>Türkiye Giyim Sanayicileri Derneği</i>, TGSD) <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">betonen</a>, da sie die durch eine Lira-Entwertung entstehenden preislichen Wettbewerbsvorteile hinsichtlich des Exports gleich wieder revidieren beziehungsweise die inländischen Verkaufspreise stark erhöhen. So ist es dann auch der Fall, dass der Auslandserzeugerpreisindex (die Preise, die Hersteller für Güter verlangen, die für den Export bestimmt sind) mit <a href="https://www.bloomberght.com/uc-haneli-yurt-disi-uretici-enflasyonu-suruyor-2304593">knapp über 105 Prozent</a> im März 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Mart-2022-45852">genau so exorbitant</a> stieg wie der Inlandserzeugerpreisindex (fast 115 Prozent). Die wellenförmige Steigerung der Inflationsrate und die Entwertung der Lira in sehr kurzen Zeiträumen erschwert bis verhindert durch die Unvorhersehbarkeit und die Unmöglichkeit der robusten Preiskalkulation auch das Geschäft der KMUs, wie diese ja selbst festhalten. So autark und unabhängig von Importen ist kein Betrieb, dass er von diesen Entwicklungen nicht betroffen wäre. Umgekehrt würde eine von der neoliberalen Orthodoxie vorgesehene Kreditkontraktion und eine immense Erhöhung der Zinsen zwecks Stabilisierung des Lira-Kurses und der erneuten Attraktion von ausländischem Kapital ziemlich sicher zum Bankrott vieler KMUs führen. Sie befinden sich daher <i>objektiv</i> in einer Zwickmühle, aus der es derzeit keinen gemütlichen Weg raus gibt. Daher sind auch objektiv <i>unterschiedliche Strategien</i> mit unterschiedlichen Risiken als Lösungsversuch der Krise und Fortsetzung der Akkumulation möglich.</p><h4><i>Wirtschaftspolitik als Teil des Kampfes um hegemoniale Strategien</i></h4><p>Die Wirtschaftspolitik des Regimes muss daher konzeptionell klarer gefasst werden als <i>Teil eines allgemeineren Hegemoniekampfes, der Kämpfe um die dominante ökonomische Strategie und ihre politische Führung inkludiert</i>, und nicht als eine eins-zu-eins Repräsentation prä-strategisch gegebener ökonomischer Interessen in der politischen Sphäre. In der Kalkulation des Regimes ist eine Rückkehr zu orthodoxer neoliberaler Wirtschaftspolitik – wegen der dann zu erwartenden Bankrottwelle und des (zumindest vorübergehend) noch massiveren Einbruchs des Haushaltskonsums als derzeit – mit viel höheren politischen Kosten verbunden als eine Wirtschaftspolitik, die versucht, sich inmitten der Wirtschaftskrise durchzuwurschteln und die Kriseneffekte auf KMUs und Binnenkonsum so weit wie möglich abzufedern. Dabei versucht das Regime an die Existenzängste vieler KMUs anzuknüpfen und durchzusetzen, dass diese ihr unmittelbares Überleben oder ihre unmittelbare Akkumulation als strategisches Primat ansehen – und das Regime als jene politische Führung, die dieses strategische Primat einzig umzusetzen in der Lage ist. Es ist aber objektiv überhaupt nicht absehbar, ob die vom Regime verfolgte Strategie allein noch das Überleben vieler KMUs garantieren kann, oder ob sie nicht viel eher die Krisendynamik und damit auch den Druck auf jene KMUs verschärft, was derzeit als objektiv wahrscheinlich erscheint.</p><p>Es sind aber auch andere strategische Perspektiven möglich. So könnten leistungsstarke KMUs, die den kompetitiven Druck einer orthodoxen Geldpolitik aushalten können, dafür optieren, gemeinsam mit den führenden Fraktionen des Kapitals für eine Re-Integration der Türkei in die globale Weltwirtschaft auf erweiterter Stufenleiter zu streiten und Länder wie China dadurch in den Lieferketten abzulösen. Wie Hakkı Özdal in Bezug auf die Wahl des neuen TÜSİAD-Präsidenten Orhan Turan, ehemals Präsident der TÜSIAD-nahen Vereinigung von kleinen und mittleren Kapitalisten (TÜRKONFED), im März 2022 <a href="https://mavidefter.net/sermayenin-yeni-vitrini-aklin-zekati-ve-bir-hediye-fotograf/">ganz richtig festhie</a>lt, gibt es derzeit in der Türkei kein Monopol (mehr?) auf die politische Repräsentation der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es wird vielmehr um diese Repräsentation gerungen, was auch bedeutet, um unterschiedliche ökonomische Strategien zu kämpfen. Wir werden in nächster Zeit vermutlich sehen, wie der oppositionelle Restaurationsblock versuchen wird, eine alternative ökonomische Strategie auch für KMUs zu entwerfen. Es ist nicht allein die objektive Stellung im Produktionsprozess im Allgemeinen wie im Besonderen (in einem bestimmten Akkumulationsregime zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung desselben), die die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen determiniert, denn aus deren Stellungen im Produktionsprozess heraus sind objektiv unterschiedliche Perspektiven möglich. Diese und damit die Interessen der Kapitalfraktionen werden daher co-determiniert von politischen Kämpfen um ökonomische und gesamtgesellschaftliche Strategien.</p><p>Den ökonomisch führenden Fraktionen des Kapitals geht es indes viel besser, als ihre für kapitalistische Verhältnisse lautstarke Kritik an der Politik des Regimes glauben lassen würde. Die führenden Großunternehmen der Türkei erzielten teils exorbitante Profite (Metall, Automobil, Getränke, Kommunikation, bis <a href="https://t24.com.tr/haber/bilancolar-sirket-karlarinin-rekor-oranda-arttigini-gosteriyor-vatandas-yoksullasirken-ozel-sektor-buyuyor,991093">Ende 2021</a>; Bankensektor: +57 Prozent, <a href="https://www.bloomberght.com/bankacilik-sektorunun-kri-2021-de-yuzde-57-artti-2297790">2021</a> im Vergleich zum Vorjahr, +323 Prozent, <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">Januar-Februar 2022</a> im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Die Negativzinspolitik der Zentralbank <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">hebt</a> die Zinseinkommen der (Privat-)Banken, anstatt sie zu senken, da diese die niedrigen Zinsen nicht so an Kreditnehmer*innen weitergeben und die wachsende Differenz als steigende Profite einkassieren (der <a href="https://evds2.tcmb.gov.tr/index.php?/evds/portlet/K24NEG9DQ1s=/tr">Zins auf Kredite</a> lag Ende März 2022 je nach Art des Kredits bei 20 bis 30 Prozent gegenüber 14 Prozent Zentralbankleitzins und 16 bis 17 Prozent Einlagenzins; dazu kommen noch die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen). Das ist es letztlich, worüber sich der MÜSIAD noch Anfang des Jahres beschwerte. <a href="https://www.perspektif.online/fare-delige-sigmamis-bir-de-kuyruguna-kabak-baglamis/">Zudem</a> sorgt die hohe Verschuldung des Staates an türkische Banken in Devisen oder inflationsindexierten Staatsanleihen für die exorbitant steigenden Bankenprofite. Die größte Unternehmensgruppe der Türkei, Koç, die politisch klar oppositionell zum Regime eingestellt ist, <a href="https://www.bloomberght.com/ali-kocbatarya-yatirimi-kuresel-rekabet-avantaji-saglayacak-2301442">tätigt derzeit</a> mit Unterstützung von Präsident Erdoğan große Investitionen in die E-Fahrzeug- und -Batterien-Produktion. Eines der Flaggschiffe der Koç-Gruppe, Ford Otosan, erhöhte seine Profite 2021 <a href="https://www.bloomberght.com/ford-otosan-in-kri-beklentileri-asti-2298934">um fast 100 Prozent</a>; die gesamte Unternehmensgruppe berichtet von einer Zunahme der konsolidierten Gewinne von <a href="https://www.bloomberght.com/rahmi-m-koc-yatirimlarimiza-kararlilikla-devam-edecegiz-2303047">89 Prozent</a>.</p><p>So sehr die derzeitige Wirtschaftspolitik und politische Ökonomie der Türkei auch von konkurrierenden (bzw. sich in Krise befindenden) Strategien und Hegemonieprojekten gekennzeichnet ist, behält sie bei allen Differenzen und Widersprüchen doch ein grundlegendes <a href="https://ozgurorhangazi.com/2021/11/23/faiz-doviz-meselesi-3-sermayeler-arasi-savas-mi-ya-da-niyet-neydi-akibet-ne-olacak/">Element der Einheit</a> bei, namentlich, dass sie hinsichtlich der Distributionsverhältnisse eindeutig zulasten des Großteils der Werktätigen und zugunsten des Kapitals im Allgemeinen geht: <a href="https://www.birgun.net/haber/ayni-gemide-degilmisiz-379585">So sank</a> die Lohnquote sukzessive von 35,1 Prozent im Jahre 2019 auf 33,1 Prozent im Jahr 2020 und letztlich 30,2 Prozent im Jahr 2021, während die Gewinnquote in der selben Zeit von 47 Prozent auf 52,6 Prozent zulegte. Die <a href="https://www.birgun.net/haber/isci-enflasyonun-altinda-ezildi-371579">realen durchschnittlichen Bruttolöhne</a> gingen zwischen 2016 und 2020 um sagenhafte 42,2 Prozent zurück (Inflation!); auch der Haushaltskonsum ging, trotz Kreditstützen in den letzten Jahren, <a href="https://mavidefter.net/tusiadin-krizden-cikis-recetesi-halki-daha-da-yoksullastirmak/">zurück</a> von 65 Prozent im Jahr 2012 auf 56 Prozent im Jahr 2021 (im Verhältnis zum BIP). Dabei verdeckt die permanente Erhöhung des Mindestlohns einerseits, dass dieser dennoch sehr niedrig bleibt (wieder: Inflation!), andererseits, dass sich die Durchschnittslöhne <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2020/09/D%C4%B0SK-AR-12-Eyl%C3%BCl-RAPOR-SON.pdf">seit 1980</a> <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/Pandeminin-Ikinci-Yilinda-Iscilerin-Durumu-KONSOLIDE-son-son.pdf">zunehmend</a> dem Mindestlohn anpassen, dass also eine Abwärtsspirale und nicht eine Aufwärtsspirale der Löhne stattfindet, und zwar <a href="https://www.birgun.net/haber/memur-yoksullasti-memur-sen-buyudu-383711">auch im öffentlichen Sektor</a> und damit in der Beamtenschaft. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/akp-ve-kabine-asgari-ucret-ile-ikramiye-artisinda-ters-dustu-1925634">Zugleich</a> wird derzeit eine weitere Erhöhung des Mindestlohns wegen des davon ausgehenden „inflationären Drucks“ abgelehnt, was natürlich reichlich grotesk ist angesichts einer Wirtschaftspolitik, die auch schon ohne Lohnerhöhungen zu einer historisch hohen Inflationsrate führt, und zugleich Abermilliarden für Unternehmen und Vermögende bereitstellt. Aber das Argument des „inflationären Drucks“, das gegen die Mindestlohnerhöhung genutzt wird, ist natürlich nur Ideologie zwecks Rationalisierung einer klar pro-kapitalistischen Politik. Insofern ist nichts „groteskes“ dran, denn es ist knallharte Interessenpolitik. Einen grundlegenden Bruch mit wichtigen Prinzipien des Neoliberalismus in der Türkei (Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse, kein produktiver Staatssektor), seinen ökonomisch dominanten Akteuren und der Integration desselben in die Weltwirtschaft hat das Regime bei allen Abweichungen von bestimmten Prinzipien (bspw. von der neoliberal-orthodoxen Geldpolitik) – noch? – nicht vollzogen. Während sich also der politische Autoritarismus nicht einfach aus dem Neoliberalismus (und seiner Krise) ableiten lässt, ist es allerdings umgekehrt auch nicht der Fall, dass der politische Autoritarismus den Neoliberalismus einfach vollständig destruiert. Das Verhältnis beider ist also dialektisch als ein inneres, aber widersprüchliches zu verstehen, egal, ob man die Situation nun als „autoritärer Neoliberalismus“, „autoritärer Etatismus im Neoliberalismus“ oder „neoliberaler Etatismus“ verbegrifflicht.</p><h4><i>Die alternative Perspektive der führenden Fraktionen des Kapitals</i></h4><p>Aus all diesen Gründen ist es auch unter den heutigen Bedingungen schlicht nicht richtig, <a href="https://www.birgun.net/haber/erdogan-buyuk-sermayeye-istedigini-veremedi-374329">davon zu sprechen</a>, dass es zu einem <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/anadolu-burjuvazisi-simdi-ne-dusunuyor,33150">großen Bruch</a> zwischen Großbourgeoisie und der AKP gekommen ist. Richtiger ist es, festzustellen, dass es große Konflikte und daher Hegemoniekämpfe um die zu befolgenden Strategien gibt, die umfassenderer Natur sind als jährliche Profitmargen, wobei diese Hegemoniekämpfe aber keinen „großen Bruch“ darstellen.</p><p>Der TÜSIAD beschwert sich dabei schon seit Jahren über die heterodoxe Wirtschaftspolitik und ihre Folgen und verlangt eine orthodoxe Rejustierung derselben. <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-genel-kabul-gormus-iktisat-bilimi-kurallarina-hizla-donulmeli-2294704">So auch</a> <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/tusiad-baskani-dunyaya-konustu-faiz-indiriminde-sabir-gerektiren-kritik-surece-giriyoruz-haberi-632294">in den letzten Monaten</a>. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbaren Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals wie beispielsweise die mittels orthodoxer Geldpolitik und Institutionen prognostizierte erneut einsetzende Attraktion von großen Summen an ausländischem Kapital für große Investitionen und die von fast allen Kapitalfraktionen geteilte Forderung nach Stabilisierung von Wechselkurs und Inflation zwecks Vorhersehbarkeit und robuster Preiskalkulation. Der TÜSIAD visiert offensichtlich auch eine spezifische hegemoniale und ökonomische Strategie an: Hegemonial betrachtet herrscht aufseiten des TÜSIAD die Sorge vor, <a href="https://t24.com.tr/haber/omer-m-koc-tum-belirsizliklere-ve-olumsuzluklara-ragmen-memleketimizin-gelecegine-inaniyoruz-esasli-bir-reform-ajandasina-sarilarak-ulke-riskimizi-azaltmak-zorundayiz,985931">dass</a> die massive ökonomische Ungleichheit und die Krise des politischen Autoritarismus <a href="https://yetkinreport.com/2022/03/14/rusya-ukrayna-savasinin-tetikledigi-donusumler/">starke sozial destabilisierende Effekte</a> haben könnte. (Die ITO ist dieser Problematik gegenüber übrigens <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">auch nicht vollständig blind</a>.) Daher die wiederholte Forderung von „pluraler Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheiten“ einerseits, einer anti-inflationären Wirtschaftspolitik andererseits. Freilich findet sich in den Aussagen und Publikationen des TÜSIAD wenig Konkretes zur Veränderung des Arbeitsmarktes oder zur Institutionalisierung sozialer Rechte. Die Hoffnung liegt klar auf einem sich selbst tragenden neoliberalen Wachstumsmodell mit Produktivitätsfortschritten, aus dem ohne große Verrechtlichung der Marktbeziehungen im Sinne der Werktätigen und ohne allzu großen Veränderungen der Distributionsverhältnisse genug für die Werktätigen abspringt, damit diese befriedet sind.</p><p>Gleichzeitig ist der TÜSIAD der Meinung, dass die kurzfristige Orientierung der Wirtschaftspolitik die kapitalistische Entwicklung der Türkei blockiere, insofern es mit ihr nicht möglich sei, einen Aufstieg der türkischen Wirtschaftsstruktur im System der internationalen Arbeitsteilung zu erlangen. Das heißt, der TÜSIAD visiert mittel- bis langfristig eine ganz andere hegemoniale ökonomische Strategie an, als in der derzeitigen vom Krisenmanagement dominierten Wirtschaftspolitik des Regime enthalten ist. Letztere ist notgedrungen kurzfristig angelegt und enthält derzeit wenig Potenziale für eine kapitalistische Akkumulation auf qualitativ erweiterter Stufenleiter. Diese ökonomische wie auch politisch-regulative hegemoniale Strategie hat der TÜSIAD nun Ende letztes Jahres <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-iktidari-ozneyi-soylemeden-elestirdi-omer-koc-acemoglu-nun-demokrasideki-gerilemeyi-anlattigi-sunumu-notlar-alarak-dinledi,986791">zu einem Bericht</a> mit dem unmissverständlichen Titel <a href="https://tusiad.org/tr/basin-bultenleri/item/10854-tusi-ad-dan-yeni-bir-anlayisla-gelecegi-i-nsa-raporu"><i>Yeni Bir Anlayışla Geleceği İnşa</i></a>, übersetzt in etwa „Mit einer neuen Vision die Zukunft gestalten“ synthetisiert und der Öffentlichkeit präsentiert. Murat Sabuncu <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-akp-turkiyesi-ne-yeni-bir-gelecek-hayaliyle-itiraz-ediyor,986818">hält ganz richtig fest</a>, dass sich dieser Bericht nicht allein an Unternehmer*innen, sondern an die Breite der Gesellschaft wendet, sprich einen hegemonialen Anspruch hat. Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus geht also in eine neue Runde.</p><h2><b>Altbekannte und (scheinbar) neue Taktiken der autoritären Konsolidierung</b></h2><p>In diesem Kampf um die Krise des Neoliberalismus, in dem das Regime um seinen politischen Machterhalt kämpft, sind die Kampfmethoden natürlich nicht bloß ökonomischer Art. Die altbekannten und scheinbar neue Taktiken der autoritären Konsolidierung werden ebenfalls fortgesetzt. Diese visieren, wie ehedem, Unterdrückung, Zermürbung, Spaltung und Integration der Opposition aber auch die Etablierung einer popularen Legitimationsbasis für den Autoritarismus an. Weiterhin werden <a href="https://t24.com.tr/haber/engelli-web-raporu-2020-sonu-itibariyla-467-bin-web-sitesi-erisime-engellendi,972358">Hunderttausende Webseiten</a> <a href="https://www.dokuz8haber.net/turkiyede-internet-ozgurlugu-uc-yildir-dususte">blockiert</a>, weitflächig Druck und Repression <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">gegen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">Medien</a> und Oppositionelle <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/international-domestic-groups-ring-alarms-human-rights-turkey">ausgeübt</a> sowie <a href="https://www.dw.com/tr/sosyal-medya-yasas%C4%B1-neler-getirecek/a-60815430">an einem Gesetz</a> zur weiteren Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auf Social Media-Plattformen unter dem Vorwand der Bekämpfung von „fake news“ gearbeitet. Erdoğan selbst <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ozgurlugun-sembolu-olarak-nitelenen-sosyal-medya-gunumuz-demokrasisi-icin-ana-tehdit-kaynaklarindan-birine-donusmustur,1000034">deklarierte jüngst</a><i>social media</i> als „einer der größten Gefährdungsquellen für die heutige Demokratie“. <a href="https://tihv.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/TIHV_covid_hak_ihlalleri_rapor_Mart_2022.pdf">Über 200</a> Kundgebungen und Demonstrationen wurden unter vorgeschobenen Gründen des Infektionsschutzes während der Pandemie verboten (während vom Regime wohlwollend betrachtete Massenereignisse natürlich erlaubt und sogar gefeiert wurden). Auch sonst geht die mehr oder minder verdeckte (<a href="https://www.dw.com/tr/akpnin-lin%C3%A7-giri%C5%9Fimi-videosu-soru-i%C5%9Faretleri-yaratt%C4%B1/a-59647524">Androhung von) Gewalt</a> gegen (führende) Oppositionelle und <a href="https://t24.com.tr/haber/orhan-pamuk-sezen-aksu-hepimizin-gururudur-sanatcisini-ezen-bir-devlet-ve-millet-olmayacagiz,1010074">Kulturschaffende</a> ungebrochen weiter. Die Türkei bleibt das nach Russland dasjenige europäische Land, in dem sich proportional zur Bevölkerung die meisten Menschen <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-60981073">im Gefängnis</a> befinden. Den protestierenden und streikenden Ärzt*innen wurde von Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/doktorlara-gidiyorlarsa-gitsinler-diyen-erdogana-tepki-yagdi-1914317">vorgeworfen</a>, sie hätten Luxusprobleme und sollten das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt (nur um <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ulkemizi-kuresel-saglik-sistemi-icinde-mumkun-olan-en-iyi-yere-getirmek-istiyoruz,1020848">ein Tag danach</a> die selben Ärzt*innen in den Himmel zu loben und einer Reihe ihrer Forderungen nachzugeben).</p><p>Offensichtlich als Teil des de facto schon begonnenen Wahlkampfs wurde die Repression kürzlich noch einmal besonders verschärft: Zum Abschluss eines jahrelangen Schauprozesses gegen einige in den Gezi-Protesten 2013 involvierte wichtige zivilgesellschaftliche Akteur*innen wurden Ende April 2022 <a href="https://t24.com.tr/haber/gezi-davasinda-karar-durusmasi,1030116">drakonische Strafen</a> verhängt, darunter auch gegen den großbürgerlich-liberalen Mäzen Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen (<i>ağırlaştırılmış müebbet</i>) verurteilt wurde. Gleichzeitig lancierte der türkische Staat eine <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">großangelegte Militäroffensive</a> gegen Teile der als PKK-Stützpunkte genutzten Kandilberge im Irak, wobei diese parallel – und vermutlich zuvor mit der Türkei abgestimmt – <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">begleitet wurde</a> von einer Offensive der Truppen der irakischen Regierung gegen das PKK-nahe ezidisch dominierte Schengal.</p><p>Islamisierung und autoritäre heteronormativ-familiale Geschlechterpolitik bilden weiterhin eine wichtige Grundlage für den Versuch, einen autoritären Konsens herzustellen als Legitimationsbasis für das autoritäre Regime. Die Kriminalisierung und Repression von <a href="https://www.duvarenglish.com/copies-of-british-authors-book-being-sold-in-envelopes-in-turkey-after-ministry-finds-it-obscene-for-including-gay-character-news-58959">LGBTQI+-Identitäten</a> wird weiterhin konstant betrieben. Der Chef der Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, kann eine umfassende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-powerful-top-cleric-called-tone-down-or-resign">Kritik am Laizismus</a> lancieren und die Forderung aufstellen, Korankurse für 4-6jährige Kinder nicht mehr als Wahl-, sondern <a href="https://t24.com.tr/haber/diyanet-ten-zorunlu-kur-an-kursu-aciklamasi,979450">als Pflichtfach</a> einzuführen. Die Forderung nach einem „religiösen“ Grundgesetz (ehemaliger <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/eski-meclis-baskani-ismail-kahramandan-dindar-anayasa-aciklamasi-sozlerim-carpitildi-1874529">Parlamentssprecher Ibrahim Kahraman</a>, AKP) wird wieder en vogue. Der Freitod eines jungen Studierenden, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/turkish-teen-suicide-revives-secular-pious-debate">Enes Kara</a>, der die unerträglichen Verhältnisse in einem religiösen Wohnheim nicht mehr aushielt, befeuerte erneut die Debatte um die Schließung religiöser Heime.</p><p>Auch die scheinliberalen Versuche und Reförmchen zur Einbindung der Hauptoppositionsparteien gehen weiter: So wurde hinter den Kulissen darüber diskutiert, das Präsidialsystem dahingehend <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58734677">zu modifizieren</a>, dass die Minister nicht mehr wie bisher von Präsidenten ernannt, sondern vom Parlament gewählt werden und das Parlament wieder das Recht auf Anfragen und ähnliches eingeräumt bekomme. Natürlich wäre das nur eine Scheinliberalisierung gewesen, da derzeit ja auch das Parlament noch von AKP-MHP dominiert wird. Zudem war die „Konzession“ verbunden mit dem Vorschlag, die Auflage einer absoluten Mehrheit (über 50 Prozent der gültigen Wahlstimmen) für den erfolgreichen Sieg in der ersten Runde einer Präsidentschaftswahl abzuschaffen. Offensichtlich halten es auch AKP-MHP für wahrscheinlich, dass Erdoğan nicht mehr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. Denn konträr zur nach außen kommunizierten Hybris ist den AKP-Entscheidungsträgern <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58965213">intern</a> natürlich klar, dass die <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bulent-arincin-ekonomi-ve-sandik-mesajina-akplilerden-destek-1927234">wirtschaftliche Krise</a> und „Mängel im Präsidialsystem“ (aka Willkür, Repression insbesondere gegenüber Kurd*innen, politisierte Justiz) die Gründe für den (prognostizierten) Stimmenverlust sind und dass die Opposition gewonnen werden muss für eine (leichte) Modifikation des Präsidialsystems (wobei klar ist, dass am Prinzip des Präsidialsystems nichts geändert werden soll). Später, im März 2022, als die Novellierung des Wahlgesetzes eigentlich schon als sicher galt (siehe ein paar Absätze weiter unten), <a href="https://www.korkusuz.com.tr/erdoganin-yeni-oyun-plani.html">sickerte durch</a>, dass AKP und MHP zu einer weiteren Senkung der Wahlhürde auf drei Prozent bereit seien. Sie verlangten dafür aber ein Ende der von der Opposition geführten Diskussion, ob Erdoğan laut geltendem Gesetz überhaupt erneut zu einer Kandidatur antreten dürfe. <b>[3]</b></p><p>Mittlerweile wurden auch zahlreiche „Menschenrechtsaktionspläne“ oder „Justizreformpakete“ – angeblich zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation – verkündet. Freilich bleiben Selahattin Demirtaş, Figen Yüksedağ oder Osman Kavala <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-bahceli-tercihlerimiz-kim-oldugumuzun-isaretidir,988449">weiterhin</a> teils lebenslänglich inhaftiert und werden als „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-cumhur-ittifaki-ciftci-dostudur-esnaf-sevgisiyle-doludur,986731">Terroristen</a>“ oder „Soros-Anhänger“ verschrien. Angesichts der weiter oben ausgeführten ununterbrochen fortgesetzten Repression gegen fast alle oppositionellen Teile der Gesellschaft ist klar, dass diese „liberalen Reförmchen“ eh schon kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Aber sogar das war und ist zu viel für die Hardliner innerhalb des Regimes, wie die von Bahçeli wiederholt vorgebrachte Forderung nach der Schließung des Verfassungsgerichtes (AYM) und der Rücktritt des Justizministers Gül (siehe unten) zeigen.</p><p>Es wird auch weiterhin die Handlungsfähigkeit der oppositionsgeführten Städte untergraben, um die – auf erfolgreiche Bereitstellung städtischer Dienstleistungen als materieller Grundlage basierende – Hegemoniepolitik der Opposition zu torpedieren: Beispielsweise bleiben <a href="https://www.birgun.net/haber/metrolari-ibb-ye-devretmeyecekler-358362">weiterhin</a> zentrale Metrolinien <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">oder</a> <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">Bezirke</a> Istanbuls in der Hand zentralstaatlicher Ministerien oder werden in diese überführt; es werden weitere Metroprojekte durch die Stadt oder eine grundlegende Änderung des maroden Taxi-Systems auf die lange Bank geschoben oder <a href="https://www.dw.com/tr/muhalefetin-y%C3%B6netimindeki-projelere-onay-engeli/a-61165248">zahlreiche andere</a> kommunale Projekte in oppositionsgeführten Städten durch AKP-MHP oder zentralstaatliche Apparate gebremst oder gestoppt. Gegen mehr als 500 Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung lancierte das Innenministerium zudem eine <a href="https://t24.com.tr/haber/imamoglu-erdogan-ve-soylu-ya-gonderdigi-mektupta-ne-yazmisti,1003777">„Terrorismus“-Untersuchung</a>, Bahçeli <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-den-bahceli-ye-ibb-yaniti-secimlerde-abdullah-ocalan-in-mektubuna-bel-baglamis-bir-ittifaksiniz-bu-suclamayi-yoneltmek-size-birkac-gomlek-buyuk-gelir,1004578">kündigte daraufhin</a> eine mögliche Amtsenthebung des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu an. Sogar die Schneestürme in Istanbul wurden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/istanbul-residents-get-stuck-snow-politicians-throw-blame-each-other">instrumentalisiert</a> im Hegemoniekampf zwischen Regimekräften und Hauptoppositionparteien, indem sich beide Seiten wechselseitig Unfähigkeit vorwarfen und jeweils ihre eigenen Leistungen hervorhoben.</p><h4><i>Die neuesten Manöver</i></h4><p>Nicht zuletzt sind zwei wichtige Entwicklungen zu nennen, die der Spaltung und Schwächung der Opposition dienen: Zum einen die Änderung des Wahlgesetzes, zum anderen die politische Rückkehr einer Mitterechts-Hardlinerin der 1990er-Jahre, Tansu Çiller.</p><p>Das Wahlgesetz war zuletzt 2018 grundlegend geändert worden, um die Bildung von Wahl-Koalitionen zu erlauben. Es bildeten sich die bis heute bestehenden zwei Koalitionen: Das Bündnis des Volkes (<i>Cumhur İttifakı</i>) des Regimes und das Bündnis der N<i>ation (Millet İttifakı</i>), der bürgerliche Hauptoppositionsblock. Für Parteien, die Teil einer solchen Wahl-Koalition waren, galt die 10 Prozent-Hürde nicht; sie galt nur für die Koalition als Ganze. Der Stimmanteil der Koalition war maßgeblich für den Anteil der Parlamentssitze, die die Koalition als Ganze erhielt; erst in einem zweiten Schritt wurden diese dann entsprechend des Stimmanteils der Koalitionsparteien unter diesen aufgeteilt wurden. Die Wahlgesetzänderung von 2018 war ganz offensichtlich eine Maßnahme, um der AKP-Partnerin MHP den Einzug ins Parlament zu garantieren, da damalige Umfragen die MHP unter der 10 Prozent-Wahlhürde sahen (am Ende bekam sie allerdings doch 11 Prozent).</p><p>Auch die jetzt im Frühjahr 2022 erfolgte <a href="https://t24.com.tr/haber/secim-barajini-dusuren-tekliften-ittifak-hamlesi-cikti-yeni-teklif-en-cok-akp-ye-yariyor-muhalefeti-strateji-belirlemeye-zorluyor,1020850">grundlegende Änderung des Wahlgesetzes</a> dient <a href="https://t24.com.tr/haber/il-ve-ilce-secim-kurullarinin-tamami-ile-ysk-nin-bes-uyesi-sandikta-yargi-guvencesinin-budandigi-tartismasi-esliginde-degisiyor,1021100">unmittelbar politischen Kalkülen</a> des Regimes. Zwar wurde die Wahlhürde jetzt auf 7 Prozent abgesenkt, um das Ganze als „Demokratisierung“ verkaufen zu können. Aber einerseits ist wegen der Möglichkeit der Koalitionsbildung die Wahlhürde derzeit de facto nicht mehr wirklich ein Hindernis, da alle relevanten Parteien entweder in Koalitionen organisiert sind oder, wie die linke und pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP), auch ohne Koalition über die 10 Prozent-Wahlhürde kommen. Zum anderen wurde vor allem die Parlamentssitzverteilung grundlegend geändert. Es entscheidet bei koalierten Parteien zwar immer noch der Stimmenanteil der gesamten Koalition, ob die Wahlhürde überwunden und prinzipiell der Einzug ins Parlament geschafft wird oder nicht; bei der Sitzverteilung wird allerdings nicht mehr dem Stimmanteil der jeweiligen Koalitionen entsprechend aufgeteilt. Stattdessen wird von Anfang an der Stimmenanteil der einzelnen Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken genommen und ausschließlich daran die Sitzverteilung der einzelnen Parteien ausgemacht. <a href="https://bianet.org/english/politics/259162-turkey-s-election-law-tweak-explained-will-it-save-erdogan-from-losing-majority-in-parliament">Einer wahlarithmetischen Berechnung zufolge</a> hätte eine solche Form der Sitzverteilung bei den Wahlen 2018 zu knapp 36 mehr Sitzen für die Regime-Koalition und 44 weniger Sitzen für die Hauptoppositionskoalition geführt. Jetzt bedroht es zudem vor allem die Kleinstparteien, die mit dem Szenario konfrontiert sind, im Rahmen einer Oppositionskoalition zwar über die Wahlhürde zu kommen, aber wegen jeweils sehr kleinen Stimmanteilen gar keine Parlamentarier*innen stellen zu können – außer sie stellen ihre Kandidat*innen auf den Listen der beiden großen mitte-rechts Hauptoppositionsparteien (die Republikanische Volkspartei CHP und die Gute Partei IYI) auf. Aber auch die IYI hätte nach dem jetzt gültigen Wahlsystem, so die erwähnte Berechnung, trotz mehr als 10 Prozent der gültigen Wahlstimmen 2018 keine einzige (!) Parlamentarier*in gestellt.</p><p>Gegen die Möglichkeit gemeinsamer Listen ist das Kalkül von AKP-MHP, dass einerseits der <a href="https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-ruling-parties-draft-law-suggesting-vote-more-likely-next-year-2022-03-14/">Parteienegoismus</a> der Kleinstparteien dieses Vorgehen verhindern könnte. Und – für den Fall der Fälle, dass dies nicht passiert – dass dann die Wähler*innenklientel der betreffenden Kleinstparteien, die ideologisch-kulturell hauptsächlich aus dem konservativ-islamischen Spektrum kommt, insbesondere die CHP nicht wählt. Diese wurde und wird im Zuge des Kulturkampfes des politischen Islams als repressiv antiislamisch und verwestlicht dämonisiert. AKP-MHP bauen also darauf, dass das Machtstreben der einzelnen Parteien sowie die polarisierte Identitätsbildung mit dieser Veränderung des Wahlgesetzes zum entscheidenden Nachteil für die Opposition und Vorteil für das Regime wird, auch wenn ein potenzielles Wahlklientel des Regimes von vier bis sieben Prozent aller gültigen Stimmen (Summe der Stimmen der Kleinstparteien laut aktuellen Umfragen) von AKP-MHP wegbricht. Eine weitere Alternative für die Opposition wäre die Bildung einer rechtskonservativen Koalition um IYI und die Kleinstparteien und somit die Bildung einer genuin rechtskonservativen Blockalternative unabhängig von der CHP. Es ist wahrscheinlicher, dass die Wähler*innen der Kleinstparteien deren Kandidat*innen auf Listen der IYI wählen statt auf Listen der CHP. Die Rechnung des Regimes geht bezüglich dieser Alternative dahingehend, dass die Aufspaltung des Hauptoppositionsblocks in zwei Koalitionen die Friktionen zwischen den jeweiligen Blöcken und Parteien insbesondere entlang der „kurdischen Frage“ stärkt und ihr einheitliches Vorgehen erschwert. Zudem gibt es, wie erwähnt, das Problem, in einer solchen Konstellation überhaupt Parlamentarier*innen entsenden zu können. Oder aber der Hauptoppositionsblock hält im Rahmen der <i>Millet İttifakı</i> zusammen und gleichzeitig werden die Kandidat*innen der Kleinstparteien auf den Listen von IYI platziert (aber auch da bleibt das Problem bestehen, ob die IYI überhaupt Parlamentarier*innen entsenden kann). <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-61171442">Wie man es dreht und wendet</a>, macht es diese Wahlgesetzesänderung <i>prima facie</i> den Hauptoppositionsparteien die Rechnung schwerer als sie sonst wäre und das ist auch der hauptsächliche Grund für die jetzt erfolgte Wahlgesetzänderung.</p><p>Zudem spielen vermutlich auch <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Friktionen zwischen AKP und MHP</a> für die Gesetzesänderung eine Rolle: Nicht nur können sich so beide Parteien <a href="https://halktv.com.tr/makale/bahceli-istifa-ediniz-hsk-uyesi-basustune-650666">für den eventuellen Niedergang des jeweils anderen</a> die Option offen halten, in Zukunft in anderen Konstellationen weiterhin eine wichtige politische Rolle zu spielen oder bei geschwächtem Partner mehr Macht innerhalb des Regimes einzufordern. Die Senkung der Wahlhürde auf sieben Prozent ist insofern ein Sieg der MHP, insofern sie bei einer erfolgreichen Überwindung der Hürde – und dies erscheint derzeit als wahrscheinlich, wenn auch knapp – im Regime-internen Kampf um Macht mehr Gewicht bekommt, da sie es dann erneut ohne Garantie der Koalitionsform ins Parlament geschafft haben wird. Neben den unmittelbaren Machtansprüchen der beiden Parteien gab es immer wieder auch inhaltliche Konflikte, vor allem in der sogenannten „kurdischen Frage“ und angesichts der (vor allem syrischen) Geflüchteten im Land. Während die MHP eine bedeutend härtere Gangart gegen die Kurd*innen vertritt, versucht die AKP immer wieder, auch die militarisierte Politik oberflächlich mit integrativen Balanceakten zu versehen. Ein Grund dafür ist, dass die AKP immer noch Wahlpotenzial unter konservativen Kurd*innen besitzt, während die türkistische MHP nie kurdisches Wahlpotenzial besaß. Gegenüber Geflüchteten vertritt die MHP – wie ein Großteil der Bevölkerung auch – eine stark ablehnende Haltung, während die AKP (neben der HDP als einzige Partei im Parlament und aus anderen Gründen als die HDP) eine positive Haltung dazu einnimmt.</p><p>Das erneute Auftauchen von Tansu Çiller auf der politischen Arena ist Teil des Versuchs, die mitte-rechts Opposition zu spalten. Çiller ist die wichtigste Persönlichkeit aus der Tradition des rechten Liberalkonservatismus in der Türkei, die seit 2018 ihre Unterstützung für die AKP ausgesprochen hat. Unter ihrer Ministerpräsidentschaft fand die <a href="https://www.dw.com/tr/tansu-%C3%A7iller-aktif-siyasete-d%C3%B6n%C3%BCyor/a-61099019">Ausweitung des extralegalen Kriegsführung</a> (paramilitärisch, mafiös und mittels offizieller staatlicher Sicherheitsapparate) gegen die Kurd*innen in den 1990ern statt. Meral Akşener, die derzeitige Chefin der IYI und ehemals Innenministerin unter Çiller, ist derzeit die einzige wichtige Persönlichkeit aus dieser Traditionslinie, die sich in der Opposition befindet. Alle anderen öffentlich auftretenden wichtigen Persönlichkeiten dieser Tradition sind entweder direkt an der Regierung beteiligt wie der Innenminister Soylu oder unterstützen das Regime offen wie der ehemalige Innenminister Mehmet Ağar (dazu ausführlicher im Artikel „Türkisches Inferno“). Çiller hat <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2022/03/09/son-dakika-tansu-cillerden-cok-carpici-cikis-koalisyonlar-darbeden-beterdir">erst kürzlich</a> die Perspektive der Rückkehr zum parlamentarischen System als „Verrat an der Nation“ gebrandmarkt, in der Verteidigung des Präsidialsystems Koalitionsregierungen absurderweise als schlimmer als Militärputsche bezeichnet (absurd auch deshalb, weil ja fast alle Parteien in Koalitionen zur Wahl antreten, inklusive AKP-MHP) und eine Rückkehr zur Politik angekündigt. In welcher Form diese erfolgt, ist noch nicht ganz fix: <a href="https://www.birgun.net/haber/tansu-ciller-in-partisinin-ismi-kulislere-sizdi-380168">Vermutlich</a> wird sie an die Spitze einer wiederbelebten alten Partei treten. Jedenfalls geht es ihr <a href="https://halktv.com.tr/makale/cilleri-ve-erdogani-birlestiren-hedef-meral-aksener-668649">explizit darum</a>, das potenzielle Wähler*innenpotenzial der IYI abzugraben und wieder für das Regime zu gewinnen.</p><h2><b>Die dezisionistisch-polykratische Struktur</b></h2><p>Ich hatte schon in „Türkisches Inferno“ analysiert, dass die politische Struktur in der Türkei zunehmend dezisionistisch und polykratisch ist. Dezisionistisch, insofern Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen Regeln und Gesetze bestimmen, anstatt dass diese im Rahmen konstitutioneller und institutioneller Schranken ausgehandelt werden; polykratisch, insofern sich unter der Spitze der Macht, dem Präsidenten, eine Reihe an ebenfalls dezisionistisch agierenden Machtakteur*innen hervortun, die miteinander um Macht und Einfluss ringen, wobei Erdoğan als Schiedsrichter letzter Instanz über dem Kampfplatz thront. Diese Struktur ist eine Herrschaftsform <i>sui generis</i> und sollte als eine solche analysiert, nicht jedoch auf dem normativem Hintergrund eines konstitutionell-liberalen Regimes als defizitär abgetan werden. Eruptive und nicht objektiv-institutionell vermittelte Austragungen von Differenzen und Konflikten sind nur unter bestimmten Bedingungen dysfunktional für ein solches System, ansonsten aber Formen der Reproduktion desselben. Sich daher darauf zu verlassen, dass ein solches System <i>per se</i> instabil ist und zum Zusammenbruch neigt, ist eine gefährliche objektivistische Fehleinschätzung.</p><p>Wie zuvor gab Erdoğan in der dezisionistisch-polykratischen Struktur nicht nur durch seine Praxis, sondern auch durch öffentliche Ermunterung zu dezisionistischem Handeln den Ton an: „Wir sind vorangeschritten indem wir die Bürokratie Schritt um Schritt zerstört haben. Wenn nötig, müsst ihr das auch tun“, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/20-yildir-iktidarda-olan-erdogan-hala-valilerden-kaymakamlardan-yoneticilerden-sikayetci-1916979">so</a> Erdoğan jüngst zu AKP-Parlamentarier*innen, die sich über Hindernisse in der Verwaltungsbürokratie beschwerten. <a href="https://halktv.com.tr/ekonomi/nebati-fransiz-yatirimciya-vadetti-burokrasiyi-alasagi-ederiz-cumhurbaskani-668454h">Ganz ähnlich</a> tönte sein Wirtschafts- und Finanzminister Nebati im März 2022 zu Investoren: „Wenn ihr ein Problem habt, könnt ihr uns sofort kontaktieren. Das Thema, das mir am leidigsten ist: Regularien oder Bürokratie, die den Investoren Probleme bereiten. Lasst uns gemeinsam kämpfen, wir werden die Bürokratie zertrümmern. Seid beruhigt, der Präsident steht hinter uns. Die Regularien verändern wir auch, im Rahmen des Präsidialsystems schreiten wir schnell voran.“</p><p>Vor allem im Kampf um die Justiz hat es in der dezisionistisch-polykratischen Struktur in den letzten Monaten wichtige Veränderungen gegeben. Wie in den Jahren zuvor pochte auch jüngst der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes, Zühtü Arslan, auf liberal-konstitutionelle Elemente im Staat, wie beispielsweise auf eine aufklärerische und unter allen Umständen <a href="https://t24.com.tr/haber/anaya-mahkemesi-baskani-arslan-idari-mali-ve-bilimsel-ozerklik-universite-ozerkliginin-ayrilmaz-unsurlaridir,986536">freie Universität</a>. Dies ist natürlich <a href="https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2022/01/21/resistance-to-erdogans-encroachment-at-turkeys-top-university-one-year-on/">angesichts des Kampfes</a> um den von Erdoğan eingesetzten, aber von der gesamten Universität abgelehnten Rektors an der Boğaziçi-Universität sehr brisant. Zugleich benannte Arslan, ebenfalls wie schon in den Jahren zuvor, die hohe Anzahl an Verletzungen des Rechts auf faires Gerichtsverfahren als <a href="https://t24.com.tr/haber/anayasa-mahkemesi-baskani-zuhtu-arslan-adil-yargilanma-hakkiyla-ilgili-bir-meselemiz-var,1006985">großes Problem</a>. Seit der Beförderung des glühenden Erdoğan-Anhängers Irfan Fidan zum Verfassungsrichter – ein ehemaliger Istanbuler Generalstaatsanwalt, der <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/yazarlar/ismail-saymaz/bestepe-hukuk-burosu-6192101/">sehr offen</a> zu politischen Zwecken und daher mittels eines sehr durchschaubar politischen Verfahrens eingesetzt wurde –, <a href="https://gazeteoksijen.com/turkiye/15-bin-200-liralik-cezanin-9-yillik-hazin-oykusu-150857">kippte das Kräfteverhältnis</a> innerhalb des AYM aber zunehmend zugunsten des politischen Blocks, der in Grundsatzfragen über Menschen- und Freiheitsrechte ablehnend und im Sinne der (Staats-)Sicherheit entscheidet. Es wird gemunkelt, dass Erdoğan Fidan als AYM-Chef haben möchte und bloß mehr das Ende der Amtszeit von Arslan abwartet.</p><p>Auch zeichnete sich schon gegen Oktober letzten Jahres ab, dass der Justizminister Abdülhamit Gül <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/680-fading-fa%C3%A7ades-abd%C3%BClhamit-g%C3%BCl-the-rule-of-law-and-the-power-struggles-within-the-erdo%C4%9Fan-regime.html">im Machtkampf</a> mit dem Innenminister Suleyman Soylu <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/adalet-bakani-abdulhamit-gulun-gorevden-alinacagi-iddia-edildi-1880459">unterliegt</a>. Gül wurde vom nationalistisch-autoritären Block im Staat <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/baris-pehlivan/polis-aracinda-esrarla-yakalanan-akpli-1881346">als Blockade</a> für die beabsichtigte zunehmende Repression sowie ihrer Kaderpolitik angesehen. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/akpde-kavga-buyuyor-abdulhamit-gulden-soyluya-sert-tepki-1883035">Einer</a> der Streitpunkte der letzten Monate war das von Soylu offen von Ortsvorsteher*innen eingeforderte dezisionistische Handeln, ohne auf Gerichtsprozesse und -entscheidungen zu warten (es ging um das Abreißen von angeblich rechtswidrig errichteten Gebäuden). Gül betonte hier den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit. Ebenfalls <a href="https://www.birgun.net/haber/partisinden-bile-destek-alamadi-371064">stellte sich Gül gegen</a> die erwähnten „Terrorismus“-Untersuchungen von Soylu gegenüber der Istanbuler Stadtverwaltung und andere rechtswidrige Vorgehensweisen. Ende Januar 2022 wurde letztlich seinem angeblichen „Gesuch auf Enthebung von Verantwortung“ statt gegeben, das heißt er wurde seitens Erdoğans von seinem Amt enthoben. Dem war ein Machtverlust des Blocks um Gül in der Hohen Justiz gegen den nationalistisch-autoritären Block <a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">voraus</a><a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">gegangen</a>. Akteure wie Abdülhamit Gül oder Zühtü Arslan repräsentieren weniger eine bürgerlich-demokratische Opposition gegen die dezisionistisch-polykratische Struktur denn eine Nuancierung innerhalb derselben. Sie befürchten einen zu starken Hegemonieverlust, wenn der Dezisionismus außer Rand und Band gerät und visieren daher eine partielle Rücknahme oder Schwächung der allerextremsten Formen des Dezisionismus an. Offensichtlich hat der gemäßigte Flügel innerhalb der dezisionistisch-polykratischen Struktur mit der Amtsenthebung von Gül eine empfindliche Niederlage erlitten. Dem neu eingesetzten Bekir Bozdağ, der schon zwei Mal Justizminister in der AKP-Ära war, gab Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/siyaset-kulisi-hareketli-bekir-bozdaga-ilk-talimat-1903947">angeblich die Anweisung</a>, die unter Abdülhamit Gül eingesetzten religiösen Kader zu säubern und eine Einheit der Justiz unter Führung der Konservativen und Nationalisten, aber auch einiger Sozialdemokraten herzustellen. Letzteres soll vermutlich dem Eindruck entgegenwirken, die Justiz würde von der AKP kontrolliert und dient damit der Beschwichtigung und Integration der bürgerlichen Opposition.</p><p>Mit der Amtsenthebung von Gül verbunden war <a href="https://t24.com.tr/haber/tuik-te-gorev-degisimi-erdal-dincer-gorevden-alindi-yerine-erhan-cetinkaya-atandi,1011302">auch</a> die Amtsenthebung des Vorsitzenden des Statistikinstituts TÜIK, Sait Erdal Dinçer. Anfang 2022 <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-erdogan-tuik-baskanina-tepkili/">wurde bekannt</a>, dass Erdoğan wütend auf ihn sei, weil das von ihm geführte Institut zu hohe Inflationszahlen veröffentlichte. Erdoğan monierte, das TÜIK hebe in seinen Publikationen nicht klar genug hervor, dass die Inflation „künstlich“ und „von außen verursacht“ sei. Dabei steht das TÜIK seit langem von allen seriösen und unabhängigen Beobachter*innen in der Kritik; Grund dafür sind laut Kritiker*innen gezielt zu niedrige Zahlen. Der Amtsenthebungsentscheidung waren eine Reihe kleinerer Entscheidungen vorhergegangen, die alle eine politisch motivierte Manipulation mit makroökonomischen Zahlen beinhalteten: Neben den ständigen Ersetzungen der jeweiligen Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Zentralbankgouverneure sickerten zum einen seit geraumer Zeit <a href="https://www.diken.com.tr/tuik-yoneticisi-enflasyon-rakaminin-nasil-hazirlandigini-anlatti/">Informationen</a> durch, wonach sich angeblich einige Mitarbeitende des TÜIK gegen die Zahlenmanipulationen des TÜIK stellten und dafür gefeuert wurden. Zum anderen wurde, ähnlich wie bei den Inflationszahlen vor einigen Jahren, die Berechnung der Auslandsschulden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkeys-external-debt-drops-25-billion-stroke">kosmetisch geschönt</a>, wobei die betreffenden Eckdaten dennoch schlecht blieben. Aber trotz aller Bemühungen um eine autoritäre Konsolidierung bleibt die populare Unterstützung für das Regime mangelhaft.</p><h2><b>Restauration oder populare Demokratie?</b></h2><p>Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und seinen Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse sowie dem Erfolg der Opposition in den neu gewonnenen Stadtverwaltungen spitzt sich der Hegemoniekampf zwischen Regime und Opposition zu. Der arithmetische <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_parliamentary_election">Durchschnitt</a> aller Wahlumfragen der letzten Monate zeigt, dass die Wahlstimmung eindeutig zuungunsten der AKP-MHP-Koalition gekippt ist (obzwar weniger verlässlich, kippen auch die Umfragen zur anstehenden <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_presidential_election">Präsidentschaftswahl</a> gegen einen Sieg Erdoğans). Selbst AKP-<a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/mehmet-acet/ak-partinin-son-anketlerinde-vaziyet-neyi-gosteriyor-2059800">interne</a> bzw. -<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/optimar-anketi-erdogan-acik-ara-onde-galeri-1537428?p=2">nahe</a> Umfragen zeigen, dass der AKP-MHP-Block, beziehungsweise Erdoğan als Präsidentschaftskandidat, bei den anstehenden Wahlen nur sehr knapp gewinnen könnten. Die Opposition ist daraufhin mutiger geworden: Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, tritt zwischenzeitlich offensiver auf als gewohnt. Er besuchte mehrere staatliche Institutionen und wichtige Machtakteur*innen wie <a href="https://www.bloomberght.com/chp-lideri-kilicdaroglu-tcmb-baskani-ile-gorusecek-2289832">die Zentralbank</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/kilicdaroglu-tuike-gidiyor-2293565">das TÜIK</a>, das <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-nun-gelisi-oncesi-meb-in-kapisina-kilit-vuruldu,1004618">Bildungsministerium</a> (<i>Millî Eğitim Bakanlığı</i>, MEB), die staatliche <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-randevu-talebine-yanit-verilmeyen-et-ve-sut-kurumu-genel-mudurlugu-onunde,1026424">Fleisch- und Milchinstitution</a> (<i>Et ve Süt Kurumu</i>) oder den TOBB, um Rechenschaft oder menschenwürdige Preise einzufordern und Hegemoniepolitik zu betreiben. Der <a href="https://yetkinreport.com/2021/11/16/kilicdaroglu-merkez-bankasindan-sonra-tobb-hamlesi/">Besuch bei TOBB</a> war ein erster ernsthafter Versuch, die historisch AKP-nahen KMUs jetzt auf die Seite der Opposition zu ziehen. Gleichzeitig kündigte er zum ersten Mal an, rechtswidrig oder parteiisch vorgehende Bürokrat*innen bei Machtantritt <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-kim-fakir-fukaranin-hakkini-yerse-karsisinda-olacagim-yaninda-erdogan-dahi-olsa,986276">zu bestrafen</a>. AKP’ler*innen berichten davon, dass ihnen <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-kilicdaroglunun-cikisi-sonrasi-burokraside-direnc-basladi/">seit</a> <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/3240950-kilicdaroglunun-hedefi">dieser Erklärung</a> mehr Widerstand seitens der Bürokratie geleistet wird. Kılıçdaroğlu selbst berichtet davon, dass der Opposition seitdem <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-yolsuzluklarla-ilgili-belge-yagiyor,1010817">immer mehr interne Unterlagen</a> zu staatlich betriebener Korruption und klientelistischer Ressourcenverschwendung zugeschickt würden. Eine Serie an türkeiweiten Kundgebungen unter dem Titel „Stimme der Nation“ (<i>Milletin Sesi</i>) wurde, nach einem Auftakt in der südtürkischen Hafenstadt Mersin im Dezember 2021, bis auf weiteres verschoben, soll aber nach Ramadan (April-Mai 2022) mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen fortgesetzt werden. Auch in sonstiger Hinsicht gibt es Neuerungen: Zum ersten Mal seit Jahren hat die CHP die parlamentarische Unterstützung für die Verlängerung des Mandats für militärische Auslandseinsätze in Syrien und Irak über zwei Jahre <a href="https://t24.com.tr/haber/ankara-da-suriye-irak-tezkeresi-tartismasi-chp-neden-hayir-dedi,988647">verweigert</a>, weil sie befürchtet, dass es im Vorlauf zu den anstehenden Wahlen (Sommer 2023) zu einem erneuten Kriegsszenario für die innenpolitische Mobilisierung kommen könnte. Zudem haben CHP und teils auch IYI nun öffentlich die HDP als <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-opposition-parties-drop-hints-future-cooperation">legitime kurdische Repräsentation</a> im Parlament zur Lösung der „Kurdischen Frage“ anerkannt.</p><h4><i>Angepasster Hauptoppositionsblock</i></h4><p>Dennoch: Die Taktik des bürgerlichen Hauptoppositionsblockes bleibt seiner Grundausrichtung nach paternalistisch und teilweise angepasst an den Autoritarismus und das autoritäre Erbe der Türkischen Republik. Eine Perspektive, die über die Restauration des Neoliberalismus hinausgeht, ist nicht anvisiert.</p><p>Inhaltlich betrachtet werden weiterhin Elemente des türkischen Nationalismus und Chauvinismus bedient: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Hetze</a> gegen syrische Geflüchtete und die <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-hepimiz-sakin-olmaliyiz-afganlari-demokratik-yollarla-gondermek-zorundayiz,971595">oft geäußerte Absicht</a>, diese (alle!) „mit <a href="https://www.dunya.com/gundem/chp-lideri-kilicdaroglu-esad-ile-anlasmamiz-lazim-haberi-631961">Pauken und Trompeten</a>“ oder „auf demokratischen Wegen“ in ihre Heimatländer zurückzusenden, sollte der Oppositionsblock an die Macht kommen, gehören zum politischen Alltag des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks. Dies trifft problematischerweise auf sehr hohe Zustimmung (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/son-secim-anketi-imamoglu-18-yavas-15-puan-fark-atiyor-galeri-1531954">mehr als 80 Prozent</a> der Bevölkerung laut einer Umfrage). Mit dem Chef der faschistoiden MHP, Bahçeli, streitet Kılıçdaroğlu darüber, wer der <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-herkes-turkiye-nereye-dogru-savruluyor-diye-endise-icinde,988519">echtere Nationalist</a> ist. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Regierung wegen der abhängigen Finanzialisierung der Türkei dafür kritisiert, „<a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-genclere-seslendi-sorunlarinizi-cozmeyi-ahdettik-sizleri-universite-bitirdikten-sonra-issiz-birakan-duzeni-tepe-taklak-yikacagiz,995465">anti-national</a> und anti-autochton“ zu sein – dabei visiert der Hauptoppositionsblock die Restauration des Neoliberalismus und damit eben dieselbe abhängige Finanzialisierung an. Eine Stärkung von sozialen und Arbeiter*innenrechten inklusive der grundlegenden Revision der repressiven arbeitsrechtlichen und -organistorischen Bestimmungen (bzgl. Gewerkschaften oder des Streikrechts) findet sich bei diesen Parteien so selten wie im oben erwähnten Bericht des TÜSIAD. Noch bei einer der banalsten und simpelsten Protestformen, die Kılıçdaroğlu lancierte, namentlich über einige Tage hinweg seine Stromrechnung nicht zu bezahlen in Solidarität mit all jenen, die unter der massiven Erhöhung des Strompreises litten, machten die anderen mitte-rechten Oppositionsparteien nicht mit, weil sie den Protest <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkish-opposition-leader-loses-electricity-he-protests-high-prices">angeblich</a> zu „linkspopulistisch“ fanden. Ein erst vor eineinhalb Monaten deklariertes Manifest des Hauptoppositionsblocks für die Perspektive eines sogenannten „verstärkten parlamentarischen Systems“ <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/riza-turmen/guclendirilmis-parlamenter-sistem-ve-yeni-turkiye,34622">bekundet zwar</a> die Absicht der Zerschlagung des dezisionistischen Präsidialsystems, beinhaltet dafür aber weder einen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, noch auf die Probleme der Kurd*innen oder Alevit*innen, geschweige denn ein zum Neoliberalismus der 2000er-Jahre alternatives ökonomisches Programm.</p><p>Die Anerkennung der „Kurdischen Frage“ und der HDP bleibt auf sehr problematische Art und Weise inkonsequent (was Mesut Yeğen in seiner <a href="https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question">Auflistung</a> der wohlwollenden Bezüge der Hauptopposition zur HDP nicht hinreichend berücksichtigt): Einerseits dient diese „Anerkennung“ dazu, Abdullah Öcalan und die PKK als Verhandlungspartner*innen grundlegend abzulehnen. „Nennt mich nicht Kılıçdaroğlu, wenn ich dieses Nest Kandil [Kandilgebirge im Grenzgebiet Türkei-Irak-Iran, mutmaßliches Hauptquartier der PKK; Anm. d. Aut.] nicht dem Erdboden gleich mache“, <a href="https://www.haberturk.com/kilicdaroglu-kandil-i-yerle-yeksan-etmezsem-kilicdaroglu-demesinler-3241622">so Kılıçdaroğlu</a>. Er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-sinir-otesi-operasyon-yapan-tsk-ya-allah-bu-mubarek-ayda-mehmetcigimizin-ayagina-tas-degdirmesin,1028645">verteidigt</a> daher auch die derzeit laufende großangelegte Militäroffensive gegen das Kandilgebirge. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die PKK militärisch besiegt werden kann. Zudem genießen sie und Öcalan eine sehr hohe Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung. Auf die Kriegsoption zu setzen – wie es derzeit ja auch das Regime tut – wird daher nur den ewigen Krieg blutig fortsetzen und sicherlich nicht zu einem gesellschaftlichen Frieden beitragen. Andererseits ist aber auch die Anerkennung der HDP selbst nur halbherzig: IYI-Chefin Akşener <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-bugun-turkiye-de-kadin-hayir-dediginde-onun-iradesini-koruyacak-bir-hukuk-yok,990478">betont</a>, dass sie die HDP an der Seite der PKK sehen und die Nutzung des Worts „Kurdistan“ auf die „Terrororganisation“ (also die PKK) zurückgehe (was natürlich Humbug ist). CHP wie IYI unterstützten erneut die <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-hdp-li-semra-guzel-in-dokunulmazliginin-kaldirilmasina-evet-diyecegiz,1009164">Aufhebung der Parlamentsimmunität</a> einer HDP-Parlamentarierin wegen angeblicher „Terrorpropaganda“; die Kleinstpartei <i>Gelecek Partisi</i> (Zukunftspartei, GP) verteidigt <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bis heute aktiv</a> die früher getätigten Aufhebungen der Parlamentsimmunitäten von HDP-Abgeordneten. Einer eventuellen Schließung der HDP wegen terroristischer Aktivität macht Akşener die Forderung zur Kondition, dass dann auch der Partei der Prozess gemacht werden müsse, die mit ihr den „Friedensprozess“ geführt habe – also die AKP –, anstatt den Verbotsprozess grundlegend abzulehnen. Und <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/tusiad-baskani-merkez-bankasi-nin-attigi-faiz-indirimi-adimlari-ne-gercekten-piyasa-faizlerine-ne-de-ekonomiye-olumlu-yansiyor,33182">auch</a> der TÜSIAD ist der Meinung, dass Türkisch weiterhin Amts- und Schulsprache bleiben, das heißt, Kurdisch nicht offiziell als gleichwertig zu Türkisch gelten solle. Da war sogar der <a href="https://tusiad.org/tr/yayinlar/raporlar/item/1797-turkiyede-demokratiklesme-perspektifleri">TÜSIAD-Demokratiebericht 1997</a> weiter, da er die „Kurdische Frage“ als solche benannte und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht anerkannte. Wie sich die Akteur*innen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mit solchen Haltungen vorstellen, die „Kurdische Frage“ gelöst zu bekommen, bleibt fraglich. Da ist dann auch die „Anerkennung“ der HDP nicht viel wert und mehr oder minder nur ein Feigenblatt für die Fortsetzung des türkischen Nationalismus. Letzterer ist nicht gottgegeben, sondern veränderbar: <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bekir-agirdir-cozum-surecine-destek-yuzde-40-seviyesinde-hazirlanmamiz-lazim-haber-1561575">Eine</a> Metastudie des Meinungsforschungsinstituts KONDA <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/istanbulda-kurt-sorunu-tartisildi-kurtler-ayri-devlet-mi-istiyor-haber-1561536">konnte aufzeigen</a>, dass die Zustimmung zum „Friedensprozess“ in der Bevölkerung der Türkei innerhalb des letzten Jahrzehnts großen Schwankungen unterlag mit zeitweisen Spitzenwerten von bis zu 60 Prozent Zustimmung für denselben. Die AKP war einst mutiger als die heutige Opposition: Sie begann den „Friedensprozess“ in einer Zeit, als die Zustimmung zu diesem laut KONDA bei 30 Prozent lag. Sich stattdessen an den historisch und politisch erneut bewusst geförderten türkischen Nationalismus und Chauvinismus anzubiedern wie es die heutige Opposition teilweise tut, ist daher eine bewusste politische Entscheidung und ein bewusstes politisches Kalkül, aber keine objektive Notwendigkeit.</p><p>Formal betrachtet wird weiterhin Appeasement geübt an die ominöse „Einheit des Staates“ im Allgemeinen, an das Präsidialsystem im Besonderen:</p><p><a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/dikkat-ceken-gorusme-meral-aksener-chp-genel-merkezine-geldi-1878236">Absurderweise</a> stellten sich CHP wie IYI <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/dahiyane-bir-formul-41925619">direkt</a> <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-59028607">auf Regierungsseite</a>, als im Herbst letzten Jahres zehn Botschafter*innen die Türkei dazu ermahnten, sich bezüglich des Gerichtsverfahrens gegen den liberalen Mäzen Osman Kavala an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu halten. Dieser forderte nämlich eine sofortige Haftentlassung. Dabei hatte doch die Türkei aus eigener Entscheidung heraus die Entscheidungen des EGMR als oberstes Gericht vertraglich akzeptiert. Osman Kavala blieb weiterhin aus purer autoritärer Willkür – nämlich zwecks Abschreckung großbürgerlich-liberaler Opposition – inhaftiert und die eigentlich recht zahnlose Erklärung der Botschafter*innen wurde gezielt zu einem riesigen Theater seitens des Regimes aufgeblasen, um mal wieder chauvinistisch-pseudoantiimperialistisch Stärke zu demonstrieren. Mittlerweile ist Kavala zu lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt worden. Gewollt oder ungewollt hat die Opposition mit solchen Verhaltensweisen diesem politischen Urteil zugespielt.</p><p>Dabei eiern die Hauptoppositionsparteien teils immer noch sogar beim ganz banalen Minimalpunkt der Bekämpfung des Regimes herum, gemeint ist die Abschaffung des Präsidialsystems. Der Chef der <i>Saadet Partisi</i> (Glückseligkeitspartei, SP), die aus derselben politischen Tradition kommt wie einst die AKP, hielt es unter bestimmten Umständen <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogandan-karamollaogluna-sistem-iyi-bir-tek-501-mahsurlu-haber-1541538">nicht für absolut ausgeschlossen</a>, dass sie das Präsidialsystem unterstützen könnten; GP-Chef Davutoğlu <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bekundet</a>, dass sie sich natürlich mit der AKP an einen Tisch setzen würden, wenn diese „ihre Meinung ändert“. Derselbe Kılıçdaroğlu, der rechtswidrig/parteiisch agierende Bürokrat*innen mit Verfolgung bei Machtübernahme bedrohte, sprach zugleich davon, dass er sich ganz allgemein und umfassend „<a href="https://www.dw.com/tr/k%C4%B1l%C4%B1%C3%A7daro%C4%9Flundan-yeni-helalle%C5%9Fme-a%C3%A7%C4%B1klamas%C4%B1/a-59835688">aussöhnen</a>“ (<i>helalleşmek</i>) möchte. Dass sich diese Aussöhnung nicht, wie von führenden CHP-Kadern behauptet, ausschließlich auf eine Versöhnung der polarisierten Massen der Bevölkerung ausrichtete, sondern durchaus auch die Entschärfung des popularen Antagonismus zu Staat und Erdoğan beinhaltete, wurde kurz darauf deutlich. Als die CHP ausnahmsweise mal <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531">eine Massenkundgebung</a> veranstaltete, namentlich in Mersin im Rahmen der <i>Milletin Sesi</i>-Kundgebungen mit zehntausenden Beteiligten, da warnte Kılıçdaroğlu die kämpferische Menge davor, gegen das Statistische Amt zu wettern und einen Rücktritt Erdoğans zu fordern. Er hielt fest, dass jetzt nicht die Zeit des Kämpfens und des Konflikts sei, sondern die der Einheit und der Vereinigung. Aber wann sonst, wenn nicht in einer autoritär-faschistoiden Spirale und einer tiefen Wirtschafts- und Hegemoniekrise wäre denn die Zeit des Kämpfens?</p><p>Generell bleibt die Herangehensweise der beiden (mitte-)rechten Hauptoppositionsparteien weiterhin so, dass sie <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-den-erdogan-a-sokaga-dokulme-yaniti-nereden-baksaniz-acayiplik-sacmalik-derhal-bir-psikiyatriste-gorunmesini-tavsiye-ediyorum,1005907">explizit</a> Mobilisierungen auf die Straßen <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-erdogan-a-beyefendi-bizim-sokaga-cikmamizi-istiyor-cikmayacagiz-catisma-alani-yaratmak-istiyorlar-o-tuzaga-dusmeyecegiz,1005896"><i>ablehnen</i></a>. Hierzu äußerte sich CHP-Chef Kılıçdaroğlu <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">erst kürzlich</a> erneut ganz unmissverständlich: „Effektive Opposition ist das eine, ins Feld gehen etwas anderes. […] Ich möchte nur das eine: unser Volk soll entspannt bleiben, zumindest bis zu den Wahlen. Wir werden sowieso alle schwerwiegenden Probleme lösen, sobald wir an der Macht sind. […] Jetzt, kurz vor den Wahlen, dürfen wir uns nicht vom Palast [Erdoğans Präsidentenpalast; A. K.] provozieren lassen.“ Es war daher auch eine – freilich bisher einmalige – <a href="https://artigercek.com/haberler/deva-dan-sokaga-cikin-cagrisi">Überraschung</a>, als die Diyarbakır-Sektion der oppositionellen Kleinstpartei <i>Demokrasi ve Atılım Partisi</i> (Partei für Demokratie und Fortschritt, DEVA) im Oktober 2021 eine Kundgebung organisierte – mit dem Verweis, dass nur der Protest auf der Straße etwas bringe, nicht der in den eigenen vier Wänden.</p><h4><i>Das strategische Kalkül hinter der angezogenen Handbremse</i></h4><p>Alle diese Dinge stellen nicht Schwächen oder Mängel der Hauptopposition dar, sondern ein klar durchdachtes politisches Kalkül. Es ist offensichtlich, dass Massenmobilisierungen für die Opposition nur in Frage kommen, wenn sie <i>paternalistisch gegängelt und kontrolliert</i> werden können, damit sie den hegemoniepolitischen Rahmen, der vom Hauptoppositionsblock eng abgesteckt wird, nicht verlassen. Der Hauptoppositionsblock <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/685-conservatism-as-solution-can-the-nation-alliance-solve-turkey%E2%80%99s-problems">visiert</a> die Restauration des neoliberalen Regimes auf ökonomisch erhöhter Stufenleiter minus seiner derzeitigen dezisionistischen Struktur an, wobei aber autoritäre und nationalistische Ideologieelemente sowie eine die Bevölkerung nicht als aktives Subjekt anrufende politische Praxis beibehalten werden sollen. Diese sollen deshalb beibehalten werden, damit die Subalternen nicht selbständig und als aktive, gesellschaftsverändernde Subjekte gegenüber den Herrschenden auftreten können. Wo sich Nationalismus und Autoritarismus etabliert haben, erweisen sie sich neben ihrer repressiven Funktion gegen gegen-hegemoniale Akteur*innen als nützliche Formen, <i>subalternen Konsens für ansonsten intern extrem ungleiche und entrechtende Regime</i> herzustellen. Die ominöse und allseits beschworene Einheit des Staates, die nichts anderes als die Verewigung der Gängelung relativ selbständiger Politik und sozialer Kämpfe ist, gereicht zwar dem jeweils dominanten politischen Regime am meisten zum Vorteil, da es auch das Terrain bürgerlich-oppositioneller Politik enger absteckt. Die Opposition kann aber immer darauf hoffen, selbst eines Tages diese Ressource anzapfen zu können. Von selbst auf die hegemonialen Ressourcen von Nationalismus, Autoritarismus und Staatsfetischismus zu verzichten, das mag derzeit offensichtlich niemand im bürgerlichen Hauptoppositionsblock der Türkei.</p><p>(Links-)Liberale Analytiker*innen sind daher oft <a href="https://www.justsecurity.org/79306/might-the-turkish-electorate-be-ready-to-say-goodbye-to-erdogan-after-two-decades-in-power/">allzu vorschnell</a> in ihrer <a href="https://www.politikyol.com/turkiyenin-gelisen-yeni-modeli/">Begeisterung</a> für das <a href="https://pomed.org/opposition-leaders-unveil-plan-to-democratize-turkey/">Demokratisierungspotenzial</a> des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks und seiner <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Erfolgsaussichten</a>. Die <a href="https://mavidefter.net/joachim-beckerle-roportaj-macaristan-secimleri-ve-altili-muhalafetin-basarisiz-sinavi/">kürzlich</a> erfolgte vernichtende Niederlage des <a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/orban-victorious">restaurativ-neoliberalen ungarischen Hauptoppositionsblocks</a>, der als Vorbild des Blocks in der Türkei diskutiert wurde, hätte ein Weckruf sein können. Aber CHP-Chef Kılıçdaroğlu ist der Meinung, dass es <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">keine Ähnlichkeiten</a> mit der Situation in Ungarn gäbe, weil dort die Opposition hauptsächlich aus linken Parteien bestünde und die Wirtschaft in einem guten Zustand sei. Was sonst folgt daraus als dass die Hauptoppositionspartei eben auf eine rechte Politik und die Tiefe der Wirtschaftskrise vertraut als Garanten für einen Wahlsieg? Die <a href="https://sendika.org/2021/09/direnis-fraksiyonu-630629/">Beschränkung der Kritik</a> durch den Hauptoppositionsblock in der Türkei auf eine „Regierungs-/Verwaltungsunfähigkeit“ des Regimes und das Klientelkapital bei Übernahme nationalistischer und autoritärer Muster dient exakt der Dethematisierung der neoliberal-autoritären Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsformation in der Türkei. Es bleibt sehr fraglich, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/bekir-agirdir/yeni-ak-parti-olmak-meseleyi-cozer-mi,33003">ob</a> eine solche Perspektive, die kaum einen positiven Entwurf für die Türkei – außer der Behebung der als Mängel wahrgenommenen autoritären Züge des Präsidialsystems – beinhaltet, die Menschen tatsächlich positiv begeistern und damit die Identifikation mit den Regimeparteien zugunsten eines neuen Konsens brechen kann.</p><p>Denn <a href="https://yetkinreport.com/2021/08/16/akpden-kopan-secmen-neden-beklemede/">a</a>uch wenn die „negative Identitätsbildung“ bei AKP-MHP-Wähler*innen abnimmt (also Identifizierung mit AKP und/oder MHP aufgrund der Abgrenzung gegenüber den Oppositionsparteien), <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-12-puanlik-akp-ve-mhp-secmeni-kararsiz,1021981">bleibt</a> der Anteil der unter anderem trotz Abwendung oder Infragestellung von AKP/MHP <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-kararsizlarin-erdogan-a-oy-verme-egilimi-nasil,1022661">unsicher oder schwankend</a> verbleibenden Wähler*innen mit <a href="https://tr.euronews.com/2021/10/12/2023-cumhurbaskanl-g-secimleri-son-anketler-ne-diyor">um die 20 bis 25 Prozent</a> Anteil an allen Wahlberechtigten <a href="https://tr.euronews.com/2021/09/21/turkiye-raporu-anketi-ak-parti-nin-oylar-yuzde-30-un-alt-na-geriledi">hoch</a>. Eine Wähler*innenbewegung setzt, wenn überhaupt, dann zur rechtsnationalistischen IYI ein. Dabei ist die <a href="https://t24.com.tr/haber/orc-arastirma-son-secimde-erdogan-a-oy-verenlerin-yaklasik-yuzde-40-i-erken-secimin-ihtiyac-oldugunu-soyledi,980001">Unzufriedenheit</a> bei AKP- bzw. Erdoğanwähler*innen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/carpici-ekonomi-arastirmasi-10-kisiden-9unun-gorusu-ayni-1916355">insbesondere</a> angesichts der vertieften Wirtschaftskrise – so <a href="https://t24.com.tr/haber/ipsos-arastirmasi-turkiye-de-vatandaslarin-yuzde-82-si-ekonomi-kotu-diyor,1031825">wie im Rest</a> der Bevölkerung <a href="https://www.bloomberght.com/her-10-kisiden-dordu-ailesinden-maddi-destek-aldi-2304784">auch</a> – vergleichsweise hoch, das Wirtschaftsmanagement wird von (<a href="https://t24.com.tr/haber/mak-arastirma-baskani-herkes-ekonomi-kotu-yonetiliyor-diyor-hukumet-bunu-hic-uzerine-almiyor,1024330">über</a>) <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/metropollden-ekonomi-anketi-ak-parti-ve-mhp-secmeni-iktidar-ekonomiyi-yonetemiyor-galeri-1540308">80 Prozent</a> als schlecht bewertet. Auch wird weiterhin über das <a href="https://www.dw.com/tr/konda-y%C3%BCzde-69-adalete-g%C3%BCvenmiyor/a-59436393">marode Justizsystem</a> und die <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-75-i-oy-almak-icin-dinin-siyasette-kullanilmasini-onaylamiyor,984192">Nutzung der</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-72-si-diyanetin-ve-din-adamlarinin-siyasetle-ugrasmalarini-yanlis-buluyor,984405">Religion zu politischen Zwecken</a> Unzufriedenheit geäußert. Eine <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-secmenlerin-84-5-i-hayat-pahaliliginin-artmaya-devam-edecegini-dusunuyor,990462">pessimistische Sicht</a> auf die Zukunft, insbesondere <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/iste-devletin-yaptirdigi-en-buyuk-secim-anketi/649485">unter Jugendlichen</a>, nimmt stark zu. Dennoch ist insbesondere unter AKP-Wähler*innen weiterhin der Glaube stark, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/10/will-turkeys-opposition-blow-golden-opportunity-beat-erdogan">dass es</a> die Opposition <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/mak-anketi-secmenin-yuzde-41-i-oy-verdigi-partiyi-degistirecek-secmenin-yuzde-42-si-erdogan-a-asla-oy-vermem-diyor,13531/3">nicht besser</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-halkin-muhalefetin-ekonomik-sorunlari-cozecegine-dair-guveni-gittikce-azaliyor,994774">kö</a>nne, beziehungsweise bei einem potenziellen Machtantritt „erneut“ <a href="https://yetkinreport.com/2022/01/18/sadece-ekonomik-kriz-iktidara-secim-kaybettirir-mi/">massive Repression</a> betreiben würde (in der Ideologie der AKP ist die Opposition Schuld an der Unterdrückung muslimischer Identitäten in der Vergangenheit). <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-halkin-yuzde-46-si-muhalefet-liderlerinin-28-subat-ta-duzenledigi-toplantidan-habersiz,1024225">Fast die Hälfte</a> der Bevölkerung weiß gar nicht, dass sich die bürgerlichen Oppositionsparteien auf einer gemeinsamen Konferenz zum Beschluss einer gemeinsamen politischen Strategie getroffen haben. Die teils auf Polarisierung, Chauvinismus, Angst und Panikmache basierende und von der AKP und Erdoğan aktiv hergestellte Identität unter ihren Wähler*innen hält, zumindest angesichts der Tiefe der Wirtschafts- und allgemeinen Hegemoniekrise, weiterhin <a href="https://yetkinreport.com/en/2021/10/26/how-do-the-low-income-akp-voters-get-poorer-but-not-flee/">erstaunlich gut</a>. Sie ist daher weiterhin ein Beleg für die relative Autonomie des Politischen und der dem Politischen immanenten Vergegenständlichungen (Identitäten, Polarisierungen, Subjektivierungsformen etc.). Nur das Erkämpfen realer Handlungsmacht auf Grundlage einer positiven, inklusiven Perspektive und einer alternativen politischen Ökonomie für die Zukunft der Türkei kann jene Identität vollumfänglich aufbrechen und sie grundlegend durch neue ersetzen.</p><h4><i>Sanfter Übergang oder radikaler Bruch?</i></h4><p>Aber angenommen, die an das Bestehende angepassten Taktiken des Hauptoppositionsblocks würden aufgehen und die Wahlen von diesem Block gewonnen werden: Mit der geplanten Restauration des Neoliberalismus und der Fortsetzung autoritärer und chauvinistischer Elemente, ja vielleicht sogar mit einer nur halbgaren Abrechnung mit dem alten System werden all die hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit eines erneuten autoritären <i>backlashs</i> reproduziert.</p><p>Es ist ein bekannter oppositioneller Akademiker, der ohne Scham offen ausspricht und einfordert, was unausgesprochen als reale Möglichkeit im derzeitigen Vorgehen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mitschwingt: Namentlich bei einem (Wahl-)Sieg über Erdoğan diesem und seiner Familie <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Amnestie zu gewähren</a>, um einen „sanften Übergang“ zu gewährleisten. Ein paar Linke seien bestimmt gegen diese besonders gewiefte Taktik, aber sie sei schon die wirklich vernünftige. Das Militär könne ja diesen Übergang überwachen. Die ungeheuerlichen Folgen, die eine solche Absegnung autoritärer Willkürherrschaft und des Klientelismus durch eine siegreiche Opposition dazu noch unter erneuter Gängelung des Militärs mit sich bringen würde, ist jenem Akademiker augenscheinlich nicht einen Gedanken wert. Man fragt sich: Ist es denn keine Lektion gewesen, dass die Straflosigkeit der Akteur*innen des „Tiefen Staates“ der 1990er jetzt dazu führt, dass derselbe brutalisierte Chauvinismus wieder um sich greift und zentrale Akteur*innen jenes „Tiefen Staates“ – Sedat Peker, Mehmet Ağar, Süleyman Soylu, Tansu Çiller und andere – heute wieder fröhliche Urstände feiern? Ganz zu schweigen davon, was die Jahrzehnte der Dominanz des Militärapparats innerhalb des Staates an Schaden angerichtet hat. Müsste man nicht gerade als Liberaler weit über das Präsidialsystem Erdoğans hinaus die konsequenteste und umfassendste Abrechnung mit dem nicht-liberalen Erbe der Türkei fordern, „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war“ (Fritz Bauer in Anlehnung an Henrik Ibsen), damit sich das Inhumane nie wieder wiederhole? Aber hier scheinen eben die Grenzen dieses angepassten Liberalismus auf.</p><p>In der Türkei gibt es indes genug Kämpfe und soziale Dynamiken, die das Potenzial haben, weit über die Dialektik zwischen autoritärer Konsolidierung und neoliberaler Restauration hinauszuweisen. Gerade der Zermürbung, Atomisierung und Zerschlagung dieses Potenzials dienen solche Entwicklungen wie die drakonischen Strafen im Zuge des Gezi-Prozesses. Eben deshalb ist die Massenmobilisierung und der aktive politische Kampf wichtig, um der Zermürbung und der Demoralisierung Einhalt zu gebieten. Denn das Potenzial jener sozialen Dynamiken und Kämpfe kann sich, auf Grundlage gemeinsamer Handlungsmacht und zu erkämpfenden Errungenschaften, durchaus mit den progressiven und demokratischen Elementen/Tendenzen in der AKP-MHP-Wähler*innenbasis verbinden und deren widersprüchliches Alltagsbewusstsein klarer von seinen reaktionären und chauvinistischen Elementen befreien. Damit können die Grundlagen für eine popular-demokratische Perspektive geschaffen werden. Das wird aber nicht klappen, wenn man sich opportunistisch oder gar aus Überzeugung an die rückständigsten und reaktionärsten Tendenzen innerhalb der Bevölkerung anpasst, statt in erster Linie das schon vorhandene und sich in jahrelangen Kämpfen bildende Oppositions- und Demokratisierungspotenzial zu schützen und aufzubauen. Dafür und für eine Ausstrahlung jenes Potenzials auch auf die Regimebasis bedarf es einer starken, koordiniert kämpfenden revolutionären Linken im Bündnis mit der kurdischen Bewegung. Die Stärkung dieses Bündnisses und seiner Beteiligten ist die einzige Garantie für die Demokratisierung der Türkei. Alles andere beherbergt die Gefahr der Fortsetzung oder Wiederholung der Tragödie.</p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Ich danke Axel Gehring und Johanna Bröse für viele, viele Rückmeldungen, Korrekturvorschläge und Kritiken.</p><p><b>[2]</b> Im übrigen zeigen die klassisch neoliberal-populistischen „Gegenmaßnahmen“ der Regierung gegen die Auswirkungen der Inflation, dass die Regierung gegen alle ideologische Hybris sowie „Terrorismus“-Gedröhn angesichts sozialer Proteste sehr wohl weiß, wie drängend die sozialen und ökonomischen Probleme, die ja erst zu jenen Protesten führen, für einen Großteil der Bevölkerung geworden sind. Die Maßnahmen sind klassisch neoliberal-populistisch, weil sie nur sehr milde Elemente von Fiskalpolitik zwecks überschaubarer Umverteilung beinhalten, die zudem die Kapitalseite nicht berühren, anstatt auf kollektive Rechte oder gar Veränderungen in der Arbeitswelt zu setzen oder die Menschen selbst als aktive, gestaltende Subjekte anzurufen.</p><p><b>[3]</b> Laut geltendem Gesetz darf ein Präsidentschaftskandidat nur zwei mal das Präsidentschaftsamt innehaben, außer er selbst löst das Parlament während einer seiner Amtszeiten auf und forciert vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, wobei dann parallel dazu auch der Präsident neu gewählt wird. Erdoğan wurde 2014 zum Präsidenten gewählt und 2018 nochmal, aber zwischen beiden Wahlen fand die das Präsidialsystem einführende Verfassungsänderung statt. Daher wurde Erdoğan laut seinen Verteidiger*innen bisher nur ein mal gewählt nach derjenigen Verfassung, die die Auflage der zwei Amtsperioden beinhaltet, und kann daher noch einmal antreten. Die Kritiker*innen hingegen sind der Meinung, dass die Verfassungsänderung nichts am Tatbestand ändert, dass Erdoğan schon zwei mal Präsident war/ist und daher nicht erneut zur Wahl antreten kann.</p></div>
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„Sie greifen an, wenn sie verlieren“2020-09-26T09:15:58.392782+00:002020-09-26T09:53:32.539374+00:00Johanna Bröse und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/sie-greifen-an-wenn-sie-verlieren/
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<h1>„Sie greifen an, wenn sie verlieren“</h1>
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<div class="rich-text"><p>Günaydın, Türkiye! Wieder einmal hat ein Tag in der Türkei mit Nachrichten von massiven Polizeioperationen gegen demokratische und revolutionäre Kräfte begonnen. Schon zwei Wochen zuvor, am 11. September 2020, hatte es großangelegte Razzien gegen die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP) gegeben. 17 Festgenommene wurden letztlich auch verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.</p><p>Gestern, am 25. September, legte der türkische Staat dann noch einmal nach und führte zwei großangelegte Operationen durch. Insgesamt ist von 82 Personen in sieben Provinzen die Rede, gegen die ein Festnahmebefehl vorliegen soll. Eine erste Welle von Razzien wurde von Ankara aus gesteuert und richtete sich gegen die Kurdische Bewegung. Die Oberstaatsanwaltschaft gab dazu eine Stellungnahme ab, in der er vom „Kobanê Ermittlungsverfahren“ sprach. Wir erinnern uns: Vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 gab es in vielen Städten der Türkei, besonders im kurdischen Südosten, Aufstände und Zusammenstöße mit staatlichen Kräften. Über 50 Tote waren zu beklagen. Der Grund dafür war, dass die Banden des selbsterklärten Islamischen Staates (IS) die Stadt Kobanê in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei zu attackieren begannen und dabei Schützenhilfe durch den türkischen Staat erhielten. </p><h2><b>Einfach mal festnehmen!</b></h2><p>Und jetzt, sechs Jahre später werden unter anderem der Ko-Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, der ehemalige Abgeordnete und Filmregisseur Sırrı Süreyya Önder, sowie die Politiker*innen Altan Tan, Emine Ayna und Nazmi Gür – allesamt zu der damaligen Zeit Parlamentsabgeordnete – festgenommen. Weitere führende HDP-Politiker*innen und bekannte Personen des öffentlichen Lebens, etwa die Akademikerin Beyza Üstün, Can Memiş, die Forscherin und Feministin Gülfer Akkaya, der sozialistische Autor Alp Altınörs, Günay Kubilay und Dilek Yağlı wurden ebenfalls inhaftiert. Sechs ganze Jahre später! Eine erneute Glanzleistung der – selbstverständlich völlig unabhängigen – Justiz der Türkei, wie wir sie unter anderem schon in der Causa <a href="https://freemaxzirngast.org">#FreeMaxZirngast</a> beobachten durften. Einige der nun Festgenommenen wurden noch nie zu ihrer Beteiligung 2014 befragt, andere schon zuvor festgenommen, angeklagt, freigesprochen und wieder auf freien Fuß gesetzt worden und so weiter. Eine scheinbare Willkür, die aber durchaus System hat. Geleitet wurde die Operation der – natürlich vollständig unabhängigen – Justiz von Yüksel Kocaman, dem Oberstaatsanwalt in Ankara. Dieser war erst vor wenigen Tagen mit seiner Frau nach seiner Hochzeit <a href="https://twitter.com/artigercek/status/1307681796012863488">zu Besuch im Palast</a> bei Präsident Erdoğan gewesen, wo sie alle zusammen für ein schönes Hochzeitsfoto posierten. Zum Glück gibt es sie, diese unabhängigste Justiz der Welt, wenn nicht des ganzen Universums!</p><p>Die zweite Operation richtete sich vor allem gegen die sogenannte „Bewegung der Namenlosen“ (İsimsizler Hareketi). Das ist eine unabhängige Plattform, die vor allem in den sozialen Medien Kampagnen initiiert, um oppositionelle Stimmen und Haltungen zu stärken. Dementsprechend traf die Festnahmewelle auch sehr unterschiedliche Personen aus verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen, deren jeweilige Verbindung mit der genannten Plattform nicht immer ganz klar ist. Aber solche Details können die – natürlich vollständig unabhängige – Justiz der Türkei ohnehin nicht stoppen. So wurden etwa der Anwalt Tamer Doğan festgenommen, die <a href="https://elyazmalari.com/author/perihan-koca/">Redakteurin</a> der Plattform <i>elyazmaları</i> und Sprecherin der Partei für soziale Freiheit (Toplumsal Özgürlük Partisi, TÖP) Perihan Koca, der Journalist Hakan Gülseven sowie der Intellektuelle und Autor Temel Demirer. Der Vorwurf ist bereits bekannt, auch wenn es derzeit noch keine Einsicht in die Akten gibt: „Putschversuch via soziale Medien“. Da ist man doch direkt versucht, diese wirkmächtigen Sozialen Medien gleich mal auszuprobieren: Hashtag Revolution jetzt, los geht es! Oder die gemäßigten Varianten, wie sie die Unterstützer*innen der Festgenommenen derzeit allerorts verbreiten: #LasstDieGefangenenFrei, #DieHDPWirdSichNichtBeugen bis zu personalisierten Nachrichten, wie #TamerDoğanIstUnserAllerAnwalt. Mögen unsere Hashtags die Welt aus den Angeln heben!</p><h2><b>Viraler Kontrollverlust und Widerstand</b></h2><p>Die Hintergründe dieser repressiven Politik sind relativ eindeutig. Dem Regime ist es zwar gelungen, die zentralen Staatsapparate mehr oder weniger vollständig unter Kontrolle zu bekommen; gleichzeitig gelingt es aber nicht, die gesellschaftliche Legitimität für das Herrschaftsprojekt herzustellen. Im Gegenteil! Umfragen zeigen seit einiger Zeit, dass die Zustimmung in der Bevölkerung schwindet. Die <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/gundem/metropollun-son-anketinde-carpici-sonuclar-akp-ve-mhp-6043740/">jüngste Umfrage</a> zeigte AKP und MHP gemeinsam bei 38,8 Prozent. Und es sieht nicht so aus, als wäre das Regime fähig, die Krisendynamiken weiterhin kontrollieren zu können.</p><p>Dazu trägt bei, dass der Staat beim Umgang mit der Corona-Pandemie komplett versagt hat. In der Türkei schwanken die täglichen Neuansteckungen fast ausschließlich zwischen 1200 und 1700 Fällen. Erstaunlich für ein Virus, dass sich überall sonst auf der Welt exponentiell ausbreitet. Aber in dem Land, das (wie sich nachträglich herausstellte) seinen ersten Coronatoten schon vor dem offiziellen ersten Fall hatte, sind auch solche Wunder möglich. Kaum jemand in der Türkei glaubt an die offiziellen Zahlen, und außerhalb der Türkei sieht das nicht anders aus. Als unlängst die Vereinigung der Ärzt*innen (TTB) gegen die Zustände protestierte, forderte Erdoğans <i>partner in crime</i>, der MHP-Chef Devlet Bahçeli, die Schließung der TTB. Die zweite entscheidende Krisendynamik ist die ökonomische Krise, die aus unserer Redaktion erst <a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">gestern in einem weiteren Artikel</a> zur Türkei (Virus als Katalysator von Alp Kayserilioğlu) ausführlich beleuchtet wird.</p><p>Es ist sehr klar, dass das Regime mit diesen Angriffen und den jüngsten Überfällen die aktuelle Verfasstheit der Opposition testet. Sehr wahrscheinlich wird dies nur der Beginn einer Kampagne gegen alle demokratischen und sozialen Kräfte in der Türkei sein, die sich letztendlich sogar auf die bürgerliche Opposition erstrecken kann. Anzeichen dafür sind weitreichende <a href="https://twitter.com/FuocoSavinelli/status/1309582574394761218">Online-Sperrungen</a> von oppositionellen Medien, wie <i>Halk TV</i> oder <i>Yeni Yaşam</i>.</p><p>Es gibt aber auch Widerstand. Obwohl es heutzutage schwierig ist, in Massen auf die Straße zu gehen, wurden in vielen Städten des Landes bereits Solidaritätserklärungen abgegeben – etwa in <a href="http://bianet.org/bianet/insan-haklari/231596-hdp-operasyonu-kadikoy-de-protesto-edildi">Kadıköy, Istanbul</a>. Die kämpferische Botschaft: „Sie greifen an, weil sie verlieren!“ Darüber hinaus konnte das Regime die sozialen Medien nicht so gut unter seine Kontrolle bringen, wie es dies wünscht. Ein <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/07/29/sabahladilar-ama-sosyal-medya-yasasi-1-ekimde-yururluge-girecek/">kürzlich verabschiedetes Internetgesetz</a>, das derzeit durchgesetzt wird, versucht, dies nun mit anderen Mitteln zu erreichen. Das Gesetz schreibt im Wesentlichen vor, dass alle Unternehmen, die in der Türkei vertreten sein wollen, einen in der Türkei ansässigen Vertreter haben müssen, sich alle User*innen mit Namen registrieren müssen und das jeweilige Unternehmen diese Informationen an den türkischen Staat weitergeben muss. Es ist noch abzuwarten, ob Unternehmen wie YouTube und Twitter, die wichtige Plattformen der Opposition darstellen, den Anforderungen des neuen Gesetzes nachkommen. Und was passiert, wenn sie dies nicht tun.</p><p>Derzeit ist es von größter Bedeutung, dass wir mit allen revolutionären und demokratischen Kräften in der Türkei solidarisch sind, die heute für ein freies Land kämpfen.</p></div>
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Virus als Katalysator2020-09-25T09:12:56.845636+00:002020-09-25T09:12:56.845636+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/
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<div class="rich-text"><p>Am 11. März 2020, als offiziell die erste Corona-Infektion in der Türkei registriert wurde, tönte Staatspräsident Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-dan-koronavirus-aciklamasi,865821">ganz groß</a>: »Kein Virus ist stärker als unsere Vorkehrungen.« Am Tenor ideologischer Selbstdarstellung hat sich seitdem wenig geändert: In völliger Verkehrung der Tatsachen wird die Türkei als Weltspitze der Corona-Bekämpfung präsentiert, während der entwickelte Westen den Bach runtergehe – autoritäre Hybris <i>at its best</i>. Diese Hybris und ihr Versprechen der Größe haben Staatspräsident Erdoğan und das unter seiner Führung organisierte national-autoritäre Regime auch bitter nötig, wo doch die Realität ganz anders aussieht: eine teils katastrophale Pandemiebekämpfung, <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkey-executive-presidency-proved-to-be-fail-in-two-years.html">einbrechende Umfragewerte</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/son-15-ayda-yapilan-57-anketin-ortalamasi-erdogan-ve-cumhur-ittifaki-gidici-diyor-1768312">für</a> das Regime, eine schwere Wirtschaftskrise insbesondere für die unteren und Mittelklassen und eine <a href="https://t24.com.tr/haber/area-arastirma-olasi-cumhurbaskanligi-secimlerinde-mansur-yavas-muharrem-ince-ile-abdullah-gul-e-fark-atiyor,899856">erstarkende Opposition</a> <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/avrasya-arastirma-dan-anket-secimler-yenilense-mevcut-buyuksehir-belediye-baskanina-oy-verir-misiniz,9966">vor allem</a> in den (oppositionsgeführten) Großstädten. Das entgeht natürlich weder Erdoğan noch seinen Verbündeten. Deshalb radikalisieren sie ihre bisherigen Hauptmechanismen der <a href="https://www.researchgate.net/publication/256039501_Authoritarian_Consolidation">autoritären Konsolidierung</a>: militärische Auslandseinsätze, Inhaftierung von Oppositionellen, Repression gegen Dissident*innen, Gesetze zur Schwächung der Zivilgesellschaft, Einschränkung der Handlungsfähigkeit oppositioneller Bürgermeister*innen, chauvinistische und sexistische Propaganda und so weiter. Dabei verschärfen sich auch die internen Fraktionskämpfe des Regimes. SARS-CoV-2 ist somit ein Katalysator gesellschaftlicher Antagonismen in der Türkei.<b> [1]</b></p><h2><b>Hybris und Realität</b></h2><p>Im Prinzip handelt die Türkei in der Bekämpfung des Virus nach <a href="https://revoltmag.org/articles/der-zug-f%C3%A4hrt-ab/">denselben</a> Handlungsmaximen wie alle entwickelten kapitalistischen Länder des Westens: Das Regime versucht eine Strategie umzusetzen, die abwägt zwischen kurzfristigen Stabilitäts- und Wirtschaftsinteressen und langfristigen Interessen kapitalistischer Akkumulation. Sterben zu schnell zu viele Menschen, kann es zur Destabilisierung kommen; werden zu viele beschränkende Maßnahmen verhängt, fallen die Profite zu stark. Eine konsequente Eindämmungspolitik des Virus wird deshalb, wie auch in Deutschland, explizit nicht verfolgt. Der Präsidentensprecher Ibrahim Kalın brachte das sehr direkt auf den Punkt, als er <a href="https://www.birgun.net/haber/saray-dan-sokaga-cikma-yasagi-aciklamasi-ekonomik-maliyeti-buyuk-olur-296875">festhielt</a>: »Die wirtschaftlichen Kosten einer allgemeinen Ausgangssperre wären hoch.« Auch dem Gesundheitsminister Fahrettin Koca war <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/saglik-bakani-kocaya-sordum-salginda-son-durum-nedir-41600122">klar</a>, dass die Eindämmungsperspektive durchaus möglich ist; er wischte sie allerdings allzumenschlich beiseite: »Um dieses Problem vollständig zu lösen, müsste man eine vollständige Isolation implementieren. Aber kein Land der Welt will das. Auch die Türkei will das nicht. Aus nachvollziehbaren Gründen wird nirgends auf der Welt und auch in der Türkei nicht auf vollständige Isolation gesetzt.«</p><p>Im Unterschied allerdings zu Ländern wie der BRD verfügt die krisengebeutelte Türkei nicht über genug Ressourcen und vor allem das politische Regime nicht über genug Stabilität, um eine Kontrolle der Epidemie im Rahmen jener Handlungsmaximen effektiv zu betreiben. Zwar wurden nach und nach alle größeren Geschäfte und gastronomischen Läden geschlossen, es gab aber im Prinzip nie effektive Kontaktbeschränkungsmaßnahmen, und die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/04/03/devletin-korona-gunlugu-hangi-kurum-ne-zaman-ne-yapti/">meisten Maßnahmen</a> wurden nur sehr zögerlich und dann für vergleichsweise kurze Zeit eingeführt. Wie die türkische Ärztekammer (TTB) <a href="https://www.ttb.org.tr/haber_goster.php?Guid=11be613e-de25-11ea-a538-cd82211f39c1">ganz richtig</a> festhält, wälzte der Staat die gesamte Verantwortung auf die einzelnen Bürger*innen ab und sorgte selbst für die Verbreitung einer Aura der Sorglosigkeit mittels einer sogenannten »Rückkehr zur Normalität« ab dem 1. Juni, inklusive <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-akp-govt-weaponizes-covid19-to-disarm-opposition.html">propagandistischer Großveranstaltungen</a> wie die Einweihung der Hagia Sophia mit Hunderttausenden Beteiligten. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Virusverbreitung wurden zwar wiederholt komplette Ausgangssperren in mehreren Großstädten verhängt. Dies aber bewusst nur an Wochenenden oder Feiertagen, also an Tagen, an denen Arbeiter*innen sowieso am ehesten frei haben und deshalb am wenigsten Profite zu entfallen drohen.</p><p>Das halbherzige Vorgehen in der Pandemiebekämpfung schlägt sich auch nur bedingt in verlässlichen Zahlen nieder. Mit Stand vom 22. September 2020 sind <a href="https://covid19.who.int/region/euro/country/tr">offiziell</a> 302.867 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen und 7.506 Personen daran verstorben. Aber noch Monate nach der ersten offiziellen Corona-Infektion gab es kaum eine genaue Aufteilung der Infizierten und Toten nach Regionen, Alter und Vorerkrankungen, so dass sich die Ärztekammer über längeren Zeitraum <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/saglik/2020/06/12/ttb-salgin-sirlarla-yurutuluyor/">nicht in der Lage</a> sah, eine angemessene epidemiologische Analyse vorzunehmen. Erst am 1. Juli, also 112 Tage nach dem ersten registrierten Infektionsfall, fing das Gesundheitsministerium an, regelmäßige Berichte und Daten zu veröffentlichen. Aber bis zum heutigen Tage <a href="https://www.ttb.org.tr/kutuphane/covid19-rapor_6.pdf">beschwert</a> sich die Ärztekammer über intransparente und unzulängliche Daten. Irregularitäten in den zur Verfügung gestellten Daten sowie prohibitive Interventionen des Gesundheitsministeriums in die Forschung wurden in einem offenen Brief vom 15. August in der internationalen Fachzeitschrift<i> The Lancet</i> von praktizierenden Ärzten <a href="https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)31691-3/fulltext">gebrandmarkt</a> und vom Gesundheitsminister natürlich sofort in derselben Zeitschrift <a href="https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)31864-X/fulltext">dementiert</a>. Ärztekammer wie Gewerkschaften des Gesundheitssektors weisen <a href="https://birartibir.org/siyaset/825-salgina-korukle-gitmek">seit geraumer Zeit</a> darauf hin, dass die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/01/ses-ankarada-gunluk-vaka-sayisi-2-bin-civarinda/">echten Infektionsfälle</a> <a href="https://ato.org.tr/news/show/840">weit</a> <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey/doctors-say-turkish-covid-19-outbreak-worse-than-reported-as-hospitalisations-swell-idUSKCN251231">über</a> den offiziellen Zahlen liegen und dass sie Todesfälle registrieren, die COVID-19 <a href="https://www.birgun.net/haber/kecioren-gercegi-covid-19-olumleri-resmi-kaydin-5-kati-313942">zuzuordnen sind</a>, aber <a href="https://t24.com.tr/haber/ibb-bilim-kurulu-uyesi-prof-dr-kilicaslan-koronavirus-kaynakli-cok-sayida-olum-kayitlara-bulasici-hastalik-olarak-gecti-istanbul-da-60-bin-civarinda-vaka-var,873846">anders klassifiziert</a> werden, um die Statistik zu beschönigen. Der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu meinte <a href="https://www.voanews.com/covid-19-pandemic/turkey-accused-coronavirus-cover-cases-rise">kürzlich</a>, dass laut den ihm vorliegenden Zahlen allein Istanbul so viele Neuinfektionen am Tag registriert wie das Gesundheitsministerium für die ganze Türkei angibt (also grob über 1500); ähnliches meinte der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Aus vielen Städten wurde zumindest zeitweise darüber berichtet, dass die Intensivstationen in Krankenhäusern <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey/doctors-say-turkish-covid-19-outbreak-worse-than-reported-as-hospitalisations-swell-idUSKCN251231">überfüllt</a> waren, was sogar der Gesundheitsminister <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/02/fahrettin-koca-birinci-dalganin-ikinci-pikini-yasiyoruz/">nachträglich zugeben</a> musste. Eine <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/avrasya-arastirma-dan-anket-secimler-yenilense-mevcut-buyuksehir-belediye-baskanina-oy-verir-misiniz,9966">überwältigende Mehrheit</a> der Bevölkerung der Großstädte – etwa 70 Prozent – glaubt laut einer Umfrage den Zahlen des Gesundheitsministeriums nicht. Aber auch schon die offiziellen Zahlen zeigen, dass die Türkei in eine Phase der Lockerungen eintrat, als die erste Welle noch gar nicht abgeklungen war, <a href="https://www.toraks.org.tr/site/news/10005">weshalb</a> Expert*innen wie die Türkische Thorax-Vereinigung <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/saglik-bakani-kocaya-sordum-salginda-son-durum-nedir-41600122">schon längst vor dem</a> Gesundheitsminister von einem »zweiten Peak der ersten Welle« sprachen. Unter den Umständen einer intransparenten und relativierenden Vorgehensweise der Regierung, überrannter Krankenhäuser, steigender Infektions- und Todesfälle unter Krankenhausbeschäftigten und fehlenden Schutzmaßnahmen haben <a href="https://jurnaltr.com/salgin-boyunca-900-hekim-istifa-etti-30-bin-saglik-calisani-koronaviruse-yakalandi/">mittlerweile</a> Hunderte Gesundheitsarbeitende ihre <a href="https://www.ttb.org.tr/haber_goster.php?Guid=11be613e-de25-11ea-a538-cd82211f39c1">Kündigung</a> <a href="https://www.toraks.org.tr/site/news/10005">eingereicht</a>.</p><p><a href="https://www.ttb.org.tr/kutuphane/covid19-rapor_4.pdf">Als Folge</a> der unentschlossenen Pandemiebekämpfung erreichte die effektive Reproduktionszahl <b>[2]</b> in <a href="https://www.milliyet.com.tr/gundem/son-dakika-haberi-corona-viruste-son-durum-bakan-koca-toplam-can-kaybi-425-vaka-sayisi-20-921e-yukseldi-6180754">Istanbul</a> kurzzeitig (Anfang April) den sagenhaften Wert von 16 und türkeiweit (Ende März) den Wert von neun, was im weltweiten Vergleich sehr hoch ist. Laut Ärztekammer schneidet die Türkei im Vergleich zu ähnlich situierten Ländern auch in anderen Hinsichten (Tote pro 1000 Einwohner*innen, Neuinfektionen gerechnet auf Tage nach dem ersten Infektionsfall, usw.) eher schlechter ab. Dabei zeigen erste vorläufige Studien, dass mit 0,81 Prozent Seroprävalenz von Coronavirus-Antikörpern in der Bevölkerung auch die Türkei weit entfernt ist von einer Herdenimmunität, für die ja grob 60 Prozent notwendig wären (Stand: Ende Juni).</p><p>Dabei trifft SARS-CoV-2 <a href="https://www.cambridge.org/core/journals/new-perspectives-on-turkey/article/new-perspectives-on-turkey-roundtable-on-the-covid19-pandemic-prospects-for-the-international-political-economic-order-in-the-postpandemic-world/3B8003A8F0A071F2EA4126A61EC37F6A">wie in den meisten Ländern</a> so auch in der Türkei die Schwächsten: Von den Fabriken über die Textilbranche und den Dienstleistungssektor bis hin zum Bausektor hatten viele oft informell beschäftigte Arbeiter*innen, die nicht zum Management gehören, keine andere Wahl, als auch in Hochzeiten der ersten Welle zu arbeiten, oft ohne ausreichende Schutzbestimmungen, gefangen zwischen der Skylla der Infektion und der Charybdis des Hungers. <b>[3]</b> Besonders <a href="https://www.tr.undp.org/content/turkey/en/home/library/corporatereports/COVID-gender-survey-report.html">negativ betroffen</a> sind Frauen, insofern sie viel häufiger als Männer ihre Jobs verloren und zudem den Großteil der zusätzlich anfallenden Reproduktionsarbeiten im Haushalt übernahmen, wie eine UN-Studie festhält. Auch in der Türkei brachen größere Infektionsgeschehen an Produktionsstandorten aus, so bei SuperFresh (Lebensmittel) und Ülker (Gebäck) in Bursa, Eti Gıda (Gebäck) in Eskişehir oder Gedik Piliç (Geflügelfabrik) in Uşak und BMC (Automobil) in Izmir. In einer der größten Fabriken des Landes, <a href="https://t24.com.tr/haber/kapali-devre-calisma-modelinin-uygulandigi-dardanel-den-aciklama-sadece-gonullu-calisanlar-katildi,895774">Dardanel</a> (Dosenfisch) bei Çanakkale, wandten Manager ein sogenanntes »geschlossenes Arbeitssystem« an, um die Produktion trotz eines großen Infektionsgeschehens fortzusetzen. »Geschlossenes Arbeitssystem« hieß in diesem Fall, dass die Infizierten nur mehr miteinander auf Schicht arbeiten und auf dem Betriebsgelände isoliert von Kontakt nach außen leben sollten – um niemanden sonst mehr anzustecken! Bei <a href="https://www.birgun.net/haber/yusufeli-nde-santiyeden-cikmak-yasak-iscileri-esir-aldilar-313312">Vestel</a> (Haushaltsgeräte), einer anderen großen Fabrik mit Tausenden Arbeiter*innen, ignorierten Manager*innen nicht nur Sicherheitsbestimmungen und versuchten ein großes Infektionsgeschehen zu verdecken, sondern sie exponierten die Arbeiter*innen willentlich und wissentlich einem großen Infektionsrisiko. In Yusufeli bei Artvin hingegen wurden Arbeiter*innen eines <a href="https://www.birgun.net/haber/yusufeli-nde-santiyeden-cikmak-yasak-iscileri-esir-aldilar-313312">Staudamms</a> de facto vom Gouverneur dazu gezwungen weiter auf der Baustelle zu verbleiben und zu arbeiten trotz eines laufenden Infektionsgeschehens. Außer BMC bei Izmir wurden aber bisher keine der betroffenen Fabriken geschlossen. Bei einer solchen Sorglosigkeit ist es kein Wunder, dass in Istanbul – dem »<a href="https://www.cnnturk.com/turkiye/saglik-bakani-kocadan-koronavirus-aciklamasi-istanbul-turkiyenin-wuhani-oldu">Wuhan der</a> <a href="https://www.cnnturk.com/turkiye/saglik-bakani-kocadan-koronavirus-aciklamasi-istanbul-turkiyenin-wuhani-oldu">Türkei</a>« laut dem Gesundheitsminister – die ärmsten Viertel wie Bağcılar, Esenler und Bayrampaşa am heftigsten von der Epidemie betroffen sind.</p><p>Um die tatsächlichen Ausmaße der Pandemie einzuschätzen, könnte man nun einen Blick auf die Exzessmortalität (eine im Verhältnis zu einem Vergleichszeitraum feststellbare erhöhte Sterblichkeit) werfen, wie dies in Europa üblich ist. Das ist allerdings für die Türkei wegen der mangelhaften Datenlage schwierig. Die<i> New York Times</i> und der<i> Economist</i> haben weltweit die Übersterblichkeit untersucht. Der<i> Economist</i> kommt dabei zum <a href="https://www.economist.com/graphic-detail/2020/04/16/tracking-covid-19-excess-deaths-across-countries">Ergebnis</a>, dass sich die Exzessmortalität in Istanbul auf der Höhe des ersten Peaks zwischen März und Mai auf grob 50 Prozent belief, während die Anzahl der Exzess-Toten fast doppelt so groß war wie die offiziell festgestellten COVID-19-Toten. Die<i> New York Times</i> <a href="https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/21/world/coronavirus-missing-deaths.html">hingegen</a> schätzt die Exzessmortalität in Istanbul im Vergleich zu 2017-19 auf grob 20 Prozent, allerdings für den Zeitraum von März bis Ende Juni. Da es aber keine genauen Zahlen zu allen Todesfällen geschweige denn zu COVID-19-Toten in Istanbul gibt, ist dies nur eine grobe Schätzung und zudem nicht auf das ganze Land übertragbar. Prof. Steve Hanke von der Johns Hopkins Universität ordnete die Türkei wegen all dieser Ungenauigkeiten und Intransparenz denjenigen Ländern zu, deren Zahlen zu COVID-19 <a href="https://e.vnexpress.net/news/news/us-economist-says-vietnam-lacks-coronavirus-statistics-prompts-retraction-demand-4117553.html">sehr unzuverlässig</a> seien.</p><h2><b>Der Einbruch</b></h2><p><a href="https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/3B8003A8F0A071F2EA4126A61EC37F6A/S0896634620000230a.pdf/new_perspectives_on_turkey_roundtable_on_the_covid19_pandemic_prospects_for_the_international_political_economic_order_in_the_postpandemic_world.pdf">Wie überall sonst</a> auf der Welt, führte die Corona-Krise auch in der Türkei trotz Beschönigungsversuchen des Regimes zu einem massiven Wirtschaftseinbruch, der die unteren und mittleren Klassen ungleich härter trifft. Dabei traf aber die Corona induzierte Krise auf eine sowieso schon angeschlagene Wirtschaft, was zu einem Währungsschock wie im Sommer 2018 führte und das Potenzial für eine ausgewachsene Wirtschaftskrise hat. Die <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-30/turkey-likely-spared-worst-of-economic-damage-inflicted-by-virus">Industrieproduktion</a> brach zwischen Februar und Mai durchgehend ein und wuchs erst im Juni wieder; die Nettokapitalinvestitionen gingen, wie durchgehend seit Mitte 2018, zurück so wie auch das gesamte <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-30/turkey-likely-spared-worst-of-economic-damage-inflicted-by-virus">Wirtschaftswachstum</a> im zweiten Quartal 2020 um 9,9% gegenüber dem Vorjahresquartal zurückging. Besonders stark waren Exporte und Tourismus, die Hauptdeviseneinnahmenquellen der türkischen Wirtschaft, betroffen: Während <a href="https://www.bloomberght.com/turkiye-2-ceyrekte-yillik-yuzde-99-kuculdu-uzmanlar-rakamlari-degerlendirdi-2263267">Exporte</a> um grob 35 Prozent im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum einbrachen, <a href="https://salaamgateway.com/story/how-much-was-turkeys-tourism-impacted-by-covid-19-jan-to-jun-2020">besuchten</a> 75 Prozent weniger Besucher*innen die Türkei im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. <a href="https://www.dailysabah.com/business/tourism/turkeys-tourism-revenues-could-hit-15b-in-2020-despite-pandemic">Optimistische Hochrechnungen</a> gehen davon aus, dass die Einnahmen aus dem Tourismus im gesamten laufenden Jahr um mehr als 50 Prozent gegenüber 2019 einbrechen könnten. Der <a href="https://www.imf.org/en/Countries/TUR">IWF</a> rechnet mit einem Einbruch des Bruttoinlandproduktes von fünf Prozent über das gesamte Jahr, die <a href="https://www.bloomberght.com/oecd-turkiye-nin-2020-de-yuzde-29-daralmasini-bekliyor-2264456">OECD</a> hingegen von 2,9 Prozent, während die <a href="https://www.birgun.net/haber/covid-19-doneminde-issizlik-ve-is-kaybi-tuik-in-bildigi-ama-soyle-ye-medigi-gercekler-308063">echte Arbeitslosenquote</a> <b>[4]</b> schon jetzt um die 25 Prozent beträgt und bei <a href="https://t24.com.tr/haber/anar-dan-anket-vatandaslarin-yuzde-77-6-si-salgindan-sonraki-en-buyuk-sorunu-ekonomi-olarak-goruyor,880458">Umfragen</a> mindestens die Hälfte aller Beteiligten über <a href="https://sendika63.org/2020/05/bisam-iscilerin-yuzde-92si-borclu-her-uc-isciden-ikisinin-tuketici-kredisi-borcu-var-588761/#more">finanzielle Einbußen</a>, <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/turkey-manufacturing-demand-inflation-virus.html">Nöte</a> und <a href="https://t24.com.tr/haber/istanbul-universitesi-nden-koronavirus-arastirmasi-calisani-issizlik-korkusu-sardi-vatandas-hayatina-yonelik-kontrol-duygusunu-kaybetti-huzursuz,880015">Zukunftsängste</a> im Zuge der Pandemie klagt. Bis zu 20 Millionen Menschen könnten in die <a href="https://ca.reuters.com/article/us-health-coronavirus-turkey-poverty-ana-idCAKBN2611BD">Armut</a> rutschen, doppelt so viele wie bisher.</p><p>Dem Regime stehen dabei nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung, um die aktuelle Krise zu bekämpfen. Wegen der <a href="https://jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">strukturellen Schwächen</a> des Neoliberalismus in der Türkei (hohe Abhängigkeit von ausländischen Kapitalflüssen, Devisen, Importen für Binnen- wie Exportproduktion und so weiter) kam die türkische Wirtschaft schon 2013 ins Straucheln, als die us-amerikanische Zentralbank (US Fed) das Ende ihres zwecks Bekämpfung der Krise 2007ff. implementierten Anleihekauf- und Geldexpansionsprogramms (<i>quantitative easing</i>) verkündete. Die teilweise Abwendung des Regimes vom neoliberaliberalen Konstitutionalismus wie die Ablösung nichtpolitischer Institutionen und Wirtschaftspolitiken durch die Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements sowie Erdoğans dezisionistische Politikgestaltung kamen erschwerend hinzu, so dass es seit 2013 zu mehreren Einbrüchen der Wirtschaft und einer Instabilität derselben kam. Als diese Instabilität im Sommer 2018 ausgelöst durch einen diplomatischen Konflikt mit den USA zu einem <a href="https://www.researchgate.net/publication/333951280_The_Making_of_Turkey's_2018-2019_Economic_Crisis">schweren Währungsschock</a> führte, explodierten die Importkosten und Auslandsschulden des Privatsektors, was wiederum zu Rückzahlungsproblemen, Schuldenumstrukturierungen im Milliardengröße, einer Explosion der Inflation und zu einem Inflations-induzierten Konsumtionseinbruch führte.</p><p>Als die Corona-induzierte Wirtschaftskrise unter diesen Umständen einsetzte, intervenierte die Regierung zuerst in dreierlei Art und Weise, um Unternehmen zu stützen. Zum einen wurde im März ein <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/03/19/saraylara-milyarlik-koruma-kulubelere-kolonya/">Konjunkturpaket</a> im Umfang von 100 Milliarden Türkischen Lira (TL) (derzeit etwas weniger als 11,5 Milliarden Euro) verabschiedet, das hauptsächlich aus Steuererleichterungen und Lohnnebenkostenhilfen bestand, aber fast nichts für die Werktätigen selbst beinhaltete. Zum zweiten intervenierte die Regierung mittels Zentralbank (TCMB) und anderen öffentlichen Banken massiv in den Finanzmarkt und den Außenhandel, um einen weiteren Fall der Lira angesichts der sich trübenden Weltwirtschaftslage und der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-market-volatility-lira.html">einsetzenden Kapitalflucht</a> von etwas mehr als 11 Milliarden US-Dollar in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres zu verhindern. Das beinhaltete den <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-04/turkish-lira-rates-blow-out-to-1000-after-currency-intervention">Verkauf von Devisenreserven</a> der Zentralbank in einer Größenordnung von grob 65 Milliarden US-Dollar von Anfang des Jahres bis Ende Juli, aber auch die Einführung von leichten Kapitalverkehrskontrollen und Handelsbeschränkungen <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/05/13/turkiyede-rejim-sorunu-ile-ilgili-bir-tartisma/">wie</a> die Beschränkung des Devisenhandels und die Erhöhung von <a href="https://ahval.me/turkey-imports/turkeys-finance-minister-vows-press-measures-curb-imports">Importzöllen</a> auf <a href="https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/arbeitspapiere/CATS_Working_Paper_Nr_5_Doruk_Arbay.pdf">mittlerweile</a> fast 5000 Waren. Drittens stieg die Kreditvergabe an angeschlagene Unternehmen zu <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-06-16/post-lockdown-turkey-snapshot-shows-economic-damage-hard-to-undo">realen Negativzinsen</a> über öffentliche Banken <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-17/turkey-s-homemade-economic-pain-won-t-cost-traders-any-sleep">explosionsartig</a>.</p><p>Inmitten dieses Corona-Einbruchs und der Krisenmaßnahmen setzte plötzlich erneut ein <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkish-lira-falls-two-percent.html">schwerer Währungsschock</a> im August ein. Als der Tagessatz für TL-Swaps<b> [5]</b> in London in der <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-04/turkish-lira-rates-blow-out-to-1000-after-currency-intervention">Nacht des 4. August</a> auf unglaubliche 1050 Prozent sprang – weil die schon erwähnten <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/swap-yabanci-banka-yasagi-ve-ekonomi-yonetiminin-buyuk-acmazi,26692">Kapitalrestriktionen</a> für ausländische Banken und Restriktionen von <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/albayrak-reassures-investors-turkish-lira-falls.html">TL-Swaps</a> zu einer TL-Krise von Anlegern und daran anschließend zu einem Panikverkauf von TL-dotierten Aktien und Wertpapieren zwecks Beschaffung von Liquidität in TL führte – fiel der Wert der Lira ins Bodenlose: Seit Anfang des Jahres bis zum 17. September verlor die Lira fast 27 Prozent gegen den <a href="https://www.dunya.com/finans/doviz/SUSD/abd-dolari">US-Dollar</a> und 32 Prozent gegenüber dem <a href="https://www.dunya.com/finans/doviz/SEUR/euro">Euro</a>, den zwei für die türkische Wirtschaft wichtigsten Auslandswährungen. Relativ schnell gingen die <a href="https://www.ft.com/content/cb70275f-8b7d-453c-9184-6d65815a8b10">Nettoreserven</a> der TCMB – ausschließlich Swaps – ins Negative und die TCMB musste <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/turkey-central-bank-peg-legged-foreign-currency-reserves.html">Swapdeals</a> mit Qatar, China und den Privatbanken der Türkei abschließen, um die Lage zu retten – was nicht viel brachte, da nun die negativen Nettoreserven exklusive Swaps der TCMB die Situation verschärften. Weil Erdoğan seit Jahren gegen die Erhöhung des Leitzinses ist – und zwar nicht, weil er ein Idiot ist oder an eine »heterodoxe Wirtschaftstheorie« glaubt, sondern weil er zurecht die Vernichtung der kleinen und mittleren Unternehmen, eines wichtigen Elements seiner popularen Basis durch höhere Zinsraten befürchtet –, blieb der TCMB nichts anderes übrig als im Prinzip eine <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-turkish-lira-usd-policy-reversal-pose-erdogan-risks.html">180°-Wendung</a> in der Krisenbekämpfung hinzulegen: Der massiven Kreditexpansion folgte eine ebenso massive <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-economy-external-debt-crunch-family-silver-will-next.html">Kreditkontraktion</a> und die TCMB fing an durch die <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-08-17/pressure-mounts-on-central-bank-as-lira-declines-inside-turkey">Hintertür</a> die Zinsraten zu erhöhen, obzwar der Leitzins unverändert blieb.</p><p>Vergeblich die Tausend Bemühungen der Sterblichen: Die Lira stürzt weiter und Expert*innen gehen davon aus, dass der TCMB <a href="https://www.bloomberght.com/yurt-disi-ve-yurt-icinden-ekonomistler-tcmb-faiz-kararini-degerlendirdi-2262661">so langsam</a> die Alternativen zur Erhöhung des Leitzines ausgehen, <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-central-bank-keeps-interest-rates.html">da</a> die negativen Realzinsen Investitionen behindern und Druck auf Bankeinlagen erzeugen, weil Konsument*innen wegen Furcht vor Kaufkraftverlust ihr Geld abziehen und in sicherere Anlagen wie Immobilien oder Wertmetalle deponieren. <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-drastic-tax-hike-on-car-imports-to-suppress-demand.html">Goldimporte</a> belegen mittlerweile mit einem Anstieg von 119 Prozent in den ersten acht Monaten des Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum Platz eins im Leistungsbilanzdefizit der Türkei und die Regierung zerbricht sich den Kopf darüber, wie sie all die Schätze, die <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-09-11/turkey-has-new-plan-to-crack-open-under-the-mattress-gold-hoard">unter den Matratzen</a> versteckt werden und fast halb so viel wert sind wie das Bruttoinlandsprodukt der Türkei, in das Finanzsystem überführen kann. Gleichzeitig <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-09-17/turkish-bank-stocks-dumped-by-foreigners-sink-to-record-discount">fallen</a> die Aktienpreise türkischer Banken stark wegen sinkender Profitaussichten (da realer Negativzins) und private Haushalte investieren immer mehr nicht mehr nur in ausländische Währungen, die <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/122c325c-6afd-4718-8573-49f75964ff34/Money_Bank.pdf?MOD=AJPERES&CACHEID=ROOTWORKSPACE-122c325c-6afd-4718-8573-49f75964ff34-nirR1xf">mittlerweile</a> über 50 Prozent aller Bankeinlagen ausmachen, sondern in <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-09-15/turks-are-yield-hunting-as-lira-s-woes-deepen-love-for-dollars">Eurobonds</a> (Wertpapiere in ausländischer Währung), weil diese höhere Profite versprechen als Währungseinlagen. Ob die von der TCMB am 24. September vorgenommene <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/en/tcmb+en/main+menu/announcements/press+releases/2020/ano2020-58">Erhöhung des Leitzinses</a> um 200 Basispunkte von 8,25 Prozent auf 10,25 Prozent einen wirklichen Trendwechsel im Krisenmanagement markiert, wird sich noch zeigen, <a href="https://www.bloomberght.com/uzmanlar-merkez-in-surpriz-faiz-artirimini-degerlendirdi-2265168">vor allem</a> da der de facto Zins wegen den Hintertür-Maßnahmen schon höher liegt und 10,25 Prozent immer noch einen realen Negativzins darstellen. Berat Albayrak hingegen ist weiterhin erpicht darauf, seine künstlerische Dauerperformance mit dem Titel »Finanzminister der Türkei« weiter aufzuführen: <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-09-09/q-a-turkey-s-finance-minister-comments-on-economy-lira-energy">Seiner Ansicht nach</a> werde »dynamisch« mit der Situation umgegangen und gewinne die Türkei wegen einer »kompetetiven Währung«, was zu einem Höhenflug führen werde.</p><p>Fast alle diese Maßnahmen der Regierung <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/06/12/buyurun-yatirima/">widersprechen</a> strengen Dogmen des Neoliberalismus. Es scheint aber zu früh, um deshalb schon von einem <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/05/13/turkiyede-rejim-sorunu-ile-ilgili-bir-tartisma/">Post-Neoliberalismus</a> in der Türkei als eines eigenen Akkumulationsregimes zu sprechen, wie es der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Ümit Akçay zu tun scheint. Ebenso verkehrt ist es, von einem <a href="https://www.zedbooks.net/shop/book/turkeys-new-state-in-the-making/">neuen Neoliberalismus</a> in der Türkei zu sprechen, wie es die Marxistin Pınar Bedirhanoğlu schon seit längerem tut. Neoliberalismus lässt sich nicht allein verstehen mittels eines Blicks auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit; es muss auch noch das Verhältnis von Staat und Kapital und letztlich die Gesellschaftsformation als Ganze in Betracht gezogen werden. Die <a href="https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_6-19_Globalisierung.pdf">schwierige</a>, teils <a href="https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/image/AC15181468/1/LOG_0003/">widersprüchliche</a> Beziehung zwischen autoritären Populisten an der Macht, dem Neoliberalismus und den führenden Fraktionen des Großkapitals wurde von kritischen Forscher*innen global vergleichend herausgearbeitet. Ob es sich in der Türkei bezüglich der politischen Ökonomie derzeit um einen Übergang zu einer anderen Akkumulationsweise oder gar zu einem neuen Neoliberalismus handelt, lässt sich gar nicht so genau angeben, da sich die Türkei in dieser Hinsicht derzeit eher in einem instabilen Krisenregime befindet, um dessen Stabilisierung unterschiedliche Akteure auf Grundlage unterschiedlicher Interessen und strategischen Vorstellungen miteinander fechten. Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements, eine viel zu starke und unkontrollierte Autonomie der Exekutive, Isolation in der Außenpolitik und gesellschaftliche Polarisierung beschränken und behindern auch in der Türkei die Mobilität, Stabilitätsinteressen und Kontrolle der führenden Fraktionen des Kapitals, weswegen sich der größte Interessenverband des Großkapitals, TÜSIAD, seit 2013 durchgehend diesbezüglich beschwert.</p><p>Auch während der Corona-Pandemie betonte der TÜSIAD, dass <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/turkey-reopens-coronavirus-curfew.html">zu frühe Lockerungen</a> gefährlich sind, eine <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/05/27/tusiad-ve-musiad-firsati-nasil-goruyor/">Importsubstitution</a> große Schäden verursacht, dass Frauenrechte <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-istanbul-sozlesmesi-yasatir,891479">zu achten</a> sind und <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/tusiad-baskani-kaslowski-algi-yonetimi-yetmez-piyasayla-barisilmali-haberi-480401">letztlich</a> dass ein politisiertes und Kredit-basiertes Wirtschaftsmanagement nicht funktioniert und stattdessen ein produktives Update des türkischen Kapitalismus vonnöten ist. Selbstverständlich sind es aber zugleich die führenden Fraktionen des Großkapitals in der Türkei, die am meisten von der Wirtschaftspolitik der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) profitierten – sei es durch Privatisierungen, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse oder dem Zufluss von ausländischem Kapital. Daher sehen sie die derzeitige Krise auch als <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/05/27/tusiad-ve-musiad-firsati-nasil-goruyor/">große Chance</a>: Die Interessenverbände des Großkapitals, ob nun eher islamisch-konservativ (MÜSIAD) oder westlich-laizistisch (TÜSIAD) orientiert, reden davon, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, China in der globalen Wertschöpfungskette zu ersetzen. Die vorgeschlagenen Mittel sind dystopisch: Die Rede ist von riesigen, abgeschotteten Industrie-Städten mit rechtlosen Arbeitskräften und einem elektronischen Überwachungspanopticon unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung. Gleichzeitig arbeitet die Regierung auf Anweisung von Erdoğan an Gesetzen, um das Abfindungsrecht massiv einzuschränken und Teilzeitarbeit zu normalisieren. Der linke Gewerkschafter Aziz Çelik warnt, auf dem Hintergrund der oben erwähnten Erfahrung mit dem »geschlossenen Arbeitssystem« bei Vestel, zu Recht vor »<a href="https://www.birgun.net/haber/covid-19-covid-1984-olmasin-salgin-ve-calismanin-gelecegi-301297">Covid-1984</a>«.</p><p>Für die Armen und Mittellosen hat der Staat jedenfalls so gut wie nichts übrig. Das Kurzarbeitergeld für formell Beschäftigte beschränkt sich auf etwas weniger als fünf Euro pro Tag. <a href="https://www.birgun.net/haber/salgin-doneminde-yoksula-ve-isciye-verilen-destek-yeterli-mi-sosyal-koruma-kalkani-gercekleri-310519">Davon</a> und von ähnlichen Zuwendungen profitierten zwar grob sechs Millionen Arbeiter*innen bis Anfang August. Aber allein die Unterstützungszahlungen des staatlichen Arbeitslosenfonds <a href="https://www.birgun.net/haber/salgin-doneminde-yoksula-ve-isciye-verilen-destek-yeterli-mi-sosyal-koruma-kalkani-gercekleri-310519">an Unternehmen</a> (!) seit 2019 bis heute sind höher als die Gesamtsumme an Kurzarbeitergeldern, die der Fonds im Zuge der Corona-Pandemie an Werktätige und Arbeitslose auszahlte. Auch die <a href="https://bizbizeyeteriz.gov.tr/">offiziellen Zahlen</a> des Präsidialamtes zeigen auf, dass alle Unterstützungszahlungen für Werktätige bis Anfang September grob ein Drittel so groß waren wie das unternehmensfreundliche Hilfspaket vom März. Also appellierte der Staat an die Bevölkerung das zu tun, was eigentlich Aufgabe des Staates ist, nämlich sich um Menschen in Notlagen zu kümmern: Fast zeitgleich riefen Erdoğan wie die von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) geführten Stadtregierungen separat zu Spendenkampagnen für Bedürftige auf. Die offizielle Kampagne von Erdoğan konnte nach eigenen Angaben bis zum 30. Juni etwas weniger als 280 Millionen Euro zusammentragen. Die ganze Misere macht sich allerdings erst auf lokaler Ebene fest: Zur bisherigen Hochzeit der Pandemie im Mai beantragten <a href="https://t24.com.tr/haber/istanbul-da-her-7-haneden-biri-belediyeden-yardim-istedi-en-fazla-destek-alan-ilceler-esenyurt-bagcilar-sultangazi,877743">ein Siebtel</a> aller Istanbuler Haushalte, mehrheitlich aus den ärmsten Vierteln, individuelle Hilfsleistungen bei der Stadtregierung; in Ankara wurden bis Ende Mai Güter im Wert von über 30 Millionen TL (grob 3,4 Millionen Euro) durch die Vermittlung der Stadtregierung an Bedürftige gespendet. Laut eigenen Angaben <a href="https://www.birgun.net/haber/chp-li-torun-uyardi-belediyelerimiz-kapisina-kilit-vurmak-zorunda-kalabilir-300761">versorgten</a> CHP-geführte Kommunen bis Ende Mai insgesamt mehr als vier Millionen Familien mit Hilfen. <a href="https://t24.com.tr/haber/ibb-baskani-istanbul-vakfi-na-yapilan-bagislar-hedefinin-ustune-cikti-130-bin-ihtiyac-sahibi-ailemizin-evine-kurban-eti-ulasacak,894341">Diese</a> und <a href="https://t24.com.tr/haber/mansur-yavas-in-afiyet-ver-kampanyasina-24-saatte-1-milyon-650-bini-askin-lira-destek,893007">ähnliche</a> Kampagnen gingen weiter bis zum Opferfest (<i>kurban bayramı</i>). Das war dem Regime ein Dorn im Auge.</p><h2><b>Versuche autoritärer Konsolidierung</b></h2><p>Die Corona-Pandemie und ihre Bekämpfung leiteten Akt Zwei im Kampf um die Großstädte ein. Nachdem das Regime bei den <a href="https://revoltmag.org/articles/politisches-erdbeben-istanbul/">Kommunalwahlen letzten Jahres</a> fast alle wichtigen Großstädte inklusive Istanbul und Ankara verlor, wurde es seine Leitlinie, die oppositionellen CHP-Bürgermeister finanziell lahmzulegen und ihren Handlungsspielraum über die noch von den Regime-Parteien dominierten Stadtparlamente zu <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-akp-grabs-authority-of-mayors-with-chp-istanbul-chora.html">blockieren</a>. So sollte verhindert werden, dass die Opposition über erfolgreiche Lokalpolitik an Fahrt aufnimmt. Als nun die CHP-Bürgermeister ihre eigenen lokalen Spendenkampagnen ins Leben riefen, <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-52127212">intervenierte</a> das Innenministerium sofort und verbot die Annahme von monetären Spenden seitens der Stadtregierungen. Erdoğan sprach vom Versuch, einen <a href="https://www.dw.com/tr/erdo%C4%9Fan-devlet-i%C3%A7inde-devlet-olman%C4%B1n-bir-anlam%C4%B1-yoktur/a-52982162">Parallelstaat</a> aufzubauen, und verglich das Vorgehen der Bürgermeister mit <a href="https://medyascope.tv/2020/04/20/cumhurbaskani-erdogandan-chpli-belediyelere-bu-tur-tesebbusler-gecmiste-feto-ve-pkk-gibi-orgutler-tarafindan-da-denenmisti/">Terrorismus</a>.</p><p>Daraufhin wichen die Stadtregierungen auf Naturalhilfen und die Vermittlungstätigkeit von Spenden aus. Die Rechnung der Regierung ging somit nicht auf: Die <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/avrasya-arastirma-dan-anket-secimler-yenilense-mevcut-buyuksehir-belediye-baskanina-oy-verir-misiniz,9966">Zustimmungswerte</a> für die oppositionellen Bürgermeister*innen und ihre Parteien steigen kontinuierlich; Opposition und AKP beziehungsweise Erdoğan nehmen sich in Umfragen nicht mehr viel. Gleichzeitig brechen aber die Einnahmen der Städte ein, und die Regimeparteien reduzieren oder blockieren Finanzmittel und Kreditaufnahme. Schon jetzt kündigt der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu (CHP) ein <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/ibbden-ek-tasarruf-hamlesi-tum-birimlere-yazi-gitti-1745673">Kürzungsprogramm</a> von 35 Prozent in allen Ressorts an. Wie lange die Ressourcen der oppositionellen Bürgermeister reichen, ist ungewiss.</p><p>Um die schwindende Legitimation auszugleichen, griff das Regime auf seine altbekannten Taktiken autoritärer Konsolidierung zurück. Zum einen ging die Repression, insbesondere gegen die linke, pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), nahtlos weiter: <a href="https://pomed.org/snapshot-democracy-denied-unfair-elections-and-overturned-results-for-turkeys-kurds/">Mittlerweile</a> sind fast alle HDP-Bürgermeister*innen wegen »Terrorverdachtes« abgesetzt, drei <a href="https://yetkinreport.com/2020/06/05/uc-vekil-daha-hapiste-meclis-vesayet-altinda/">Parlamentarier*innen</a> (zwei von der HDP, einer von der CHP) wurden teils zeitweise inhaftiert, missliebige Richter*innen wie die Vorsitzende der Richter*innengewerkschaft Ayşe Sarısu Pehlivan <a href="https://t24.com.tr/haber/izmir-hakimi-orhan-gazi-ertekin-e-grup-yorum-paylasimi-sorusturmasi,878748">strafversetzt</a> oder vom Dienst <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/hakim-ayse-sarisu-pehlivan-gorevden-uzaklastirildi-1738967">suspendiert</a>. Erst <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/09/25/kars-belediyesi-es-baskani-sevin-alaca-ayhan-bilgenin-evi-araniyor/">heute</a> wurde wieder zu einem großen Schlag gegen HDP und andere Linke in mehrere Städten ausgeholt: 82 Personen, darunter ehemalige Parlamentarier*innen wie Sırrı Sürreyya Önder oder Altan Tan, wurden festgenommen unter den abstrusesten Terrorvorwürfen.</p><p>Aber Repression und Autoritarismus sind auch ein mobilisierendes Mittel der Herrschaftssicherung, sofern sie in der Lage sind, eine autoritäre Basis aufzubauen, die den autoritären Staat stützt und selbst wiederum von ihm gestützt und aufgewertet wird. Das funktioniert partiell. <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkey-minorities-threats-attacks.html">Drei armenische Kirchen</a> wurden innerhalb eines Monats angegriffen, die Hrant-Dink-Stiftung hat Todesdrohungen bekommen, die <a href="https://sendika63.org/2020/05/beldeki-silah-kanun-olunca-polis-siddeti-dur-durak-bilmedi-darp-tehdit-kufur-ve-ters-kelepce-588411/">alltägliche Polizeigewalt</a> hat zugenommen, ebenso anti-kurdische Übergriffe. Eine AKP-Anhängerin konnte live im Fernsehen darüber <a href="https://t24.com.tr/haber/15-temmuz-boslugumuza-geldi-istediklerimizi-yapamadik-diyen-sevda-noyan-ifadesinde-geri-adim-atti-bos-bulunarak-soyledim-ozur-dilerim,881744">fantasieren</a>, dass ihre Familie mindestens ein paar Dutzend Oppositionelle umbringen kann. Kein Wunder, dass unzählige kleine Despot*innen wie Pilze aus dem Boden schießen, wenn der Staatspräsident gegen die »armenische und griechische Lobby« wettert, das Innenministerium Folter durch die Polizei verteidigt und generell von den höchsten Staatsspitzen aus eine extrem polarisierende und chauvinistische Rhetorik gegen Oppositionelle und Minderheiten gefahren wird. Die Rückwandlung der <a href="https://www.jadaliyya.com/Details/41518/What-Is-in-a-Place-Hagia-Sophia-in-the-Affective-Topography-of-Populism-in-Turkey-41518">Hagia Sophia</a> in eine Moschee mit bis zu 300.000 Beteiligten beim ersten Freitagsgebet vom 24. Juli diente demselben Ziel der Konsolidierung der Regimebasis durch einen rasenden nationalistisch-islamistischen Chauvinismus.</p><p>Gleichzeitig wurde ein <a href="https://t24.com.tr/haber/infaz-sureleri-yariya-iniyor-cinsel-dokunulmazliga-karsi-suclarda-indirim-yok,869946">Gesetz</a> verabschiedet, das die Entlassung von bis zu 90.000 Straftätern aus den Gefängnissen ermöglichte – politische Gefangene ausgenommen. Frauenorganisationen führen unter anderem darauf den <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/04/turkey-domestic-violence-rises-coronavirus.html">Anstieg von Gewalt an Frauen</a> zurück. Mittlerweile wird offen über einen Austritt aus der Istanbul-Konvention debattiert, die der Prävention von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen dient. Als der oberste Religionsgelehrte des Landes seitens der Anwaltskammer von Ankara stark kritisiert wurde, weil er öffentlich äußerte Homosexuelle würden Krankheiten verbreiten und zur Degeneration beitragen, stellte sich Erdoğan hinter den Religionsgelehrten und sah die »<a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-dan-ankara-barosu-na-diyanet-isleri-baskani-miza-kullanilan-uslup-devletimize-yapilan-bir-saldiridir,875302">nationalen Werte</a>« in Gefahr. Ähnlich <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkey-lgbt-propaganda-red-crescent.html">ausfallend</a> über LGBTI+ äußerten sich der Vorsitzende des Roten Halbmondes in der Türkei und der Präsidentensprecher, während seitens der AKP als eines der <a href="https://www.turkiyegazetesi.com.tr/gundem/726030.aspx">Hauptargumente</a><i> gegen</i> (!) die Istanbul-Konvention die angebliche Förderung von LGBT-Identitäten durch dieselbe angeführt wird. War die Anrufung einer autoritären, patriarchalen Heteronormativität <a href="https://www.advocate.com/commentary/2020/9/01/turkeys-government-using-antigay-hate-retain-power">stets ein beliebtes Mittel</a> der AKP, so <a href="https://www.theguardian.com/world/2020/aug/29/grumpy-virgin-bows-out-drag-becomes-political-act-turkey">radikalisiert</a> sich diese angesichts von Corona und gender-basierter<i> hate speech</i> von oben führt zu gender-basierter Gewalt von unten: Die LGBTI+-Organisation SPoD berichtet von einer Verdopplung von <a href="http://spod.org.tr/SourceFiles/pdf-2020623151720.pdf">Hilfegesuchen</a> wegen gender-basierter Diskriminierung und Gewalt in den 45 Tagen seit jenen Äußerungen des obersten Religionsgelehrten.</p><p>Auch institutionell wurden Schritte zur autoritären Verankerung unternommen: Ein Gesetzespaket gab der zusätzlich zur Polizei neu gegründeten und über 20.000 Mann starken Sicherheitsstruktur der Nachtwächter (<i>bekçi</i>) das <a href="https://t24.com.tr/haber/tbmm-de-kabul-edildi-bekciler-zor-ve-silah-kullanma-yetkisine-sahip-olacak,883391">Recht zur Waffennutzung</a>. Diese steht mutmaßlich der Regierung nahe und fällt durch <a href="https://newhumanist.org.uk/articles/5678/watching-the-watchmen">brutale Übergriffe</a> auf. Eine andere relativ autonome und hauptsächlich dem hohen Staatspersonal zugeordnete Sicherheitsstruktur innerhalb der bestehenden Polizei, die Hilfseinsatzkräfte der Polizei (<i>Takviye Hazır Kuvvet Polis Birimi</i>), wurde <a href="https://t24.com.tr/haber/emniyet-istanbul-a-takviye-birlik-kuruyor,898229">verstärkt</a>. Zudem <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/akp-chp-ve-iyi-parti-gruplarini-ziyaret-ederek-uzlasi-aradi-1747282">verabschiedeten</a> die Regimeparteien ein Gesetz, das die Macht der oppositionellen und mitgliedsstärksten Anwaltskammern (Istanbul, Izmir und Ankara) <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/turkey-lawyers-bar-association-bill-parliament.html">bricht</a> und die regimetreuen und mitgliedsschwachen anatolischen Anwaltskammern stärkt. Angekündigt ist ein ähnliches Vorgehen gegen fast alle restlichen relativ autonomen und regimekritischen Kammern (Ärztekammer, Ingenieurskammer), während Erdoğans Hauptbündnispartner, der Chef der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Devlet Bahçeli gar gleich ganz die <a href="https://www.dw.com/tr/bah%C3%A7eli-ttbyi-incelemek-i%C3%A7in-heyet-kurduk/a-54981255">Schließung der Ärztekammer</a> fordert. Aus der Perspektive legislativer Macht ist das Parlament de facto dysfunktional geworden, da Erdoğan in den zwei Jahren seiner Präsidentschaft nach dem neuen Präsidentschaftssystem mehrere Dutzend <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/08/20/aymden-2-yil-denetimi-91-basvuru-11-karar-6-ret/">Gesetze</a> und Tausende von <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkey-executive-presidency-proved-to-be-fail-in-two-years.html">Gesetzesänderungen</a> in Form von Präsidialdekreten ohne Beteiligung des Parlaments und noch nicht einmal seiner eigenen Partei erlassen hat.</p><p>Nicht zuletzt nimmt das militärische Engagement der Türkei zu. Nach mehreren Invasionen in die mehrheitlich kurdisch kontrollierten Teile Nord- und Nordwestsyriens (auch Rojava genannt) in den letzten Jahren, legte sich die Türkei kurz vor Ausbruch der Pandemie mit dem syrischen Regime im letzten größeren, mehrheitlich von Jihadisten kontrollierten Gebiet in Nordwestsyrien, Idlip, an. Noch mitten in der Pandemie intervenierte die Türkei zusätzlich in Libyen zugunsten der Übergangsregierung (GNA) von as-Sarraj und konnte nicht nur deren totale Niederlage gegen General Hafter abwenden, sondern ihr sogar zu einer <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/turkey-libya-fall-of-wattiya-plays-into-hands-of-erdogan.html">Offensive</a> verhelfen. Parallel dazu begann die Türkei im Juni wieder mit mehreren Militäroperationen im Irak, um logistische Strukturen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zerschlagen. Zielt der Libyeneinsatz auf eine Großraumkontrolle im <a href="https://foreignpolicy.com/2020/08/18/eastern-mediterranean-greece-turkey-warship-geopolitical-showdown/">östlichen Mittelmeer</a> zwecks Zugriff auf Energieressourcen, so geht es in Syrien und im Irak eher um die Hegemonie im Nachkriegssyrien und die Zerschlagung kurdischer Autonomie. Und natürlich dient der Militarismus auch der Aufrechterhaltung des autoritären Regimes im Inneren.</p><p>Das in der Geschichte der Türkischen Republik bisher einmalig breit aufgefächerte außenpolitische und militärische Auftreten entspricht zwar dem Aktionspotenzial des türkischen Kapitalismus und ist nur auf dem geschichtlichen Hintergrund <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/06/15/mavi-vatan-ve-turkiyenin-yeni-guvenlik-doktrini/">neuer</a> <a href="https://www.iai.it/sites/default/files/iaip2017.pdf">strategischer Perspektiven</a> und <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-africa-opening-fuels-cloud-wars-libya-somalia-niger.html">Praktiken</a> zu verstehen, die unterschiedliche politische Eliten der Türkei seit Ende der Sowjetunion <a href="https://warontherocks.com/2020/06/blue-homeland-the-heated-politics-behind-turkeys-new-maritime-strategy/">entwickelten</a> und die wiederum einem <a href="https://www.washingtonpost.com/world/2020/08/10/treaty-sevres-erdogan-turkey/">globalen Trend</a> zur Multipolarisierung entsprechen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten formuliert besteht der gemeinschaftliche Kern jener neuen strategischen Perspektiven darin, der Türkei mehr Autonomie und Weltgeltung zu verschaffen mit dem Fokus auf die unmittelbare geographisch-kulturelle Umgebung der Türkei beziehungsweise auf die sunnitisch-islamische Welt im Allgemeinen. Aber das derzeitige aggressive Vorgehen der Regierung bei der Umsetzung dieser Strategie erhöht gleichzeitig die außen- und innenpolitischen Risiken des Regimes. Nicht nur nimmt der Ertrag von »<a href="https://www.gmfus.org/publications/understanding-turkeys-coercive-diplomacy">coercive diplomacy</a>« rapide ab, da ein einseitiger Fokus auf diese Taktik es der Türkei verunmöglicht Demonstration militärischer Stärke in diplomatische Siege <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkey-libya-egypt-sirte-military-challenge-awaits-ankara.html">umzuwandeln</a>. Zugleich muss die Türkei nun aktiv gegen andere <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/09/14/dogu-akdenizde-u-donusu-mu/">etablierte Interessen</a> wie die Russlands, Ägyptens oder der Vereinigten Arabischen Emirate Politik machen. Die derzeitige exzessive Militarismus der Türkei hat zu einer beispiellosen Isolation der Türkei insbesondere in der arabischen Welt geführt: Länder wie Bahrein, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Israel, die bisher aus historischen Gründen nicht die besten Beziehungen miteinander unterhielten, haben sich <a href="https://www.middleeasteye.net/opinion/new-message-resounds-arab-world-get-ankara">de facto</a> zu einem <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-israel-uae-deal-ankara-became-bane-of-arab-regimes.html">Block gegen</a> die türkisch-imperialistischen Ambitionen zusammengeschlossen. Gleichzeitig bringt sich das Regime wegen der militarisierten Politik immer mehr um eine integrative Lösung der sogenannten »Kurdischen Frage« nicht nur im Inneren der Türkei.</p><h2><b>Wölfe unter sich</b></h2><p>Erdoğan ist zwar als Staatspräsident de jure die höchste Macht im Staate, aber wie in allen autoritären Staaten regiert auch in der Türkei kein Mann allein, sondern die Wölfe sind unter sich. Umso mehr Dezisionismus Konstitutionalismus ersetzt, umso mehr kristallisiert sich ein <a href="https://www.jstor.org/stable/pdf/40185021.pdf">polykratischer Führerstaat</a> heraus, in dem Machtgruppen miteinander ebenfalls dezisionistisch und unter Anrufung Erdoğans als letzten Richter und großen Vermittler um Einfluss und Status konkurrieren. Während sich die nationalistischen Fraktionen im Machtblock zunehmend durchsetzen, tun sich unterhalb Erdoğans eine Reihe starker Männer hervor, die nicht aus der Tradition des politischen Islams stammen. So der Innenminister Soylu, dessen von Erdoğan abgelehnter Rücktritt wegen des desaströsen Vorgehens bei der ersten Ausgangssperre im Land – sie wurde vom Innenministerium zwei Stunden vor Inkrafttreten verkündet, was zu einer <a href="https://t24.com.tr/haber/sokaga-cikma-yasagi-aciklandiginda-panikle-disari-cikanlar-ne-aldi,873310%20">Massenpanik</a> führte und Millionen auf die Straße zwecks Panikkäufen trieb – weitestgehend als <a href="https://www.birartibir.org/siyaset/673-al-takke-yok-kulah">erfolgreiches Machtmanöver</a> der nationalistischen Fraktion um Soylu gegen AKP-interne Kontrahent*innen gedeutet wird. Soylu ist mittlerweile einer der <a href="https://yetkinreport.com/2020/08/24/erdogana-halef-kim-albayrak-mi-soylu-mu-baskasi-mi/">beliebtesten Politiker</a> im Land, insbesondere bei der Basis des Regimes, und wird als derjenige angesehen, der am besten dazu geeignet ist Erdoğan zu ersetzen, sollte dieser den Vorsitz der AKP abgeben. Der Dezisionismus der unteren Ebenen kann dabei jederzeit vom Dezisionismus Erdoğans gebrochen werden: Obwohl Innenministerium und Gesundheitsministerium – die beiden für die Pandemiebekämpfung zentralen Ministerien – mit Zustimmung Erdoğans am ersten Juniwochenende, als die »Normalisierung« eigentlich schon angefangen hatte, erneut eine Ausgangssperre für 15 Städte beschlossen, <a href="https://odatv4.com/ikinci-soylu--koca-krizi-mi-05062043.html">hob</a> Erdoğan diesen Beschluss <a href="https://www.dw.com/tr/erdo%C4%9Fan-soka%C4%9Fa-%C3%A7%C4%B1kma-yasa%C4%9F%C4%B1n%C4%B1-iptal-etti/a-53694617">nachträglich</a> auf, da er so etwas mit seinem »Gewissen nicht vereinbaren« konnte. Als der Finanzminister Berat Albayrak 2018 im Zuge einer Offensive zur Rehabilitierung des Ansehens der türkischen Wirtschaftspolitik im Ausland ein Büro erschuf, das unter wesentlicher Beteiligung des internationalen Beratungsunternehmens McKinsey & Company die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung überprüfen und bewerten sollte, <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/10/turkey-pins-hope-on-time-buying-measures-for-economy.html">intervenierte</a> Erdoğan innerhalb einer Woche und löste die Vereinbarung auf.</p><p>Auch das institutionelle Geflecht der Staatsapparate franst aus: Die Aufgabenteilung innerhalb der Exekutive ist mittlerweile unklar, da dem Präsidenten unterstehende Beratungsgremien und Büros <a href="https://www.academia.edu/38645550/Cumhurba%C5%9Fkanl%C4%B1%C4%9F%C4%B1_H%C3%BCk%C3%BCmet_Sistemi_ve_T%C3%BCrkiyede_Ekonomi_Y%C3%B6netiminin_D%C3%B6n%C3%BC%C5%9F%C3%BCm%C3%BC">exekutive Arbeiten</a> wie die Planung des nationalen Wirtschaftsprogramms übernehmen, die eigentlich jeweiligen Fachministerien wie dem Finanzministerium zugeordnet sein müssten. Das führt zu einer <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-libya-syria-six-problems-aggressive-foreign-policy.html">Erosion</a> des institutionellen Eigengewichts der jeweiligen Ministerien und ihrer relativ autonomen Traditionen und Operationsweisen wie beispielsweise des Außenministeriums, das sich laut eines sich anonym äußernden Diplomaten in einer »<a href="https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2019/01/20190111_turkey_presidential_system.pdf">state of paralysis</a>« befindet. Politisierung und Klientelismus angeführt durch den Präsidialapparat ersetzen so zunehmend auch die exekutive Arbeitsteilung in Ministerien, die selber immer mehr zu uneigenständigen technokratischen Anhängseln des Präsidialapparats werden statt politische Entscheidungsträger zu sein. Wo Ministerien mal <a href="https://www.duvarenglish.com/columns/2020/09/16/two-names-to-watch-in-turkish-politics/">initiativ hervorstechen</a> wie das Wirtschaftsministerium oder das Innenministerium, dann wegen ihrer jeweiligen Minister (Berat Albayrak beziehungsweise Süleyman Soylu), die im Kampf um Einfluss und Status Risikobereitschaft zeigen und eigenständige Initiativen übernehmen in der Hoffnung, dass Erdoğan ihr Vorgehen absegnet.</p><p>Andererseits stärkt der militärische Kurs den ehemaligen Generalstabschef und derzeitigen Verteidigungsminister Hulusi Akar, der zum wiederholten Male konkurrierende Generäle strafversetzen ließ oder zum <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/05/18/cihat-yayci-bahriyenin-onurunu-ezdirmek-istemedim/">Rücktritt</a> zwang. Nicht zuletzt gibt der Hauptbündnispartner der AKP, die MHP, immer mehr den Ton in der Regierungspolitik an. Als ein großer Erfolg der MHP in Pandemiezeiten kann gewertet werden, dass der faschistische Auftragsmörder Alaattin Çakıcı, ein glühender MHP-Anhänger, nach 16 Jahren Haft wegen Mordes <a href="https://t24.com.tr/haber/yeni-infaz-yasasi-yla-tahliye-edilen-organize-suc-orgutu-lideri-alaattin-cakici-dan-erdogan-ve-bahceli-ye-tesekkur-mektubu,873273">frühzeitig freigelassen</a> wurde. Erdoğan sperrte sich bis zuletzt gegen eine Amnestie, mutmaßlich weil er eine zu starke MHP fürchtete. Offensichtlich haben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb des Regimes verschoben. Ähnlich der Fall des nationalistisch-islamistischen Intellektuellen <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/24/mumtazer-turkone-tahliye-edildi/">Mümtaz’er Türköne</a>: Seit 2016 inhaftiert – absurderweise wegen Gülen-Nähe –, verlangte Bahçeli im Frühjahr 2020 dessen Freilassung, was gestern vom Kassationshof tatsächlich vollzogen wurde.</p><p>Was die hohe Justiz angeht, dringt genug durch, dass wir feststellen können, dass es einen <a href="http://www.diken.com.tr/post-cemaat-doneminde-yargida-savas-dost-ve-dusman-yeniden-belirlenirken/">intensiven Machtkampf</a> gibt zwischen unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen, die zusammen genommen Weg der Rechtschaffenheit (<i>Hakyol</i>) genannt werden und dem Justizminister Abdülhamit Gül nahestehen, der sogenannten <a href="https://tele1.com.tr/pelikanin-yeni-hedefi-hskdaki-istanbul-grubu-95071/">Istanbuler Gruppe</a> mit Nähe zu Albayrak und den Überresten einer nationalistisch-alevitisch-partiell linken Koalition, die sich organisiert in der Vereinigung für Einheit in der Judikative (<i>Yargıda Birlik Platformu</i>). Während letztere <a href="https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/03932729.2015.1020651">nach 2014</a> in die hohe Justiz aufgenommen wurden, um beim Kampf gegen den Einfluss der Gülenisten zu helfen, werden sie jetzt sukzessive wieder aus den höheren Posten verdrängt. Andererseits leistet die Istanbuler Gruppe Widerstand gegen Reformen des Justizministeriums, die eine oberflächliche Teilliberalisierung der politisierten Justiz beabsichtigen, weil diese außer Kontrolle gerät. Unter anderem daraus lässt sich erklären, warum einige Lokalgerichte weiterhin verbindliche Entscheidungen des Verfassungsgerichtes (AYM) <a href="https://t24.com.tr/haber/tablo-anayasa-mahkemesi-baskani-nin-acikladigindan-da-vahim-ihlal-kararlari-da-ihlal-ediliyor,883719">ignorieren</a> wie im Fall der Altan Brüder, und warum die Anzahl von Urteilen von unteren Gerichten, die das AYM wegen Verletzung des Rechts auf freies und faires Verfahren aufhob, <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/23/anayasa-mahkemesi-baskani-arslandan-soyluya-okumadan-anlamadan-elestirme/">in die Höhe</a> geschossen sind und mittlerweile über 50 Prozent aller vom AYM revidierten Urteile ausmachen. <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/15/aym-uyesinden-soyluya-anayasali-yanit/">Seit einigen Tagen</a> findet wieder ein hauptsächlich über Medien ausgetragenes Wortgefecht zwischen Innenminister Soylu und dem Vorsitzendem des AYM, Zühtü Arslan statt, wobei <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/24/soylu-arslanin-aldiklarinin-yuzde-41ini-fetoden-ihrac-ettim/">jener</a> das AYM dafür kritisiert viel zu lax vorzugehen angesichts »terroristischer Gefahr« für die »nationale Sicherheit«, <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2020/09/23/anayasa-mahkemesi-baskani-arslandan-soyluya-okumadan-anlamadan-elestirme/">während</a> sich das AYM gegen eine Einmischung in die Unabhängigkeit der Justiz wehrt.</p><p>Aber da der Dezisionismus auf allen Ebenen des Staates Konstitutionalismus ersetzt, ist auch das AYM durchpolitisiert: Nicht nur spaltet es sich regelmäßig in zwei etwa gleich starke Lager bei Entscheidungen, bei denen es um politisch sensible Inhalte geht, wobei dann die eine Hälfte die Grundreiheiten, die andere die nationale Sicherheit hochhält. Während erstere letztes Jahr mit einer Stimmenmehrheit von nur einer Stimme die Akademiker*innen für Frieden von allen Vorwürfen <a href="http://bianet.org/english/law/210934-constitutional-court-freedom-of-expression-of-academics-for-peace-violated">freisprach</a> und dafür vom anderen Lager gebrandmarkt wurde, konnte letztere ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit <a href="https://www.haberturk.com/aym-baskani-zuhtu-arslan-dan-osman-kavala-aciklamasi-2499520">durchsetzen</a>, dass der liberale Mäzen Osman Kavala wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit nicht freigesprochen wurde, wogegen wiederum der Vorsitzende des AYM heftig protestierte. Die kürzlich erfolgte <a href="https://jurnaltr.com/salgin-boyunca-900-hekim-istifa-etti-30-bin-saglik-calisani-koronaviruse-yakalandi/">Aufhebung</a> des vom Innenministerium erlassenen Gesetzes zum Verbot von Versammlungen auf Autobahnen – diese Entscheidung führte zum Zwist zwischen AYM und Soylu – wurde ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit, und zwar mit der des Vorsitzenden Zühtü Arslan beschlossen. Zugleich reproduziert aber das AYM im Großen die anti-konstitutionalistische Herangehensweise, die Lokalgerichte gegen das AYM bezeugen, namentlich wenn es aktiv ablehnt, sich bindenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/riza-turmen/aym-aihm-e-karsi,27568">zu beugen</a>.</p><p>Moderatere Stimmen wie die Bürgermeisterin von Gaziantep, Fatma Şahin (AKP), die die Bezeichnung der Opposition als Terroristen <a href="https://t24.com.tr/haber/fatma-sahin-cumhurbaskanimizin-belirledigi-politikalara-aykiri-beyanda-bulunmamiz-soz-konusu-olamaz,875008">ablehnte</a>, sind mittlerweile innerhalb des regierenden Parteienblocks eine Rarität geworden. Die meisten gemäßigten Politiker*innen haben mittlerweile bei zwei AKP-Abspaltungen Zuflucht gefunden, der Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA) des ehemaligen Finanzministers der AKP, Ali Babacan und bei der Zukunftspartei (GP) des ehemaligen Außen- und Premierministers der AKP, Ahmet Davutoğlu. Vertritt Davutoğlu eher den islamisch-konservativen Flügel ehemaliger AKPler, so Babacan eher den liberal-konservativen Flügel. Für beide ist allerdings klar, dass die Anfangsjahre der AKP bis 2013 eine Erfolgsstory waren, die zu wiederholen ist. Eine grundlegende Infragestellung des neoliberalen Akkumulationsregimes, das die AKP errichtete und das sich derzeit in einer tiefen Krise befindet, ist von diesen Parteien nicht zu erwarten. Für die Regimeparteien ist die Formation dieser neuen Parteien aber trotzdem eine solche Gefahr, dass eine Zeit lang offen über vorgezogene Neuwahlen diskutiert wurde um einem potenziellen Erstarken der neuen Parteien zuvorzukommen und <a href="https://www.hurriyet.com.tr/gundem/online-secim-gundemde-41611424">derzeit</a> ein <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/08/27/mhpli-yildizdan-parti-kurmayi-zorlastiracak-teklif-hazirligi/">Gesetzespaket</a> in Arbeit ist, das einerseits <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/mevcutta-5-ayri-yasaya-bagli-yapilan-secimlerle-ilgili-tek-yasa-cikarilmasi-gundemde-1741450">gegen kleine Parteien</a> gerichtet ist und andererseits den Parteienwechsel von Parlamentarier*innen erschweren soll.</p><h2><b>Die andere Türkei</b></h2><p>Es gibt aber auch eine andere Türkei, die nicht so tickt wie das Wolfsrudel. Eine von der linken Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK) <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-koronavirus-le-mucadelede-isciler-gozden-cikarildi,871051">angekündigte</a> organisierte Ausübung des Rechts auf Arbeitsniederlegung wegen unmittelbar drohender Gefahr (Gesetz Nr. 6331 über den Arbeitsschutz) durch Corona wurde zwar nie flächenweit umgesetzt; dennoch streikten Arbeiter*innen von sich aus beispielsweise in Darıca/Kocaeli (Sarkuysan Elektronik Bakır), Diyarbakır (Diyarbakır Organize Sanayi Bölgesi), Istanbul (AKM Taksim) und Izmir (Akar Tekstil) wegen Infektionsfällen und fehlendem Gesundheitsschutz. In Izmir demonstrierten Gesundheitsarbeiter*innen gegen Gehaltskürzungen und ausstehende Zusatzzahlungen, in Istanbul Bauarbeiter*innen bei Ofton Construction für die Auszahlung von zurückgehaltenen Löhnen (mit Erfolg). In größeren Fabriken in Izmir und Istanbul wird neuerdings gegen ein geplantes Gesetz zur Zerschlagung des <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/turkish-unions-threaten-strike-severance-cuts.html">Abfindungsrechts</a> protestiert, während Kämpfe gegen klassische<i> union busting</i>-Methoden wie die fristlose Kündigung von gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen ebenfalls weiter geführt werden.<b> [6]</b></p><p>Auf der politischen Ebene stechen neben der erfolgreichen Anti-Korruptions- und Sozialpolitik der CHP-Bürgermeister die zwei großen Protestmärsche der Anwaltskammern und der HDP im Juni sowie die Proteste von Fraueorganisationen gegen eine mögliche Abschaffung der Istanbuler Konvention hervor. Die HDP hielt trotz aller Polizeirepression einen <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/06/hdp-turkey-democracy-rally-pressure-kurdish-parliament.html">Demokratiemarsch</a> ab gegen die Absetzung ihrer Bürgermeister*innen und die Inhaftierung ihrer Parlamentarier*innen; die Anwaltskammern organisierten einen »<a href="https://t24.com.tr/haber/savunma-yuruyusu-ne-polis-engeli-ikinci-gunde-devam-ediyor-bilecik-barosu-baskanvekili-gozaltina-alindi,885999">Verteidigungsmarsch</a>« gegen das Gesetzespaket zur Schwächung der Anwaltskammern.</p><p>Ein Großteil des Dissens und des abweichenden Potenzials ist zwar nicht greifbar, offenbart sich aber in anonymisierten Umfragen. Deren Ergebnisse zeigen, dass <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/gundem/gezici-arastirma-merkezi-baskani-murat-gezici-sozcuye-acikladi-turkiyenin-kaderi-z-kusaginin-elinde-5867771/">junge Menschen</a>, die 2018 zum ersten Mal wählen durften und bei den 2023 anstehenden Wahlen etwa 20 Prozent aller Wähler*innen ausmachen werden, in überwältigender Mehrheit (über 70 Prozent) nicht die Regimeparteien wählten und sich für Demokratie und Gerechtigkeit aussprechen. Ein <a href="https://t24.com.tr/haber/genclerin-yuzde-76-si-yurt-disinda-yasamak-istiyor-her-iki-gencten-biri-mutlu-degil,900749">Großteil der Jugendlichen</a> fühlt sich von den in der Gesellschaft dominanten Werten wie Nationalismus oder Konservatismus nicht mehr angesprochen, ebenso wenig von den bestehenden Parteien. Bevölkerungsrepräsentative Umfragen ergeben ebenso, dass dieselben <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-deva-ve-gelecek-in-iktidara-karsi-el-yukseltmesi-ne-anlama-geliyor,881222">demokratiefreundlichen Tendenzen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-konda-demokrasi-raporu-nu-acikliyor,879984">vorherrschen</a>, wenn auch abgeschwächter und weit weniger ausgeprägt, sobald spezifischer nach Rechten der Kurd*innen und Alevit*innen gefragt wird. Zudem <a href="https://www.karar.com/yeni-secmen-iktidara-soguk-1549800">steigt</a> die Zustimmung zu <a href="https://t24.com.tr/haber/toplumun-yuzde-66-si-kadinlarin-yasadigi-en-buyuk-sorun-siddet-diyor,865730">feministischen Themen</a> und nimmt die Entgegensetzung von Religiösität und linker Politik ab. Ein <a href="https://t24.com.tr/haber/arastirma-akp-lilerin-yuzde-27-si-istanbul-sozlesmesi-nden-cekilmesini-onaylarken-yuzde-50-si-onaylamiyor,892925">Großteil</a> der Bevölkerung inklusive der AKP-Basis lehnt eine Abschaffung der Istanbuler Konvention ab. Sogar die Frauenorganisation der AKP <a href="https://yetkinreport.com/2020/08/03/ak-parti-zemininde-beliren-uc-fay-hatti/">protestierte</a> vehement gegen eine mögliche Abschaffung der Istanbuler Konvention (während sie sich allerdings zugleich sehr stark anti-LGBTQI+ positionierte), was zu <a href="https://bianet.org/1/8/228812-akp-li-kadinlar-dilipak-tan-sikayetci-oldu">Überwerfungen</a> im Regimelager führte. Die ökonomische Situation ist zum Hauptproblem der Bevölkerung weit vor »Terror«, Außenpolitik oder andere Themen gerückt. Auch die Rekonversion der Hagia Sophia hat <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/avrasya-arastirma-son-anketini-acikladi-erdoganin-ve-akpnin-oylari-erimeye-devam-ediyor-1755335">keinen Einfluss</a> auf potenzielles Wahlverhalten gehabt, da ein Großteil der Bevölkerung glaubt, dass die Rekonversion vollzogen wurde um von ökonomischen Schwierigkeiten <a href="https://themedialine.org/by-region/most-turks-believe-hagia-sophia-debate-politically-driven-poll-says/">abzulenken</a>. Gleichzeitig mit einem demokratischen Grundkonsens in der breiten Bevölkerung artikuliert sich allerdings auch ein <a href="https://www.americanprogress.org/issues/security/reports/2018/02/11/445620/turkey-experiencing-new-nationalism/">aggressiver Nationalismus</a>, der nur mäßig bis gar nicht religiös motiviert ist.</p><p>Auch in der weithin konservativen Wähler*innenbasis von AKP und MHP zeigen sich, wie <a href="https://www.hurriyetdailynews.com/akp-surveys-voters-amid-party-restructuring-116785">schon</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/mak-danismanlik-akp-tabaninda-koalisyona-hos-bakilmiyor-tek-adamlik-kaygisi-var,563070">seit längerem</a>, ähnliche Tendenzen auf: Wie eine neuere <a href="https://www.americanprogress.org/issues/security/reports/2020/08/24/489727/turkeys-president-erdogan-losing-ground-home/">ausführliche Analyse</a> von Max Hoffman mittels Interviews in der urbanen Basis von AKP und MHP aufzeigen konnte, beschweren sich diese – und hierin insbesondere die Jugendlichen – weiterhin über Korruption, Klientelismus, eine zu stark aufoktroyierte Religiösität und unbrauchbare Medien und sprechen sich für Toleranz aus. Das zeigt, wie stark transformierte Überreste von Überzeugungen redistributiver, kommunaler Gerechtigkeit im islamisch-national-konservativen Milieu weiter existieren, auch wenn sie zugleich gekreuzt werden von reaktionären Überzeugungen. Denn die Studie von Hoffman zeigt zugleich auf, wie die AKP-MHP-Basis Erdoğan mystifiziert überhöht und teils stark nationalistisch geprägt ist. Dieses widersprüchliche Amalgam aus reaktionären und (potenziell) fortschrittlichen Elementen entspricht recht genau dem, was sich mit Gramsci als »Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins« bezeichnen lässt und das sich dann einstellt, wo es kein organisiertes Klassenbewusstsein oder gesellschaftliche Verhältnisse gibt, innerhalb derer die Menschen selber ermächtigt sind.</p><p>Wie die Widerstände gegen den Autoritarismus und der starke demokratische Grundkonsens neben reaktionären Elementen innerhalb eines großen Teils der Bevölkerung aufzeigen, gibt es mehr als genug Ansatzpunkte für eine andere Türkei. Dass diese (noch?) nicht erblüht, hat nicht nur mit der Repressionsfuror des autoritären Regimes zu tun. Einige der wichtigsten Oppositionsparteien tun sich weiterhin schwer damit, ernsthaft für diese andere Türkei zu streiten. Zwei Gründe sind hier zentral: Einmal das Verhältnis zur »Kurdischen Frage«, zum anderen die allgemeine Staatsräson. Die CHP hat die HDP während der gesamten Phase bis auf Lippenbekenntnisse mehr oder minder alleine gelassen, ja CHP-Chef Kılıçdaroğlu <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/gundem/vekil-adaylarini-halk-secsin-5847455">lehnte mehrmals ab</a>, auf die Straßen zu mobilisieren, weil er meinte, dies sei eine Einladung für die AKP, den Ausnahmezustand wieder einzuführen. Als ob ein den Wünschen und Dekreten des Präsidenten unterstehender Staat mit einer durch und durch <a href="https://rm.coe.int/report-on-the-visit-to-turkey-by-dunja-mijatovic-council-of-europe-com/168099823e">politisierten Justiz</a> und polizeistaatlicher Willkür nicht schon ein Staat des Ausnahmezustands wäre; als ob sich ein solches System ohne<i> auch</i> die Macht der Straße umwälzen ließe. Akşener, Chefin der oppositionellen MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI), ist da unverblümter: Sie <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/04/24/meral-aksener-hdp-pkknin-yaninda/">identifiziert</a> regelmäßig die HDP mit der verbotenen PKK, verweigert offen die Solidarität mit der HDP angesichts von Repressionen und rief Erdoğan sogar zur »<a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-den-liderlere-cagri-memleket-masasi-etrafinda-toplanalim-ortak-akli-isletmemiz-lazim,877657">Nationalen Einheit</a>« auf, um der Pandemie zu begegnen. Ihrer Ansicht nach sind Regierung und Opposition <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/meral-aksenerden-erdoganin-cagrisina-yanit-1757650">schon geeint</a> in außenpolitischen Dingen, das heißt im chauvinistischen Militarismus, wie auch die CHP oder Davutoğlus GP die Regierung dafür <a href="https://t24.com.tr/haber/muhalefet-turkiye-nin-dogu-akdeniz-politikasini-nasil-degerlendiriyor-neleri-farkli-yapardi,904885">kritisierten</a>, zu viele Zugeständnisse zu machen und <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/09/13/chp-myk-oruc-reisin-geri-donmesi-taviz/">nicht</a><a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2020/09/13/chp-myk-oruc-reisin-geri-donmesi-taviz/"> genug</a> die Rechte der Türke im östlichen Mittelmeer zu wahren, sprich nicht genügend chauvinistisch und militaristisch zu agieren. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/meral-aksenerden-erdoganin-cagrisina-yanit-1757650">Bezeichnenderweise</a> dauerte es Tage, bis Akşener ein gemeinsames Angebot von Erdoğan und Bahçeli das Oppositionslager zu verlassen und sich auf Regimeseite zu schlagen ablehnte.</p><p>Die »Kurdische Frage« ist nicht das einzige demokratische Problem der Türkei, sie ist aber zur Chiffre aller demokratischen Probleme der heutigen Türkei geworden. Und das ist zugleich auch in der allgemeinen Staatsräson begründet: Staat und Kapital in der Türkei befürchten, dass mit der unkontrollierten Partizipation des Großteils des Bevölkerung am politischen Prozess wie während des Gezi-Aufstandes 2013 auch Forderungen nach einer grundlegend anderen, demokratischen und sozialen Republik stark werden, in der die starken Männer und die staatstreue Opposition von heute keinen Platz mehr haben. Das ist vielleicht auch der Hauptgrund dafür, warum die Hauptoppositionsparteien unfähig und vor allem nicht gewillt sind, Erdoğan grundlegend herauszufordern, der wiederum Tag um Tag seine relative Autonomie weiter ausbaut und die Türkei immer mehr in eine Sackgasse aus Wirtschaftskrise und Instabilität manövriert – wobei letzteres offensichtlich nicht den Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals und der bürgerlichen Opposition entspricht.</p><p>In eingängigeren Analysen der Erfolge der Opposition in den letzten Jahren, die diese Erfolge an einer <a href="https://www.journalofdemocracy.org/articles/the-pushback-against-populism-running-on-radical-love-in-turkey/">anti-populistischen Inklusivität</a> und der <a href="https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/13510347.2020.1803841">Koordination</a> der Opposition auf Grundlage einer demokratischen Perspektive im Antagonismus zum Autoritarismus festmachen, wird üblicherweise fast vollständig unterschlagen, wie ineffektiv oder gar unterstützend die Hauptoppositionsparteien gegenüber der Politik des Regimes <a href="https://www.criticatac.ro/lefteast/communal-elections-tr2019/">über Jahre hinweg</a> blieben, insbesondere hinsichtlich des Militarismus und Chauvinismus. Auch als das Regime die Rekonversion der Hagia Sophia in eine Moschee in ein regelrechtes <a href="https://www.jadaliyya.com/Details/41518/What-Is-in-a-Place-Hagia-Sophia-in-the-Affective-Topography-of-Populism-in-Turkey-41518">nationalistisch-islamistisches Festival</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-aciklama-yapiyor,893500">verwandelte</a>, kam – außer von der HDP – nichts von den Oppositionsparteien, um ja nicht muslimische Wähler*innen abzuschrecken. Ja, wichtige Oppositionspolitiker*innen wie Muharrem Ince (republikanischer Kontrahent Erdoğans im Präsidentschaftswahlkampf 2018) oder Meral Akşener <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/ince-kurultaydan-sonra-cok-talep-aliyorum-41578581">begrüßten</a> sogar die Rekonversion – daher die Einladung von Erdoğan und Bahçeli an Akşener und die sehr freundliche Berichterstattung der pro-Regime-Medien über Ince, der derzeit an einer Abspaltungsbewegung von der CHP arbeitet.</p><p>Es gibt einen feinen, aber dennoch sehr klaren Unterschied zwischen einem inklusiven Vorgehen, das versucht auch Wähler*innen von AKP und MHP zu gewinnen, und einer Appeasementpolitik, die noch den reaktionärsten Befindlichkeiten opportunistisch oder, noch schlimmer, aus Überzeugung nachgibt. Letzteres stärkt nicht nur das Regime. Es erschwert zudem die Möglichkeit einer demokratischen und sozialen Zukunft der Türkei dadurch, dass es der Dispersion und Verankerung autoritärer Attitüden und Subjektivitäten Vorschub leistet, die wiederum einer solchen Zukunft abträglich sind auch in einer Zeit nach Erdoğan.</p><p>Die Hauptpole des derzeitigen politischen Kampfes in der Türkei sind nicht die zwischen Autoritarismus und Demokratie, sondern die zwischen einer krisenhaften autoritären Konsolidierung und einer neoliberalen Restauration. Teile der liberalen und tatsächlich auch republikanischen und marxistischen Intelligenz tappen gerade <a href="https://t24.com.tr/video/aksaclilar-dan-iktidar-ve-muhalefete-uyari-cumhuriyetin-teminati-butun-kurumlar-tek-tek-islemez-hale-getiriliyor,30821">erneut</a> ungewollt in die Falle einer Unterstützung für ein neoliberales Restaurationsprojekt gegen ein autoritäres Projekt so wie sie es beim Aufstieg der AKP in den frühen 2000er-Jahren taten. Auch der inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, tappt in diese Falle, wenn er für die Illusion einer »<a href="https://t24.com.tr/haber/selahattin-demirtas-tan-genis-tabanli-demokrasi-ittifaki-icin-9-maddelik-ilkeler-onerisi,898052">demokratischen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/selahattin-demirtas-tan-genis-tabanli-demokrasi-ittifaki-icin-9-maddelik-ilkeler-onerisi,898052">Allianz</a>« inklusive aller Oppositionsparteien wirbt anstatt das demokratisch-soziale Profil der HDP gegen beide Pole zu schärfen, wie er das <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/selahattin-demirtas-akp-secmeni-bile-oteki-1752855">noch vor einigen Monaten</a> tat. Es gibt aber eine gangbare Alternative zu beiden Polen und einen Ausweg aus der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Eine solche Alternative, den »<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/09/14/hdpsiz-olmaz-ama-sadece-hdpyle-de-olmaz/">dritten Block</a>« zu organisieren und von den beiden anderen bürgerlichen Polen abzugrenzen war ja der Grund für die Gründung der HDP im Jahre 2012. Wenn die wirkliche demokratische und soziale Opposition in der politischen Arena erstarkt und die Menschen der anderen Türkei ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, dann können sie nicht nur die Macht von Erdoğan brechen, sondern auch dafür sorgen, dass die dystopischen Pläne des Kapitals nicht aufgehen und sich das politische System grundlegend ändert – oder zumindest gezwungen ist, viel mehr Zugeständnisse und Kompromisse in Richtung der popularen Kräfte zu tätigen als wenn eine neoliberale Restauration einfach so, das heißt ohne oder fatalerweise sogar mit Unterstützung des demokratisch-sozialen Lagers durchregiert.</p><p></p><hr/><p>Dieser Aufsatz ist eine längere und etwas andere Version eines Essays, der im Oktober erscheinen wird in: Dieter F. Bertz (Hrsg.),<i> Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft</i></p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Ich danke meinem Freund und Genossen Hasan Durkal, Redakteur beim linken Onlinemagazin <a href="https://elyazmalari.com/"><i>El Yazmaları</i></a>, für seine Unterstützung bei diesem Artikel.</p><p><b>[2]</b> Die (effektive) Reproduktionszahl gibt an, wie viele nicht-immune Menschen von einer infektiösen Person zu einem bestimmten Zeitpunkt durchschnittlich angesteckt werden.</p><p><b>[3]</b> In der linken Tageszeitung <i>Bir Gün</i> ist eine <a href="https://www.birgun.net/haber/korona-gunlerinde-en-alttakiler-302285">exzellente</a>, mehrteilige Serie über Arbeiter*innen und Arbeitsbedingungen während der Pandemie erschienen. Die Veteranjournalistin <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2020/03/22/alti-bin-calisanin-hepsi-evde-su-an-ne-olacak-bilmiyor/">Pınar Öğünç</a> hat für<i> Gazete Duvar</i> eine bewundernswerte 35-teilige Reportage über Arbeiter*innen in den unterschiedlichsten Sektoren und ihre Sorgen und Hoffnungen verfasst, in der die Arbeiter*innen und ihre Geschichten im Vordergrund stehen. Wissenschaftlich betrachtet ist die Metastudie von Dr. Necati Çıtak im <a href="https://www.ttb.org.tr/kutuphane/covid19-rapor_6.pdf">TTB-Bericht</a> für den sechsten Monat der Corona-Krise in der Türkei zu empfehlen, der akademische Studien aus den USA, Großbritannien und der Türkei zusammenfasst und dabei die ungleichen Auswirkungen der Pandemie entlang Klassenlinien festmacht. Ähnlich geht Dr. Arzu Çerkezoğlu, zugleich Vorsitzende der linken Gewerkschaftskonföderation DISK, vor in ihrer Analyse für denselben Bericht.</p><p><b>[4]</b> Also die offizielle Arbeitslosenquote plus die mit statistischen Tricks herausgerechneten Arbeitslosen im Verhältnis zu allen potenziellen Erwerbstätigen. Vor allem während der Corona-Krise klaff(t)en offizielle und echte Arbeitslosenquote auseinander: Während Millionen von Menschen aus der Erwerbstätigkeit rausgefallen sind, steigt die Arbeitslosenquote kaum. Sogar Wirtschaftsmedien des Mainstreams wie <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/isgucu-verileri-masaya-yatirildi-issizligin-izlenmesinde-yeni-ve-yaratici-cozumler-gerekli-haberi-481463"><i>Dünya</i></a> verweisen deshalb mittlerweile auf die Sinnlosigkeit der offiziellen Arbeitslosenzahlen hin. Einen <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/turkey-statistics-controversial-unemployment-rates-pandemic.html">guten Überblick</a> über die unterschiedlichen Berechnungsmethoden und somit Quoten der Arbeitslosigkeit liefert Mustafa Sönmez in einer Analyse für<i> Al-Monitor</i>.</p><p><b>[5]</b> Bei Währungsswaps (also Währungstausch/wechsel) tauschen zwei Vertragspartner*innen unterschiedliche Währungen miteinander für eine bestimmte Zeit aus, wobei ein bestimmter Zins beim Zeitpunkt des Rücktausches zu zahlen ist. Swaps werden oft genutzt, um kurzfristig anstehende Zahlungen in einer Währung, die die involvierten Seiten nicht oder nicht ausreichend besitzen, zu begleichen. Als Tagessatz (im Englischen<i> overnight interest rate</i>) bezeichnet man üblicherweise den Zins auf ein Wertpapier oder einen Kredit, das/der eine Laufzeit von maximal einem Tag besitzt.</p><p><b>[6]</b> Unterschiedliche linke Kollektive und Arbeiter*innenvereine berichten auf ihren Social-Media-Accounts regelmäßig über kleine wie große Arbeitskämpfe in der Türkei. Ich habe während meiner Recherche zu diesem Absatz auf Informationen des Arbeiter*innenkollektivs <a href="https://www.facebook.com/guvencesizlersendikasi"><i>Umut-Sen</i></a> (Gewerkschaft der Hoffnung) und des Arbeiter*innenvereins <a href="https://www.facebook.com/EKMEKveONUR"><i>Ekmek ve Onur</i></a> (Brot und Würde) zurückgegriffen.</p></div>
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Ein Krieg zur Stärkung des Faschismus2019-10-17T11:24:52.955321+00:002019-10-17T11:57:53.765313+00:00Alp Kayserilioğlu, Güney Işıkara und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-st%C3%A4rkung-des-faschismus/
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<div class="rich-text"><p>Am 9. Oktober verwirklichte die Türkei ihren lange gehegten Wunsch einer umfassenden militärischen Invasion in Nordost-Syrien (Rojava), nachdem ein Telefonat zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem us-amerikanischen Amtskollegen Donald Trump hierfür den Weg ebnete. Trump ließ wenig später <a href="https://twitter.com/realDonaldTrump/status/1181172465772482563">per Twitternachricht</a> verlauten, dass „er“ sich mit sofortiger Wirkung aus der Region heraushalten werde – „time to […] bring our soldiers home“. Ein Freifahrtschein für die Türkische Armee (TSK) samt Gefolgsleuten.</p><p>Unterstützt von heftigem Artilleriebeschuss und dem Bombardement durch Kampfjets schickte die Türkische Armee (TSK) jihadistische Milizen unter dem pompösen Namen <i>Syrische Nationale Armee</i> (SNA) voran. Die Angaben zu ihrer Zahl schwanken, aber es soll sich bei ihnen um etwa<a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-syria-kurds-militias-in-operation-peace-spring.html"> 15.000 Kämpfer handeln</a>, die in der jetzigen Invasion mobilisiert wurden. Die verschiedenen Teilgruppen der SNA agieren schon lange in Syrien. <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-syria-kurds-militias-in-operation-peace-spring.html">21 der insgesamt 37 Gruppen</a>, die in der SNA versammelt sind, wurden in der Vergangenheit von den USA unterstützt und viele fanden sich auch schon in der<i> Freien Syrischen Armee</i> (FSA). Sie ändern permanent ihre Namen, sind aber im Grunde altbekannte jihadistische Gruppen.</p><h2><b>Eine Invasion vom Reißbrett</b></h2><p>Der Krieg begann mit Artilleriebeschuss und Luftbombardements auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einem von der kurdischen YPG angeführten multiethnischen Militärverbund, und auch auf die Regionen nahe der Grenze zur Türkei. Die SNA konzentrierte ihre Angriffe dabei in erster Linie vor allem auf die Städte Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn und das Gebiet zwischen diesen beiden. Sie versuchte, die Städte zu isolieren und voneinander, sowie von anderen Städten abzuschneiden, um dann die Städte selbst einzunehmen. Während Gire Spî /Tal Abyad mittlerweile an SNA und TSK gefallen ist, hält der Widerstand der SDF in Serê Kaniyê/Ras al-Ayn an (Stand 16. Oktober 2019). Trotz kleinerer Scharmützel sind die Städte Qamishlo und Kobanê/Ayn al-Arab nicht wirklich attackiert worden, Manbidsch, das westlich des Euphrat liegt, hat eine gewisse Sonderstellung und kam erst nach einigen Tagen unter Beschuss. Die Taktik der Türkei dürfte sein, das Gebiet der Selbstverwaltung von der Mitte her zu zerteilen und Verbindungswege zu kappen, beziehungsweise die Städte zu isolieren. Der Plan ist dann in einer zweiten Phase des Krieges ein größeres Gebiet zu besetzen.</p><p>Erdoğan <a href="https://www.reuters.com/article/us-syria-security-turkey-erdogan/erdogan-says-turkish-led-offensive-to-extend-further-along-syrian-border-idUSKBN1WS0DY">verweist seit Langem darauf</a>, dass es das Ziel der Operation sei, eine 30 Kilometer tiefe und über 480 Kilometer lange Zone von „terroristischen Elementen zu bereinigen“ und bis zu zwei Millionen syrischer Geflüchteter, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, in dieser Zone anzusiedeln. In dieser – <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-syria-untied-states-three-phase-of-ankara-plan.html">laut Militärstrategen</a> als dritte und letzte Phase der Militärinvasion zu realisierenden – Zone wären fast alle größeren Städte der Selbstverwaltung an der Grenze zur Türkei eingeschlossen. Das Schicksal des Projekts, das mit dem „Rojava Aufstand“ im Jahr 2011 begann, wäre damit besiegelt – wenn denn dieser Plan aufgeht.</p><h2><b>Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in Syrien</b></h2><p>Im Moment sieht es so aus, als ob die SDF einen kontrollierten und fokussierten Widerstand leisten. Das <a href="https://www.reuters.com/article/syrien-kurden-russland-idDEKBN1WT0HJ">Übereinkommen</a> zwischen den SDF und der<i> Syrischen Arabischen Armee</i> (SAA), das am 13. Oktober ausgehandelt wurde und sich seither in der Praxis vollzieht, hat die Kräfteverhältnisse am Boden und die politischen Konstellationen in Syrien und im Mittleren Osten verschoben. Die Erklärung der Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syriens spricht von einer Koordination der SAA mit der Selbstverwaltung zur Abwehr der Angriffe der Türkei und zur Befreiung der besetzten Städte wie Afrîn. Gleichzeitig ziehen sich verbleibende US-Truppen vollständig aus der Region zurück.</p><p>Die Zahlen der verlorenen Menschenleben seit Kriegsbeginn sind jetzt schon erschütternd. Die SDF leistet einerseits starken Widerstand, andererseits sind Artilleriebeschuss und Luftbombardements der Türkei teilweise scheinbar willkürlich gegen Städte mit Zivilbevölkerung und auch zivile Konvois gerichtet. Dementsprechend gibt es auch sehr viele Berichte über <a href="https://www.dailymail.co.uk/news/article-7568711/At-ten-dead-convoy-journalists-aid-workers-shelled-Turkish-forces.html">ermordete Zivilist*innen</a>, zerstörte <a href="https://www.hawarnews.com/en/haber/turkish-occupation-army-targets-mansoura-dam-supplying-water-to-2-m-people-h11914.html">zivile Infrastruktur</a>, zerstörte oder gestohlene <a href="https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/who-gravely-concerned-about-humanitarian-situation-northeast-syria">Rettungsfahrzeuge</a>, <a href="https://hawarnews.com/en/haber/turkish-occupation-targets-field-hospital-in-serkaniy-h12046.htmlTurkish?fbclid=IwAR1VoLpn1sH2nB8fGK3EZXFNteiZBNni-JjosEX2cbKLxvbm6wu-DW6BGWI">Beschuss</a> und <a href="https://www.nytimes.com/2019/10/11/world/middleeast/turkey-syria-kurds.html">Räumung</a> von Krankenhäusern und dergleichen mehr. Schreckliche Bilder und Videos von Gräueltaten der türkischen Armee und insbesondere von den mit ihr verbündeten jihadistischen Gruppierungen kursieren in den Sozialen Medien. Mindestens <a href="https://www.nytimes.com/2019/10/13/world/middleeast/syria-turkey-invasion-isis.html">130.000 Zivilist*innen</a> mussten fliehen und eine humanitäre Katastrophe entfaltet sich vor unseren Augen.</p><p>Darüber hinaus gibt es Berichte zur <a href="https://www.nytimes.com/2019/10/13/world/middleeast/syria-turkey-invasion-isis.html">gezielten Bombardierung</a> von Gefängnissen, in denen bislang insgesamt etwa 15.000 der IS-Mitgliedschaft verdächtigte Menschen festgehalten wurden. Zumindest <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/10/hundreds-isil-prisoners-escape-syrian-camp-kurds-191013141044768.html">einige hundert IS-Verdächtige</a> konnten fliehen. Es ist durchaus möglich, dass es zu einer teilweisen Wiederbelebung der fast schon eliminierten IS-Strukturen kommt – oder dass sich die IS-Jihadisten den türkeinahen Söldnertruppen anschließen.</p><h2><b>Erzwungene Teilliberalisierung</b></h2><p>Was aber sind die innenpolitischen und wirtschaftlichen Dynamiken in der Türkei, die diese Militärinvasion motivieren? Der erste Grund ist offensichtlich: Die Türkei steht den Selbstverwaltungsbestrebungen in Rojava seit ihren Anfängen im Jahr 2011 feindlich gegenüber. Diese Feindschaft inkludierte zunächst eine <a href="https://newsocialist.org.uk/trump-rojava/">(in)direkte Akzeptanz und sogar Unterstützung</a> der IS-Strukturen und anderer jihadistischer Gruppen, die gegen die Selbstverwaltung kämpften. Nachdem dies nicht funktionierte, intervenierte die Türkei direkt militärisch, <a href="https://www.jacobinmag.com/2016/11/turkey-erdogan-coup-hdp-pkk-syria-gulen-ypg">zunächst</a> 2016 mit dem Einmarsch in vom IS besetztes Gebiet zwischen den Kantonen Afrîn und Kobanê (Jarablus und al-Bab) <a href="https://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/">und dann</a> nochmal 2018, als direkt die Kräfte der Selbstverwaltung <a href="https://revoltmag.org/articles/die-besetzung-afr%C3%AEns/">attackiert</a> wurden (Afrîn). Aus Sicht der herrschenden Kräfte in der Türkei stellt die schiere Existenz von Rojava eine Gefahr dar, da dadurch auch die kurdischen und demokratischen Strukturen in der Türkei gestärkt werden. Gleichzeitig erscheint Rojava den herrschenden Kräften in der Türkei als ein Organisationsmodell von Staat und Gesellschaft, das im Widerspruch zum türkischen Modell des autokratischen Neoliberalismus steht. Rojava konstituiert daher eine Bedrohung des Wesens der Gesellschaftsformation der Türkei. Der „Krieg gegen die Kurd*innen“ ist außerdem der wichtigste gemeinsame Nenner, der die AKP nach den Wahlen im Juni 2015 mit ehemals verfeindeten nationalistischen Staatsfraktionen zur „Wahrung der Existenz des Staates“ in einer neuen „Staatskoalition“ zusammenbrachte.</p><p>Diese allgemeinere Ebene ist, zweitens, direkt mit den derzeitigen Umständen in der Türkei verbunden, nämlich der akuten Hegemoniekrise des Regimes in der Folge der Lokalwahlen im März und Juni 2019. Wie wir <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">schon zuvor</a> <a href="https://revoltmag.org/articles/erdo%C4%9Fans-ziviler-putschversuch/">en detail</a> <a href="https://revoltmag.org/articles/politisches-erdbeben-istanbul/">analysiert haben</a>, drückte sich in den Wahlen die große und weit verbreitete Unzufriedenheit angesichts der aktuellen ökonomischen und politischen Lage in der Türkei aus. Besonders die Wiederholung der Wahl in Istanbul zeigte, dass die AKP und ihre Verbündeten ihren Willen nicht länger beliebig mit Gewalt und Betrug durchsetzen konnten.</p><p>Vor dem Hintergrund einer schon lange andauernden und sich verschärfenden Hegemoniekrise und brodelnder Unzufriedenheit und Instabilität zogen sich nach den Wahlen Risse durch das ganze System.</p><p>Der <a href="http://bianet.org/english/law/210934-constitutional-court-freedom-of-expression-of-academics-for-peace-violated">Verfassungsgerichtshof (AYM) entschied</a> beispielsweise mit einer sehr knappen Mehrheit von nur einer Stimme, dass die Prozesse gegen die Friedensakademiker*innen einen Bruch des Rechtes auf freie Meinungsäußerung darstellten. Nach dieser AYM-Entscheidung wurden Dutzende Friedensakademiker*innen freigesprochen.</p><p>Auch im Fall des früheren HDP-Abgeordneten und bekannten Regisseurs Sırrı Süreyya Önder, der über zehn Monate im Gefängnis gewesen war, <a href="http://bianet.org/english/politics/213981-court-rules-for-release-of-sirri-sureyya-onder">entschied der AYM</a> – diesmal einstimmig –, dass die Aussagen, für die er verurteilt worden war, durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt seien und dass Önder eine sehr wichtige Rolle im Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK gespielt habe (!). Am darauffolgenden Tag entschied das Gericht seine Entlassung aus dem Gefängnis. Es ist bezeichnend, dass diejenigen Richter*innen am AYM, die im Sinne der Friedensakademiker*innen stimmten, noch von Erdoğans Vorgänger und mittlerweile Rivalen Abdullah Gül bestellt worden waren. Abdullah Gül, einer der Gründer der AKP, <a href="https://www.reuters.com/article/us-turkey-politics/former-erdogan-ally-to-form-rival-party-before-year-end-paper-idUSKCN1VV0DR">unterstützt mittlerweile die Bestrebungen</a> des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan, eine neue Partei zu gründen, die als Alternative zur AKP erscheinen soll.</p><p>Babacan und sein Umfeld <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/erdogans-system-broeckelt-die-regierungspartei-akp-steht-vor-der-spaltung/24580168.html">kritisieren die AKP</a> dafür, vom rechten Weg abgekommen zu sein und <a href="https://www.karar.com/guncel-haberler/ali-babacan-karara-konustu-yil-bitmeden-partiyi-kuruyoruz-1319296">konzentrieren</a> ihre eigene Arbeit auf die Wiederbelebung des konservativen Neoliberalismus der Frühphase der AKP. Neben Babacan <a href="https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/kritik-an-erdogan-tuerkischer-ex-premier-davutoglu-tritt-aus-akp-aus/25013018.html">brach noch ein weiterer führender AKP-Politiker</a> offen mit Erdoğan, nämlich der frühere Außenminister und Premierminister Ahmet Davutoğlu. Während Babacan eher den konservativ-wirtschaftsliberalen Flügel der Partei und die entsprechenden Teile der Gesellschaft anzusprechen versucht, adressiert Davutoğlu den eher islamisch-konservativen Teil, der sich eventuell von der AKP abwenden könnte. Gemeinhin wird erwartet, dass die beiden neuen Parteien am Ende dieses beziehungsweise am Anfang des nächsten Jahres gegründet werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass diese beiden Parteien großen Erfolg haben werden, aber die hart umkämpfte AKP ist anfällig für eine tiefe Krise, wenn ihr auch nur ein Teil ihrer Basis wegbricht. Es ist kein Zufall, dass Babacan und Davutoğlu ihre Parteigründungsprozesse nach den Lokalwahlen beschleunigten.</p><p>Die Entscheidungen im Fall der Friedensakademiker*innen oder im Fall von Önder sind keine Einzelfälle. In vielen Prozessen dieser Art erfolgen mittlerweile Entlassungen oder Freisprüchen. So zum Beispiel auch im Fall von Max Zirngast, Teil unseres Autorenkollektivs, der am 11. September 2019, genau ein Jahr nach seiner Festnahme (mit anschließender dreimonatiger Untersuchungshaft) relativ überraschend – wie auch alle seine Mitangeklagten – vom Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ <a href="https://freemaxzirngast.org/2019/09/max-zirngast-und-mitangeklagte-freigesprochen/">freigesprochen</a> wurde. Diese Entscheidungen sind aber eben <a href="https://freemaxzirngast.org/2019/09/ich-bin-frei-andere-sind-es-noch-nicht-max-zirngast/">kein Ausdruck einer „Rückkehr zum Rechtssaat“</a> oder dergleichen, sondern Zeichen einer erzwungenen Teilliberalisierung, die den sich verändernden Kräfteverhältnissen geschuldet ist.</p><p>Gleichzeitig gibt es nämlich auch gegenteilige Tendenzen, zum Beispiel die <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/in-diyarbakir-mardin-und-van-tuerkei-setzt-drei-pro-kurdische-buergermeister-ab/24921112.html">Absetzung</a> der HDP Ko-Bürgermeister*innen in den mehrheitlich kurdischen Großstädten Diyarbakır, Van und Mardin aufgrund von laufenden „Terrorprozessen“ oder die Verurteilung der Istanbul-Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP), <a href="https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2028205-10-Jahre-Haft-fuer-Istanbuler-CHP-Chefin.html">Canan Kaftancioğlu</a>, zu fast zehn Jahren Haft aufgrund von absurden Vorwürfen zu Tweets von vor sechs Jahren. Eine Strafe, die sie (bislang) nicht antreten musste und gegen die Widerspruch eingelegt wurde, die aber gleichzeitig wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebt und bei veränderten Kräfteverhältnissen jederzeit Realität werden kann. Darüber hinaus bleibt der liberale Mäzen <a href="https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-intellektueller-kavala-weiter-in-haft/a-49637364">Osman Kavala</a> nach über zwei Jahren in Untersuchungshaft weiterhin im Gefängnis. Er wird absurderweise beschuldigt, einer der Drahtzieher und Financiers hinter den Geziprotesten 2013 zu sein.</p><p>Um zusammenzufassen: Nach den Lokalwahlen vollzog sich ein widersprüchlicher und nicht-linearer Prozess der teilweisen und eingeschränkten Liberalisierung, die von den Kräfteverhältnissen erzwungen wurde. Dabei versuchten die Kräfte des Regimes (AKP + MHP + andere Alliierte) ihre repressiven Mittel und Apparate angesichts ihres sich vermindernden Handlungsspielraumes auf jene Ziele zu lenken, die sie als die „wichtigsten politischen Feinde“ erachteten. Um das zu erreichen, reduzierten sie zeitweise ihren Druck auf jene Gegner*innen, die als „weniger wichtig“ und nicht (mehr) als „unmittelbare Bedrohung“ angesehen wurden. Dadurch und aufgrund der akuten Hegemoniekrise wurden jedoch andererseits auch oppositionelle und abtrünnige Kräfte innerhalb des Systems ermutigt, offener und vehementer zu handeln. Ob Handlungen wie das oben erwähnte Urteil des AYM im Sinne der Friedensakademiker*innen Teil einer kontrollierten Teilliberalisierung von oben oder eine unabhängige Aktion eben solcher oppositioneller Kräfte innerhalb des Staatsapparates darstellen, die sich aus der Hegemoniekrise und erzwungenen Teilliberalisierung des Regimes motiviert, lässt sich nicht genau angeben, da sich jene beiden Tendenzen (erzwungene Teilliberalisierung von oben einerseits, mutigeres Auftreten von oppositionellen/dissidenten systeminternen Kräften andererseits) im Konkreten nicht strikt voneinander trennen lassen.</p><p>Diese widersprüchlichen Tendenzen und die ihnen zugrundeliegenden Motivationen führten in Kombination zu den wechselhaften Entwicklungen der letzten Monate nach den Lokalwahlen. Das widersprüchliche Wesen dieses Prozesses kann auch in den Handlungen und dem Verhältnis der von der Opposition neu gewonnenen Städte – vor allem Istanbul und Ankara – zum Regime deutlich gesehen werden. Einerseits versuchen diese Stadtverwaltungen, die Korruption und andere Ungereimtheiten vorhergehender AKP-Verwaltungen aufzuzeigen; auch verhält sich die Regimeallianz von AKP, MHP und anderer rechter, nationalistischer Fraktionen gegenüber den neuen Stadtverwaltungen sehr feindlich. Das wird besonders im Falle des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu (CHP) deutlich, der unter Anderem nicht zu einen <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/fatih-altayli-1001/2526096-gercekte-ne-oldu">wichtigen Katastrophenmeeting</a> nach einem kleinen Erdbeben in der Nähe von Istanbul eingeladen wurde. Andererseits lud Erdoğan demonstrativ alle Bürgermeister*innen zu einem <a href="https://news.sol.org.tr/erdogan-meets-metropolitan-mayors-his-presidential-palace-chp-mayors-pleased-176181">versöhnlichen Treffen</a> „zum Wohle der Türkei“ in seinen Palast ein und die Vertreter*innen der Opposition verzichteten dort wie im Allgemeinen auf eine kämpferische Haltung.</p><p>Diese Tendenzen in Staat und Gesellschaft korrespondieren mit den sich verschiebenden Kräfteverhältnissen und den Widersprüchen innerhalb des herrschenden Blocks nach den Lokalwahlen. Der Krieg wurde in dieser Situation zu einer, ja sogar zu<i> der</i> Möglichkeit, die Kräfteverhältnisse wieder im Sinne des Regimes zu verschieben.</p><h2><b>Ein Krieg um der Macht willen</b></h2><p>Die Hegemoniekrise ging so weit, dass sich sogar in <a href="https://www.yeniakit.com.tr/yazarlar/abdurrahman-dilipak/bu-kadar-bakan-cok-degil-mi-29728.html">regimetreuen Medien</a> <a href="https://haber.sol.org.tr/turkiye/havuz-medyasinda-baskanlik-tartismasi-napicaz-be-kamil-265972">kritische Stimmen</a> zum „Präsidialsystem“ vernehmen ließen. Zeitgleich ließ die AKP selbst <a href="http://bianet.org/english/print/213844-erdogan-on-presidential-election-with-40-percent-threshold-it-is-parliament-s-job">ausloten</a>, ob in Zukunft 40 statt wie bisher 50 Prozent der Stimmen in der ersten Runde zur Wahl des Präsidenten/der Präsidentin ausreichen sollten. Dies wurde wiederum vom eigenen Hauptbündnispartner, der Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), <a href="http://www.hurriyet.com.tr/gundem/yuzde-40-1-tartismasi-41342754">kritisiert</a>, weil es ein Ausdruck von Schwäche sei. Dazu kamen einige Umfragen, die einen <a href="https://ahvalnews.com/recep-tayyip-erdogan/erdogans-approval-rating-sees-sharp-drop-last-year-survey">signifikanten Rückgang in der Zustimmung</a> zu Erdoğan selbst feststellten. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, wurde die Kriegsoption noch mehr zum Imperativ für das Regime als zuvor. Die Türkei begann, die USA hinsichtlich einer Militäroperation zu drängen und bekam letztendlich grünes Licht, nachdem zuvor eigentlich die Errichtung einer Sicherheitszone an der syrisch-türkischen Grenze mit gemeinsamen türkisch-amerikanischen <a href="https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/usa-und-tuerkei-starten-gemeinsame-patrouillen-in-nordsyrien-135587011">Militärpatrouillen</a> ausgemacht worden war. Es ist allerdings offensichtlich, dass verschiedene Fraktionen in den US-Staatsapparaten hinsichtlich der Syrienpolitik in Konflikt zueinander stehen. Insgesamt <a href="https://www.srf.ch/news/international/erste-tote-und-viel-kritik-tuerkei-marschiert-in-syrien-ein-das-protokoll-zum-nachlesen">gibt es kaum internationale Unterstützung</a> für den Einmarsch der Türkei. Abgesehen von bisher sehr <a href="https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/donald-trump-und-recep-tayyip-erdogan-harmlose-massnahmen-gegen-tuerkische-wirtschaft-a-1291637.html">zaghaften US-Sanktionen</a> nach der ersten Tagen der Militärinvasion und der Ankündigung einiger Länder (die ohnehin keine großen Waffenlieferanten sind) zukünftige <a href="https://www.deutschlandfunk.de/sanktionen-gegen-die-tuerkei-liefert-deutschland-nun-noch.1939.de.html?drn:news_id=1058922">Waffenexporte in die Türkei zu stoppen</a>, blieben die internationalen Reaktionen bisher jedoch auf rhetorischer Ebene. Das Regime in der Türkei sieht sich jedenfalls im Angesicht seiner Hegemoniekrise so sehr mit dem Rücken an die Wand gedrängt, dass es sich trotz mangelhafter internationaler Unterstützung dazu entschied, große Risiken und potentielle Konflikte mit seinen internationalen Verbündeten in Kauf zu nehmen und mit dem Einmarsch militärisch „Fakten“ zu schaffen. Er dient also auch dem Zweck, sich im Inland erneut zu festigen, bevor eine veränderte internationale Konstellation andere Handlungsweisen erzwingen könnte.</p><p>Das Kalkül scheint vorerst aufzugehen: Es gibt eine anscheinend hohe Zustimmung zum Militäreinmarsch – dies wird durch <a href="https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/10/syria-turkish-military-offensive-risks-a-humanitarian-catastrophe/">Maßnahmen</a> wie der Festnahme von Menschen, die sich kritisch zum Krieg äußern und einer de facto gleichgeschaltete Medienlandschaft abgesichert. Wie zu erwarten war, desavouierte sich auch die gesamte parlamentarische Opposition abseits der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) selbst und stimmte in den Chor der chauvinistischen Euphorie und Kriegstreiberei mit ein. Die rechts-nationalistische Gute Partei (İYİ Parti, İP) genauso wie die islamistische Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi, SP) und auch die Hauptoppositionspartei CHP segneten den Krieg im Parlament und rhetorisch ab. In den Einheitsbrei der säbelrasselnden „nationalen Einheit“ gesellten sich auch der Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu und der vorgeblich „linke“ Bürgermeister von Izmir, Tunç Soyer (beide von der CHP). Nur eine Minderheit in der CHP wie der kurdische Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu – der dafür auch schon <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-main-opposition-deputy-faces-inquiry-147510">rechtliche Konsequenzen</a> zu tragen hat – oder die Istanbulvorsitzende der CHP, Canan Kaftancıoğlu, sprachen sich gegen den Krieg aus. Wieder einmal zeigt sich damit im Zuge des Militäreinmarsches auf erbärmliche Weise, dass alle Parteien der bürgerlichen Ordnung in der Türkei sich vereinigen, sobald es gegen die „Gefährdung der Existenz des Staates“ geht. In dieser Hinsicht ist es unmöglich, kemalistische und islamistische Tendenzen verschiedener Couleur voneinander zu unterscheiden, obwohl es sich – folgt man dem lange dominanten liberalen Verständnis – bei diesen angeblich um die sich widersprechenden und im Kampf miteinander stehenden beiden politischen Hauptfraktionen in der Türkei handeln soll.</p><p>Es geht bei diesem Krieg aber nicht um die „Existenz des Staates“. Es ist weder ein Krieg zur „Verteidigung der Türkei“ gegen eine unmittelbare „terroristische Bedrohung“, noch ein Krieg, um die „Quellen des Friedens“ sprudeln zu lassen.<b> [1]</b> Es ist ein Krieg der rechtsradikalen Kräfte in der Türkei zur Rückgewinnung ihrer verlorengegangenen Initiative und zu ihrer erneuten Institutionalisierung. Es ist also ein Krieg um des Faschismus’ Willen.</p><p>Während die Mobilisierung chauvinistischer Reflexe im Zuge der Lokalwahlen nicht mehr ausreichte, um popularen Konsens zum Regime zu errichten, so hilft die „Opposition“ jetzt durch ihre Zustimmung und Unterstützung der Kriegstreiberei daran mit, dass dies wieder möglich wird. Sie ermöglicht so die Re-Stabilisierung eines kriselnden Regimes, anstatt sich mit dessen Gräueltaten direkt auseinanderzusetzen und die Möglichkeit chauvinistischer Massenmobilisierung als Form der Politik abzuschaffen.</p><h2><b>Destabilisierung und Restabilisierung</b></h2><p>Der Krieg und die Schützenhilfe seitens des Großteils der parlamentarischen Opposition ermöglichen es dem Regime derzeit, die aufplatzende Krisenhaftigkeit gekonnt zu überspielen und zumindest temporär zu lösen. Zum Beispiel die Wirtschaftskrise. Wie wir <a href="https://www.jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">bereits zuvor analysiert</a> haben, waren regelmäßige Währungsschocks als Folge eines schuldengetriebenen neoliberalen Modells eine der Hauptquellen der Destabilisierung der Ökonomie. Der private Sektor, dessen Auslandsverschuldung in etwa 40 Prozent des BIP entspricht, sieht sich permanent der Bedrohung des Bankrottes gegenüber und plagt sich mit Schuldenrückzahlungen. Gegenteilig zu den offiziellen Erklärungen der Regierungsverantwortlichen, die von Rebalancing und einer starken Erholung sprechen, <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-industrial-output-slips-in-august-147466">schrumpft die Industrieproduktion</a>, ein wichtiger ökonomischer Indikator, seit Anfang 2019 im Vergleich zur selben Periode des Vorjahres.</p><p>Dazu befinden sich verschiedene Fraktionen des Kapitals hinsichtlicher finanzieller Rettung und Sanierung in Konkurrenz zueinander, während sie andererseits das gemeinsame Ziel der Verstaatlichung der Schulden teilen. Jüngst kam es zu <a href="https://www.evrensel.net/haber/388372/zam-yagmuru-suruyor-tren-ve-posta-ucretlerine-yuzde-20-zam-geldi">Preis- und Steuererhöhungen zwischen 15 und 25</a> Prozent bei Transport, Gas, Milch, Zucker, Mautgebühren und Elektrizität. Bei letzterem kam es in den letzten zwei Jahren sogar zu einem Preisanstieg von insgesamt 60 Prozent. Kurz, in beinahe allen wichtigen Bereichen des Alltagslebens gibt es massive Preissteigerungen, ohne dass diese zur Genüge durch Lohnsteigerungen abgefedert würden. Dennoch <a href="https://ahvalnews.com/inflation/turkeys-consumer-inflation-falls-sharply-single-digits">erklärte die Regierung</a> vor Kurzem, dass – wohl mit etwas „Magie“ in der Berechnung – die Inflation in den einstelligen Bereich gesunken sei.</p><p>Diese fortdauernde Wirtschaftskrise, die sich unter anderem in einem langsamen aber stetigen Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung ausdrückt und nicht in einem plötzlichen Kollaps, trug mit Sicherheit zur schwindenden Popularität von Erdoğan und seiner Partei bei.</p><p>Der Angriff auf Rojava dient somit auch der Ablenkung von den ökonomischen Problemen. Nichts eignet sich dafür so gut wie eine Konsolidierung der Nation gegen den „ewigen Feind“: Schon hat die CHP eine für den 12. Oktober geplante <a href="https://www.birgun.net/haber/suriye-operasyonu-sonrasi-kazdaglari-ndaki-miting-iptal-edildi-271960">Großdemonstration</a> im Ida-Gebirge gegen die Abholzung desselben für den Bau einer Goldmine abgesagt, obwohl die Kommune in ihrer Hand ist und es noch nicht einmal zu einem offiziellen Verbot der Demo kam. Ihre Begründung dafür war, dass nun die „Zeit für eine nationale Einheit“ sei. Auch spricht niemand mehr über den <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-49984537">Protestmarsch</a> der Bergarbeiter*innen von Soma nach Ankara: Diese wurden nach dem schweren Grubenunglück 2013 mit 301 Toten ohne Gründe entlassen und erhielten nie eine Abfertigungszahlung. Seitdem leisten sie Widerstand und fordern ihre Rechte ein.</p><p>Eine eventuelle Besetzung Rojavas ist aber auch unmittelbar ökonomisch lukrativ für die Türkei. Direkt nach Erdoğans <a href="https://www.theguardian.com/world/2019/sep/24/erdogan-proposes-plan-for-refugee-safe-zone-in-syria">offizieller Erklärung</a> seiner Besatzungspläne bei der UN Generalversammlung Ende September veröffentlichte sein Büro eine Broschüre mit detaillierten Projekten für die besetzten Gebiete. Laut dieser sei es notwendig, vor der Ansiedlung von zwei Millionen Flüchtlingen etwa <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/turkey-syria-who-will-pay-for-syrian-refugees-resettlement.html">26 Milliarden US-Dollar</a> (151 Milliarden Türkische Lira) in Infrastruktur und Gebäude zu investieren. Es braucht nicht extra betont zu werden, dass das türkische Kapital auf diese (vermutlich staatlich unterstützte) Chance mit großer Vorfreude wartet. Dies ist einer der Gründe, warum <a href="https://www.artigercek.com/haberler/patronlar-suriye-ye-askeri-harekata-destek-cikti">alle Vertreterorganisationen</a> des Kapitals ihre volle Unterstützung zum Krieg und für die „heroische Armee“ gegeben haben.</p><p>Letztlich ist es klar, dass das Regime nicht nur sich und seine Verbündeten stärken, sondern auch die Opposition spalten und schwächen will. Kurd*innen und Linksliberale werden sich von den kriegsunterstützenden Teilen der Opposition natürlicherweise distanzieren, aber eventuell werden auch die Alevit*innen nachziehen, weil sie die Zusammenarbeit mit Jihadisten im Rahmen der Militärinvasion ablehnen. Diese Abwendung wäre aber gleichzeitig eine Chance für die antimilitaristischen Teile der Opposition, die allerdings von Dauerrepression betroffen sind. Seit Wochen mokieren sich regimetreue Medien und einige anti-kurdische oppositionelle Zirkel über eine angebliche Annäherung von CHP und HDP. Schon in den ersten Tagen des Krieges wurden <a href="https://www.turkishminute.com/2019/10/11/turkey-detains-121-social-media-users-for-criticism-of-syria-incursion/">über hundert Menschen wegen Postings</a> in Sozialen Medien festgenommen, weil sie sich in irgendeiner Form kritisch geäußert hatten – etwa, indem sie von einem „Krieg“ statt von einer „Operation gegen den Terror“ sprachen. Innenminister Süleyman Soylu <a href="https://www.turkishminute.com/2019/10/11/turkey-detains-121-social-media-users-for-criticism-of-syria-incursion/">drohte sogar</a>: „Von einem Krieg zu sprechen, ist Verrat.“ Auch <a href="https://cpj.org/2019/10/turkey-bans-critical-reports-on-military-operation.php">zwei Journalisten von der linken</a> Tageszeitung<i> BirGün</i> und der liberalen Onlineplattform<i> Diken</i> wurden in Gewahrsam genommen, darüber hinaus einige Journalist*innen, die für pro-kurdische Agenturen arbeiten.</p><p>Der Faschismus ist ein Monster, das sich von Gemetzel und Krieg nährt und jede Opposition, egal ob rechts oder links, ja, sogar seine eigenen Elemente zu verschlingen versucht. Genau deswegen muss ihm mit Widerstand an allen Fronten entgegnet werden und nicht mit Appeasement. Die Systemopposition, vor allem die CHP, nutzte ihre gewonnene Initiative nach den Lokalwahlen nicht. Sie versuchte, das Monster mit einem Kompromiss nach dem anderen zu „zähmen“. Dabei ist auch die CHP vom wiedererstarkenden Faschismus akut bedroht: Der Chef der faschistischen MHP und Hauptverbündete Erdoğans, Devlet Bahçeli, <a href="https://ipa.news/2019/10/05/erdogan-ally-suggests-lifting-main-opposition-leaders-parliamentary-immunity/">machte unlängst klar,</a> dass aufgrund der angeblichen Annäherung zwischen CHP und HDP „der Weg frei [sei] für die Aufhebung der Immunität Kılıçdaroğlus [Chef der CHP, Anm. d. Autoren]“, sprich für seine Inhaftierung. Glaubt die CHP-Führung wirklich, dass sie vom Monster des Faschismus verschont wird, wenn sie jetzt nur brav dem Krieg zustimmt?</p><h2><b>Kein Welthegemon mehr – oder: Wem gehört die Welt?</b></h2><p>Zurück zur USA und ihrer Entscheidung, der Türkei grünes Licht für die Militärinvasion zu geben. Es steht fest, dass die Entscheidung, so widersprüchlich sie auch sein mag, nicht nur auf die Verrücktheit von Trump zurückzuführen ist. Tatsächlich ist der US-Imperialismus selbst in Widersprüche verstrickt: Ein Teil des herrschenden Machtblocks, nämlich der „internationalistisch-interventionistische“, hegt den Wunsch, eine globale Weltordnung aufrechtzuerhalten, in der die USA die Staaten und Institutionen der westlichen kapitalistischen Hemisphäre anführt. Ein zweiter Block scheint davon überzeugt zu sein, dass Unilateralismus und Autarkie die bestmöglichen Ansätze sind, um Weltmacht und Profite zu gewährleisten. Während die eine Tendenz innerhalb der US-Eliten versucht, so viele Akteure wie möglich davon zu überzeugen, mit den USA zusammenzuarbeiten, um sie auf diese Weise an sich zu binden – darunter auch die Kurden in Syrien als vermeintliches Ass gegen Assad und den Iran und eventuell sogar die Türkei –, versucht die andere Tendenz wiederum, das internationale Engagement der USA so weit wie möglich zu reduzieren und Verantwortung und sicherheitspolitische Funktionen auf andere Staaten zu übertragen – in diesem Fall den alteingesessenen NATO-Partner Türkei. Tatsächlich ist diese mittlerweile schärfer hervortretende Widersprüchlichkeit innerhalb der Staatsapparate der USA selbst ein Produkt der Erosion der weltweiten Hegemonie der USA, die selbst wiederum mit der Krise des imperialistischen Weltsystems im Zusammenhang steht. Seit dem Ende der Sowjetunion emanzipieren sich die ehemaligen Alliierten der USA und stellen eigene Geltungsansprüche, wobei die Weltwirtschaftskrise ab 2007 und ihre Folgen die zentrifugalen Kräfte gestärkt haben.</p><p>Unabhängig davon, was diese Widersprüche für den US-Imperialismus bedeuten: Derzeit scheint Russland am meisten von den Entwicklungen in Syrien zu profitieren. Am Sonntag <a href="https://foreignpolicy.com/2019/10/13/kurds-assad-syria-russia-putin-turkey-genocide/">kündigte die SDF an</a>, dass sie sich auf eine Zusammenarbeit mit Assad (und Russland) geeinigt habe, um den „genozidalen“ Vormarsch der Türkei und ihren jihadistischen Verbündeten zu verhindern.</p><p>Aus russischer Sicht stellt sich die Lage einerseits so dar, dass die kurdischen Kräfte in Syrien vollkommen von den Vereinigten Staaten abgeschnitten zu sein scheinen, da sie die USA des Verrats bezichtigen. Andererseits stärkt Trumps Entscheidung, sich aus Syrien zurückzuziehen, die Position Russlands als wichtigem imperialistischen Akteur in der Region. Hinzu kommt, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA vor dem Hintergrund stärker werdender politischer Reaktionen seitens der „internationalistisch-interventionistischen“ Tendenz innerhalb der US-Eliten auf die Invasion und einiger <a href="https://www.nytimes.com/aponline/2019/10/14/us/politics/ap-us-united-states-syria-the-latest.html?searchResultPosition=2">Sanktionen politischer und ökonomischer Art</a> weiter untergraben werden.</p><p>Es versteht sich von selbst, dass das Zustandekommen und Vergehen der Allianzen zwischen diesen souveränen Mächten mit (sub-)imperialistischen Interessen auf dem Hintergrund einer sich in einer Übergangsperiode befindenden imperialistischen Weltordnung einem Puzzle gleichen. Daher können sich die Gleichgewichte jederzeit – den Umständen entsprechend – ändern. In einer Zeit aber, in der Unsicherheit herrscht und sich Gleichgewichte und Allianzen in kürzester Zeit verschieben, ist keine einzelne Macht in der Lage, den gesamten Prozess zu begreifen und zu kontrollieren. Einige Entscheidungen sind dabei schlichtweg Fehler, während die Logiken, die am Werk sind, nicht mehr jene der „normalen“ altbekannten Zeiten sind.</p><h2><b>Gegen den Faschismus sein hei</b>ß<b>t, gegen den Krieg zu sein</b></h2><p>Während wir diesen Artikel fertigstellen, schreiten die Streitkräfte Syriens in Richtung Norden vor und nähern sich der türkischen Grenze. Erste Gefechte zwischen den geeinten türkisch-jihadistischen und den geeinten kurdisch-syrischen Kräften eruptieren an der Front zu Manbidsch. Bisher ist die syrische Armee aber noch kaum zu den zentralen Gefechtspunkten Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn vorgerückt (Stand: 16.Oktober 2019). Dabei ist es durchaus möglich, dass sich die syrische Armee zu erst auf die Sicherung der weniger umkämpften Zonen konzentriert und die SDF alleine lässt mit der türkischen Offensive zwischen Gire Spî/Tal Abyad und Serê Kaniyê/Ras al-Ayn. Dieses Vorgehen lässt sich aus einer Übersetzung der mutmaßlichen <a href="https://twitter.com/jenanmoussa/status/1184196900934815744?s=12&fbclid=IwAR1yf8QZjhIHUhwqls_BtTif132hOtnM27TrUHqEza0ayInBWIZktKJmhPs">Vereinbarung</a> zwischen SDF und SAA schließen. Ebenfalls ist unklar, ob und inwieweit sich Assad und die SDF auf politischer Ebene auf eine gemeinsame Verfassung werden verständigen können – oder zumindest auf eine solche hinarbeiten werden.</p><p>Es ist nicht nur die Zukunft Nordsyriens, die dabei im Unklaren bleibt. Die Welt könnte durchaus Zeugin eines aus seinen Aschen emporsteigenden IS werden. Und was viele Linke weltweit als „Revolution von Rojava“ mit Euphorie begrüßten, könnte in den Trümmerfeldern des Krieges begraben werden.</p><p>Der Krieg in Nordostsyrien wirkt sich aber auch maßgeblich auf die Türkei aus, was vielerorts nicht ernst genug genommen zu werden scheint: Falls die militärische Invasion gelingen sollte, werden Erdoğan und seine faschistischen Verbündeten ihre Macht enorm steigern können. Der gesamte politische Boden, der in den letzten Monaten und Jahren im Kampf gegen das Regime gewonnen wurde, könnte somit verloren gehen. All die kleinen und vereinzelten Siege und die allgemeine Erleichterung, dass der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes angekratzt wurde, würden in der Dunkelheit versinken und in Vergessenheit geraten. Es ist deshalb von größter Bedeutung, sich gegen die derzeitige militärische Invasion der Türkei in Nordostsyrien zu stellen – denn nur so kann verhindert werden, dass der Faschismus in der Türkei selbst an Boden gewinnt.</p><p></p><hr/><p></p><p><b>Anmerkungen:</b></p><p><b>[1]</b> Die Invasion heißt in menschenverachtendem Zynismus <i>Operasyon Barış Pınarı</i>, Operation Friedensquelle.</p></div>
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Politisches Erdbeben in Istanbul2019-06-25T13:23:42.152968+00:002019-06-27T08:05:28.218835+00:00Alp Kayserilioğlu und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/politisches-erdbeben-istanbul/
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<div class="rich-text"><p>Die Neuwahl des Bürgermeisteramts von Istanbul am 23. Juni 2019 endete mit einem Erdrutschsieg für den Kandidaten der Opposition, Ekrem Imamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP). Laut <a href="http://www.hurriyet.com.tr/secim/23-haziran-2019-yerel-secimleri/istanbul-secim-sonuclari/">vorläufigen Ergebnissen</a> wuchs der ursprüngliche Abstand zwischen Imamoğlu und dem Regimekandidaten Binali Yıldırım von 13.000 Stimmenunterschied bei der ersten Wahl vom 31. März auf erstaunliche 806.426 Stimmen an. Während am 31. März die Auszählung der Stimmen für Imamoğlu 48,8 Prozent gegenüber 48,55 Prozent für Yıldırım ergab, ist der Unterschied nun auf 54,21 Prozent der Stimmen gegenüber 44,99 Prozent der Stimmen angewachsen. Das Ergebnis stellt somit eine vernichtende Niederlage für das Regimelager dar. Das letzte Mal, als ein solch extremes Umschlagen des Wahlverhaltens und überhaupt der Stimmung im Lande stattfand, war bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015, bei denen die AKP erstmalig seit ihrem Bestehen eine empfindliche Niederlage einstecken musste. Dabei wurden die Neuwahlen für Istanbul gerade deshalb eingeräumt, um, <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-secim-yenilenirse-istanbul-u-aliriz,819245">so Erdoğan</a>, eine Wiederholung eines Ereignisses ähnlich des damaligen Wahldesasters auszuschließen. Was ist diesmal schiefgelaufen aus Perspektive des Regimes?</p><h2><b>Das politische Kalkül der Neuwahlen</b></h2><p>Wie wir stets <a href="https://www.jacobinmag.com/2018/01/turkey-erdogan-akp-chp-kurds">hervorheben</a>, befindet sich die Türkei in einer Hegemoniekrise, in der der herrschende Block einen Faschisierungsprozess in Gang setzt, um die kriselnde soziale und politische Ordnung wieder zu stabilisieren. Dabei schaffen sie es aber nicht, gesellschaftlichen Unmut und Opposition auszutrocknen, im Gegenteil: mit jedem neuen Faschisierungsschub verschärfen sich diese. Bei solch fragilen Bedingungen können Wahlen zu einem großen Risiko für den Machtblock werden – und zwar nicht nur in Hisicht auf verändertes Wahlverhalten, sondern im Sinne eines Umschwungs der allgemeinen Stimmung. <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-erken-secim-istedi-tarih-onerdi,607245">Tatsächlich</a> wurde vom Regime ja auch die Möglichkeit „unerwünschter“ Ergebnisse bei den Lokalwahlen im März 2019 als einer der Grund dafür angegeben, die eigentlich im November 2019 stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den Juni 2018 vorzuziehen.</p><p>Dennoch waren die Lokalwahlen vom 31. März von <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">großer Bedeutung</a>, da sie zugleich als eine Wahl über den politischen Kurs der Faschisierung oder, um es einmal im Regime-Jargon auszudrucken, als eine Wahl über die „Fortexistenz des Staates“ begriffen wurden. Trotz weitflächiger Repression und Drohgebärden signalisierten die <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">Ergebnisse</a> der Wahlen vom 31. März einen Stimmungsumschwung: Die herrschende Allianz aus der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen<i> Cumhur Ittifakı</i> (Volksallianz) verlor alle Großstädte an den Hauptoppositionsblock<i> Millet Ittifakı</i> (Allianz der Nation), bestehend aus CHP und der MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI) – inklusive der umkämpften Hauptstadt Ankara und dem Zentrum Istanbul. Wie <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/bekir-agirdir/iktidar-bloku-secmeni-rahatsiz-ve-partilerini-sorgulamaya-basladi,22193">Wähler*innenanalysen</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/bekir-agirdir/moral-ustunluk-ilk-kez-muhalif-bloka-gecti,22185">aufzeigen konnten</a>, waren es dabei vor allem AKP-Wähler*innen, die zu Hause blieben, sowie <a href="https://t24.com.tr/video/secimin-merak-edilen-kurt-oylari-kutlama-icin-beyoglu-ndaydi-dusersem-bu-kavgada-dosta-anlatin-beni,20044">kurdische Wähler*innen</a> der explizit von der Allianz der Nation ausgeschlossenen linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), die für Imamoğlu wählten, die das Wahlergebnis entschieden.</p><p>Noch in der Wahlnacht ließ Erdoğan in <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-aciklama-yapiyor,814850">mehreren</a> <a href="https://www.cnnturk.com/video/turkiye/son-dakika-cumhurbaskani-erdogan-balkon">Reden</a> durchklingen, dass er das Ergebnis eventuell anerkennen würde. Er verwies darauf, dass die gewählten Bürgermeister*innen der Opposition sowieso nicht einfach so regieren könnten, da die Volksallianz die Mehrheit in den jeweiligen Munizipalräten hielte. Jene Bürgermeister*innen seien deshalb „<a href="https://www.sozcu.com.tr/2019/gundem/erdogandan-istanbul-yorumu-bunlar-topal-ordek-4286421/">lahme Enten</a>“. <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/koseyazisi/1328893/Pelikancilar_neden_saldiriyor.html">Andere Fraktionen</a> <a href="https://www.fr.de/politik/tuerkei-mysterioesen-pelikanisten-spur-12191107.html">innerhalb</a> des Regimes lehnten jedoch die Wahlergebnisse in Istanbul vehement ab und sprachen von weitflächigem Betrug und dergleichen. Sie erkannten die Gefahren, die auch schon allein mit „lahmen Enten“ einhergehen würden: Die Opposition hätte dann die Möglichkeit, <a href="https://www.sozcu.com.tr/2019/yazarlar/cigdem-toker/tam-israf-ve-yolsuzlugu-anlatacakti-ki-4884551/">teils jahrzehntelange</a> Netzwerke der Korruption, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/moody-s-ve-fitch-raporlarinda-istanbul-buyuksehir-belediyesi-nin-agir-borc-yuku,22182">Misswirtschaft</a> und <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/05/turkey-saadet-party-elections.html">Vetternwirtschaft</a> und die <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/turkiye/1452586/25_yilda_yasanamaz_hale_getirdiler__istanbul_butun_kriterlerde_son_siralarda.html">stadtplanerischen Desaster</a> Erdoğans beziehungsweise der AKP aufzudecken; sowie die Möglichkeit, den riesigen Apparat der Großstadtverwaltung zu nutzen, um bürgernahe Politik zu machen und sich damit mittelfristig als eine Alternative zu präsentieren. Diesen Stimmen war bewusst, dass all dies vor allem sehr schnell zu einem allgemeinen Stimmungsumschwung von deprimierter Angst hin zu kämpferischem Optimismus führen könnte.</p><p>Die AKP reichte zuerst Anträge zu einer Neuauszählung von nur einem Teil der Wahlurnen und später aller Wahlurnen in Istanbul ein. Als all dies das Ergebnis nicht wesentlich änderte, reichte sie einen außerordentlichen Antrag zu Annullierung und damit der Anberaumung von Neuwahlen für Istanbul ein. Dennoch brauchte es mehr als einen ganzen Monat, bis die Entscheidung darüber mit <a href="https://t24.com.tr/haber/ysk-gerekceli-kararini-acikladi-sayim-dokum-cetvelleri-muzakerede-konu-edilmedi-gerekceye-konuldu,822592">Beschluss</a> der Höchsten Wahlbehörde (YSK) vom <a href="https://revoltmag.org/articles/erdo%C4%9Fans-ziviler-putschversuch/">6. Mai</a> Realität wurde. In der Zwischenzeit war Imamoğlu schon für 18 Tage als amtierender Bürgermeister tätig gewesen. Dass das Regime nicht einmal mehr „lahme Enten“ tolerieren kann, zugleich aber mehr als einen ganzen Monat braucht, um eine Wahl zu annullieren, zeigt auf, wie inflexibel einerseits, wie unsicher andererseits ihre Macht geworden ist.</p><h2><b>Das Interregnum</b></h2><p>Als Erdoğan noch wenige Tage vor der Entscheidung der YSK, die Wahlen tatsächlich im Sinne von Erdoğan zu annullieren, für eine Neuwahl argumentierte, klang er noch recht <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-secim-yenilenirse-istanbul-u-aliriz,819245">optimistisch</a>: Er verwies ganz explizit auf den 7. Juni 2015 und sagte, dass sie ja auch damals den Gang der Ereignisse umdrehen konnten. Weil die Periode nach jenem 7. Juni eine Serie an IS-Bombenattentaten, massiven Repressionen, einen rücksichtslosen Krieg in mehrheitlich kurdischen Städten und letztlich tausenden Toten mit sich brachte, gingen Kommentator*innen wie wir davon aus, dass auch diesmal die Gewaltspirale eskalieren würde. Allerdings blieb es relativ ruhig – bis auf den Versuch eines organisierten Mobs am 22. April, den CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu zu <a href="https://bianet.org/english/politics/207710-attack-against-chp-chair-kemal-kilicdaroglu-at-the-funeral-of-a-soldier">lynchen</a>. Bis auf eine vergleichsweise begrenzte und noch fortdauernde Militäroperation in die Kandilberge im Irak kam auch die Kriegsoption nicht auf den Tisch: Obwohl das Regime seit geraumer Zeit sehr klar artikuliert, dass es auch in die restlichen Teile Nordsyriens/Rojavas einmarschieren will, die sich in der Kontrolle der PYD und der SDF befinden, kam kein grünes Licht für eine solche Invasion seitens Russlands und vor allem seitens der USA. Zu einem Alleingang traute sich die Türkei bisher nicht.</p><p>Es ist plausibel anzunehmen, dass eine Gewalt- und Repressionsspirale ähnlich der nach dem 7. Juni 2015 schlicht deshalb nicht einsetzte, weil das Regime nicht mehr die Macht dazu hatte und die Kräfteverhältnisse heute andere sind. Die multiplen Krisen haben sich seitdem verschärft: Die Beziehungen mit den USA sind stark angeschlagen, die ökonomische Krise in ihren alltäglichen Auswirkungen ist viel gravierender geworden und der Unmut auch innerhalb der AKP- und MHP-Basis ist zwischenzeitlich so weit verbreitet, dass die Entscheidung zur Wahlannullierung weitestgehend als illegitim aufgefasst wurde und öffentliche Umfragen <a href="https://t24.com.tr/haber/mak-danismanlik-istanbullulara-sordu-secim-iptal-edilir-mi,817760">ergaben</a>, dass viele Volksallianz-Wähler*innen am 23. Juni anders wählen würden. Dazu kamen <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/04/turkey-opposition-wins-municipal-elections.html">Gerüchte</a>, wonach die unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der AKP wegen des <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/1337780/AKP_de_ic_tartisma__Her_tekrar_1_Kasim_olmaz.html">Umgangs mit den Wahlresultaten</a> <a href="https://yetkinreport.com/2019/04/07/istanbul-secimine-dair-son-duyumlar-ve-turkiyenin-onundeki-8-sicak-gun/">einander</a> <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/1354117/istanbul_da_secimlerin_yenilenmesi_icin_YSK_ye_basvuran_AKP_de_gorus_birligi_olusmuyor.html">an die Haare</a> gingen – wobei dieser Konflikt manchmal sogar <a href="https://t24.com.tr/haber/abdulkadir-selvi-31-mart-ta-cumhur-ittifaki-nin-yuzde-52-si-de-sandik-darbesi-mi,815863">öffentlich wahrnehmbar</a> über die Medien ausgetragen wurde. Unter solchen Bedingungen schaffte es das Regime nicht, die Initiative zu übernehmen und nach vorne zu preschen wie in ähnlichen Situationen der letzten Jahre. Erdoğan hielt sich überraschenderweise <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/opinion/serkan-demirtas/akp-changes-strategy-for-istanbul-rerun-polls-144109">gleich ganz zurück</a> aus dem Wahlkampf, angeblich, weil ihm seine Berater*innen zu verstehen gaben, sein aggressives und polarisierendes Auftreten habe negative Auswirkungen gehabt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wollte er sich und seine Partei dadurch auch von Yıldırıms Anwärterschaft auf das Bürgermeisteramt distanzieren, um so der Wahlwiederholung einerseits einen Anstrich der „Normalität“ zu geben und andererseits sich und seine Partei vor Schaden zu schützen für den Fall, dass Yıldırım nicht gewinnen würde.</p><p>Die AKP schaffte es somit nicht, die Wahlkampagne so zu führen, wie sie es aus den Jahren zuvor gewohnt war. Sie konnte die Initiative nicht ergreifen und machte einen schwachen und verwirrten Eindruck. Die Opposition nutzte die Situation aus und konnte das Narrativ glaubwürdig vertreten, dass ihr das Bürgermeisteramt illegitimerweise genommen wurde. Die letzten Versuche der AKP, den Trend umzukehren – <a href="https://t24.com.tr/haber/mak-ve-optimar-istanbul-la-ilgili-son-durumu-paylasti,821108">alle Wahlforschungsinstitute</a> kamen zum Ergebnis, dass Yıldırım verlieren würde – waren verzweifelt und halbgar: Zum einen wurde seitens der AKP zum ersten Mal nach 17 Jahren an der Macht ein TV-Duell zwischen dem eigenen Kandidaten und dem Oppositionskandidaten zugelassen. Während das Duell dazu dienen sollte, den „Normalitäts“-Anstrich zu stärken und in Teilen die AKP als „Opfer“ böser Machenschaften darzustellen, ging diese Rechnung nicht auf. Wenige Tage vor den Wahlen kehrte Erdoğan zudem <a href="https://t24.com.tr/haber/sonar-genel-muduru-nden-anket-aciklamasi-akp-nin-calistigi-4-5-anket-sirketinden-aldigim-bilgilere-gore,826955">doch wieder zurück</a> auf die Bühne, in gewohnter extrem aggressiver Manier gegenüber der Opposition. In letzter Minute wurde dann noch der verzweifelte Versuch gemacht, die „<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/opinion/serkan-demirtas/will-a-last-minute-kurdish-move-help-erdogan-in-istanbul-polls-144381">kurdische Karte</a>“ auszuspielen: Eine leicht mehrdeutige Botschaft des inhaftierten kurdischen Führers Abdullah Öcalan an die HDP, in der er dieser empfahl, sich auf den Aufbau eines eigenständigen demokratischen Poles zu konzentrieren und „<a href="http://sendika63.org/2019/06/ocalandan-aciklama-hdp-kendi-yolunu-korumali-551967/">unparteiisch</a>“ zu bleiben, wurde von der regimetreuen Presse als Aufruf Öcalans an die Kurd*innen lanciert, Imamoğlu nicht zu wählen. Erdoğan und Bahçeli meinten sogar, <a href="https://www.bbc.com/turkce/live/haberler-dunya-48706421">einen</a> „<a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ocalan-ve-demirtas-arasinda-iktidar-savasi-var,826988">Machtkampf</a>“ zwischen Öcalan und dem Rest der kurdischen Bewegung ausmachen zu können. Als klar wurde, dass sich Öcalans Botschaft hauptsächlich auf strategische Perspektiven konzentrierte und er explizit deutlich machte, dass die HDP selber entscheiden müsse, welche Haltung sie zu den Wahlen einnimmt, gerieten die Regimekräfte in Panik. Alle diese letzten Aktionen nutzten im Endeffekt nichts.</p><h2><b>Der Wind dreht sich</b></h2><p>Der frische Wind des Wandels, der sich in den Ergebnissen vom 31. März ausdrückte, braute sich am 23. Juni zu einem gewaltigen Sturm zusammen, der das Regime kräftig durchschüttelte. Es bedarf noch detaillierterer und ausführlicherer Untersuchungen zum Wähler*innenverhalten und zur Wähler*innenstromanalyse, aber einige Aspekte können jetzt schon hervorgehoben werden: Imamoğlu erhöhte seinen Stimmenanteil in de facto <a href="https://t24.com.tr/haber/secim-sonuclari-imamoglu-ibb-baskani-secildi-erdogan-in-kaybi-turkiye-siyasetinin-yol-haritasini-nasil-etkileyecek,827420">allen Bezirken</a> um zwischen drei und zehn Prozent. Das zeigt, dass die Abwendung von der AKP mehr oder weniger alle Wähler*innenschichten umfasst, da auch die Wahlbeteiligung nur geringfügig gestiegen war. Imamoğlu gewann letztlich 28 der 39 Bezirke in Istanbul, Yıldırım nur 11. Am 31. März war Yıldırım noch in 23 Bezirken vorne gelegen und Imamoğlu nur in 16! Der Anstieg der Stimmen in CHP-Hochburgen wie Beşiktaş, Kadıköy oder Şişli liegt sicherlich an der höheren Wahlbeteiligung in diesen Bezirken, was darauf schließen lässt, dass desillusionierte Wähler*innen mobilisiert werden konnten; der Anstieg in konservativ-religiösen Bezirken wie Fatih, Üsküdar oder Eyüpsultan deutet jedoch auf eine massive Abwendung der Basis von der AKP hin. Eine <a href="https://twitter.com/ismailsaymaz/status/1143106024406208512">Mikroanalyse</a> einer Hand voll Wahllokale in einigen Vierteln von Fatih, in denen islamische Gemeinschaften dominieren, die der AKP treu verbunden sind, zeigt, dass Imamoğlu selbst dort Stimmen zulegen konnte. Andererseits zeigt der Stimmenzuwachs in Bezirken mit einem <a href="https://twitter.com/HayriDemir_/status/1142882271956996097">großen kurdischen Bevölkerungsanteil</a>, dass die Kurd*innen bei dieser Wahl vielleicht sogar noch resoluter für Imamoğlu gestimmt haben.</p><h2><b>Das „Epos der Demokratie“</b></h2><p>Anders als die meisten Wahlen in den letzten Jahren war die Wahlwiederholung in Istanbul rasch zu Ende – und zwar ohne wesentliche Zwischenfälle. Während an vielen Orten noch Stimmen gezählt wurden, trat Binali Yıldırım mit der Aufhebung des Verbots, über die Wahlergebnisse zu berichten, vor die Mikrofone und erklärte knapp und kühl, Imamoğlu habe die Wahl gewonnen und er gratuliere diesem dafür. Bahçeli und Erdoğan taten es ihm bald darauf mit kurzen Twitter- Statements gleich. Diese ersten kurzen Statements mögen noch nicht den wirklichen Zugang Erdoğans zu dieser Niederlage reflektieren und es ist durchaus möglich, dass er bald noch andere Töne anschlagen wird. Er <a href="http://www.hurriyet.com.tr/gundem/cumhurbaskani-erdogan-ordu-valisine-hakareti-konusunda-yarginin-verecegi-karar-imamoglunun-onunu-kesebilir-41249321">insinuierte unlängst</a>, dass Imamoğlu die Bürgermeisterschaft wieder aberkannt werden könnte, da dieser angeblich den Gouverneur der Schwarzmeerprovinz Ordu beleidigt habe. Vermutlich aber wird er wieder auf die Linie nach dem 31. März einschwenken und die Oppositionsbürgermeister als „lahme Enten“ abkanzeln: Schon in den letzten Tagen vor der Wahl sprach er wieder davon, dass die Wahl bloß „<a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-anketlerde-manipulasyon-var-siparis-uzerine-yapiliyor,826921">symbolisch</a>“ sei und Imamoğlu als Bürgermeister bloßer „<a href="http://sendika63.org/2019/06/erdogan-bir-tarafta-teror-orgutleri-zihniyetinin-destek-verdigi-cumhur-ittifaki-551891/">Vitrinenschmuck</a>“ wäre. <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2019/04/02/imamoglu-ve-yavas-erdoganin-ablukasina-nasil-direnecek/">Höchstwahrscheinlich</a> wird Erdoğan versuchen, die Spielräume der oppositionellen Bürgermeister durch die vom Regime dominierten Stadträte einzuschränken und <a href="https://t24.com.tr/haber/belediyelerde-belli-tutarin-uzerindeki-ihalelere-erdogan-onayi-getiren-degisiklik-hazirlaniyor,815188">eventuell</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/akp-kulisi-belediyelerin-bazi-yetkileri-bakanliklara-verilebilir-borclanmalara-sinir-getirilebilir,819236">Gesetze</a> zu entwerfen, die sowohl diese Räte wie auch seine Präsidentschaft in Hinblick auf die Verwaltung von Städten stärken werden. Allerdings ist die Ausgangslage eine ganz andere als noch nach dem 31. März. Nach dem Wahldebakel ist Erdoğans Stellung geschwächt, er hat signifikant an Charisma eingebüßt und seine Gegner*innen und vermeintlichen Verbündeten sind in Lauerstellung, um sich noch mehr Macht zu holen. Das Auseinanderbröckeln der AKP dürfte sich jetzt ebenfalls <a href="https://t24.com.tr/haber/davutoglu-cumhurbaskanligi-toplumun-yarisi-ile-kopus-yasiyor,817845">rasch beschleunigen</a> – die Gründung einer oder sogar mehrer Parteien von AKP-Abtrünnigen scheint bereits eine beschlossene Sache und nur mehr eine Frage der Zeit zu sein.</p><p>Dagegen gilt Imamoğlu als der große Hoffnungsträger im Kampf gegen Erdoğan. Seine versöhnlerische, inklusive politische Rhetorik stellte sich bei den Lokalwahlen als Erfolgsfaktor heraus. In seiner Siegesrede wandte er sich auch betont an Erdoğan und erklärte seine Bereitschaft, enge Verbindungen und Zusammenarbeit zwischen lokalen und zentralen Verwaltungsinstitutionen zu schaffen, um Lösungen für die drängenden Probleme Istanbuls und des Landes zu finden. Er <a href="https://t24.com.tr/haber/ekrem-imamoglu-konusuyor,827330">drohte aber auch</a>, dass er sich an die Bevölkerung wenden würde, wenn er mit „politischen Initiativen zur Beschränkung“ seiner Bürgermeisterschaft konfrontiert wäre. Alle Parteien außer der HDP, darüber hinaus auch die meisten Mainstream-Journalist*innen fabulierten noch am Wahlabend vom „Epos der Demokratie“ und der „langen Tradition der türkischen Demokratie“, die wieder der ganzen Welt gezeigt habe, dass die Türkei demokratisch sei.</p><p>Es steckt eine tiefere politische Bedeutung hinter diesem offensichtlichen Versuch, die momentane politische Situation von Hegemoniekrise, Faschisierungsprozess und massenhafter Unzufriedenheit zu „normalisieren“. Wir haben schon mehrfach betont, dass die Hauptoppositionskräfte, das heißt in erster Linie – aber nicht ausschließlich – die Kräfte, die in der Allianz der Nation verbündet sind, die <a href="http://www.criticatac.ro/lefteast/communal-elections-tr2019/"><i>Kräfte der Restauration</i></a> sind. Angesichts der tiefen Krise repräsentieren und organisieren sie diejenigen Kräfte, die staatliche Institutionen und die neoliberale Hegemonie wieder stabilisieren und die Unzufriedenheit der breiten Bevölkerung in „akzeptable“, das System nicht gefährdende Bahnen lenken wollen. Die Fundamente von Staat und Kapital sollen nicht gefährdet, eine Radikalisierung der Unzufriedenheit und des Widerstandes verhindert werden. In dem Maße jedoch, in dem das Regime angesichts der sich vertiefenden Krise immer unflexibler wird und die Kräfte der Restauration ihre respektive Position angesichts der steigenden Unzufriedenheit verbessern können, im dem Maße werden sie geradezu dazu <i>gezwungen</i>, eine deutlichere und resolutere Haltung einzunehmen wie derzeit im Rahmen der Kommunalwahlen. Während die Kräfte der Restauration einerseits das oppositionelle Potential in der Gesellschaft zu mobilisieren versuchen, appellieren sie zugleich an das Regime, sie in den Machtblock zu integrieren. Das Gerede vom „Epos der Demokratie“, der „Inklusion aller“ und dem „Ende der Polarisierung“ zielen darauf ab, den Konflikt der Blöcke zu entschärfen und gleichzeitig die oppositionellen und widerständigen Regungen in der Bevölkerung zu integrieren und zu befrieden.</p><h2><b>Eine Bresche in der Belagerung?</b></h2><p>Das „Epos der Demokratie“ besteht in erster Linie aus einem weiteren Zerfall des Regimes und dem Aufstieg der Kräfte der Restauration. Dieses „Epos“ lässt jedoch in letzter Instanz die politische Einheit und Kohärenz vermissen, die notwendig wäre, um die folgenden drei strukturellen Probleme zu lösen:</p><p>Erstens wird sich die <a href="https://www.academia.edu/39666120/The_Making_of_Turkeys_2018-2019_Economic_Crisis">ökonomische Krise</a> <a href="https://jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">weiter vertiefen</a> und dabei weiterhin ernste soziale Probleme mit sich ziehen. Der Kampf um die Verteilung der Kosten der Krise zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen wird ein Hauptterrain des politischen Kampfes darstellen. Kein Teil des „Epos der Demokratie“ hat – jenseits der üblichen neoliberalen Plattitüden – einen klaren Plan, um sich diesem Problem zu stellen. Ein radikaleres, transformatives Programm steht sowieso außer Diskussion. Die ökonomische Krise wird der mangelhaften Rechtsstaatlichkeit und Transparenz, der Erosion der demokratischen Institutionen und dergleichen mehr zugeschrieben, womit der Fokus von den zugrundeliegenden Klassenverhältnissen auf Oberflächenphänomene gelenkt wird. Auch innerhalb der HDP gibt es verschiedene Stimmen und einige davon haben sich in diese Reihen des Status quo eingereiht und sich vom radikaleren Programm aus 2015 verabschiedet.</p><p>Zweitens bildet das „Präsidialsystem“ den bisherigen Gipfelpunkt einer bestimmten Entwicklung: Alle Formen der Kontrolle von Machtausübung sind zunichte gemacht worden und grundlegende Freiheiten und Rechte werden massiv beschnitten. Eine politische Kultur des Autoritarismus schreitet voran und alle gesellschaftlichen Schichten sind von der offenen Repression in Beschlag genommen. Wenn es im Zuge dieser Wahlen einen „Epos der Demokratie“ zu erzählen gäbe, dann bestünde dieser aus dem Widerstand der demokratischen Kräfte gegen das Regime und den Prozess der Faschisierung. Ein politischer Diskurs, der diese Realität verschleiert und das „Präsidialsystem“ und wofür es steht kaum mehr erwähnt – und das ist genau das, was dieses Gerede eigentlich beabsichtigt –, entlarvt sein Desinteresse an einer genuinen Demokratisierung.</p><p>Drittens stellt die „kurdische Frage“ die Achillesferse des „Epos der Demokratie“ dar. Die taktische Allianz, die CHP, IYI und die HDP angesichts des relativ friedlichen Kontexts der Lokalwahlen zusammenbrachte, wird höchstwahrscheinlich im Kontext einer militärischen Operation im In- oder Ausland erneut auseinanderfliegen. Im Zentrum der Politik in der Türkei steht ein Paradox: In der momentanen Lage der Kräfteverhältnisse und Allianzen sind sowohl das Regime, wie auch die restaurative Opposition auf die politische Unterstützung der Kurd*innen angewiesen, um zu gewinnen. Aber keines der beiden Lager hat Interesse an einem substantiellen Friedensprozess, der nämlich ein Programm zur radikalen Transformation und Demokratisierung der Grundfesten der Republik Türkei beinhalten müsste.</p><p>Angesichts dieser Konstellation dürfen Sozialist*innen und Revolutionär*innen nicht nur Gehilfen der restaurativen Opposition werden, ihre Funktion wäre dann einzig auf das Einsammeln linker Stimmen reduziert. Während einige linksradikale Organisationen in <a href="https://www.sosyalistmeclisler.net/alternatif-toplum-mucadelesinde-israr-et-burjuva-fasist-partilere-yedeklenme/">Abstraktion</a> zu wichtigen konkreten Kämpfen verbleiben und ihre bekannte Unfähigkeit, konkrete politische Konjunkturen zu verstehen, <a href="https://www.kozgazetesi.org/31-marttan-23-hazirana-eylem-ve-muharebe-naralariyla-gizlenen-siyasetsizlik/">zum Ausdruck bringen</a>, gibt es andererseits innerhalb der Linken in der Tat eine Tendenz zum Parlamentarismus und zur Selbstauflösung in einer diffusen „demokratischen Front“. Eine Integration in eine solche „demokratische Front“ – dominiert von den Kräften der Restauration und wofern ohne einen klaren eigenen Standpunkt hinsichtlich der Notwendigkeit unabhängiger Organisierung der popularen und revolutionären Kräfte – ist dazu verdammt, in einer Niederlage der genuin popular-demokratischen Kräfte zu enden.</p><p>Die Aufgabe der Linken ist es, die Möglichkeiten, die auf Grundlage der derzeitigen Situation entstehen, zu nutzen und sich auf den Aufbau unabhängiger popularer Organisationen und ihrer eigenen Alternativen zum Status Quo zu konzentrieren. Dabei sollte die Linke Möglichkeiten des Ausschlachtens von Widersprüchen zwischen den Herrschenden nicht ignorieren und auch Wege für potentielle Allianzen mit den jeweiligen Basen der herrschenden Parteien und der Parteien der Restauration nicht in den Wind schlagen.</p><p>In seiner Geschichte hat Istanbul viele stolze Namen geführt. Der vielleicht schönste ist<i> der-i sa’adet</i>, das Tor zur Glückseligkeit. Dieses Tor in eine Bresche in der faschistischen Belagerung des Landes zu verwandeln und gleichzeitig eine popular-revolutionäre Alternative zum kapitalistischen Restaurationsprojekt zu schaffen, ist die historische Aufgabe der Revolutionär*innen. Die Bedingungen für einen Sprung nach vorne sind wieder einmal reif.</p></div>
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Unterwegs zur demokratischen Republik. Ein politisch-gesellschaftliches Programm für die Türkei2019-05-17T11:35:58.010277+00:002019-05-17T11:45:38.769494+00:00Hasan Durkal und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/unterwegs-zur-demokratischen-republik/
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<div class="rich-text"><p>Die <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">Lokalwahlen vom 31. März 2019</a> brachten erneut Schwung in die Tagesordnung der Türkei. Das Land befindet sich in einer Situation von multiplen Krisen auf verschiedenen Ebenen, aus der das derzeitige Regime aber auch trotz aller Gewalt und „<a href="https://revoltmag.org/articles/erdo%C4%9Fans-ziviler-putschversuch/">zivilen Putschversuchen</a>“ nicht rauskommt.</p><p>Dabei geht es nicht nur um die akute Wirtschaftskrise, die in ihren Wurzeln viel länger zurückliegt und keine konjunkturelle Schwankung ist, sondern der Ausdruck einer Krise des Akkumulationsregimes. Ganz allgemein gefasst befindet sich das derzeitige Regime seit 2013 in einer Hegemoniekrise. Das heißt einerseits, dass sich die Herrschenden nicht darüber einig sind, wie die Gesellschaft weiterhin regiert werden soll. Sie liegen die ganze Zeit im Clinch miteinander: Der Putschversuch vom Juli 2016 ist dabei nur der brachialste Ausdruck der Widersprüche unter den Herrschenden gewesen. Die soziale Hauptgrundlage der Hegemoniekrise ist aber die Verweigerung der Zustimmung von mindestens der Hälfte des Landes zu einem sich faschisierenden Regime. Trotz all der Gewalt der letzten Jahre, der Installierung eines de facto diktatorialen Präsidialsystems, der Annullierung von „unerwünschten“ Wahlergebnissen und Hunderttausenden von entlassenen Staatsbediensteten und ebenfalls Hunderttausenden in den Gefängnissen setzt sich der Unmut in breiten Teilen der Gesellschaft fort und führt zu vielen kleinen und manchmal auch größeren widerständigen Aktionen.</p><p>Zum ersten Mal seit dem 7. Juni 2015 konnten die Hauptoppositionsparteien diesen Unmut und diese Widerständigkeit an der Wahlurne zu einem partiellen Sieg für sich organisieren. Gerade weil aber der Unmut und die Widerstände keine originären politischen Organisationsprozesse hervorgebracht haben und Parteien wie die republikanische CHP oder die MHP-Abspaltung IYI-Parti grundlegend etatistisch ausgerichtet und deshalb zu einer grundlegenden Opposition nicht fähig sind, blieb der Unmut bisher in weiten Teilen der Gesellschaft diffus, unorganisiert und im Großen und Ganzen ineffektiv. Die Aufgabe der Hauptoppositionsparteien ist es, eine<i> Integration</i> des widerständigen Potentials in der Gesellschaft in die bestehende Ordnung zu organisieren, um die vom derzeitigen Regime zunehmend gefährdete Fortführung der Hegemonie der Herrschenden zu garantieren. Deshalb sind sie auch nicht in<i> prinzipieller</i> Opposition zum Präsidialsystem an sich und setzen eine grundlegende Verfassungsänderung auch nicht auf die Tagesordnung. Wie auch immer es sich konkret ausdrückt, so ist ihr Hauptanliegen, dass die derzeitigen wirtschaftlichen, politischen und globalen Instabilitäten beseitigt werden sollen ohne dass an den Grundfesten der bestehenden Ordnung gerüttelt wird. Diese Hauptoppositionsparteien sind deshalb als<i> restaurative Kräfte</i> zu begreifen.</p><p>Wie groß das Risiko sein wird, dass sie dabei eingehen werden, hängt einerseits von der Schärfe der Hegemoniekrise ab: Gerade weil sich diese verschärft, sind CHP und IYI in ihrer Opposition – gemessen an ihren eigenen Standards – im letzten Jahr auch „wahrnehmbarer“ geworden. Andererseits aber werden sie nicht so weit gehen, dass die staatliche Einheit und die Einheit der Ordnung gefährdet wird. Ihnen ist klar, dass sie Zugeständnisse an die widerständigen popularen Kräfte machen müssen, um überhaupt Opposition betreiben zu können: In der bisher kurzen Phase der Bürgermeisterschaft des CHP-Kandidaten von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, wurden der 8. März zum Feiertag für Frauen erklärt und Imamoğlu beteiligte sich aktiv an der 1. Mai-Kundgebung. Darüberhinaus gab es Initiativen für Verbilligung des öffentlichen Verkehrs oder auch des Wassers sowie eine Rhetorik gegen Korruption und für Transparenz – angesichts der enormen Teuerung einerseits und der weitverbreiteten Korruption sind das Maßnahmen, die Anklang finden. Die Gefahr für die Kräfte der Restauration liegt dabei gerade darin, dass die im Sinne der Beschwichtigung betriebene Opposition und Symbolpolitik zu viel Raum öffnet – Raum für eine eigenmächtige und unabhängige Entfaltung der popularen Kräfte.</p><p>Auf Grundlage einer solchen Realität – einer permanenten, sich verschärfenden Hegemoniekrise, eines massenhaften widerständigen Potentials und Integrationsbemühungen desselben durch die Restaurationskräfte – stellt sich für Linke und Kommunist*innen die Frage: Wie könnte eine politische Perspektive aussehen, die die widerständigen Potenziale der popularen Kräfte auf Grundlage ihrer eigenen Macht und Interessen organisiert und sich dabei nicht in das Projekt der Restaurationskräfte integrieren lässt?<b> [1]</b></p><h3><b>Historische Untiefen</b></h3><p>Wir gehören zu den Linken, die in letzter Instanz die Überwindung des Kapitalismus in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsformation für gut heißen. Abstraktes Beharren auf Slogans wie „diese Ordnung muss grundlegend umgewälzt werden“ oder „der Sozialismus ist die Lösung“ bringen uns jedoch nicht weiter, sondern führen einzig zu Verbalradikalismus. Der Sozialismus ist keine fertige Form, die nur noch auf die Wirklichkeit angewendet werden muss, sondern kann nur ein neuer gesellschaftlicher Metabolismus sein, der im Konkreten und materiell aufgebaut werden muss. Deshalb benötigen wir auch ein umfassendes gesellschaftliches und politisches Programm, das die popularen Kräfte zu Subjekten ihrer eigenen Umstände macht und weite Teile der Bevölkerung umfasst.</p><p>Der Name eines solchen Programmes in der Türkei ist die<i> demokratische Republik</i>. Den Grund dafür finden wir in der Geschichte der Türkei. Die Entwicklung des Kapitalismus und der Moderne in der Türkei ist ein Prozess gewesen ohne aktiver Beteiligung der popularen Kräfte. Unter anderem deshalb wurde die moderne Türkei niemals zu einer voll entwickelten bürgerlichen Demokratie. Die despotische Staatsstruktur, die das Osmanische Reich wiederum von Byzanz übernahm und transformierte, passte sich den Anforderungen des Kapitalismus an und setzte sich, dementsprechend umformiert, in der Türkischen Republik fort.</p><p>Auch in sozioökonomischer Hinsicht lässt sich feststellen, dass weder die Jungtürkische Revolution von 1908 <b>[2]</b> noch die Kemalistische Revolution<b> [3]</b> auf einer fortschrittlichen Industriebourgeoisie gründeten. Die Träger dieser Revolutionen waren bestimmte Kräfte innerhalb der Staatstradition des Osmanischen Reiches. Diese Kräfte waren die Staatsklassen, die sich auf die ältesten eigenständigen Formen des Kapitals, das Wucher- und Handelskapital, die ihre Profite mittels Preisaufschlag, Zins und Rente generierten, und das darauf gründende schwache anatolische Kapital stützten. Innerhalb der Staatsklassen waren es dabei insbesondere die Militärs (<i>seyfiye</i>), die die treibende revolutionäre Kraft darstellten. Auch wenn sie in ihrem Wunsch nach „westlicher Zivilisation“ eine Reihe moderner Reformen umsetzten, kamen sie doch aus den Bedingungen, die sie vom Osmanischen Reich erbten, nicht heraus und jeder ihrer „modernistischen“ Fortschritte war schwach, halbfertig oder entstellt.</p><p>Die Kemalistische Revolution war dazu gezwungen, sich auf das ökonomische Modell der Prellerei und der Willkür zu stützen, nicht auf eine revolutionäre Industriebourgeoisie. Zusätzlich fand die Kemalistische Revolution in einem geschichtlichen Kontext des reaktionären Finanzkapitals des Hochimperialismus statt – eine Zeit, in der sich die progressiven Elemente des Kapitalismus zurückbildeten, der Weltkrieg als Austragungsform kapitalistischer Konkurrenz genutzt wurde, der Kapitalexport in Form von Schulden und Krediten gefördert und die Kolonisierung der Länder, die verspätetet in den Kapitalismus übergingen, sowie die Erdrosselung ihrer eigenständigen Entwicklung betrieben wurde. Eine Entwicklung im wahren Sinne war unter diesen Umständen unmöglich ohne eine sofortige Initiative der Schwerindustrialisierung und der umfassenden nationalen Einheit. Aber die Revolutionen von 1908 und 1923 zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie eine Entwicklung des Handwerks und der Manufakturen hin zur Industrie förderten, sondern im Gegenteil das reichhaltig entwickelte Handwerk und die Manufakturen erwürgten und nur eine sehr begrenzte Industrialisierung ins Leben riefen.</p><p>Das Wirtschaftsverständnis, das die Revolutionäre vom Osmanischen Reich übernommen hatten, gründete auf einen originären Etatismus. Die Kapitaleigentümer, die gute Beziehungen zu den Staatsklassen pflegten, bereicherten sich mittels öffentlicher Aufträge sowie Prellerei und Wucher. Sie fokussierten sich mehr auf Land- und Währungsspekulation sowie große Bauaufträge als auf eine Industrialisierung, die sie für zu „riskant“ und „anstrengend“, sprich unprofitabel erachteten. Dementsprechend spielten merkantilistische Erwägungen eine größere Rolle als industrielle und entwicklungstechnische; die handeltreibenden Fraktionen nahmen eine prominente Rolle innerhalb der Bourgeoisie ein, der Staat selbst verbot den „freien Markt“. Diese Grundlagen wurden weder von der Kemalistischen Revolution noch später vollständig bekämpft, sodass sie bis heute eine gewichtige Rolle spielen.</p><p>Wenn wir es von der Perspektive des Staates und des Regimes her betrachten, so lässt sich festhalten, dass der tributäre und willkürliche Staatstypus mit der sumerischen Zivilisation entstand. In anderen Regionen wie zum Beispiel Europa, in denen es auch Kapitalakkumulation und Konzentration von Reichtümern gab, entstand eine entwickeltere Zivilgesellschaft. Diese Entwicklungen begünstigten eine „demokratischere“ Entstehung des Staates. Zugleich entwickelte sich das menschliche Potenzial, Produktion und Technologie entwickelten sich schneller. Demokratie wurde zu einem immanenten Bestandteil des Staates. Der Kampf zwischen Stadt und Land, also zwischen der zentralistischen Struktur und den lokalen Kommunen, ermöglichte die relative politische und ökonomische Autonomie der<i> burgher</i>, der mittelalterlichen Stadtbewohner, und begrenzte die Macht der zentralistischen Despotie. Das ist jetzt alles sehr schematisch und die Geschichte entwickelte sich auch in Europa nicht geradlinig, aber grob ist das der Weg gewesen, der bürgerlich-demokratische Revolutionen möglich machte.</p><p>Im Nahen Osten lief es anders ab. Ein anderes Entwicklungsmodell führte mittels einer Verkastung zu einer anderen Form der Verstaatlichung. Kräfte, die dem Despotismus hätten ein Ende setzen können, wurden von ihm stranguliert. Die unteren Klassen oder die städtische Opposition wurden unterdrückt. Die Entwicklung der Produktion spielte keine Rolle, denn wichtig waren nur die Tributzahlungen und die Prellerei des Wucher- und Handelskapitals; die Bedürfnisse des Volkes waren peripher. Die zentral bestimmten Provinzgouverneure (<i>vali</i>) herrschten über die beschlagnahmten Ländereien und führten den Reichtum zum Zentrum hin ab. Als Kollaborateure der zentralen Macht besaßen die Provinzgouverneure weitgehende militärische und verwaltungstechnische Befugnisse; im Namen des Zentrums trieben sie die Steuern ein, rekrutierten die Soldaten und unterdrückten die Bevölkerung, wo nötig. Dieses System erbte sich von der sumerischen Zivilisation fort an Byzanz, von dort an das Osmanische Reich und letztlich vom Osmanischen Reich an die Türkische Republik.</p><h3><b>Das Erbe des Despotismus</b></h3><p>Es ist natürlich richtig, dass die Türkische Republik nicht identisch ist mit dem byzantinischen oder Osmanischen Staat und dass die Türkische Republik kein tributärer Expansionsstaat ist. Aber die despotische „Seele“ der von ihm besiegten und beerbten Staaten setzte sich in neuen Formen, die nun die Kapitalakkumulation ermöglichten, fort. Auch heute existieren weiterhin despotisch-zentralistische Institutionen wie der Provinzgouverneur oder der Provinzuntergouverneur (<i>kaymakam</i>). Wesentliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über lokale und provinzielle Politik liegt in den Hängen dieser vom Präsidenten ernannten Gouverneure und Untergouverneure und nicht bei den gewählten Vertreter*innen. An ihre Stelle gehört die Stärkung der Macht der lokalen Bevölkerung, die gerade von jenen Institutionen unterdrückt wird.</p><p>Auf Grund der Gesamtheit dieser Verhältnisse und ihres Erbes machte sich das kemalistische Regime an eine Nationengründung ohne Lösung der demokratischen Probleme, was zum Desaster führte. Die enorme demokratische Energie, die mit der Französischen Revolution und auch anderen Revolutionen zum Vorschein kam, führte letzten Endes dahin, dass die unterschiedlichsten Schichten der Bevölkerung in die jeweiligen Regime integriert wurden; noch heute können deshalb die unterschiedlichsten ethnischen Gruppierungen im Rahmen einer „gemeinsamen Nation“ miteinander verschmelzen. Die verschiedenen Regime in unserem Land versuchten nicht einmal demokratischen Energien zum Durchbruch zu verhelfen; sie versuchten im Gegenteil, jene Energien überall dort zu erwürgen, wo sie entstanden. Die vereinheitlichende Ideologie wurde per Zwang von oben aufoktroyiert. Im Rahmen dieser vereinheitlichenden Ideologie gerieten alle in Widerspruch zum Regime, die nicht türkisch und sunnitisch waren beziehungsweise sind. Insbesondere Kurd*innen und Alevit*innen wurden seitdem immer wieder zum „Problem“ für die Herrschenden.</p><p>Von der Perspektive der Gesellschaft aus betrachtet lässt sich festhalten, dass die ungleiche und entstellte Entwicklung zu großen Verwerfungen führte. Staat und reaktionäres Kapital versuchten immer, das menschliche Potenzial zu erdrücken. Das Schwerwiegendste hierbei ist, dass sich keine verfassungsrechtlich abgesicherte demokratische Kultur fest etablieren konnte. Zwar amalgamierten sich die ebenfalls von den früheren Gesellschaftsformationen ererbten kommunalen und kollektiven Widerstandsformen der Unterklassen mit den neuen Realitäten der Werktätigen im Kapitalismus: In Zeiten wie den 1960ern und 1970ern, als die Kämpfe der Werktätigen stark waren, konnten viele Errungenschaften erkämpft und der Despotismus bis zu einem gewissen Grad zurückgedrängt werden. Aber die despotische Tradition wurde nicht final geschlagen und konnte sich als Garant der Kapitalakkumulation erneut geltend machen. Der Mangel an Organisations- und Meinungsfreiheit, die fehlende verfassungsrechtliche Verankerung unterschiedlicher Muttersprachen und Glaubensrichtungen, die eingeschränkte Pressefreiheit, das in jeder Regierungsperiode zig mal veränderte und unsystematische Bildungssystem, die mangelnde Anerkennung der Menschenrechte, das Fehlen eines ökologischen und tierfreundlichen Verständnisses, die Marginalisierung der Forderung nach Gleichheit der Geschlechter und viele andere Probleme und Mängel müssen von der Gesellschaft angegangen werden.</p><p>Andererseits war die Kemalistische Revolution eine Kaderrevolution. Die aus ihrem despotischen Charakter erwachsende Unfähigkeit und mangelnde Kraft darin, über einen bestimmten Kreis hinaus integrativ zu wirken, sorgte auch für eine sehr lose Bindung der ländlichen Teile an die zentralen Teile und die Revolution weitete sich nicht gleichermaßen auf das gesamte Land aus. Die große Divergenz zwischen einigen zentralen Gebieten und den ländlich-rückständigen Anatoliens, in die die Revolution nicht derart eindringen konnte, wurde zu einem großen Hindernis für die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Diese Divergenz, die sehr unterschiedliche Mentalitäten, Lebensstile und -welten beinhaltete und herbeiführte, diente gleichermaßen den unterschiedlichen Fraktionen der Bourgeoisie im Kampf miteinander als Quelle ihrer jeweiligen Ideologien. Die Aktionseinheit zwischen Zentrum und rückständigeren Gebieten herzustellen, ist heute eine der Hauptprobleme revolutionärer Strategie.</p><h3><b>Die demokratische Republik als Fluchtpunkt der popularen Kämpfe</b></h3><p>Die demokratische Republik ist eine wichtige und notwendige Zwischenstufe für eine kommunistische Revolution in der Türkei. Die Forderung nach einer demokratischen Republik ist derzeit der gemeinsame Fluchtpunkt der unterschiedlichen popularen Kräfte und ihrer Kämpfe. Außerhalb dieser Kämpfe zu stehen, verdammt die Kommunist*innen dazu, sich zu isolieren. Nur dadurch, dass Kommunist*innen inmitten dieser Kämpfe stehen und sie anfachen, können sie effektiv dahingehend wirken, die entstehende Republik in Richtung einer sozialistischen Revolution zu radikalisieren. Ebenfalls können die Werktätigen die sehr materiellen und reellen Spaltungen innerhalb der Klasse – in Kurd*innen und Türk*innen, in Alevit*innen und Sunnit*innen usw. – nur in einem Kampf um eine demokratische Republik überwinden, indem sie durch gemeinsame Tätigkeit diese überwinden, sich selbst ermächtigen und auf Grundlage dieser Praxen ein revolutionäres Selbstbewusstsein herausbilden.</p><p>Die verfassungsrechtliche Verankerung der demokratischen Republik ist unerlässlich. Erdoğan macht uns vor, wie wichtig die verfassungsrechtliche Verankerung eines Regimes ist. Nachdem er sein „Präsidialsystem“ de facto errichtete, wirkte er auf eine rechtliche Absicherung desselben hin. Das Programm einer demokratischen Republik kann unmöglich dasjenige der „alten“ Verfassung sein, also der Verfassung vor der AKP-Ära. Noch kann es darin bestehen, an der derzeitigen Verfassung ein bisschen „herumzudemokratisieren“. Wir brauchen eine vollständig neue demokratische Verfassung.</p><p>Diese neue Verfassung muss zuvörderst die Erfüllung der minimalen Bedürfnisse der Bevölkerung wie Ernährung, Behausung, Gesundheit, Bildung und Transport garantieren. Um dies real zu gewährleisten, muss die Besteuerung von der derzeit dominanten Form der indirekten Besteuerung (wie zum Beispiel über Verbrauchersteuern) ersetzt werden durch eine Dominanz der direkten Besteuerung und der progressiven Vermögenssteuer. Zentrale Produktionszweige müssen zumindest teilweise in öffentliches Eigentum umgewandelt werden. Zugleich muss die Zentralbank von gewählten Vertreter*innen der Bevölkerung kontrolliert werden, damit sie im Sinne der Erfüllung jener minimalen Bedürfnisse arbeitet.</p><p>Die neue Verfassung muss die Pluralität der ethnischen und religiösen Identitäten der Türkei anerkennen. Die Verfassung einer demokratischen, laizistischen und multinationalen Republik kann keine einzelne ethnische oder religiöse Identität privilegieren. Die grundlegenden Zivil- und Menschenrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Gewerkschafts- und Streikfreiheit, das Recht auf kostenlosen, wissenschaftlichen und gleichen Unterricht in den jeweiligen Muttersprachen, das Recht auf Behausung und dergleichen müssen anerkannt werden.</p><p>Ebenfalls von großer Bedeutung ist es, dass Kriterien für die mehrheitlich von Frauen geleistete soziale Reproduktionsarbeit erarbeitet werden, die diese unsichtbare Arbeit sichtbar macht und sie dementsprechend anerkennt (zum Beispiel mittels Renten für Hausfrauen). Ebenso muss die Gleichheit der Geschlechter verfassungsrechtlich gestärkt und die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen garantiert werden. Selbstverständlich müssen auch gleichgeschlechtliche Ehen oder Partnerschaften, das heißt das Recht jedes Menschen mit jedem beliebigen anderen Menschen eine wie auch immer gestaltete Partnerschaft einzugehen, solange ein festgelegtes Mindestalter und beidseitiger Konsens gegeben sind, verfassungsrechtlich anerkannt werden.</p><p>Die Überreste des despotisch-zentralistischen Verwaltungsapparats des Osmanischen Reiches wie das Gouverneurs- und Untergouverneursamt müssen abgeschafft, die Lokalregierungen und die Initiative der jeweiligen Bevölkerung gestärkt werden. Andere zentralistische Institutionen wie der Hochschulrat (YÖK), der die Universitäten von oben kontrolliert, oder das Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), das landesweit die Ausübung einer offiziell sanktionierten Religion privilegiert und kontrolliert, müssen ebenfalls abgeschafft werden.</p><p>Der Schutz der Natur, die der Quell unseres Lebens ist, muss unter den Schutz der Verfassung gestellt werden, Naturschutzgebiete ausgeweitet und neue gegründet werden. Weitflächige Wiederaufforstung, der Schutz natürlicher Wasserquellen, die Reinigung von Flüssen, Seen und Meeren, das Verbot von natur- und menschenschädlichen Wirkstoffen und die Lebensmittelsicherheit müssen ebenfalls auf Verfassungsebene gehoben werden.</p><h3><b>Die Räte</b></h3><p>Während der gesamten Geschichte der modernen Türkei waren die breiten Massen der Bevölkerung, die werktätigen Klassen und gewöhnlichen Menschen niemals das politische Subjekt. Dies ist die objektive Realität, die die demokratische Republik erforderlich macht. Deshalb lautet unsere Grundfrage wie folgt: Welches sind die politischen Subjekte, die im Stande dazu sind, mittels einer demokratischen Revolution eine demokratische Republik und eine demokratische Verfassung zu konstituieren; oder genauer: Wie können die hierzu erforderlichen Prozesse der Subjekt-Werdung angestoßen werden?</p><p>Das Wesen der demokratischen Republik besteht in der Integration aller gewöhnlichen, sprich die Produktion und Reproduktion der Türkei aufrechterhaltenden werktätigen Menschen unterschiedlichster Ethnien und Glaubensrichtungen in den Entscheidungsprozess. Letztendlich ist es genau das, was eine Subjekt-Werdung im politischen Sinne bedeutet. Dadurch dass Schwierigkeiten und Probleme des Alltags durch die Partizipation in den Räten gelöst werden, dass durch diese Erfahrungen dazugelernt und Entfremdung durch Partizipation überwunden werden, entstehen neue Subjekte. Diese Art der Subjekte werden der Bürokratisierung und Entfremdung entgegenwirken und den Grundstein einer klassenlosen Gesellschaft legen können. Denn der kürzeste Weg zur klassenlosen Gesellschaft ist jener, der über die demokratische Republik führt.</p><p>Wir benötigen Mechanismen, durch die sich eine demokratische Verfassung in die Praxis umsetzen lässt. Der Wille, von dem die Umsetzung der demokratischen Republik abhängen wird, wird seine Kraft nicht aus der Bourgeoisie, sondern an erster Stelle von der Arbeiter*innen- und allgemein den unteren Klassen beziehen, da das Interesse der türkischen Bourgeoisie an einer Demokratisierung offensichtlich gering ist. Dieser Wille der Neugründung kann seinen Ausdruck im konstituierenden Rat finden.</p><p>Auch wenn sich unser Programm einer demokratischen Republik hinsichtlich ihres Inhaltes einer bürgerlichen Demokratie ähnelt, unterscheidet sie sich mit Blick darauf, welche Klassen das Heft in der Hand halten. Die demokratische Republik unterscheidet sich von einer bürgerlich-demokratischen Republik dadurch, dass sie einerseits die politische Partizipation der arbeitenden Klassen und andererseits deren politische Kontrollfunktionen sichert. Es versteht sich von selbst, dass eine solche demokratische Republik nicht „rein“ und vom Reißbrett aus entsteht, sondern dass Klassenkonflikte stets eine Reihe von intermediären Zuständen und nicht-homogene Regime hervorbringen können. Es besteht immer die Möglichkeit, dass Zwischenformen entstehen, in denen zum Beispiel bestimmte Bereiche von der Bourgeoisie und andere von popularen Kräften dominiert werden. Falls wir es schaffen, eine demokratische Republik zu errichten, wird sie aus der Realität der gesellschaftlichen Beziehungen heraus entstehen. Die Kräfteverhältnisse und der Klassenkampf innerhalb der demokratischen Republik werden bestimmen, in welcher Form sich das neue Regime konkretisieren wird.</p><p>Schlussendlich kann eine neue Verfassung ausschließlich seitens einer konstituierenden Versammlung in die Tat umgesetzt werden. Diese kann nicht die Große Nationalversammlung der Türkei [Name des türkischen Parlaments, Anm. d. Übers.] sein. Diese neue konstituierende Versammlung müsste der Ausdruck eines konstituierenden Kongresses sein, in dem die popularen Kräfte partizipieren. Die wichtigste und entscheidende Eigenschaft einer solchen Versammlung müsste es sein, sich gegen die existierende Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit innerhalb und außerhalb der Produktionssphäre zu positionieren. Sie muss darauf abzielen, den breiten Massen, die das Leben und die gesellschaftlichen Beziehungen produzieren und reproduzieren, ebenfalls die Fähigkeit zur Regierung zu geben.</p><p>Das alles ist absolut keine utopische Idee. Es gibt viele historische Beispiele, wo genau dies der Fall war. Beispielsweise in der Pariser Kommune, in den russischen Sowjets, den italienischen Arbeiter*innenräte und viele mehr. In der heutigen Türkei stellt sie keine Utopie dar, sondern ist eine Notwendigkeit geworden zur Lösung der drängendsten Probleme.</p><h3><b>Neubegründung der Gesellschaft</b></h3><p>Das von uns vorgeschlagene politische Programm gilt es, auf dialektische Weise, sprich immanent und von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Die Gesellschaft der Türkei verfaulte und befindet sich in einem desolaten Zustand. Dieser Zustand lässt sich auch nicht einfach durch eine Reihe juristisch-politischer Maßnahmen aus der Welt schaffen ließen. Derlei juristisch-politische Maßnahmen setzen ja gerade eine starkes gesellschaftliches Fundament voraus.</p><p>Es ist hier die Rede vom allgemeinen politischen Klima, das in Folge des Militärputsches vom 12. September [1980, Anm. d. Übers.] und des anschließenden Zusammenbruchs des Sozialismus vom Gefühl der Niederlage, vom Defätismus bestimmt wird. Zweifelsohne ist aus der Perspektive der sozialistischen Linken auch die Niederlage eine Form des Kampfes, jedoch führten die lang anhaltenden Jahre des Misserfolges schlussendlich dazu, dass sich eine Stimmung der tief sitzenden Hoffnungslosigkeit breitmachen und bestimmend werden konnte.</p><p>Das Kapital und die politische Macht beziehen ihre Stärke eben auch aus den zynischen Gefühlen, die die Gesellschaft durchdringen. Die nackte Gewalt des Regimes, die Willkür und Dreistigkeit der Macht der verschiedenen Staatsapparate führen dazu, dass sich im gesellschaftlichen Unbewussten pessimistische Reflexe ausbilden. Dieser Pessimismus ist der Grund dafür, weshalb der Glaube entsteht, man könne angesichts der nackten Gewalt und der herrschenden Willkür nichts unternehmen.</p><p>Die ungezügelte Herrschaft des Neoliberalismus in der Türkei gründet auf diesem zynischen Gefühl. In einer scheinbar unipolaren Welt – und obendrein in einem Land wie dem unsrigen, in dem die Linke von einem Militärputsch zerschlagen wurde – konnte er sich ohne große Widerstände und mit rasender Geschwindigkeit breitmachen und alle gesellschaftlichen Sphären besetzen.</p><p>Das Kapital nahm Tag und Nacht des Menschen in Beschlag und machte sich überall breit. Es errichtete seine Macht im Alltag der Menschen – der Arbeiter*innenklasse, der Mittellosen, der Unterdrückten und der popularen Kräfte. Das Alltagsleben wurde zu einem Feld, auf dem einzig und allein nach Pfeife des Kapitals getanzt wird. Denn es traf auf keinen langatmigen und organisierten Widerstand – obwohl es natürlich eine Menge von Widerständen gab, die diese Entwicklung aber bedauerlicherweise nicht aufhalten konnten.</p><p>Die Generationen, die nach dem Putsch [1980, Anm. d. Übers.] und dem Zusammenbruch des Sozialismus aufwuchsen, bemerkten diesen Siegeszug nicht einmal. Für sie und ihr alltägliches Leben ist diese Macht des Kapitals das Natürlichste, was es gibt. Schließlich waren Klassenkämpfe ja angeblich nicht mehr von Bedeutung (!). Aufgrund dieser leidvollen und gnadenlosen Prozesse wurden zunehmend breitere Teile der Bevölkerung aus der Politik entfernt, das alltägliche Leben der Menschen seitens des Kapitals belagert.</p><p>Aber der Gezi-Aufstand 2013 ist ein gesellschaftliches Ereignis gewesen, das die neoliberale Hegemonie gebrochen und in Stücke zerschlagen hat. Die historische und populare Energie dieses Aufstandes konnte sich durch eine ganze Reihe von Höhen und Tiefen hindurch erhalten und sich sogar, unzähliger Repressionen und Wahlbetrügereien zum Trotz, in Wahlergebnissen niederschlagen. Die neoliberale Belagerung des Kapitals muss durch eine popular-demokratische Kraft, hinter der die Energien des Gezi-Aufstands stehen, aufgebrochen und im alltäglichen Leben mit einer Gegenhegemonie zerschlagen werden.</p><p>Eingepfercht zwischen Hammer und Ambos von Armut und Entbehrung müssen die Lebensbereiche, die der Belagerung des Kapitals unterliegen, also die Stadtteile und Nachbarschaften, die Arbeitsplätze, die Häuser und Straßen ihrerseits durch einen popularen Gegenangriff rückerobert werden. Arbeiter*innen, die an extremer Ausbeutung und Entfremdung leiden, müssen die Arbeiter*innenvereine wiederbeleben und sich in den neuen Gewerkschaften abermals engagieren. Sie müssen sich hier auf verschiedenen Ebenen weiterbilden und Erfahrungen mit Blick auf rechtliche und gesundheitliche Themen sammeln und sich in künstlerische Tätigkeiten einbringen.</p><p>In den Kulturhäusern und Quartiersvereinen muss darauf hingearbeitet werden, Prozessen der Entfremdung, der Atomisierung und Vereinsamung, der Entsolidarisierung und dem Verlust von Subjektivität Werte und Praxen der gemeinsamen Produktion, des Teilens, der Subjekt-Werdung, des Zusammenhalts und der Solidarität entgegenzusetzen. Das unwissenschaftliche und anti-demokratische Umfeld an den Sekundarschulen und Universitäten muss wiederum kompensiert werden durch alternative Kultur- und Kunstzentren. Frauen und LGBTI+-Personen, denen es nicht einmal erlaubt wird, Gedanken im Hinblick auf ihre Körper frei zu äußern, müssen im Rahmen von Solidaritätsnetzwerken ein Gegenbewusstsein und eine alternative politische Praxis entwickeln, in denen ihre Körper anerkannt und respektiert werden und die alltägliche Gewalt und Herabstufung zu Menschen zweiter Klasse bekämpft wird.</p><p>Kinder, allgemein die kommenden Generationen, die bildungstechnisch und gesellschaftlich am meisten vernachlässigt werden, müssen durch alternative Bildungsangebote in Sommerschulen und Solidaritätsvereinen in den Quartieren aufgefangen werden und auf deren Entfaltung muss hingearbeitet werden.</p><p>All diese Prozesse machen es unerlässlich, ein breites und auf gesellschaftlicher Solidarität basierendes Netz an Freiwilligen zu organisieren. Eine Organisation dieser Art ist nichts weiter als die fortlaufende Ausweitung der kleinen und größeren selbstorganisierten Räte und Solidaritätsnetzwerke.</p><h3><b>Quellen unserer Hoffnungen</b></h3><p>Vor dem Hintergrund der sich seit den März-Wahlen zusehends vertiefenden ökonomischen und politischen Krisen, müssen die Forderungen nach einer demokratischen Republik und einer demokratischen Verfassung klar und deutlich formuliert und künftige gesellschaftliche Verhältnisse in ihren Grundzügen gesetzt werden; wir müssen die Solidarität vergesellschaften und Schritte in Richtung ihrer Institutionalisierung machen.</p><p>Aufgrund der herrschenden Ungewissheit, in der der Faschismus Auftrieb hat und versucht, die popularen Kräfte psychologisch wie an sich zu zertrümmern, wird manch einer fragen, wie so etwas bewerkstelligt werden soll. Sorgen dieser Art haben ihre Berechtigung. Schließlich sehen wir, dass die Taktiken der herrschenden Regierung in den letzten Jahren prinzipiell darauf abzielt, die Organisierung der Bevölkerung in höchstmöglichem Maße zu verhindern, die Werktätigen zu desorientieren, ihre Hoffnungen zu zerstören und stattdessen durch Krieg, Gewalt, Massaker und Bomben Mauern der Angst zu errichten, und wenn es nötig ist auch politische Putsche anzuordnen.</p><p>Trotz alledem ist der gesellschaftliche Widerstand zu keiner Zeit erloschen. Von Frauen bis hin zu LGBTI+-Personen, von Kurd*innen bis hin zu den Alevit*innen sind weiterhin alle Widerstandsdynamiken aktiv. Kämpfe wie die der Flormar-Arbeiter*innen [erfolgreicher Arbeitskampf seitens der Arbeiter*innen des Kosmetikwarenherstellers Flormar, Anm. d. Übers.] und der Arbeiter*innen am 3. Flughafen von Istanbul zeigen, dass auch die Arbeiter*innenklasse jederzeit bereit ist, Widerstand zu leisten. Alle diese Widerstände und Kämpfe sind eben so viele Quellen der Hoffnung und der Stärkung unserer Moral. Das oben beschriebene Programm stellt den Rahmen dafür dar, all diese gesellschaftlichen Dynamiken revolutionär vereinen zu können – für das Ziel einer besseren, freieren Gesellschaft für den Großteil der Menschen in unserem Land.</p><p></p><hr/><p><b>Anmerkungen:</b></p><p><b>[1]</b> Taktische, vorübergehende Bündnisse sind dabei selbstverständlich möglich und auch wahrscheinlich, vor allem da die Kräfte der Restauration im Moment die „Opposition“ anführen. Letztlich sind weite Teile der Basis der jeweiligen Hauptoppositionsparteien selber für eine demokratische Alternative zu gewinnen.</p><p><b>[2]</b> Im Juli 1908 organisierten die radikalen Elemente der sogenannten Jungtürkischen Bewegung einen erfolgreichen Aufstand mit dem Zentrum in den mazedonischen und bulgarischen Gebieten des Osmanischen Reiches gegen den Absolutismus des Sultanats und für die Bewahrung des türkischen Reiches. Sultan Abdülhamid II. beugte sich ihrer Forderung nach der Wieder-Einführung der Verfassung und die kurzweilige „Zweite Verfassungsperiode“ (<i>İkinci Meşrutiyet</i>) begann; Anm. d. Red.</p><p><b>[3]</b> Die Errichtung der Türkischen Republik aus den Trümmern des Osmanischen Reiches infolge des Nationalen Unabhängigkeitskrieges (<i>Kurtuluş Savaşı</i>, 1919-23) unter dem General (<i>Paşa</i>) Mustafa Kemal wird auch als „kemalistische Revolution“ bezeichnet, da sie die radikale Loslösung vom Erbe des Osmanischen Reiches beabsichtigte; Anm. d. Red.</p></div>
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Erdoğans ziviler Putschversuch2019-05-07T13:59:37.075461+00:002019-05-07T13:59:37.075461+00:00Alp Kayserilioğlu, Güney Işıkara und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/erdo%C4%9Fans-ziviler-putschversuch/
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<div class="rich-text"><p>Gestern entschied die Hohe Wahlbehörde der Türkei (YSK) mit sieben gegen vier Stimmen, dass die Wahlen zum Bürgermeisteramt der Großstadt Istanbul annulliert und am 23. Juni wiederholt werden müssen. Gewonnen hatte die Wahl der Kandidat der Hauptoppositionspartei CHP, Ekrem Imamoğlu, der zugleich von fast allen oppositionellen Parteien unterstützt wurde.</p><p>Diese Entscheidung wurde begründet mit der Behauptung, dass einige Wahlurnenvorsitzenden keine Beamten gewesen seien. Angesichts all der Irregularitäten bei jeder Wahl in der Türkei – von denen in den letzten Jahren bisher keine wiederholt wurde – ist das eine lachhafte Begründung. Noch absurder wird diese Entscheidung durch die Tatsache, dass bei der Wahl am 31. März vier verschiedene Stimmzettel im selben Kuvert in die selbe Wahlurne geworfen wurden (Großstadt, Bezirk, Stadtparlament und Nachbarschaftsvorstand). Wie ist es dann zu erklären, dass nur eine dieser vier unterschiedlichen Wahlen annulliert wurde, nämlich die Wahl zum Oberbürgermeisteramt der Großstadt Istanbul? Und wieso wurden davor schon alle Anträge der HDP in anderen Provinzen, die mit nur minimalem Unterschied entschieden wurden und wo es offensichtlichere Beweise für Fälschung gibt, abgelehnt? Außerdem waren auch in früheren Wahlen nicht alle Wahlvorsitzenden Beamte. Es ist also völlig klar, dass diese Entscheidung der YSK keine „technische“ oder „juristische“ ist, sondern eine eminent politische. Und diese Entscheidung sollte als das benannt werden, was sie ist: ein ziviler Putschversuch Erdoğans und seiner Verbündeten.</p><p><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">In unserer Analyse direkt nach den Lokalwahlen</a> haben wir darauf hingewiesen, dass die Wahlen – besonders in Istanbul – umkämpft blieben. Es ging dabei freilich nicht nur darum, wer den nächste Oberbürgermeister von Istanbul stellen wird. Es ging um die Zukunft der Türkei und um die Zukunft des bestehenden AKP-MHP Regimes und ihrer Verbündeten in Staat und Gesellschaft.</p><p>Die Entscheidung des YSK wird vermutlich zu einer Vertiefung der Hegemoniekrise des Regimes führen. Die Entscheidung fiel in einer ohnehin schon von multiplen Krisen durchzogenen Situation statt. Die offensichtlichste und drängendste Krise ist <a href="https://www.jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">die ökonomische Krise</a>. Die Lage hat sich nach den Wahlen nicht verbessert, ganz im Gegenteil: das Schlimmste steht wohl erst bevor. Die offiziellen Statistiken sind aufgrund eigenwilliger Berechnungsmethoden mit Vorsicht zu gebrauchen, aber selbst gemäß der offiziellen Daten hat die Arbeitslosigkeit im Januar 2019 14,7 Prozent erreicht, die Jugendarbeitslosigkeit sogar 26,9 Prozent. Die Lira hat weiter an Wert verloren und stürzte in den letzten Tagen nochmal besonders ab. Anzeichen auch auf nur eine leichte Erholung im produktiven Sektor gibt es nicht.</p><p>Weiters gibt es einen fortdauernden Kampf um die Position der Türkei im Weltsystem. Das Verhältnis zur USA und zur NATO ist wieder einmal angespannt, nachdem die Türkei nicht von der Entscheidung zurücktrat das russische S-400 Raketensystem zu kaufen. US Vizepräsident <a href="https://www.rt.com/news/455485-turkey-must-choose-between-remaining/">Mike Pence meinte daraufhin harsch</a>, dass sich die Türkei zwischen Russland und der NATO entscheiden müsse. Außerdem steht die Einführung der Iran-Sanktionen auch für die Türkei an.</p><p>Ein weiteres wichtiges Ereignis ereignete sich nur wenige Stunden vor der Erklärung der YSK. Nach etwa acht Jahren durfte Abdullah Öcalan, der inhaftierte ehemalige Vorsitzende der PKK, zum ersten Mal von Anwält*innen auf der Gefängnisinsel Imralı besucht werden. Öcalan und drei weitere Inhaftierte gaben eine kurze <a href="https://t24.com.tr/haber/ysk-nin-istanbul-secimiyle-ilgili-karar-oturumu-basladi,819884">Erklärung</a> ab, die von den Anwält*innen verlesen wurde. Diese Erklärung wurde von manchen Beobachter*innen als Aufruf zu einer Rückkehr zum Lösungsprozess zwischen türkischem Staat und kurdischer Bewegung verstanden. Die zeitliche Koinzidenz führte einige dazu zu behaupten, dass sich die Kurd*innen mit Erdoğan arrangiert hätten. Davon fand sich jedoch nichts in der Erklärung und ein Friedensprozess mit dem momentanen Regime scheint ohnehin undenkbar. Die PKK-Inhaftierten erklärten entgegen des Statements von Öcalan die <a href="http://sendika63.org/2019/05/aclik-grevindeki-mahpuslar-talebimiz-kabul-edilinceye-kadar-eylemimiz-surecek-546894/">Fortführung</a> ihres Hungerstreiks – Öcalan bevorzugte ein Ende desselben –, die HDP gab kund, dass sie dieselbe Strategie verfolgen werde wie am 31. März – sie hatte in Istanbul und anderen Städten die CHP unterstützt und wurde somit zum Königsmacher – und lud zu einem gemeinsamen Kampf „<a href="http://sendika63.org/2019/05/hdp-dun-ne-yaptiysak-yarin-da-onu-yapmaya-devam-edecegiz-546857/">gegen den Faschismus</a>“ ein.</p><h2><b>Herrschender Block im Widerstreit</b></h2><p>Was also waren die wirklichen Gründe für die Annullierung der Wahlergebnisse in Istanbul?</p><p>Zum einen hatten schon direkt nach der Wahl Kräfte innerhalb der AKP die Gültigkeit der Wahlergebnisse mit fadenscheinigen Gründen angezweifelt. Es hat fast drei Wochen gedauert, bis die Stimmen in vielen Bezirken Istanbuls auf Antrag der AKP wegen „Irregularitäten“ ausgezählt wurden. Am Endergebnis konnten sie nichts ändern. Also musste sich die AKP einen neuen Vorwand ausdenken.</p><p>Der herrschende Block hatte allerdings von Anfang an keine einheitliche Position oder Strategie nach den Wahlen. Es gab auch Kräfte in und nahe der AKP, die die Ergebnisse akzeptieren wollten und die AKP zur Selbstkritik aufriefen.</p><p>Es ist offensichtlich, dass die unterschiedlichen Teile des Regimes in Panik gerieten wegen den Wahlergebnissen und insbesondere wegen dem Möglichkeitshorizont, der sich damit für oppositionelle Kräfte öffnete. Die anfängliche Unsicherheit über den Umgang mit den Ergebnisse spiegelte sich auch in Erdoğan höchstpersönlich wider. Er oszillierte schon in der Wahlnacht zwischen einer selbstbewussten Akzeptanz der Wahlergebnisse und einer aggressiven Angriffshaltung. Es dauerte bis zum 4. Mai, bis er sich klar und <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-48160753">eindeutig</a> positionierte indem er den YSK dazu aufrief, die Wahlen in Istanbul wegen Wahlbetrugs zu annullieren und neue anzuberaumen. Damit kündigte er im Prinzip schon den gestrigen Beschluss an.</p><p>Ein besonders aktiver Akteur in der Phase nach den Wahlen war der TÜSIAD, die Lobbyvereinigung des Großkapitals in der Türkei schlechthin. Schon in der Wahlnacht rief der TÜSIAD zu wichtigen ökonomischen Reformen auf. Es fiel auf, dass Erdoğan dieselbe Rhetorik verfolgte in seinen Wahlnachtansprachen. Der TÜSIAD wies mehrmals darauf hin, dass der Wahlzyklus nun vorbei ist und sich alles um die Wirtschaft drehen müsse. Symbolschwer besuchte der TÜSIAD Erdoğan in seinem 1.150-Zimmer Palast zum Internationalen Arbeiter*innenkampftag, dem 1. Mai. Gleichzeitig aber besuchte der Chef der Koç-Gruppe – die größte finanzkapitalistische Gruppe der Türkei – Ekrem Imamoğlu am Tag der YSK-Entscheidung zu den Wahlen in Istanbul. Nach der YSK-Entscheidung gab der TÜSIAD zu verstehen, dass er die Entwicklung „<a href="http://sendika63.org/2019/05/tusiad-secim-ortamina-donmek-kaygi-verici-546737/">besorgniserregend</a>“ finde.</p><p>Während das Großkapital extrem besorgt ist um die sich verschärfende Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit der Hegemoniekrise, ist Istanbul offensichtlich zu wichtig für das Regime, um darauf verzichten zu können. Neben seiner kulturellen, historischen und symbolischen Bedeutung ist Istanbul vor allem das Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt 20 Prozent der Bevölkerung der Türkei.</p><p>Zweitens zeichnete sich die AKP-Herrschaft in Istanbul durch ausufernde Korruption aus, die die Opposition jetzt aufdecken könnte. Sowas würde höchstwahrscheinlich zu einem noch schwereren Reputationsverlust der AKP führen. Als Ekrem Imamoğlu die Kopie aller Datenbanken der Munizipalität der letzten Jahre zwecks Überprüfung orderte, wurde dies dementsprechend umgehend gerichtlich <a href="https://ahvalnews.com/ekrem-imamoglu/turkish-court-halts-new-istanbul-mayors-order-copy-municipality-database">unterbunden</a>.</p><p>Und nicht zuletzt ließ sich eine Veränderung der allgemeinen Mentalität wahrnehmen, nachdem die AKP die größten Städte bei den Wahlen verlor. Angesichts des Grades der Faschisierung des derzeitigen Regimes und auf dem Hintergrund der Wirtschaftskrise besitzt dasselbe offensichtlich keine Flexibilität mehr, um eine potenziell neu entstehende Welle der Hoffnung in der Bevölkerung auf Veränderung einzuhegen.</p><h2><b>Rückkehr des Horrors?</b></h2><p>Es ist im mindesten naiv anzunehmen, das Regime habe Neuwahlen in Istanbul erzwungen, um dann „hoffentlich“ ein besseres Ergebnis einzufahren. Sie werden ganz sicher einen Plan haben, wie sie dieses Ziel aktiv herbeiführen. Das heißt aber nicht, dass ihr Plan auch aufgehen wird. Viel wird davon abhängen, was die Opposition und insbesondere die popularen Kräfte dem entgegenzusetzen haben.</p><p>Das Land machte schon einmal einen ähnlichen Prozess durch, nämlich als die AKP im Juni 2015 die Mehrheit verlor. Auch damals schon optierte die AKP für Neuwahlen, die dann im November 2015 stattfanden. In der Zwischenzeit wurde das Land in Blut getränkt, Krieg und Bomben dominierten den Alltag. <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-secim-yenilenirse-istanbul-u-aliriz,819245">Tatsächlich</a> verwies Erdoğan höchstpersönlich vor ein paar Tagen auf diese Periode hin, als er argumentierte sie würden Istanbul wieder gewinnen im Fall von Neuwahlen. Sie werden vermutlich alles auf die Karte setzen, die Opposition über die „Kurdenfrage“ und den „Kampf gegen den Terrorismus“ zu spalten. Und eventuell werden wieder die Bomben hochgehen.</p><p>Ein Beispiel für die „Wahlkampfstrategie“ des Regimes wurde am 22. April 2019 gegeben, als der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu von einem Mob fast <a href="https://bianet.org/english/politics/207710-attack-against-chp-chair-kemal-kilicdaroglu-at-the-funeral-of-a-soldier">gelyncht</a> wurde auf einem Soldatenbegräbnis bei Ankara. Es waren kaum Sicherheitskräfte vor Ort. Hulusi Akar, der ehemalige Generalstabschef und derzeitiger Verteidigungsminister, war vor Ort und richtete sich an den Mob mit den <a href="https://bianet.org/english/politics/207710-attack-against-chp-chair-kemal-kilicdaroglu-at-the-funeral-of-a-soldier">Worten</a>: „meine verehrten Freunde“, und meinte: „ihr habt eure Botschaft gegeben“. Der Lynchversuch war organisiert, einige Teilnehmer stellten sich später als AKP-Mitglieder heraus – und wurden nach kurzer Zeit wieder aus der Haft entlassen.</p><p>Die „Botschaft“ ist in der Tat klar: Das Regime kann und wird seine paramilitärischen Kräfte und den Mob im Vorlauf zu den Wahlen nutzen. Der Faschisierungsprozess ist irreversibel vom Standpunkt des derzeitigen Regimes. Jede populare Opposition muss sofort unterdrückt werden, denn sonst könnte ziemlich schnell ein neuer Wind wehen. Aber die Notwendigkeit zur verschärfteren Repression ist zugleich ein weiterer Verlust der Fähigkeit ohne Gewalt zu regieren, so dass dem Regime nur mehr die Option bleibt, den Faschisierungsprozess noch weiter voranzutreiben.</p><h2><b>Populare Macht gegen den Faschismus</b></h2><p>Auf die Entscheidung des YSK folgten Massenproteste in vielen Bezirken Istanbuls. Der Bürgermeister der Stadt, Ekrem Imamoğlu, hielt eine Ansprache in derselben Nacht. Diesmal änderte er seinen bisherigen Stil und seine Rhetorik, wurde kämpferischer und agierte allgemein so, wie es ein Führer einer popularen Massenbewegung tut. Er wird erneut als CHP-Kandidat am 23. Juni antreten. Die CHP entschied sich also aktiv gegen einen Wahlboykott, was auf Grundlage der Stimmung in der Bevölkerung zwar möglich gewesen wäre, aber sicherlich ein Risiko beinhaltet, das die CHP als Staatspartei einzugehen nicht bereit ist.</p><p>Während wir nicht genau vorhersehen können, was jetzt passiert, können wir mit Sicherheit festhalten, dass die Annullierung der Wahlen ein hochriskantes Manöver von Erdoğan und seinen Verbündeten war, um die Kräfteverhältnisse in ihrem Sinne zu biegen. Abhängig von der Reaktion und Aktion der anderen Akteure kann diese Aktion aber auch nach hinten losgehen und das Regime in eine noch tiefere Krise stürzen.</p><p>Die spontanen Massenproteste der Menschen auf den Straßen, die die Slogans und Symbole des Gezi-Aufstandes 2013 wiederbelebten, sind eine positive Entwicklung, die von den popularen und demokratischen Kräften verstärkt werden muss. Der Ausgang der derzeitigen Kämpfe wird von den popularen Kräften entschieden werden. Wenn sie die Initiative übernehmen und den Erfolg des zivilen Putschversuch des Regimes verhindern können, dann erst kann sich ein Demokratisierungsprozess in der Türkei einstellen.</p></div>
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<div class="rich-text"><p>Am Sonntag, den 31. März fand in der Türkei der siebte Urnengang in fünf Jahren statt. Diesmal standen Lokalwahlen an, die jedoch aufgrund der fortdauernden Hegemoniekrise und Faschisierung des Regimes, angeführt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, an enormer Bedeutung gewonnen hatten. Angesichts dieser Umstände hat jeder Wahlgang immer auch den Charakter eines Referendums über das Regime an sich. Die Wahlen, die immer noch umstritten sind, weisen jedoch auf eine bedeutende Veränderung in der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung und eine Verschiebung der politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hin. Steht ein türkischer Frühling an?</p><h2><b>1 - Die Wahlen waren nicht demokratisch…</b></h2><p>Mainstreammedien und Politiker*innen in der Türkei reden von einem „Sieg der Demokratie“ bei den Lokalwahlen. Es kann nicht oft genug betont werden: Die Lokalwahlen waren, unabhängig vom Ergebnis, keine „normalen“ demokratische Wahlen und es gab seit Jahren keine solchen normalen demokratischen Wahlen in der Türkei. Die gesamte Opposition wurde von Erdoğan als „Terrorist*innen“ bezeichnet und seine Minister und Verbündeten drohten damit, alle gewählten aber ungewünschten Bürgermeister*innen und Ratsmitglieder – in <a href="https://www.voanews.com/a/erdogan-threatens-to-reverse-local-election-results/4809852.html">erster Linie</a> die der <i>Demokratischen Partei der Völker</i> (HDP) – abzusetzen und durch zentralistisch bestimmte Verwalter*innen zu ersetzen. Darüber hinaus wurden hunderte, tausende von Menschen – wiederum in erster Linie HDP-Mitglieder – im Vorlauf zur Wahl noch bis zum letzten Tag festgenommen und verhaftet. Viele führende Politiker*innen der HDP, darunter der frühere Ko-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş, sitzen seit Jahren im Gefängnis. Die Medien sind unter umfassender Kontrolle des Regimes und fungieren als Propagandamaschine desselben. Zuletzt wurden auch bürgerliche und rechte Oppositionelle mit Prozessen und potentiellen Gefängnisstrafen bedroht und zwar wiederum vom Präsidenten höchstpersönlich. Nicht zuletzt wurde eine de facto Präsidialdiktatur über die letzten zwei Jahre hinweg institutionalisiert. Angesichts dieser Umstände von der demokratischen Tradition in der Türkei zu sprechen macht nur Sinn, wenn damit die demokratischen Bestrebungen und Kämpfe der Menschen <i>trotz und gegen</i> das bestehende Regime und dessen Faschisierung gemeint sind.</p><h2><b>2 - … und die Wahlnacht verlief höchst dubios.</b></h2><p>Während die Stimmenabgabe vergleichsweise ruhig verlief, kam es dann abends und nachts bei der Stimmenauszählung und Bekanntgabe der Resultate zu einer Reihe von mysteriösen und höchst dubiosen Ereignissen.</p><p>Exakt um 23:11 Uhr, als angeblich 91 Prozent aller Wahlurnen ausgezählt und ins System gespeist waren, hörten die Medien <a href="https://t24.com.tr/haber/yuzde-98-78-i-6-saatte-sayilan-istanbul-oylarinin-yuzde-1-22-si-24-saatte-nasil-sayilamadi-31-mart-gecesi-istanbul-da-neler-yasandi,815008">abrupt</a> damit auf, weiter neue Informationen zu übermitteln – und dieser Stopp dauerte ungefähr zehn Stunden an. Die staatliche Nachrichtenagentur<i> Anadolu Ajansı</i> (AA), die einzige mediale Quelle der Wahlergebnisse, und auch die Hohe Wahlbehörde (YSK), die offiziell mit der Abwicklung der Wahl betraut ist, lieferten keine Erklärung für diesen abrupten Stopp. Der Zeitpunkt dieser plötzlichen Unterbrechung war kein Zufall. Ankara war bereits an den Kandidaten der <i>Millet İttifakı</i> (Bündnis der Nation), Mansur Yavaş von der<i> Republikanischen Volkspartei</i> (CHP) übergegangen, und in Istanbul reduzierte sich der Vorsprung des Kandidaten der <i>Cumhur İtifakı</i> (Volksallianz), dem früheren AKP-Premierminister Binali Yıldırım rasant. Aber Yıldırım trat bald vor die Kameras und erklärte sich direkt zum Sieger und somit zum neuen Bürgermeister Istanbuls. Erdoğan selbst hielt sich bei seiner ersten Rede noch zurück und sehr „präsidial“, äußerte sich aber bis heute nicht eindeutig zur Lage in Istanbul oder in Ankara.</p><p>Es sah alles danach aus, als ob das Regime wieder vor unser aller Augen die Wahlen massiv fälschen würde. Während die Opposition in den Jahren zuvor immer „Wahlbetrug!“ kreischte, aber nichts unternahm, lief es diesmal anders ab. Der Oppositionskandidat der CHP in Istanbul, Ekrem Imamoğlu trat sofort vor die Kameras und erklärte, dass die Informationen, die ihm vorlägen, einen Vorsprung für ihn zeigten und nicht mit den offiziell verbreiteten Daten übereinstimmten. Bis zum Morgengrauen trat Imamoğlu insgesamt beeindruckende elf Mal vor die Kameras. Er forderte AA und die YSK dazu auf, ihre Arbeit zu erledigen und bei einem klaren Ergebnissen dies auch kundzutun. Während all dies vor sich ging fanden einige hektische Sitzungen von führenden AKP-Kadern statt, sowohl in Istanbul wie auch in Ankara. Erdoğan flog von Istanbul nach Ankara, um seine Balkonrede in der AKP-Zentrale zu halten und flog dann wieder zurück. In der Nacht tauchten dann AKP-Plakate auf den Werbeflächen in Istanbul auf, die Yıldırım zum Sieger erklärten.</p><p>Erst in den Morgenstunden des 1. April löste sich der Knoten so langsam. Als Imamoğlu das zehnte Mal vor die Kameras trat, <a href="https://www.reuters.com/article/us-turkey-election-count-akp/turkeys-akp-candidate-declares-victory-in-istanbul-opposition-says-premature-idUSKCN1RC0UG">erklärte er</a>, dass er unzweifelhaft der Sieger der Wahl in Istanbul sei, die offiziellen Stellen dies aber nicht bekannt geben würden, obwohl sie es wüssten. Er erklärte sich dann in Eigeninitiative zum Bürgermeister von Istanbul. Noch wichtiger aber war, dass <a href="https://halktv.com.tr/yerel-secim-2019/ysk-baskani-sadi-guven-oylari-acikladi-389028h">letztlich</a> um etwa neun Uhr auch der YSK-Präsident Sadi Güven eine offizielle Erklärung abgab. Die AA hatte zwischenzeitlich verlauten lassen, dass der Informationsfluss von der YSK gestoppt habe und sie deshalb keine neuen Zahlen präsentieren konnten. Der YSK-Präsident hingegen erteilte der AA eine Abfuhr und meinte, „sie sind nicht meine Kunden, ich weiß nicht, wo sie ihre Informationen herhaben“. Er fügte hinzu, dass gemäß der ihm vorliegenden Daten Imamoğlu in Istanbul uneinholbar vorne läge. Die beiden staatlichen, im Grunde direkt an den Präsidenten gebundenen Institutionen standen nun in direktem Konflikt zueinander. AA fügte sich dann plötzlich der YSK und aktualisierte die Daten. Das Regime erkannte das Ergebnis aber immer noch nicht an und machte klar, dass sie die Ergebnisse anfechten würden. Bei dem derzeitigen Konflikt geht es zwar vor allem um Istanbul und Ankara, aber in einer ganzen Reihe von Städten fiel die Entscheidung für Regime wie auch Opposition hauchdünn aus, so dass derzeit Ergebnisse heftig angefochten werden in Bursa, Balıkesir, Uşak, Muş oder Iğdır. <a href="https://twitter.com/Turkey_Monitor/status/1113401575026974720">Mittlerweile</a> redet die regimetreue Revolverpresse vom „Wahlputsch“ (!) der Opposition und bringt diesen teils in Zusammenhang mit „Terrorismus“, während sich Erdoğan ungewöhnlich still verhält. Vermutlich wartet er ab, ob der Coup seiner Partei gelingt oder nicht, um sodann wieder in die Offensive zu gehen. Die Intrigen und das Drama der Wahlnacht sind noch längst nicht vorbei.</p><h2><b>3 - Die AKP hat an Macht eingebüßt – gegenüber der Opposition, aber auch gegenüber ihrem Hauptbündnispartner.</b></h2><p>Wenn die <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/secim/31-mart-2019-yerel-secimleri/secim-sonuclari">Resultate</a> in etwa so bleiben, wie sie im Moment sind, dann kann mit Sicherheit festgehalten werden, dass es bedeutende Gewinne für die oppositionelle Bündnis der Nation der CHP und der Guten Partei (IYI), einer MHP-Abspaltung, gibt, während die AKP eine herbe Niederlage einstecken musste.</p><p>Die AKP verlor die beiden führenden politischen, ökonomischen und kulturellen Machtzentren der Türkei, nämlich Ankara und Istanbul. Diese Niederlage hat enorme symbolische und gesellschaftliche Bedeutung, da die AKP und ihre Vorläuferorganisationen die beiden Städte seit 1994 ununterbrochen regierten. Insgesamt konnte die Hauptopposition den Großteil der Großstädte gewinnen. Sie kann nun auf große ökonomische und politische Ressourcen zurückgreifen und hat darüber hinaus die Möglichkeit, den Korruptionssumpf insbesondere in Istanbul und Ankara trocken zu legen und durch Öffnung alter Akten vergangene Korruption ans Tageslicht zu bringen. Mehr noch, die Großstädte, die die Opposition gewonnen hat, bringen zusammen über 60 Prozent des BIP der Türkei auf.</p><p>Die faschistische, ultranationalistische MHP, der Hauptpartner der AKP, kann wieder als <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-47769339">ein Sieger</a> der Wahl angesehen werden. Der relativ niedrige Stimmenanteil von – momentan – 7,31 Prozent sollte darüber nicht hinweg täuschen, denn in den meisten großen Städten unterstützte die MHP die AKP. Interessanterweise war die MHP stark in den Städten, in denen AKP und MHP separat antraten, und gewann 33 Prozent dieser Städte und sieben Städte, die bisher von der AKP gehalten wurden. Insgesamt erhöhte die MHP die Zahl der Städte in ihrer Kontrolle von acht auf elf – wobei sie die beiden Großstädte Adana und Mersin an die CHP verloren hat.</p><p>So konnte die MHP innerhalb der Volksallianz ihre Position erneut stärken. Sie ist <a href="https://www.jacobinmag.com/2018/06/turkey-elections-erdogan-akp-mhp-chp">nicht</a>, wie oft behauptet, der Schoßhund der AKP, sondern im Gegenteil ein wichtiger Teil der Volksallianz, der seinen Einfluss im Staat sukzessive ausbauen konnte. Umso mehr sich die Hegemoniekrise vertieft und die AKP an Führungsfähigkeit einbüßt, umso mehr wird das nationalistisch-etatistische Lager, das derzeit im Bündnis mit der AKP ist, die Geschicke des Landes bestimmen können.</p><p>Was mit der Guten Partei passieren wird, ist noch nicht klar. Sie spielte zwar eine wichtige Rolle im Bündnis der Nation und konnte viele wichtige Stimmen von der MHP für das Bündnis gewinnen, jedoch keine einzige Provinz. Es wird sich erst in der näheren Zukunft zeigen, welche Rolle die Partei künftig in der politischen Landschaft der Türkei spielen wird.</p><h2><b>4 - Die HDP war ein Königsmacher.</b></h2><p>Die Rolle der HDP in den Wahlen wurde im Vorlauf zu den Wahlen meist heruntergespielt oder ignoriert, aber die Taktik der HDP war überaus klug und flexibel. Die grundlegende Perspektive war: erstens, die Gemeinden und Städte in den kurdischen Regionen im Südosten, in denen statt der HDP-Bürgermeister*innen staatliche Zwangs-Verwalter*innen eingesetzt wurden, zurückzugewinnen und, zweitens, im Westen in vielen strategisch wichtigen Städten keine Kandidat*innen zu nominieren und somit die Opposition gegen die Volksallianz zu unterstützen. Im Westen ging diese Strategie voll auf und die HDP wurde zum Königsmacher. Der neugewählte Co-Bürgermeister von Diyarbakır, Adnan Selçuk Mızraklı brachte das auf Twitter poetisch an die HDP-Wähler gewandt zum Ausdruck: „Ihr habt die Glühbirne [Symbol der AKP] ausgemacht, denn die Sonne ging auf.“ Es wäre unmöglich für die CHP gewesen Istanbul, aber auch Adana und Mersin ohne die HDP-Stimmen zu gewinnen. In all diesen Städten hält die HDP über 10 Prozent der Stimmen und damit mehr als die Gute Partei oder irgendeine andere Unterstützerin der CHP.</p><p>Im Südosten gewann die HDP zwar viele Gemeinden und Städte wie Diyarbakır, Mardin und Van wieder zurück, musste aber zugleich einige <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-47769338">herbe Verluste</a> einstecken. So hat sie Ağrı, Şırnak und Bitlis an die AKP verloren, Dersim/Tunceli wurde von einem unabhängigen kommunistischen Kandidaten gewonnen. Die HDP erklärte diese Verluste mit dem massiven Versetzen von Polizist*innen und Militärpersonal in diese Regionen und die andauernden <a href="https://t24.com.tr/haber/pervin-buldan-sirnak-i-kaybetmedik-sirnak-gasp-edildi,814878">heftigen Repression</a>. Wer die Region kennt, weiß, wie heftig die Lage ist und dass so etwas sicher seinen Teil zu den Ergebnissen beigetragen haben kann. Es ist aber <a href="https://twitter.com/yvofitz/status/1112711965640663041">nicht unwahrscheinlich</a>, dass eine gewisse Ermüdung angesichts dauerhaften Konfliktes und der Wunsch nach funktionierenden kommunalen Dienstleistungen auch wichtige Faktoren waren, die das Ergebnis beeinflussten. Die HDP gewann auch schon vor der Ära der Zwangs-Verwalter allgemein in Lokalwahlen weniger Stimmen als in nationalen Wahlen und eine Reorientierung auf lokale Infrastruktur und die Bedürfnisse der Bevölkerung werden – trotz und gegen die massive Repression – notwendig sein, damit die Partei in ihren Kernregion wieder an Stärke und Einfluss gewinnen kann.</p><h2><b>5- Eine Restauration bahnt sich an, wir sollten achtsam bleiben.</b></h2><p>Auch wenn die Wahlergebnisse augenscheinlich sehr positiv für alle demokratischen und sozialistischen Kräfte zu sein scheinen, gilt es vorsichtig und wachsam zu sein. Es bahnt sich gerade ein sehr widersprüchlicher Prozess der Restauration an, der Teile der Regimekräfte sowie den Hauptteil der Oppositionsparteien umfasst und eine inklusivere Form der Krisenlösung anstreben könnte.</p><p>Erdoğans <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-aciklama-yapiyor,814850">erste Rede</a> und seine spätere „<a href="https://www.cnnturk.com/video/turkiye/son-dakika-cumhurbaskani-erdogan-balkon">Balkonrede</a>“ in der Wahlnacht enthielten wichtige Elemente, die in diese Richtung weisen. Er hob klar hervor, dass die Volksallianz immer noch mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt (nämlich 51,6 Prozent nach derzeitigem Stand). Das heißt, dass die Volksallianz in absoluten Stimmanteilen nur wenig abgebaut hat im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2018 (damals 53,7 Prozent). Erdoğan fügte hinzu, dass es nun 4,5 Jahre keine Wahlen mehr geben würde und dass sich das Land jetzt auf ökonomische wie außenpolitische Angelegenheiten konzentrieren müsse, wobei er die „Lösung“ des „Rojava-Problems“ explizit erwähnte. Es ist kein Zufall, dass die Teile seiner Reden, die sich auf Wirtschaftspolitik bezogen, <a href="https://twitter.com/KansuYildirim/status/1112633681653444608">geradezu identisch</a> waren mit den entsprechenden Teilen der vor der Wahl abgegebene Erklärung der größten kapitalistischen Lobby-Gruppe des Landes, der TÜSIAD. Gleichzeitig sagte Erdoğan, dass er und die AKP die Wahlergebnisse akzeptieren würden und jetzt nicht die Zeit sei, enttäuscht zu sein, nur weil die Ergebnisse nicht wie gewünscht seien. In drohendem Tonfall fügte er gleich mehrmals hinzu, dass „wir schon sehen“ werden, wie gut die Opposition die neu von ihr gewonnenen Städte regieren werden könne.</p><p>Andererseits trat die Hauptopposition vergleichsweise sehr milde auf. Man wird sich noch erinnern an die Worte des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der CHP, Muharrem Ince, der meinte, dass sie sich zuerst Istanbul und Ankara zurückholen und dann Präsidentschaft sowie Parlament wieder gewinnen würden. Solche und ähnliche Ansagen suchte man vergebens in der Wahlnacht, als sich der Sieg der Opposition herauskristallisierte. Mansur Yavaş in Ankara wie auch Ekrem Imamoğlu in Istanbul verzichteten auf jegliche kämpferischen Ansagen bezüglich möglicher politischer Perspektiven und gaben sich im Gegenteil sehr versöhnlerisch. Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, brachte es <a href="https://www.chp.org.tr/haberler/chp-genel-baskani-kemal-kilicdaroglunun-basin-toplantisi-31-mart-2019">auf den Punkt</a>, als er sagte: „Siege gewinnt man gegen Gegner; wir haben nicht gesiegt, sondern waren erfolgreich“. Hauptoppositionsführer*innen wie Führungspersönlichkeiten des Regimes bedienten, bei allem Detailunterschied, den Diskurs, dass niemand verloren, sondern „die Türkei gewonnen“ hätte. Alle beendeten ihre Erklärungen damit, dass es jetzt darum gehe ans Werk zu gehen und die wichtigen Probleme anzupacken.</p><p>Und die HDP? Ein sehr populärer Slogan des Bündnisses der Nation lautete: „Am Ende des März kommt der Frühling“. Wenn allerdings nicht vom Kurdischen Frühling, der die Siege in Istanbul, Adana und Mersin überhaupt erst möglich machte, gesprochen wird, noch weniger sich darum bemüht wird, diesen politischen gebührend anzuerkennen und zu integrieren, dann ist vorgezeichnet, wohin die Reise gehen soll.</p><p>Wir haben oft <a href="http://www.criticatac.ro/lefteast/communal-elections-tr2019/">darauf hingewiesen</a>, dass die Hauptparteien der Opposition – CHP und Gute Partei – die<i> Kräfte der Restauration</i> organisieren. Das heißt, dass sie darauf abzielen, die derzeitige soziale und politische Ordnung zu stabilisieren, indem sie Erdoğan stürzen oder bändigen, ohne doch dabei die Fundamente jener Ordnung zu ändern – insbesondere was die wirtschaftlichen Fundamente angeht. In der momentanen Situation sieht es so aus, als ob die Kräfte der Restauration einen Machzugewinn verzeichnet haben. Das hat sicherlich mit der Tiefe der wirtschaftlichen Krise und weiters auch damit zu tun, dass der Unmut der Menschen ein selbstsichereres Auftreten der Opposition möglich macht, ja sie geradeheraus dazu zwingt. Dies dürften auch die Hauptgründe dafür sein, dass sich die Opposition in der Wahlnacht, als die AKP ihren – ersten – Coup plante, so klar dagegen positionierte und im Gegensatz zu früheren ähnlichen Situationen standhaft blieb. Höchstwahrscheinlich waren dies auch die zentralen Gründe dafür, dass sich bestimmte Teile des Staates und sogar der AKP dazu genötigt fühlten, Erdoğan und seine Clique zu drängen, die Wahlresultate anzuerkennen. Die Situation ist derzeit so kritisch und die Unfähigkeit des dominanten Blocks, die Hegemoniekrise zu verwalten, so offenkundig, dass eine Tendenz an Kraft gewinnt, die die unterschiedlichen Hauptkräfte des dominanten wie des oppositionellen Blocks zusammendrängt, damit die umfassende Hegemoniekrise gemeinsam überwunden werden kann. Aber zu dieser Tendenz gibt es innerhalb der Eliten auch Gegentendenzen, denn eine breite Zusammenarbeit würde bedeuten, dass die oppositionellen Kräfte innerhalb der Kräfteverhältnisse bedeutend an Macht gewinnen würden. Der Widerspruch der Herangehensweisen drückt sich nicht nur im Verhältnis der Staatsapparate zueinander aus, wie oben ausgeführt am Beispiel des Verhältnisses von AA und YSK. Sie drückt sich auch in Erdoğans Handeln selbst aus, der in ein und derselben Nacht oszillierte zwischen einer etwas versöhnlerischer und pragmatischeren und einer selbstbewusst-aggressiveren, ausschließenden Herangehensweise. Erdoğan könnte durchaus in eine Gegenoffensive übergehen, wie er dies schon nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 getan hatte – der ersten Wahl, in der die AKP empfindliche Einbußen verzeichnen musste. Er könnte aber auch den Kräften der Restauration ihren Raum einräumen und sich selbst als Führer der Restauration präsentieren. Auch seine Partei scheint sich noch nicht sicher zu sein darüber, ob sie einen offenen Putsch gegen die Wahlergebnisse lancieren oder sie doch lieber akzeptieren möchte. Und dann gibt es da noch die Bündnispartner von Erdoğan, die sichtbaren wie die MHP und die unsichtbaren, die sich lieber in den Schatten aufhalten. Was werden sie sagen, falls das Regime tatsächlich an Macht einbüßt?</p><p>Es ist, kurz gefasst, nicht klar, welche dieser allgemeinen Tendenzen sich letztlich durchsetzen wird, ja, ob überhaupt eine der Tendenzen längerfristig die Oberhand behalten wird. Derzeit sieht es danach aus, als ob die Tendenz zur Restauration in der kommenden Periode erstarken wird. Aber dieser Prozess ist durchsetzt mit Gegen-Tendenzen und Widersprüchen, deren Umfang und Tiefe bestimmt werden von der Dimension der Krise, sowie den Differenzen bezüglich Herangehensweise und Machtposition des dominanten wie oppositionellen Blocks. Und, sie werden natürlich bestimmt werden von den Massenkämpfen, so sie stattfinden.</p><h2><b>6 - Die Möglichkeiten und Aufgaben der popularen Kräfte.</b></h2><p>Selbst kleine Risse und Brüche im Machtblock und seiner despotischen Ordnung angesichts einer sich vertiefenden, allumfassenden Krise eröffnen Möglichkeiten für die popularen Kräfte. Die Wahlen sind vorbei, aber der Kampf um die Zukunft hat eben erst begonnen und wird mit Sicherheit eine Weile andauern. Die ökonomische Krise ist nicht einfach mit dem Ende der Wahl verschwunden und der Kampf darüber, wer für die Krise bezahlen wird, wird weitergehen. Obwohl die führenden Kräfte des Oppositionsblockes für die Restauration optieren, die sie in den Machtblock integrieren wird – denn die hauptsächlichen Staatsapparate kontrolliert ja immer noch der dominante Block –, ist die Stimmung und Moral in der Bevölkerung im Aufschwung begriffen. Die Forderungen der verschiedenen Basen der Parteien, der popularen Kräfte sind teils viel radikaler als die restaurativen Ansprüche der jeweiligen Führung.</p><p>Der Sieg der Opposition wurde in erster Linie durch eine weit verbreitete Wut in der Bevölkerung auf die AKP und Erdoğan und der standfesten Haltung der kurdischen Bewegung zustande gebracht. Der Unmut über die soziale Lage und die permanente Krise führte viele Menschen dazu, nicht in erster Linie für die Opposition, sondern gegen das Regime zu stimmen.</p><p>Die popularen Kräfte dürfen die Wahl – selbst wenn sie so stehen sollte – nicht einfach als Erfolg feiern und sich darauf ausruhen. Sowohl der mögliche Gegenangriff, wie auch eine mögliche Restauration werden den Bedürfnissen der popularen Kräfte nicht entsprechen können. Es gilt die gesellschaftlichen Dynamiken zu organisieren und konkrete Forderungen zu stellen, so zum Beispiel die Aufarbeitung der Korruption in der AKP-Periode in Städten wie Ankara und Istanbul, und vor allem die Forderung nach einer neuen, demokratischen Verfassung.</p><p>Der von unterschiedlichen gesellschaftlichen Dynamiken getragenen Kämpfe in der Türkei, allen voran Kurd*innen, Feminist*innen, LGBTQ+ Individuen, Alevit*innen, Arabische Alevit*innen und der Arbeiter*innenklasse gegen den despotischen Staat und den Neoliberalismus sowie für eine demokratische Republik sind zwar seit Gezi manchmal mit Repression zurückgedrängt worden, aber nie abgerissen. Jetzt ist genau der Zeitpunkt, an dem es gilt, die Initiative zu ergreifen und die Risse im Machtblock auszunutzen, um eine radikalere Agenda zu pushen. Es sind einzig und allein die popularen gesellschaftlichen Dynamiken, die sowohl den Winter eines Gegenangriffs, wie auch die Restauration durch einen Frühling abwenden können, den die CHP in ihrem Wahlsong versprochen hatte und den sie selbst nie wird bringen können.</p><p></p><hr/><p>Der Artikel <a href="https://www.jacobinmag.com/2019/04/turkey-elections-erdogan-akp-ysk-hdp"><i>Daylight In Turkey?</i></a> erschien ursprünglich auf Englisch im <i>Jacobin Magazine</i> vom 3. April 2019. Er wurde aus dem Englisch ins Deutsche übersetzt und leicht verändert von Max Zirngast und Alp Kayserilioğlu.</p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
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TÖP: Versuch der Sabotage unserer Parteiinitiative2018-09-12T18:10:26.517484+00:002018-09-12T18:10:26.517484+00:00TÖPredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%B6p-versuch-der-sabotage-unserer-parteiinitiative/
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<h1>TÖP: Versuch der Sabotage unserer Parteiinitiative</h1>
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<span class="content-copyright">TÖPG</span>
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<div class="rich-text"><p>
Gestern
wurden nach Razzien in Ankara und Hatay die TÖP-Mitglieder Mithatcan
Türetken und Hatice Göz als auch unser Zeitungsautor Max Zirngast
ohne Angabe von Gründen festgenommen und werden
seither willkürlich festgehalten. Gestern noch wurde bekanntgegeben,
dass die entsprechenden Akten geheim seien und deshalb unter
Verschluss stünden. Heute müssen wir feststellen, dass in Bezug auf
die Festnahme unserer FreundInnen provokative und frei erfundene
Anschuldigungen in den regierungsnahen Medien zu kursieren beginnen.
Dabei werden unsere Parteimitglieder und Max Zirngast, der als Autor
für <i>re:volt magazine</i> und <i>Jacobine Magazine</i> wie auch für unsere
monatliche Zeitung <i>Toplumsal Özgürlük</i> (dt.: Soziale Freiheit)
schreibt, mittels haltloser Behauptungen kriminalisiert. An dieser
Stelle wollen wir festhalten, dass unsere Bewegung schon seit einiger
Zeit in den Vorbereitungen zur Gründung als Partei steckt. Das
Gründungskomitee hat die entsprechenden Unterlagen bereits besorgt
und ist dabei, den offiziellen Antrag in die Wege zu leiten.
Währenddessen wurde vergangenen Monat unser Parteibüro, das wir in
Ankara gemietet hatten, grundlos geschlossen. Es ist klar, dass die
Parteiwerdung unserer Bewegung mit dieser Operation sabotiert werden
soll. Aber unser Gründungskomitee wird trotzdem die entsprechenden
Unterlagen in den kommenden Tagen einreichen. Wir werden entschlossen
weitermachen und uns von derlei Aktionen nicht einschüchtern lassen.
Wir fordern die sofortige Freilassung unserer FreundInnen.</p><hr/>Aus dem <a href="http://www.toplumsalozgurluk.org/top-partilesme-surecimiz-engellenmeye-calisiliyor/">Türkischen</a> übersetzt von der Redaktion des re:volt magazine. <br/><p><br/></p></div>
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Diktatur und Widerstand. Die Türkei nach den Wahlen2018-07-02T12:38:12.232869+00:002018-07-02T12:46:17.650247+00:00Alp Kayserilioğlu, Güney Işıkara und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/diktatur-und-widerstand-die-t%C3%BCrkei-nach-den-wahlen/
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<h1>Diktatur und Widerstand. Die Türkei nach den Wahlen</h1>
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<span class="content-copyright">Murat Bay</span>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Die
Ergebnisse der vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
in der Türkei vom 24. Juni stellen auf dem ersten Blick einen klaren Sieg des
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dar. Während es bisweilen so
aussah, als hätte die Opposition diesmal eine wirkliche Chance gehabt, waren die Ergebnisse letztlich ernüchternd. Erdoğan
hat die Präsidentschaftswahlen in der ersten Runde gewonnen, während
die <i>Volksallianz</i>
(Cumhur İttifakı), das Wahlbündnis
bestehend aus Erdoğans Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung
(AKP) und der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung
(MHP), eine Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen konnte. Den
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-elections-2018/">vorläufigen
Ergebnissen des Hohen Wahlausschusses</a>
zufolge gewann Erdoğan den Präsidentschaftswahlkampf mit 52,6
Prozent, während sein Hauptrivale Muharrem Ince, der
Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP),
einen Stimmenanteil von 30,6 Prozent erreichte. In der Parlamentswahl
erhielt die Volksallianz 53,7 Prozent der Stimmen, während die
<i>Allianz der Nation</i>
(Millet İttifakı) – die sich aus der
CHP, der nationalistischen Guten Partei (İYİ Parti) und der
religiös-konservativen Partei der Glückseligkeit (SP) zusammensetzt
– ein Ergebnis von 33,9 Prozent erzielen konnte. Demzufolge erhält
die Volksallianz 344 der insgesamt 600 Parlamentssitze, womit sie
eine absolute Mehrheit sicherstellen kann. Die Allianz der Nation
hingegen erlangte lediglich 189 Sitze. Darüber hinaus erreichte die
unabhängige, linke und pro-kurdische Oppositionspartei der HDP 67
Sitze mit einem Wahlergebnis von 11,6 Prozent der Stimmen.</p>
<p>So
viel zu den nackten Zahlen. Aber was bedeuten sie? Anbei sechs
Anmerkungen zu den Wahlen:</p>
<h2><b>1.
Die Wahlen waren illegitim</b>.<br/></h2><p>Sämtliche Parteien und PräsidentschaftskandidatInnen akzeptierten
prompt die Wahlresultate. Währen der Präsidentschaftskandidat der
CHP Ince und der Parteisprecher der CHP Tezcan im Zuge der ersten
Meldungen zu den Auszählungen darauf pochten, dass die vorläufigen
Resultate völlig abwegig seien, ruderten sie binnen Stunden komplett
zurück. Derweil gab die Kandidatin der Guten Partei Akşener
überhaupt nichts von sich. Wir können nur darüber spekulieren, ob
es hinter den Kulissen zu Absprachen gekommen ist oder sich alle mit
den Ergebnissen mehr oder weniger zufriedengegeben haben.
Nichtsdestotrotz gab es am Sonntag zahlreiche Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf.
Beispielsweise in der südöstlichen kurdischen Provinz Urfa, wo
Beobachter*innen der Oppositionsparteien gewaltsam aus den
Wahllokalen entfernt oder Leute dabei erwischt wurden, wie sie
tausende Stimmzettel einzuschmuggeln versuchten und dergleichen
mehr. In derselben Provinz wurden zehn Tage zuvor vier Personen
ermordet, als es während des Wahlkampfes eines AKP-Kandidaten zu
einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dessen Bodyguards und
der Familie eines Kleinhändlers kam, der sich als Unterstützer der
HDP zu erkennen gab. Tatsächlich konzentrierten sich die
Unregelmäßigkeiten auf die kurdischen Provinzen Urfa und Şırnak,
wo es im Grunde keine internationalen Wahlbeobachter*innen gab und
lokale Beobachter*innen einfach rausgekickt wurden. Der <a href="https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true">vorläufige
Bericht der OSZE</a>-Wahlbeobachtungsdelegation berichtet von heftigen Einschränkungen und
Irregularitäten (im Bericht ab S. 14): In 12 Prozent aller besuchten Wahllokale wurde
starke Präsenz von Sicherheitskräften festgestellt, die sich oft
(33 Prozent) in den Wahlprozess einmischten; 14 Prozent aller
beobachteten Auszählungen wurden als „mangelhaft durchgeführt“
eingestuft (<i>counting
was assessed negatively</i>);
bei 20 Prozent (!) aller beobachteten Auszählungsprozesse waren
schwer identifizierbare „nicht authorisierte“ Personen anwesend,
die teils in den Prozess eingriffen; 25 Prozent (!) aller
beobachteten Wahlurnenkommissionen hatten Probleme beim Ausfüllen
der Ergebnisprotokolle; bei 20 Prozent aller beobachteten
Auszählprozesse wurden seitens der Wahlurnenkommissionen leere
Ergebnisprotokolle im vornherein unterschrieben oder Eintragungen
bewusst (!) gefälscht (<i>deliberately
falsified</i>);
ebenfalls bei 20 Prozent aller beobachteten Fälle wurden die
Ergebnisse nicht öffentlich ausgehangen; zusätzlich wurden bei über
10 Prozent der Bezirkswahlkommissionen, bei denen die
Zusammenführungen von Ergebnisprotokollen stattfanden, Mängel
festgestellt, bei 25 Prozent der beobachteten Fälle „korrigierten“
(?!) die jeweiligen Wahlurnenkomissionen ihre Protokolle während der
Zusammenführungen ohne formalen Beschluss. Diese durchaus in
nüchternem, technischen Tonfall gehaltene aber an sich<i>
vernichtende</i>
Beurteilung des Wahlablaufs seitens der
OSZE-Wahlbeobachtungsdelegation, die noch nicht einmal in die
problematischsten Bezirke reisen konnte, zeigt, dass millionenfacher
Wahlbetrug durchaus im Bereich des Möglichen liegt.</p>
<p>Derlei
Zwischenfälle deuten lediglich auf die Tatsache hin, dass es den
Wahlen an Legitimität mangelt, nicht zuletzt aufgrund des
Ausnahmezustandes, der seit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli
2016 herrscht. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Drahtzieher
des Militärputsches schreckten Erdoğan und seine AKP – zusammen
mit ihrer faschistischen Bündnispartnerin der MHP – vor nichts
zurück, um einen regelrechten Krieg gegen oppositionelle Stimmen zu
führen und zehntausende Politiker*innen und Aktivist*innen
einzukerkern, um die Justiz schrittweise zu übernehmen und eine
nahezu absolute Kontrolle über die im Grunde vollends
zentralisierten Medien zu erlangen. Sogar die rechten Parteien und
Präsidentschaftskanditat*innen konnten sich keiner
Medienberichterstattung erfreuen, ganz zu schweigen von der HDP und
ihrem ehemaligen Co-Vorsitzenden und inhaftierten
Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtaş. Was
also klar und sehr viel bedeutsamer ist als die unmittelbaren
Unregelmäßigkeiten am Wahltag selber, ist die allumfassende
Illegitimität der Wahlen an sich.</p>
<h2><b>2.
Die MHP ist zu einem zentralen Akteur geworden.</b> <br/></h2><p>Wenn es einen klaren Wahlsieger gibt, dann ist es der
sunnitisch-türkische Block, bestehend aus der AKP, der MHP und der
Guten Partei (İYİ Parti). Obwohl letztere sich als oppositionelle
Kraft positioniert, unterscheidet sie sich vor allem in Bezug auf ihr
politisches Projekt und ihre Vision kaum von den beiden anderen
Parteien. Der Stimmenanteil dieses Blocks beläuft sich auf circa 64
Prozent. Dies muss vor dem Hintergrund einer permanenten
chauvinistischen Mobilisierung und dem Narrativ des
Anti-Terror-Krieges im Allgemeinen und der Kriegsführung gegen die
Kurden im Besonderen gedeutet werden.
</p>
<p>In
Bezug auf die siegreiche Volksallianz lohnt es sich, die
Wahlresultate der AKP und der MHP genauer unter die Lupe zu nehmen.
Während Erdoğan als Sieger dieser Wahlen erscheint und freilich <a href="https://www.msnbc.com/hallie-jackson/watch/erdogan-s-supporters-celebrate-after-election-win-in-turkey-1263443523705">als
solcher dargestellt</a>
wird, ist das bei näherer Betrachtung gar nicht so
selbstverständlich. Er selbst weiß genau, dass es vor allen Dingen
seine Partei gewesen ist, die schwere Rückschläge einstecken
musste. Die nur bedingte Freude über die Wahlresultate zeugt davon.</p>
<p>Die
AKP hat über zwei Millionen Stimmen verloren, was einem Verlust von
sieben Prozent der Wählerstimmen gleichkommt. Damit misslang es ihr,
301 Sitze im Parlament zu ergattern und sich damit eine
Parlamentsmehrheit zu garantieren. Erdoğan kann den politischen
Prozess künftig nur zusammen mit der MHP nach seinem Gutdünken
einrichten.</p>
<p>Das
wiederum bedeutet, dass die MHP gestärkt aus den Wahlen hervorgeht.
Der absolut unerwartet hohe Anteil an Stimmen, welche der MHP zufielen, ist eine der Besonderheiten dieser Wahlen, die einer Erklärung
bedarf. Obwohl die Partei sich gespalten und die daraus neu
entstandene İYİ Parti über 10 Prozent der Stimmen erlangt hat, ist
die MHP in der Lage gewesen, ihren Stimmenanteil von ungefähr 11
Prozent bei den letzten Wahlen vom 1. November 2015 zu erhalten.
Dabei hat die MHP seit dem abrupten Auftakt zum Wahlkampf im Grunde
keine öffentliche Kampagne geführt – ihr
Führer Devlet Bahçeli beispielsweise hielt insgesamt nur zwei oder drei Kundgebungen ab,
verglichen mit den 107 Kundgebungen, die Muharrem İnce zustande
gebracht hat. Trotz ihrer völligen Untätigkeit schaffte es die MHP, eine wesentliche Steigerung ihres Wähleranteils in
den vorwiegend kurdischen Regionen zu erzielen, während sie in
vielen ihrer traditionellen Hochburgen wie Osmaniye, Adana oder
Mersin regelrecht eingebrochen ist. <a href="http://cilekagaci.com/2018/06/30/haziran-2018-secim-analizi-ve-oy-gecisleri/">Laut
ersten Analysen</a>
von Wähler*innenwanderung – die natürlich mit offiziellen Zahlen
und „ehrlichen“ Wähler*innenangaben operieren und deshalb mit
Vorsicht zu genießen sind – hat die MHP 66 Prozent (!) ihrer
Wählerschaft vom 1. November 2015 an die İYİ Parti verloren, dafür
aber fast eben so viele Stimme aus der AKP-Wählerschaft hinzugewonnen (15 Prozent der gesamten AKP-Wählerschaft vom 1.
November 2015). Es ist klar: Falls es einen Betrug größeren
Ausmaßes gegeben haben sollte, dann wurde dieser zum Vorteil der MHP
vollzogen.</p>
<p>Da
nun der AKP eine absolute Mehrheit im Parlament fehlt, konnte der
MHP-Führer Bahçeli nach den Wahlen <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/mhp-leader-bahceli-hails-historic-success-in-turkeys-elections-133776">verlauten
lassen</a>, dass
seine Partei ab sofort eine „Schlüsselposition im Parlament“
halte. Die MHP wird künftig in der Lage sein, sich selbstsicherer
und entschiedener durchzusetzen, vor allem was die „Kurdische
Frage“ anbelangt. Es ist sehr wahrscheinlich davon auszugehen, dass
die AKP-MHP-Allianz in den kommenden Monaten einen noch unverhohlener
faschistoiden Kurs fahren wird.</p>
<h2><b>3.
Die CHP wird zerrüttet.</b> <br/></h2><p>Die CHP und ihr Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince sind im
Hinblick auf eine zweite Wahlkampfrunde ziemlich optimistisch und von
sich überzeugt gewesen. Insbesondere Ince betrieb einen
erfolgreichen Wahlkampf, der eine Restauration in Aussicht stellte
und Millionen von anfangs demoralisierten Wählern mobilisierte.
Allerdings markieren die Wahlresultate eine neu entstehende Krise
innerhalb der Partei. Die CHP verlor im Vergleich zu den Ergebnissen
der Wahlen vom 1. November 2015 sogar noch drei Prozent und verharrte
bei 22,6 Prozent – eine sehr ernüchternde Bilanz für ihre
Anhänger*innen. Ince selbst ließ in seiner Stellungnahme am Montag nach der Wahl
<a href="https://www.cnnturk.com/video/turkiye/chpnin-adayi-muharrem-inceden-secim-sonrasinda-ilk-aciklama">durchblicken</a>,
dass er als derjenige Präsidentschaftskandidat, der acht
Prozentpunkte mehr als seine Partei bekommen habe und damit der erste
CHP-Kandidat sei, der seit 1977 mehr als 30 Prozent der Stimmen
erlangte, entweder auf die Übernahme der Partei drängen oder
andernfalls eine neue Partei gründen würde, und dass er
unverzüglich mit den Vorbereitungen für die anstehenden Wahlen
beginnen wird. Der amtierende Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu
<a href="http://haber.sol.org.tr/turkiye/kilicdaroglundan-istifa-ve-ince-aciklamasi-241165">entgegnete</a>
dem am Dienstag mit der Verweigerung einer Gratulation Erdoğans –
was Ince wiederum getan hatte – und brachte seinen Unmut über
Karrierismus innerhalb der Partei gehässig zum Ausdruck. Die
Tatsache, dass Kılıçdaroğlu, der die Partei nun schon durch neun
Wahlen geleitet hat, die alle sehr enttäuschend für die Partei
ausgingen, trotz allem noch immer nicht zurücktritt, karikiert das
Gepolter über Karrierismus und Leute, die sich an ihre Posten
krallen. Demgegenüber <a href="https://www.ntv.com.tr/turkiye/muharrem-inceden-81-ile-tesekkur-ziyareti,80xAlprAh0SHkRX1LZ9Yog">erwiderte</a>
Ince, dass er durchs ganze Land reisen und in allen 81 Provinzen
Treffen halten würde, um den Menschen für ihre Unterstützung zu
danken. Es ist offensichtlich, dass eine solche Tour etwas ist, was
ein Parteiführer „so macht“. Demnach kündigt sich eine Krise
an, die durchaus zu einer Spaltung der Partei führen könnte.</p>
<h2><b>4.
Die HDP trotzte den Umständen.</b> <br/></h2><p>Eine andere Gewinnerin der Wahlen ist die HDP gewesen. Trotz der
umfassenden Repression, der Vertreibung und Einkerkerung unzähliger
politischer Kader (einschließlich ihres Präsidentschaftskandidaten
Selahattin Demirtaş), trotz der Gewalt und der Drohungen am Tag der
Wahlen, insbesondere in den kurdischen Provinzen, schaffte es die HDP
einmal mehr, sich zu konsolidieren; sie überwand die höchst undemokratische
Wahlhürde von 10 Prozent und schaffte den Einzug ins Parlament. Dabei ist die HDP diejenige Partei, die, wie <a href="http://cilekagaci.com/2018/06/30/haziran-2018-secim-analizi-ve-oy-gecisleri/">erste
Analysen</a> von
Wähler*innenwanderung aufzeigen, am meisten Stammwählerschaft
deshalb verlor, weil diese nicht zu den Wahlurnen gegangen ist
oder, was nahe liegt, aufgrund
von Repression und Wahlurnenverlegung nicht gehen<i>
konnte</i>: So hat die HDP fünf Prozent
ihrer Wählerschaft des 1. Novembers 2015 (was in etwa ein halbes
Prozent all derjenigen, die gewählt haben, ausmacht) durch
Wahlabstinenz verloren. Dies zeigt erneut, dass trotz aller
Repression eine starke pro-kurdische Partei zur unbestreitbaren
Realität der türkischen Politik geworden ist.
</p>
<p>Darüber
hinaus bemühte sich die HDP – ungeachtet einiger Tendenzen der
Liberalisierung – darum, die Dynamiken sozialistischer
Organisationen und Repräsentant*innen weiterer populärer Strömungen
zu integrieren. Diesmal werden offen revolutionäre Sozialist*innen
wie Erkan Baş von der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Oya Ersoy
von den Halkevleri (Volkshäuser), Misa Piroğlu von der
Revolutionären Partei (DP), Murat Çepni von der Sozialistischen
Partei der Unterdrückten (ESP) und einige andere im Parlament sitzen
und unentwegt gegen Diktatur und Kapital ankämpfen. Die HDP ist die
einzige Partei im Parlament und somit die einzige größere Partei
der türkischen Politik, die standhaft gegen die
türkisch-sunnitisch-patriarchale Allianz ankämpft. Es bleibt
abzuwarten, was mit der CHP passieren wird; die HDP jedoch muss nun
die Initiative ergreifen und die popularen Dynamiken anfachen.</p>
<h2><b>5.
Von der Perspektive der Kämpfe her betrachtet ist die Lage gar nicht
so schlecht.</b> <br/></h2><p>Der
Charakter der türkischen Bourgeoisie und als solcher jener ihres
Staates ist dergestalt, dass sie die Tradition des despotischen
Staates reproduziert, die bis auf das Osmanische Reich als Garanten der
Klassenherrschaft zurückgeht. Während diese
Staatstradition historisch grundlegende Transformationen durchmachte
und sich im Zuge dieser Wahlen vorübergehend um die AKP/MHP herum
stabilisiert, konnten sich vor allem seit den Gezi-Aufständen 2013
bestimmte populare Dynamiken als konstante Faktoren der türkischen
Politik etablieren, die sich dem Staat widersetzen und diesem
gegenüber wenig bis gar keine Erwartungen mehr hegen. Dies ist auch
der Grund dafür, weshalb jene Kräfte, die durch Gezi und Rojava
entfesselt wurden, dem AKP/Erdoğan-Regime nach wie vor mehr Angst
einflößen als innerstaatliche Rivalitäten oder Putschversuche und
dergleichen. Frauen, Alevit*innen, Kurd*innen, Arbeiter*innen und
viele mehr haben diesem Regime gegenüber keinerlei Erwartungen mehr.
Die Bemühungen der CHP und der İYİ Parti richten sind deshalb an
diese Teile der Gesellschaft, da sie kurz davor sind, gänzlich mit
dem Staat zu brechen – natürlich mit dem Zweck, sie wieder
einzugliedern.</p>
<p>Im
Hinblick auf diese Massendynamiken wirkten die Wahlergebnisse zwar
entmutigend, jedoch sollten sie kein Grund für eine allgemeine
Frustration sein. Obwohl sich die meisten einen Abgang Erdoğans
erhofft und erwünscht hatten, bleiben die gesellschaftlichen
Machtbeziehung weitestgehend intakt. Zugegebenermaßen konnten
Erdoğan und der AKP/MHP-Block zwar einen gewissen Machtzuwachs
verzeichnen, jedoch sollte man den auf Solidarität zwischen den
popularen Lagern beruhenden Wahlkampf als Erfolg deuten, der hoffen
lässt.</p>
<h2><b>6.
Was wird nun passieren?</b> <br/></h2><p>Die Wahlergebnisse zeigen, dass das soziale und politische System der
Türkei weiterhin blockiert ist. Auch wenn sich die Machtbeziehungen
in Folge der Wahlen und der Institutionalisierung des faktisch
bereits vorherrschenden diktatorialen Präsidialsystems geringfügig
zum Vorteil des Erdoğan-AKP/MHP-Blockes verschoben haben, stellen
sie keinen entscheidenden Sieg dieses Blocks dar. Obwohl es
andererseits klar ist, dass der Gegen- oder alternative hegemoniale
Block ebenso wenig einen entscheidenden Sieg davongetragen hat, ist
es ebenfalls der Fall, dass er keine entscheidende<i>
Niederlage</i>
erfuhr. Etwa die Hälfte des Landes leistet weiterhin Widerstand
gegen den dominanten Block wie es durchgehend seit 2013 der Fall ist.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Institutionalisierung der
bereits existierenden Präsidialdiktatur in dieser Hinsicht viel
verändern wird. Demgegenüber macht der Aufstieg Inces und der İYİ
Parti Akşeners deutlich, dass sich die divergierenden Meinungen
innerhalb des Staates und der Eliten zu Fraktionen mit eigener
politischer Repräsentation ausformieren. <a href="http://t24.com.tr/haber/ve-meral-aksener-konustu-ysknin-onune-gitmedim-cunku,660823">Neulich</a>
gab Akşener beispielsweise bekannt, dass ihre Partei „keine Kinderspiele“
spiele und die HDP als „Repräsentantin der kurdischen politischen
Bewegung“ akzeptiere. Von einem Erdoğan, der alles und jeden
kontrolliert und vor dem sich jeder zu verbeugen hat, kann trotz der
Dominanz des Blocks sicherlich keine Rede sein. Darüber hinaus wird
es zu einem Machtkampf innerhalb des Erdoğan-AKP/MHP-Blocks kommen,
da es der MHP weitaus besser ergangen ist, als zu erwarten
war (gesetzt dem Fall, dass es keine Übereinkommen über
systematischen Wahlbetrug zum Vorteil der MHP gegeben hat). Nach wie
vor gilt, dass der Machtkampf innerhalb des dominanten Blocks dessen
Kraft in Zeiten der Krise bedrohen wird; und in der Tat ist es so,
dass eine ökonomische Krise ansteht. Die Heftigkeit und das
Management dieser Krise, die Haltung der Opposition und, was
entscheidend sein wird, die Aktivität der Massen werden darüber
entscheiden, ob sich die Institutionalisierung der Diktatur
stabilisiert – oder nicht.</p><hr/>
<p><b>Anmerkung:</b></p>
<p>Der
Artikel erschien zu erst am 29. Juni 2018 im Onlinemagazin <a href="https://www.jacobinmag.com/2018/06/turkey-elections-erdogan-akp-mhp-chp">Jacobin</a>.
Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Evrim Muştu; leicht
verändert und aktualisiert von Alp Kayserilioğlu.</p></div>
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Ein antifaschistischer Wind weht2018-06-21T23:00:47.337019+00:002018-06-22T07:45:28.635328+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-antifaschistischer-wind-weht/
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<h1>Ein antifaschistischer Wind weht</h1>
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<span class="content-copyright">Sertaç Kayar</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Diyarbakır ist keine Stadt des Sultans. Bei der
Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakır am vorgestrigen Tag schwappen die
Straßen fast über vor euphorischen HDP-Anhänger*innen. Ein nicht endender Strom
an Menschen bewegt sich sternförmig auf den Kundgebungsort, den Bahnhofsplatz,
zu. Unter ihnen auch wir, eine Wahlbeobachtungsdelegation aus der Region
Köln-Bonn. Eine Frau drängelt sich an mir vorbei und entschuldigt sich im
Vorbeigehen strahlend: „Ich bin soooo aufgeregt!“ Ich nehme es ihr nicht übel,
genauso wenig wie die unzähligen Menschen um mich, mit denen ich eine gefühlte
Ewigkeit lang Körper an Körper dicht gedrängt an der Eingangskontrolle zur Demo
warte. Wo die Menschen vor überquellenden Straßen nicht mehr zur Kundgebung
kommen, halten sie einfach ihre eigene spontane Kundgebung ab. Das Fahnenmeer
wogt und als Pervin Buldan, Co-Vorsitzende der HDP und Rednerin, die
„Cliquenmentalität der Barbaren in Suruç“ verflucht, geht eine Welle der
Entrüstung durch die Menge. Als sie Selahattin Demirtas grüßt, jubeln die
Tausenden noch lauter. Sertac Kayar, langjähriger Profifotograf in der Region,
redet davon, dass er so etwas noch nie gesehen hat. Auch die anderen
Beobachter*innen reden von einer Energie und einer Menge an Menschen, die die
Größenordnung der HDP-Abschlusskundgebung vom 5. Juni 2015 übertrifft, welche
als bisheriger Höhepunkt der HDP galt.
</p>
<h2><b>Inmitten von
Sturmwinden</b></h2>
<p>Ein Tag zuvor: Als wir das Büro des Menschenrechtsvereins
IHD in Diyarbakır betreten, sind diese gerade damit beschäftigt, Strafanzeige
gegen den Innenminister Süleyman Soylu zu stellen. Der hatte zwei Tage vor
unserer Ankunft in Diyarbakır zu verstehen gegeben, dass im Prinzip alle
wichtigen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Diyarbakır
PKK-Organisationen oder Unterstützer der PKK seien. Grund dafür war der Versuch
einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Diyarbakır, inklusive der
Ärzte- und der Industrie- und Handelskammer, gemeinsam nach Suruç zu fahren. In
der HDP-Hochburg hatten am 14. Juni zwei schwerbewaffnete Securities des
lokalen AKP-Parlamentskandidaten İbrahim Halil Yıldız das
Feuer auf den Laden von Hacı Esvet Şenyaşar eröffnet. Dieser hatte dem AKP-Mann
zuvor zu verstehen gegeben, dass die AKP von dort keine Stimmen bekäme. Im daran
anschließenden Gefecht sterben zwei Menschen, weitere müssen schwerverletzt ins
Krankenhaus gebracht werden. Dort geht das Massaker weiter. Der Ladenbesitzer
Hacı Esvet und seine Familienangehörigen Adil und Celal Şenyaşar werden von den
AKP-Männern auf <a href="http://www.mezopotamyaajansi12.com/tum-haberler/content/view/27261">brutale
Weise angegriffen</a>, gefoltert und an Ort und Stelle erschossen
beziehungsweise erstochen. Mehmet Şenyaşar, ein anderes Familienmitglied, überlebt
<a href="http://sendika62.org/2018/06/suructa-akplilerin-elinden-canli-kurtulabilen-mehmet-senyasar-bicakladilar-kursun-siktilar-olu-taklidi-yaptim-498237">durch
Glück</a>. Er hatte sich totgestellt. Einen Tag vor diesem brutalen Angriff wurde
ein Video von Erdoğan geleakt, in dem er gegenüber Ortsvorstehern betont, dass diese
„besondere Maßnahmen“ gegenüber der HDP anwenden müssten, weil deren Scheitern an
der Wahlhürde ein entscheidender Moment für die AKP wäre.</p>
<p>Obgleich die Situation vor Ort oberflächlich viel ruhiger
und entspannter ist als Anfang 2016, als ich das letzte Mal vor Ort war –
mitten im Krieg –, zeigen alleine diese aufeinanderfolgenden Ereignisse als Spitze
einer Reihe von Eskalationen, wie angespannt und extrem polarisiert die
Situation wirklich ist. Der faschistoide <i>rollback</i>
setzte zwar mit der militärischen Niederschlagung der
Selbstverwaltungsstrukturen in den Jahren 2015-16 ein, verschärfte sich aber
dramatisch mit dem Ausnahmezustand, der im Zuge des Militärputsches im Juli
2016 quasi in Permanenz verhängt wurde. Seitdem sind alle bis auf zwei der über
100 kurdischen Bürgermeister*innen per Gesetzesdekret (KHK) ihres Amtes
entfernt und durch von Ankara eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt worden. Diese
revidierten alle Errungenschaften der letzten Jahre: Sehr oft wurden
mehrsprachige Schilder mit rein türkischsprachigen Schildern ersetzt oder in
nationalistischer Manier Orte umbenannt; Dutzende Vereine, darunter über 40
Vereine, die auf die Stärkung und Gleichstellung von Frauen zielen, wurden
geschlossen und ihre Vereinsräume samt Mobiliar und Archiven geleert oder für
niemanden mehr zugänglich abgesperrt. In den verbliebenen Frauenvereinen werden
nun Korankurse abgehalten und am 8. März dozierte der Mufti Diyarbakırs im
Kongresszentrum der Stadt darüber, was die Stellung der Frau im Islam ist. Hinzu
kommen Tausende Entlassungen und Schließungen von Presse- und Medienorganen. Die
„frei“ werdenden Stellen werden ersetzt durch eigene Leute – manchmal gar durch
Familienmitglieder. Zieht man noch in Betracht, dass auch Erinnerungsorte wie
zum Beispiel das Monument zur Erinnerung an das Massaker von Roboski entfernt
wurden, dann lässt sich mit Fug und Recht von einem Versuch der „Auslöschung
kollektiver Erinnerung und kollektiven Gedächtnisses“ sprechen, wie es die
Kolleg*innen im IHD tun. Anstelle dessen schmückt das Konterfei Erdoğans seit
dem Referendum 2017 das – ohne Übertreibung – gesamte Stadtbild. An jeder
Laterne hängt ein Bild von ihm als Präsidenten – trotz, dass der Hohe Wahlrat
YSK entschieden hat, dass die Plakate abgehängt gehören. „Es gibt keine
Institutionen, die diese Entscheidung des Wahlrats umsetzen“, so erzählen uns die
IHD-Vorstandsmitglieder trocken.</p>
<h2><b>Das Repressionsregime
der „Sicherheit“</b></h2>
<p>Im Namen der Ordnung und der Wahrung der „Sicherheit“ herrscht
hier ein Repressionsregime. Öffentliche Veranstaltungen, Treffen,
Versammlungen, Demonstrationen sowieso sind fast durchgehend verboten – außer
sie findet aus Regierungskreisen heraus organisiert statt. Als die HDP Diyarbakır
wegen der Invasion Afrins eine Demo machen will, verhindern Polizisten sie
daran, überhaupt das Büro zu verlassen. Sogar die Samstagsmütter, die für die
Aufklärung der „Morde unbekannter Täter“ in den 1990ern, denen ihre Kinder zum
Opfer fielen, kämpfen, dürfen nicht mehr im Freien demonstrieren – seit über 90
Wochen demonstrieren sie drinnen. „Es gibt keine Vorstandsperson in
demokratischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen in Diyarbakır, die
nicht im Zuge dieser Entwicklungen mal kürzer, mal länger in Untersuchungshaft
saß“, so Yüksel Aslan Acer, Sekretärin des IHD Diyarbakır und ehemalige
Angestellte der Stadt, bis sie ebenfalls per KHK gefeuert wurde. Sie selbst saß
20 Tage in U-Haft, bis ihre Aussage aufgenommen wurde. Danach erhielt sie eine
wöchentliche Meldeauflage. Beim ersten Gerichtsverfahren wurde sie
freigesprochen. „Pure Willkür, um zu zermürben“, so ihr Kommentar. In der Tat:
Gegen fast jede Person, die wir treffen und die auch nur entfernt pro-kurdisch
und oppositionell eingestellt ist, wurde oder wird weiterhin zumindest
ermittelt, Personen in höheren Funktionen von zivilgesellschaftlichen
Organisationen werden ihres Amtes per Gesetzesdekret enthoben. Das heißt dann
nicht nur, dass sie kein öffentliches Amt mehr bekleiden können, sondern dass
sie auch in keinem privaten Verein oder Unternehmen mehr leitende Funktionen
übernehmen können. Dermaßen Entlassene wechseln, wo sie Glück haben, zu viel
schlechteren Bedingungen in private Anstellungen. Oder, was relativ oft
geschieht, sie machen kleine, zum Teil kooperative Läden auf, verkaufen
Eigentum, verlassen sich auf Freunde und Familie.</p>
<p>Der Rundumschlag trifft alle. In einer sehr sicheren,
ruhigen und etwas ab vom Schuss gelegenen Siedlung treffe ich zwei alte
Bekannte von mir. Die Siedlung wird bevölkert von
Mittelklassen-Professionellen: Anwält*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen und so
weiter. 38 von 40 Haushalten sind pro-HDP, zwei isolierte, nicht in die
Siedlungskommune eingebundene Haushalte sind pro-AKP eingestellt. Mindestens
fünf Personen aus den pro-HDP Haushalten wurden ihres Amtes entfernt, gegen
zahlreiche andere wurden Ermittlungen aufgenommen. Einer sitzt immer noch in
Haft, eine ganze Familie flieht in die Schweiz, mehrere Haushalte überlegen es
ihnen gleich zu tun und ihre Koffer stehen quasi täglich bereit. Denn über
Monate hinweg findet eine nächtliche Großrazzia des Militärs nach der anderen
statt. Nachdem ein Großteil ihres Freundeskreises zumindest einmal in
Untersuchungshaft landet, warten meine beiden Bekannten darauf, dass sie dran
sind. Bisher sind sie „verschont“ geblieben, was heißt: Er wurde für 3,5 Monate
suspendiert (und dann wieder zurückgeführt), sie wurde entlassen. „Aber beim
nächsten KHK kann es uns wieder treffen“, meinen sie beide trocken. Ein pro-HDP
türkischer Lehrer redet davon, dass sich „für uns die Frage stellt, ob
überhaupt noch eine einigende Politik möglich ist“. Sein „uns“ bezieht sich
hier offensichtlich nicht auf die ethnische Kategorie „Kurd*in“: Sie bezieht
alle mit ein, die sich wie er Diyarbakır und der Region zugehörig fühlen, dem
Regime oppositionell eingestellt sind und die demokratischen Rechte der Kurd*innen
anerkennen. Die gesellschaftliche Polarisierung verschärft sich und durchkreuzt
mittlerweile Klassen- und zum Teil eben auch ethnische Unterschiede. Die
Mittelklassen machen sich Sorgen um ihre Zukunft und vor allem die ihrer Kinder,
Säkulare bangen um ihren Lebensstil, islamische Kleineigentümer um ihre extrem
schwierigen wirtschaftlichen Perspektiven. Meinungsumfragen innerhalb der
AKP-Klientel konstatieren ein „schweigsames Ressentiment“. Ein Phänomen, das
fast durchgehend alle großen Meinungsumfrageinstitute bestätigen, ist, dass die
Menschen auf Fragen gar nicht mehr reagieren: vor Misstrauen und Angst in
Anbetracht der allseitigen Repression und Denunziation.</p>
<h2><b>Bröckelnde Fassaden</b></h2>
<p>In Sur, der historischen Altstadt Diyarbakırs, herrscht eine
mit aller Macht herbeigezwungene, deshalb überhaupt nicht normale Normalität.
Nichts passt zusammen: Auf der Gazi Caddesi, der Hauptstraße zwischen Norden
und Süden, herrscht reger Handelsbetrieb, alle großen Innenhöfe und
Frühstückscafés haben offen und boomen, es wird rege geshoppt – ein paar Meter
daneben bei der Dört Ayaklı Minare, an welcher der Vorsitzende der Anwaltskammer
von Diyarbakır, Tahir Elçi am 28. November 2015 unter bis heute nicht ganz
geklärten Umständen erschossen wurde, hört Sur künstlich auf. Werbebanner, die
den Weg weiter ins Viertel versperren, zeigen, wie der Rest von Sur irgendwann
in Zukunft aussehen soll. Was dort einmal war, wurde kaputtgeschossen oder nach
den Auseinandersetzungen in den Jahren 2015-16 vollständig abgerissen.
Mittlerweile ist über die Hälfte der historischen Altstadt plattgewalzt. Um den
Bereich von Alipaşa herum, in dem es gar keine Gefechte gab, wurde ebenfalls
Wellblech hochgezogen; auch dort wird alles abgerissen und modernisiert und
dementsprechend viel kostspieliger neu hochgezogen. Die Familien sind
vertrieben und geht der „Modernisierungsplan“ auf, werden sie aufgrund der
Preise auch nicht wieder zurückkehren können. Der kaum getarnte Zivilpolizist am
Dört AyaklI Minare observiert uns und eine Gruppe Jugendlicher, die das in der
Türkei eigentlich immer pro-kurdisch konnotierte Victory-Zeichen machen, prüfenden
Blickes. Aber keiner interveniert. Unvorstellbar im Sur des Jahres 2016, damals
eine schwermilitarisierte Hochsicherheitszone. „Die Polizei und das Militär
haben getan, was sie tun wollten, deshalb können sie jetzt so scheinbar locker
sein“, meint zynisch unser Begleiter Talat, ein entlassener Lehrer. Von der
Nordmauer aus kann man weitflächig auf die betreffenden Teile der Viertel Savaş,
Dabanoğlu und Cevatpaşa blicken. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken,
das friedlich vor sich hin wachsende Gras auf dieser riesigen Brachfläche
wächst dort schon immer. Nur die im Bau befindliche doppelspurige Asphaltstraße,
die so gar nicht zum restlichen Sur passt, könnte diesen Gedanken irritieren. „Es
ist egal, ob sie in Sur das Paradies aufbauen, die Leute interessiert das nicht
mehr, nach all dem was sie erleben mussten“, so die Bekannte aus der Siedlung. Die
erzwungene Normalität ist nur der schlechte Versuch zur Wahrung des Scheins. Hinter
den Fassaden brodelt die unterdrückte Gesellschaft.</p>
<p>Im Vorlauf zu den Wahlen gelten andere Gesetze, deshalb
lässt sich auch wieder mehr auf der Straße machen. Aber die grundlegende
Spannung, Polarisierung und Repression schlägt sich auch hier nieder. Vor einem
HDP-Wahlbüro trinken wir später am Nachmittag <a href="https://twitter.com/KBDiyarbakir/status/1009122949612359680">einen Tee im
Freien, tanzen Halay</a>, unterhalten uns mit den zumeist sehr jungen HDP-Wahlkämpfer*innen.
Ein eher schweigender, hin und wieder HDP-Fahnen schwingender Teil von älteren
Männern und Frauen sitzt hinter uns. Später erfahren wir, dass sich unter ihnen
viele Familien aus Sur befinden. Der Jugendliche, mit dem ich spreche, ist erst
vor einem Monat nach 1,5 Jahren Haft entlassen worden. Er erzählt davon, wie
sie tagtäglich von der Polizei schikaniert werden, die versucht, ihr
öffentliches Auftreten zu verhindern oder sie gar festzunehmen. „Wir machen
aber dennoch weiter, gehen von Haustür zu Haustür. Es weht ein
antifaschistischer Wind“, so sein Kommentar. Die Gruppe und wir werden aus der
Entfernung von missmutigen Personen – manchmal aus dem Auto gezielt langsam
vorbeifahrend, manchmal vorbeilaufend – grimmig beobachtet, oft gefilmt. Wir verabschieden
uns höflich, bevor die Polizei unseren Besuch zum Anlass nimmt, die nächste
Razzia durchzuführen. </p>
<p>„Mindestens 14 Prozent!“ an Stimmen bei den Wahlen am
kommenden Sonntag – das ist nicht zuletzt das, wovon vom ehemaligen Sekretär des
Vorsitzenden der Kommunalverwaltung von Sur bis hin zum bewegungsnahen, aber
unabhängigen Journalisten alle hier überzeugt sind. Ob aber dieselben
Stimmzettel wieder aus den Urnen herausgeholt werden, die eingeworfen wurden,
darüber haben alle Zweifel. Der Ausgang des Wahltages ist alles andere als
sicher. Es ist aber so dermaßen offensichtlich, dass die Leute am politischen
Klima ersticken und nach Luft verlangen, dass sogar die AKP-Wahlwerbungen im
Fernsehen in ihrer Ästhetik mit Hoffnung spielen. „Nein, nein, der wird schon
gehen“, meint belustigt der HDP-Abgeordnetenkandidat für Diyarbakır Hişyar Özsoy
auf die Frage, ob denn Erdoğan nicht einfach das Ergebnis nicht anerkennen
wird, falls es zu seinen Ungunsten ausgeht. „Auch im Staat gibt es größeren Unmut.
Falls er verliert, werden seine Alliierten reihenweise desertieren. Was soll er
dann noch tun, außer eventuell schon in der Nacht seiner Niederlage zu
fliehen?“ Nicht zuletzt die heutige HDP-Abschlusskundgebung zeigt eindrucksvoll,
welches politisches Potenzial und welche freudenvolle Energie weiterhin im Land
vorhanden sind, die bei der nächstbesten Gelegenheit aus den angelegten Fesseln
herausbersten wird, sollte der autoritäre Griff auf die Gesellschaft auch nur
teilweise gelockert werden oder gar an Kraft abnehmen. Von der Entfesselung
dieser Energie wird es abhängen, ob das Land grundlegend umgewälzt wird.</p><hr/><p>Folgt der Wahlbeobachtungsdelegation für aktuelle Informationen bei <a href="https://twitter.com/KBDiyarbakir">Twitter</a>.<br/></p><hr/></div>
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