re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5402021-09-01T20:15:54.975678+00:00Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz2021-03-15T15:38:24.919544+00:002021-03-17T21:59:02.758548+00:00Meral Çınarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/burkaverbot-und-sozialhilfedetektive-der-schweiz/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz</h1>
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<span class="content-copyright">ROTA Migrantische Selbstorganisation</span>
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<div class="rich-text"><p>Am 7. März fanden in der Schweiz Volksabstimmungen auf Kantons- und Bundesebene statt. Einige von ihnen waren offen gegen Menschen- und Freiheitsrechte gerichtet. <a href="https://www.zh.ch/de/politik-staat/wahlen-abstimmungen/abstimmungen.html">Darunter folgende</a>:</p><ol><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob die staatsbürgerschaftlichen Informationen und die nationale Identität von Personen, die Straftaten begehen oder im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, veröffentlicht werden sollen. Diese von der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP) in Gang gesetzte Volksinitiative mit dem Titel „Bei Polizeimeldungen sind die Nationalitäten anzugeben“ wurde mit 43,76 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.</li><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob Sozialhilfeempfänger*innen, die im Verdacht stehen, Betrug oder Missbrauch mit der Sozialhilfe zu begehen, von Detektiven verfolgt werden dürfen/sollen. Die vom Kantonsrat Zürich vorgeschlagene Gesetzesänderung (Sozialhilfegesetz SHG Klare rechtliche Grundlage für Sozialdetektive) wurde mit 67,73 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li><li>Eine Schweiz-weite Volksinitiative mit dem Titel „Ja zum Verhüllungsverbot“, die ein Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum (Einkaufszentren, Schulen, Straßen usw.) forderte. Diese Initiative wurde mit 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li></ol><p>Das, was diese (Gesetzes-)Initiativen eint: Sie sind rassistisch und insbesondere gegen Migrant*innen gerichtet. Als ob die mangelhaften und unhygienischen Bedingungen nicht ausreichten, wurden <i>refugees</i>, die in Lagern lebten, während der Corona-Pandemie noch weiter isoliert. Besuche wurden verboten, Ein- und Ausgehen aus den Lagern penibel kontrolliert. Migrantische Arbeitskräfte befinden sich mitten in einer sich verschärfenden Armuts- und Arbeitslosigkeitsspirale, da die Pandemie diejenigen Wirtschaftssektoren besonders stark trifft, in denen Migrant*innen hauptsächlich arbeiten. Natürlich sind migrantische Frauen* von diesen Umständen gleich doppelt betroffen. Durch diese Initiativen bröckelt der Lebensstandard von Migrant*innen noch weiter und die Mauern, die sie umgeben, werden noch weiter hochgezogen – und das unter Umständen der Krise und Pandemie. Mit ihnen zeigt sich der rassistische und potenziell antidemokratische Charakter des schweizerischen Staates.</p><h2>Im Windschatten der Rechten</h2><p>Die erste Initiative wurde, wie gesagt, von der reaktionärsten und rassistischsten Partei der Schweiz, der SVP in Gang gesetzt. Die Logik ist klar: Ausländer*innen begehen viel mehr Straftaten als „Einheimische“. Daher ein Gesetz, das ihrer „sauberen, weißen Rasse und Hochkultur“ die Absolution erteilen soll. Außerdem soll die Veröffentlichung von Angaben über Herkunft rassistische Argumente und migrationsfeindliche Haltungen befeuern. Die Initiative wurde zwar nicht angenommen. Wird sie aber etwas besser organisiert (so wie die Initiative zum Verhüllungsverbot) und findet kein Widerstand dagegen statt, dann wird auch die SVP-Initiative beim nächsten Versuch durchkommen.</p><p>Und was soll man zur Gesetzesinitiative des Kantons Zürich sagen, die es ermöglicht, dass Sozialhilfeempfänger*innen durch Detektive nachspioniert werden kann? Die SVP ist eine klar rassistische Partei, aber warum hat der Züricher Kantonsrat das Bedürfnis, eine solche Gesetzesinitiative vorzuschlagen? Einige Politiker*innen sagen, das sei deshalb gemacht worden, um einer viel härteren Gesetzesinitiative der SVP zuvorzukommen und diese somit abzuwehren. Das ist eine wirklich interessante Argumentationsweise für die Politik in einem Land, das sich selbst zu den demokratischsten und liberal-freiheitlichsten der Welt zählt.</p><p>Es ist offensichtlich, dass dieses vage formulierte und daher in alle Richtungen dehnbare Gesetz einzig dafür gut sein wird, den Zugang zur Sozialhilfe, die angesichts der Pandemie-bedingten Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut der einzige Ausweg für viele Menschen ist, weiter zu erschweren. Wenn man sich vor Augen hält, wer in der Schweiz am meisten Sozialhilfe beantragen muss, erkennt man auch sofort den rassistischen Charakter des Gesetzes. Der Kanton Zürich, der in der Pandemie versagt hat, zwingt mit dieser Gesetzesinitiative Migrant*innen in den Niedriglohnsektor, in die Armut und letztlich dazu, das Land zu verlassen.</p><h2>Das Verhüllungsverbot</h2><p>Mag der rassistische und migrant*innenfeindliche Charakter der ersten beiden Abstimmungen unzweifelhaft erscheinen, so sind die Dinge etwas vertrackter, wenn es um das als Verhüllungsverbot deklarierte „Burkaverbot“ geht. Vor allem für Männer.</p><p>Die SVP hat <a href="https://www.svpag.ch/kampagne/verhuellungsverbot/">einige Begründungen</a> für diesen Gesetzesvorschlag ins Feld geführt. Zum einen wird der Islam mit Terrorismus gleichgesetzt und das Gesetz so auch als Maßnahme gegen Terror bezeichnet. Anscheinend sind wir Frauen* für den Terror verantwortlich, ohne davon zu wissen. Es würde mich wirklich interessieren, wie genau Terroranschläge verhindert werden, wenn es Frauen* untersagt wird mit einer Burka das Haus zu verlassen.</p><p>Aber damit nicht genug, sie erklären uns auch, dass sie die Freiheit der Frauen* für wichtig befinden und dieses Gesetz es den Frauen* erleichtern soll, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Weil jetzt natürlich ganz bestimmt alle betroffenen Frauen* plötzlich ihre Burka ablegen und nach draußen rennen werden…</p><p>Es wäre absurd anzunehmen, dass eine rassistische Partei wie die SVP tatsächlich auch nur einen einzigen Finger rührt für die Frauen*befreiung. Sie waren ja auch diejenigen, die sich am stärksten gegen den Frauen*streik gestellt und sogar dagegen organisiert haben. Sie haben kein anderes Ziel als Frauen*rechte zurückzunehmen und zwar beginnend mit den Rechten migrantischer Frauen*. Sie fürchten sich vor der Befreiung der Frau*. Sie fürchten sich vor der Befreiung und der Organisation der migrantischen Frauen*, die die prekären, am schlechtesten bezahlten Jobs ohne soziale Absicherung machen, die die Schweizer*innen nicht machen wollen und genau dadurch aber dafür sorgen, dass die Schweiz jeden Morgen erneut aufsteht und den Tag beginnt.</p><p>Wir dürfen auch nicht übersehen, dass mit dem Fokus auf die Burka gleichzeitig der in ganz Europa wachsende antiislamische Rassismus in der Schweiz seinen Ausdruck findet. Dadurch, dass muslimische Frauen* zur Zielscheibe erklärt werden, werden vermittelt alle Frauen* zur Zielscheibe erklärt.</p><p>Darüber hinaus fügt die SVP auch noch hinzu, dass ein Vermummungsverbot es der Polizei bei Demonstrationen erleichtert, „Straftäter“ schnell ausfindig zu machen. Obwohl die Initiative offiziell als Vermummungsverbot betitelt ist, lässt aber schon die Werbung der Initiator*innen, die eine Frau* mit Burka zeigt, keinen Zweifel daran, worum es wirklich geht: ein Verbot der Burka.</p><p>Jetzt ist aber die Fehlannahme, dass ein solches Gesetz die Frauen* befreien wird, nicht allein bei der SVP, rassistischen Parteien und konservativen Schweizer*innen verbreitet. Einige liberale, linke, ja sogar linksradikale Männer und Frauen* haben auch für das Gesetz gestimmt. Die dahingehende Argumentation von Frauen* deutet eher auf Angst und Manipulation im Zuge steigenden Drucks hin. Sie meinen, dass die Verhüllung der Frauen* ein Freiheitsproblem und der Islam eine Religion sei, die Frauen* unterdrückt und dieses Gesetz den Druck auf Frauen* vermindern würde. Hingegen denken viele Frauen* aus dem Mittleren Osten, dass der Islam eingeschränkt werden muss, nicht zuletzt deshalb, weil sie unter dessen repressiven Charakter leiden und sich davon befreien wollen. Daher stimmten auch sie dem Gesetz zu. Diese Argumente mögen richtig oder falsch sein, ich kann sie jedenfalls nachvollziehen. Frauen*, die über dieses Gesetz abstimmen, denken zugleich auch an sich. Sie treffen eine Entscheidung hinsichtlich ihrer eigenen Kleidung. Sie kommentieren dadurch ihre Geschlechtsgenoss*innen. Aber diese Argumentation muss man strikt von der Argumentation der weißen europäischen bürgerlich-patriarchalen Männer trennen, die eine sowohl in Form wie auch Inhalt rassistische Argumentation vorbringen.</p><h2>Und die Männer?</h2><p>Männer, denen – mit Ausnahme von gewissen Institutionen und LGBTIQ+-Erfahrungen – noch nie in ihrem Leben in ihre Kleidung hineingeredet wurde, haben keinen Begriff davon, was es heißt, aufgrund einer bestimmten Kleidung nicht auf die Straße oder ins Einkaufszentrum gehen zu können beziehungsweise sich dafür umziehen, ein Kleidungsstück aus- oder anziehen zu müssen. Und wie sie keinen Unterschied zwischen der freien Wahl eines Kleidungsstücks aus religiösen Gründen und dem erzwungenen Tragen eines Kleidungsstücks sehen, so sehen sie auch nicht, dass das erzwungene Ablegen eines Kleidungsstücks eben auch nur ein weiterer Zwang ist.</p><p>Nun gut, Männer, die für die Frauen*befreiung eintreten und mit denen wir in vielen Bereichen gemeinsamen marschieren, hinterfragen also religiös konnotierte Kleidungsstücke und wollen sie im Namen der Frauen*befreiung verbieten. Aber hinterfragen sie auch ihre eigene Männlichkeit, die vom Patriarchat beherrschten Religionen, oder das bürgerliche Verständnis von Mode, das oft stark vom Geschmack der Männer beeinflusst ist?</p><p>Das Einzige, was Männer hinsichtlich dieser Abstimmung verstehen sollten, ist Folgendes: Es ist überhaupt nichts Emanzipierendes daran, wenn die Kleidung von Frauen* zum Politikum wird und eine Abstimmung darüber auch Männern offen steht. Dieses Recht gibt ihnen der patriarchale Schweizer Staat. Dass nun vor allem Männer, die in vielen politischen Initiativen mit uns Seite an Seite stehen, diesen Unsinn im Namen der Befreiung der Frauen* verteidigen und dafür stimmen, ist eine inakzeptable linke Männerkrankheit. Es ist zugleich der Versuch das zu verschleiern, was die Frauen* wirklich unterdrückt und ausbeutet.</p><h2>Was Frauen* wirklich gefangen hält</h2><p>Aus meiner Sicht ist es zentral zu hinterfragen, was es denn nun wirklich ist, das Frauen* so unterdrückt und gefangen hält, dass sie nicht einmal ihre Kleidung frei wählen können. Die islamische Religion, die einige gesellschaftliche Regeln zusammenfasst und gewisse Glaubenswerte zum Ausdruck bringt? Oder ist es doch eher die Tatsache, dass diese Religion von patriarchalen Strukturen geprägt wurde und dass sich Männer das Recht herausnehmen ihre Regeln zu bestimmen, die dann wiederum das Leben der Frauen* in ein Gefängnis verwandeln?</p><p>Es ist eine Realität, dass der Islam, wie alle Religionen, unter starkem patriarchalen Druck geprägt wurde und deshalb der freie Wille der Frauen* immer beiseite geschoben wurde. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, wo Frauen* nicht nur über ihre Kleidung nicht frei entscheiden können, sondern auch ihren Glauben nicht frei leben können. Was hier die Freiheit der Frauen* wirklich beschränkt, ist also nicht ein Stück Stoff, sondern das Patriarchat. Patriarchale Strukturen haben sich in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphären festgesetzt und über Arbeit und Körper der Frauen* ein Herrschaftssystem errichtet.</p><p>Wenn es aber um die Frauen*emanzipation geht, dann können wir erst dann von einer wirklichen Freiheit sprechen, wenn Frauen* einzig und allein selbst darüber entscheiden können wie sie ihren Körper verhüllen. Wir sind nicht allein dadurch freier, dass wir Kleidung tragen, die mehr von unserem Körper zeigt. Wir sind frei, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen selbst und ohne Manipulation treffen können. Erst in einer Situation, wo wir also völlig selbstständig und frei von Manipulation entscheiden können, was wir tragen wollen, sind Shorts und Burka gleichermaßen tatsächlich nur mehr Stoffstücke.</p><p>Kurz gefasst: Sich für die Emanzipation der Frauen* einzusetzen heißt, sich für die Entwicklung des freien Willens der Frauen* und für die Aufhebung des patriarchalen Drucks auf Frauen* zu kämpfen. Ein solches Gesetz zu entwerfen und zur Abstimmung zu bringen heißt jedoch, ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten der Frauen* als Menschen (was nicht selten vergessen wird und unbedingt betont werden muss) zu lancieren.</p><p>Leider konnten die linken, feministischen Gruppen in der Schweiz, die den Gesetzesentwurf abgelehnt haben, vor der Abstimmung keine starke Initiative dagegen organisieren. Aber wenn wir Frauen* nicht wollen, dass sich Männer (oder ein von Männern beherrschtes System) das Recht herausnehmen, sich in die Kleidung von Frauen* einzumischen und irgendwann auch gegen unsere Shorts wettern, dann müssen wir uns klar gegen diese patriarchale Haltung stellen und einen Gegenstandpunkt organisieren.</p><hr/><p>Meral Çınar ist eine feministische Aktivistin aus der Schweiz. Sie ist auch eine Mibegründerin der migrantischen Selbstorganisation <a href="https://revoltmag.org/articles/unsere-lebensbedingungen-m%C3%BCssen-sich-grundlegend-%C3%A4ndern/">ROTA</a>.</p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p>Der Text erschien zu erst am 11. März auf Türkisch im feministischen Onlinemagazin <a href="http://feminerva.com/2021/03/isvicrede-burka-yasagi/"><i>feminerva</i></a>. Aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Alp Kayserilioğlu und Max Zirngast.</p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Infektion der Ökonomie2020-03-13T12:20:50.618324+00:002020-06-18T17:09:49.809180+00:00Jens Benickeredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/infektion-der-%C3%B6konomie/
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<div class="rich-text"><p>Wie hängen Kapitalismus, Krise und Krieg zusammen? Als im Jahr 2008 die globale Krise ihren Höhepunkt erlebte, war selbst dem bürgerlichen Feuilleton die bange Frage zu entnehmen, ob sich denn die Weltwirtschaftskrise, wie Anno 1929, zu einem neuen Weltkrieg entwickeln könne – ein Szenario, das von Linken und Aktivist*innen der Friedensbewegung schon viele Jahre <a href="https://www.rosalux.de/publikation/id/897/kapitalismus-krise-und-krieg/">diskutiert</a> wurde. Doch die ökonomische Struktur des globalisierten Kapitalismus und das abgestimmte Handeln des politischen Personals schienen diesen Befürchtungen zu widersprechen. Mehrere G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer bekräftigten die internationale Zusammenarbeit und erteilten dem Protektionismus eine Absage. Konzertierte Aktionen der wichtigsten Zentralbanken, die die Märkte mit billigem Geld zu beruhigen suchten und gewaltige Konjukturprogramme konnten eine „Kernschmelze des Finanzsystems“, wie sie nicht nur der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück befürchtete, gerade noch einmal verhindern.</p><h2><b>Austeritätsprogramme aus der Schäubleschmiede</b></h2><p>Doch die proklamierte Einigkeit der doch eigentlich konkurrierenden Nationalökonomien hielt nicht lange vor. Selbst innerhalb der Staatenbünde kam es zu handfesten Differenzen. So kam es innerhalb der Europäischen Union, während der Phase der Krise, die als „Eurokrise“ bekannt wurde, zum Streit darüber, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommen könne. Während vor allem Deutschland auf einem harten Sparkurs und Austeritätsprogrammen gegenüber den, vor allem südeuropäischen, Krisenstaaten beharrte, forderten andere einen Schuldenschnitt und eine nachfrageorientierte Politik, um die Konjunktur wieder anzuheizen. Das deutsche Erfolgsmodell, das auf einer exportorientierten Wirtschaft mit niedrigen Löhnen basiert, konnte dies natürlich nicht zulassen. Und so setzte der als rigoroser Sparkommissar auftretende Nachfolger Steinbrücks, Wolfgang Schäuble, gemeinsam mit der so genannten Troika äußerst schmerzhafte Austeritätsmaßnahmen in den von der Krise besonders betroffenen Staaten durch.</p><p>Der Widerstand gegen eine „deutsche EU der Austerität“ und die schier endlose Krise, die sich mit den neoliberalen Rezepten ganz offensichtlich nicht überwinden ließ, brachten nicht nur linke Parteien, wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien an die Macht, sondern stärkten auch populistische und autoritäre Parteien und Bewegungen. Diese beklagten vor allem die Eingriffe in die nationale Souveränität und den Einfluss supranationaler Organisationen. Auch weltweit bekamen souveränistische und protektionistische Strömungen immer mehr Zulauf. Statt gemeinsam den globalen Kapitalismus retten zu wollen, besannen sich die Staatenlenker zunehmend auf ihr nationales Interesse. So propagierte Donald Trump die Parole „America first“ und kündigte Freihandelsabkommen auf, mit dem erklärten Ziel Industriearbeitsplätze in die USA zurückzuholen und die bedrohte Führungsrolle der Vereinigten Staaten zu verteidigen. Und in Großbritannien trat sogar, wider aller ökonomischen Vernunft aus der EU aus, um in Zukunft ihre wirtschaftlichen Interessen nur noch nationalstaatlich vertreten zu können und keine Rücksicht mehr auf die anderen Mitgliedsstaaten nehmen zu müssen. Die ökonomische Krise führte auf dem politischen Parkett also zu einem verstärkten Rückzug auf vermeintlich eigene Interessen und zu einer schärferen Abgrenzung gegen die Konkurrenz.</p><h2><b>Eine neue Krise bahnt sich an…</b></h2><p>Und jetzt auch noch Corona! Der Ausbruch der Corona-Epidemie Ende vergangenen Jahres in China und dessen schnelle Verbreitung über die ganze Welt, zeigt die <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">Verwundbarkeit des globalisierten Kapitalismus</a>. Wenn Städte abgeriegelt und Fabriken geschlossen werden, trifft dies – neben allen Auswirkungen auf die Menschen, die Lohnabhängigen und so weiter – eng getaktete Lieferketten. Dies kann dann dazu führen, dass am anderen Ende der Welt Produktionsanlagen stillstehen, wenn Teile nicht angeliefert werden. Der Ausbruch der Epidemie in China trifft die Weltwirtschaft besonders hart. Zum einen ist China inzwischen die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und die aufsteigende Kraft im Weltsystem und zum anderen immer noch die „Werkbank der Welt“. Hier werden viele der Produkte hergestellt, die dann in den Vereinigten Staaten oder in Europa verkauft werden. Beispielhaft dafür steht der US-Elektronikkonzern Apple, der wie kaum ein anderes Unternehmen auf die Produktion in China <a href="https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/lieferketten-im-corona-stress-samsung-hui-apple-pfui/25606394.html">setzt</a>. Bereits im Januar musste Apple aufgrund der zwischenzeitlich als „Pandemie“ deklarierten Krankheit eine <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-apple-101.html">Umsatzwarnung</a> herausgeben.</p><p>Dazu kam noch das anfänglich verheerende Krisenmanagement der autoritären Staatsführung in China, die die Informationen über die neuartige Lungeninfektion zurückhalten wollte und erst viel zu spät mit drastischen Quarantänemaßnahmen versuchte, eine Ausbreitung zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber schon Millionen Menschen Wuhan, den mutmaßlichen Ursprungsort der Epidemie, verlassen, um zu ihren Verwandten zu fahren und mit diesen das Neujahrsfest zu feiern. Das Virus wurde verbreitete sich immer weiter. Durch die enge Einbindung der chinesischen Wirtschaft in die globalen Verwertungsketten, durch Treffen von internationalen Manager_innen oder Konzernmitarbeiter_innen, aber auch durch Touristinnen und Touristen, wurde das Virus schnell über die ganze Welt verteilt.</p><p>Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft werden deutlich stärker ausfallen als noch 2003, als der durchaus vergleichbare SARS-Virus ebenfalls in China ausbrach und sich dann weiterverbreitete. Zum einen war 2003 die Weltwirtschaft in keinem so geschwächten Zustand wie heute, nach der immer noch nicht bewältigten großen Krise. Zum anderen ist seitdem die Bedeutung und die Einbindung Chinas in der Weltwirtschaft deutlich gewachsen. Lag der Anteil der globalen Wirtschaftsleistung Chinas <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-wirtschaft-103.html">damals</a> bei nur vier Prozent, sind es heute bereits 17 Prozent. In Folge der SARS-Epidemie 2003 schwächte sich das Wachstum der chinesischen Wirtschaft um ein Prozent ab. Dies wiederrum hatte auch damals Folgewirkungen auf die Nationalökonomien anderer Staaten, aber noch im überschaubaren Rahmen: Es soll etwa das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik damals um weniger als 0,1 Prozent <a href="https://www.zeit.de/2020/07/corona-virus-epidemie-pandemie-weltwirtschaft/seite-2">gesenkt</a> haben.</p><p>Dieses Mal werden sowohl die Auswirkung auf das chinesische Wachstum als auch auf die mit China verbundenen Handelspartner deutlich größer werden. Anfang März schätzte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass sich das ursprünglich für 2020 erwartete Wachstum aufgrund der Corona-Epidemie halbieren könnte. Am stärksten betroffen wäre natürlich die chinesische Wirtschaft, der die OECD nur noch eine für ihre Verhältnisse erschrecken schwaches Wachstum von 4,9 Prozent vorhersagt. Doch selbst diese düstere Prognose könnte sich nach den Entwicklungen der letzten Tage (Börsencrash, Ölpreiseinbruch und weitere weltweite Verbreitung des Virus) noch als zu optimistisch herausstellen.</p><h2><b>Wird die Globalisierung rückgängig gemacht?</b></h2><p>Die aktuellen Entwicklungen dürften auch den Trend verstärken, Produktionsstandorte aus China zu verlegen. Bereits in den vergangenen Jahren kam es vor allem in der Textilindustrie zu Verlagerungen, etwa nach Vietnam oder Bangladesch. Gründe dafür waren unter anderem das gestiegene Lohnniveau, dass sich die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter erkämpfen konnten. Die Kolumnistin der <i>Financial Times,</i> Rana Foroohar, <a href="https://www.capital.de/wirtschaft-politik/das-coronavirus-beschleunigt-die-entkopplung-der-weltwirtschaft?article_onepage=true">sieht deshalb</a> im Corona-Virus einen wichtigen Faktor, der die Entkopplung der Weltwirtschaft weiter vorantreibt. Sie sieht den Beginn einer neuen Ära, die die Globalisierung durch eine zunehmend regionale und lokaler ausgerichtete Produktion ablöst. Anzeichen dafür seien schon seit einiger Zeit zu beobachten, etwa wenn US-Konzerne ihre Lieferketten aus Asien abziehen und in Mexiko und damit näher an den USA aufbauen. Foroohar zitiert dazu den Blackrock-Investmentstrategen Mike Pyle, der vorhersagt, dass die Lieferketten der Zukunft etwas weniger effizient, dafür aber aber widerstandsfähiger seien müssen und dies bedeute eben auch eine stärkere Anbindung an die Heimatmärkte.</p><p>Diese ökonomische Entwicklung zurück zu den Nationalstaaten bzw. geographischen Großräumen stärkt wiederum genau diejenigen, die auch einen politischen Bezug auf die eigene Nation und die Nationalökonomie fordern. Die rechten Parteien und Bewegungen erhalten dadurch eine materielle Basis für ihr politisches Handeln. Handelskriege, wie die, die momentan schon von US-Präsident Donald Trump ausgelöst wurden, werden wohl keine Ausnahme mehr bleiben. Der Kampf um die wirtschaftliche und geopolitische Vorherrschaft zwischen den einzelnen Blöcken wird dadurch noch offener und aggressiver ausgetragen werden und dies erhöht auch die Gefahr größerer Kriege. Etwas mehr als zehn Jahre nach Beginn der großen Krise kann damit die Frage nach dem Weltkrieg nicht mehr so leicht wegewischt werden.</p></div>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>In Hanau erschoss ein Mann am Abend des 19. Februar 2020 neun Menschen in zwei Shisha-Bars. In seinem Bekennerschreiben, das vor Rassismus, Misogynie und Verschwörungsphantasien überquillt, ist ganz offen die Rede davon, dass mehrere „<a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1133174.rechter-terror-elf-tote-in-hanau-taeter-mit-rassistischem-motiv.html">Völker komplett vernichtet werden</a>“ müssen. Der rechtsterroristische Charakter seines Vorgehens ist offensichtlich: dem Inhalt des Bekennerschreibens nach, wie auch in der Wahl der Opfer. Möchte man zumindest meinen.</p><p>Politiker*innen bekunden bundesweit ihre Bestürzung und ihre Anteilnahme. Allerdings trägt ihr öffentlicher Umgang mit Taten wie dieser oft dazu bei, dass der rechte Terror weiter um sich greifen kann. Ob aus Sorge, der eigene Anteil am Versagen in der Verhinderung rechter Anschläge könnte offensichtlich werden oder aus politischem Kalkül: Die Äußerungen vieler Repräsentant*innen staatlicher Institutionen bewegen sich nach der Tat in Hanau, wie bei vergangenen rechten und neonazistischen Terrorattacken, auf einem Kontinuum zwischen Verharmlosung und der aktiven Bereitung des Nährbodens rechter Gewalt.</p><p>Mit besonderer Schamlosigkeit stechen nach den Morden in Hanau Twitter-Meldungen von Sigmar Gabriel (SPD) und Hans Georg Maaßen (ehemaliger Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz) hervor. <a href="https://twitter.com/sigmargabriel/status/1230438894174375937?s=12">Ersterer</a> stellt die Erschießung von neun Menschen auf eine Stufe mit vermeintlicher Sachbeschädigung durch Linke, während <a href="https://twitter.com/matthiasmeisner/status/1230404730297430017?s=12">Letzterer</a> die Tat nutzt, um erneut gegen realsozialistische politische Systeme zu polemisieren und Antifaschist*innen mit Nazis gleichzusetzen. Nicht anders zu erwarten und dennoch <a href="https://www.volksverpetzer.de/kommentar/hanau-afd/">an Ekelhaftigkeit kaum zu überbieten</a>, äußern sich Mitglieder der AfD zum Anschlag und instrumentalisieren beziehungsweise relativieren die Tat. So betreibt der Berliner AfD-Mann Georg Pazderski (MdA) eine klassische Täter-Opfer-Umkehr: Er <a href="https://twitter.com/Georg_Pazderski/status/1230387001410674689">fragt</a>, ob das wirklich noch „das 2017 von der #Merkel-#CDU beschworene 'Deutschland in dem wir gut und gerne leben'?“ sei; während Jörg Meuthen (AfD) im stets wiederholten Einzeltäter-Sermon davon <a href="https://twitter.com/Joerg_Meuthen/status/1230411493340041216">schwadroniert</a>, die Tat sei „weder rechter noch linker Terror“ sondern „die wahnhafte Tat eines Irren“. Den Gipfel der Relativierung legte mal wieder „Vogelschiss“-Gauland (AfD) <a href="https://www.morgenpost.de/berlin/article228485597/Gauland-wirft-anderen-Parteien-Instrumentalisierung-vor.html">hin</a>: „Terror ist es ja meistens erst, wenn irgendein politisches Ziel erreicht werden soll. Bei einem völlig geistig Verirrten seh‘ ich kein politisches Ziel.“</p><p>Wie nach dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag in Halle, nach dem Auffliegen faschistischer Organisationsgruppen in Bundeswehr und Polizei oder nun nach dem Massaker in Hanau: immer wieder wird die Mär von verwirrten und sich isoliert im Internet radikalisierenden Einzeltätern beschworen, womit Rassismus und Menschenfeindlichkeit als strukturelles gesellschaftliches Problem verschleiert werden. Dass tatsächlich in vielen Fällen weit verzweigte Nazi-Terrornetzwerke und oft auch Verstrickungen mit staatlichen Apparaten hinter diesen Taten stehen, wird häufig sehr viel später und oftmals erst durch die engagierte Recherche antifaschistischer Aktivist*innen offengelegt.</p><p>Schon nach der Selbstenttarnung des NSU wurde offensichtlich, dass in der bürgerlichen Politik kein Interesse daran besteht, rechte Mordtaten vollständig aufzuklären und die Netzwerke, aus denen heraus sie begangen werden, zu zerschlagen. Seit Jahren und trotz zahlreicher handfester Indizien dafür, dass der NSU in komplexe rechte Strukturen eingebunden war, die bis in staatliche Behörden reichen, wird die Behauptung eines allein handelnden Terror-Trios aufrechterhalten, das nur punktuell Hilfe durch Unterstützer*innen bekam. Als ehemaliger Verfassungsschutz-Präsident spielte Hans-Georg Maaßen dabei eine nicht unwesentliche Rolle.</p><p>Die Strategie der Verharmlosung, des Herunterspielens und der Gleichsetzung von rechtem Terror mit linkem Aktivismus ist zum Steckenpferd vieler Politiker*innen geworden – und zwar weltweit. Wellen schlug Donald Trumps <a href="https://www.theguardian.com/us-news/2017/aug/12/charlottesville-protest-trump-condemns-violence-many-sides">Statement</a> nach dem Attentat in Charlottesville 2017, für das er antifaschistischen Demonstrant*innen eine Mitschuld gab. Weniger prominent, dafür in eine ähnliche Richtung deutend, waren die Äußerungen Silvio Berlusconis nach dem rechten Anschlag im italienischen Macerata 2018, der Geflüchtete als „<a href="https://revoltmag.org/articles/nicht-die-zeit-zu-schweigen-es-ist-die-zeit-des-widerstands/">soziale Bombe</a>“ bezeichnete und des australischen Senators Fraser Annings, der nach dem terroristischen Massenmord in Christchurch 2019 in einer <a href="https://www.theguardian.com/world/2019/mar/15/australian-senator-fraser-anning-criticised-blaming-new-zealand-attack-on-muslim-immigration">Twitter-Nachricht</a> einen kausalen Zusammenhang zwischen Immigration und rechter Gewalt unterstellte. In zahlreichen vom Rechtsruck betroffenen Ländern schaffen Politiker*innen mit solchen Aussagen ein Klima, in dem sich Nazis sicher fühlen in dem Bewusstsein, dass ihre Taten bagatellisiert, wenn nicht sogar gebilligt werden. Ein solches Vorgehen ist eine Verhöhnung der Opfer und eine gefährliche Verharmlosung rechtsterroristischer Taten.</p><p>Was bleibt, ist den geistigen BrandstifterInnen nicht die Deutungshoheit über Anschläge wie in Hanau durch ihr rechtes Framing zu überlassen und endlich auch die Mitschuld der bürgerlichen Politik an der zunehmenden Gewaltbereitschaft der RassistInnen klarer zu benennen. Es ist jetzt die Zeit, auf die Straßen zu gehen und lautstark gegen den faschistischen Terror und seine Wegbereiter*innen zu demonstrieren. Wenn Stimmen angehört werden, dann müssen es die Stimmen der Betroffenen und ihrer Nächsten sein, die viel zu oft in Krokodilstränen (alter) weißer Männer in Ämtern und Würden mit Floskeln à la „ein Angriff auf uns alle“ ertränkt werden. Es sind dieselben, die in den letzten Jahrzehnten gegen Geflüchtete, Ausländer*innen, Arbeitslose gehetzt und allesamt miteinander den neoliberalen Umbau in Deutschland betrieben haben, die jetzt vom „Wir, die Demokraten“ schwafeln im Angesicht dessen, dass RechtspopulistInnen und Neonazis die Ergebnisse jener Hetze und des neoliberalen Gegeneinanders besser auszunutzen wissen als „unsere Demokraten“. Diesem „Wir“ sollten wir uns als antifaschistische revolutionäre Linke verweigern.</p></div>
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Das Ende von „Frieden und Soziale Gerechtigkeit“?2018-06-19T09:20:16.485685+00:002018-07-07T09:11:06.484009+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/das-ende-von-frieden-und-soziale-gerechtigkeit/
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<h1>Das Ende von „Frieden und Soziale Gerechtigkeit“?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Am vergangenen Sonntag gewann Iván Duque, Kandidat des rechtspopulistischen
Centro Democrático, die <a href="https://presidente2018.registraduria.gov.co/resultados/2html/resultados.html">zweite Runde der Präsidentschaftswahlen</a> in Kolumbien. Zuvor hatte sich der
sozialdemokratische Kandidat Gustavo Petro, aufgestellt von der mitte-links
Kampagne Colombia Humana, gegen seine liberalen Mitbewerber in der ersten Runde
der Präsidentschaftswahlen am 27. Mai durchgesetzt. Er galt damit als erster
dezidierter mitte-links Präsidentschaftskandidat in der zweiten Runde der
Präsidentschaftswahl in der kolumbianischen Geschichte. Im zweiten Wahlgang aber
setzte sich Iván Duque mit einer klaren Mehrheit von 54 zu 41,8 Prozent durch
und konnte damit zwei Millionen Stimmen mehr verbuchen als sein Gegenkandidat
Petro. Selbst unter Einbezug des im Vorlauf bekanntgewordenen möglichen
Stimmenkaufs und des <a href="http://pacifista.co/hablamos-con-la-registraduria-sobre-el-supuesto-fraude-electoral-a-favor-de-duque/">Wahlbetrugs</a> durch UnterstützerInnen des rechten Kandidaten
kann sogar von einem klaren Sieg der Rechten ausgegangen werden. Die
Wahlbeteiligung von 53,4 Prozent gilt für das südamerikanische Land als
vergleichsweise hoch, insbesondere im Vergleich zum Plebiszit über die Friedensverträge
von Havanna mit den FARC am 2. Oktober 2016, bei der eine Wahlbeteiligung von 37,43
Prozent ermittelt wurde. Aufgrund der Ergebnisse der Legislativwahlen am 11.
März diesen Jahres verfügt Duque darüber hinaus mit seinen UnterstützerInnenparteien,
auch ohne die offensichtlich wankelmütige Partido Liberal, in beiden
kolumbianischen Kammern <a href="https://es.wikipedia.org/wiki/Elecciones_legislativas_de_Colombia_de_2018">über die klare Mehrheit</a>. </p>
<h2><b>Ein
Generalangriff auf die Friedensverträge</b></h2>
<p>Das Wahlergebnis ist als eine Tendenzwahl zu verstehen. Der Rechtspopulist
Iván Duque, protegiert vom rechten Hardliner und Ex-Präsidenten Alvaro Uribe Vélez,
ist ein ausgesprochener Feind der Friedensverträge. Während seine ParteigängerInnen
immer wieder wörtlich ankündigten, <a href="https://www.semana.com/nacion/articulo/uribismo-hara-trizas-acuerdo-acuerdo-con-farc-esta-blindado/524529">„die Friedensverträge zu zerreißen“,</a> lehnt
er zudem jede Form des Waffenstillstands oder etwa Verhandlungen mit der
verbliebenen marxistischen Guerilla ELN ohne deren Demobilisierung ab. Der neue
rechte Präsident zielt nun, angeblich nicht mehr „zerreißend“, auf „Änderungen“
in den Friedensverträgen. Damit sind Umgestaltungen gemeint, die der ehemalige
liberale Präsidentschaftskandidat Humberto de la Calle zu Recht als „Änderung
des Wesensgehalts der Verträge“ bezeichnete. Es geht dabei unter anderem
um die geplante Demontage der Sonderjustiz für den Frieden (JEP), einer durch
die Friedensverträge aufgestellte Sondergerichtsbarkeit für
Menschenrechtsverbrechen im bewaffneten Konflikt. Die Bestrafung, die sämtliche
Akteure erhalten, denen Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen werden, reichen
dabei von einer breiten Palette von Resozialisationsarbeitsprogrammen bis hin
zur klassischen Haftstrafe. Duque ist das nicht genug. Er möchte die JEP
aushebeln und die Bestrafung der regulären Strafjustiz überantworten, die kaum
mit Resozialisierungsprogrammen arbeitet. Es ist in diesem Zusammenhang
bemerkenswert, dass Duque, im Einklang mit seinem Ziehvater Alvaro Uribe, gegen
den <a href="http://www.vanguardia.com/actualidad/colombia/233151-uribe-es-quien-tiene-mas-investigaciones-en-contra">über 250 Verfahren</a> wegen Drogenhandel, Korruption, Vergewaltigung
und Verbindungen zum Paramilitarismus anhängig sind, die Schaffung eines
sogenannten „Super-Corte“ vorantreiben will. Es handelt sich hier um eine
faktische Aufhebung der Kompetenzenteilung der Justiz auf höchster staatlicher
Ebene. Nach diesem Vorschlag, den Duque Anfang Juni bereits beim
Verfassungsgericht zur Prüfung eingereicht hat, würden die bislang sechs getrennten
hohen landesweiten Gerichte (Verfassungsgericht, Bundesgerichtshof, Staatsrat,
Justizrat, Sonderjustiz für den Frieden, Nationaler Wahlrat) zu einem einzigen Landesgericht,
mit geringerem Personalbestand, zusammengeführt. Ein Schelm, wer hierbei Böses
denkt. </p>
<p>Weiterhin wird es um die Demontage der politischen Partizipation der neuen
Linkspartei und ehemaligen Guerilla FARC gehen. Seit der Inhaftierung des
FARC-Führers und Abgeordneten des Kongresses Jesús Santrich, unter äußerst fragwürdiger
Beweislage <a href="https://revoltmag.org/articles/angriff-auf-den-friedensprozess-kolumbien/">der dubiosen US-Anti-Drogenbehörde DEA</a> im April 2018, herrscht Unsicherheit über die
Besetzung der – der Ex-Guerilla laut Friedensverträgen jeweils in Senat und
Kongress zugesicherten – fünf Sitze. Duque will die Führer der ehemaligen
Guerilla nun entgültig hinter Schloss und Riegel bringen. Dafür käme ihm die
Aushebelung der Sonderjustiz zu Gute. Die ist nämlich die einzige Regelung, die
verhindert, dass die mit den USA bereits in den 1980ern auf Basis des „War on
Drugs“ vereinbarten <a href="http://extradicion.com.co/historia-de-la-extradicion-en-colombia/">Auslieferungsabkommen</a> wirksam werden. Es ist darüber hinaus zu
erwähnen, dass die Ultrarechten unter Revision der ursprünglichen
Friedensverträge bereits im Jahr 2016 das Privateigentum in den
Friedensverträgen festschreiben ließ, womit seither die in Vertrag Eins verhandelte
Agrarreform zu Gunsten von Vertriebenen und Kleinbauern erschwert wird. Duque
möchte auch diesen Vertrag nun „strukturell reformieren“. Der neue Präsident steht
also nicht nur für eine Fortsetzung der exportorientierten, post-kolonialen GroßgrundbesitzerInnen-Ökonomie
Kolumbiens, sondern möchte eine Politik der Steuersenkungen, des „Schlanken
Staats“ (einer möglichst kleinen gestrafften, wirtschaftsorientierten
Staatsverwaltung) und der ausländischen Investitionen vorantreiben. Der Aufbau
eines umfassenden Sozialstaats, der mit der Umsetzung der in den
Friedensverträgen vereinbarten Bestimmungen einhergehen würde, ist damit
vollkommen unvereinbar. Duque hat darüber hinaus bereits die Fortsetzung der
gewaltsamen Drogenbekämpfung angekündigt, im Gegensatz zu den Bestimmungen der
friedlichen Substitution in Vertrag Vier der Friedensverträge. Summa Summarum
droht nun also ein Generalangriff auf jeden einzelnen Vertragspunkt der
Friedensverträge. Dieser wird praktisch auf allen Ebenen komplett aushebelt und
eben nicht nur, wie Duque nunmehr in seiner ersten Rede als Präsident betont
hat, <a href="https://www.americaeconomia.com/politica-sociedad/politica/presidente-electo-de-colombia-dice-que-no-hara-trizas-el-acuerdo-de-paz">an einigen Stellen korrigiert.</a></p>
<h2><b>Wie konnte es dazu kommen?</b></h2>
<p>Die Umstrukturierung ist ein Horrorszenario für sämtliche Kräfte, die den Friedensprozess
unterstützen. Sie kann über verschiedene Ebenen erklärt werden. Der wichtigste
Grund dürfte sein, dass Kolumbien sich längst weder von den Praktiken, noch vom
Diskurs des Krieges verabschiedet hat. <a href="https://revoltmag.org/articles/eine-niederlage-f%C3%BCr-die-gesamte-kolumbianische-linke/">Wie bereits in einem früheren Artikel
dargelegt</a>, leidet Kolumbien unter
einem stramm rechten politischen Diskurs, der die politische Verantwortung des
Staates, etwa für <a href="https://amerika21.de/analyse/152975/paramilitarismus-kolumbien">seine Parapolitik</a>, die Praxis des „Verschwindenlassens“ und viele
weitere Verbrechen schlicht unberücksichtigt lässt und gegen jeden historischen
Beleg, den Paramilitarismus zum rein kriminellen Phänomen („Bandas Criminales“,
BACRIM) verklärt. In diesem Diskurs erscheinen die FARC nicht lediglich als
eine der beteiligten Fraktionen, die für Menschenrechtsverbrechen zur
Verantwortung zu ziehen ist, sondern vollkommen <a href="http://www.centrodememoriahistorica.gov.co/descargas/informes2013/bastaYa/resumen-ejecutivo-basta-ya.pdf">wahrheits- und faktenwidrig</a> als Hauptschuldige und DrogenhändlerInnen, vor
denen Santos angeblich „auf die Knie gegangen“ sei. Weiterhin
instrumentalisiert das Centro Democrático bewusst die <a href="https://amerika21.de/analyse/178561/venezuela-unerledigte-dinge">schwere ökonomische und politische Krise
Venezuelas</a>, um – den
tatsächlich außerordentlich gemäßigten – Mitte-Linkskandidaten Gustavo Petro zu
einem angeblich kommunistischen („castro-chavistischen“) Monster zu karikieren,
welches „das Land in Venezuela verwandeln“ werde. Tatsächlich verlief aber die
Wahl am vergangenen Sonntag eher zwischen einem liberal-grünen Sozialdemokraten
und einem rechtskonservativen, neoliberalen Populisten. Eine „Wahl der Extreme“,
wie sie herbeiphantasiert wird, gab es jedenfalls nie. Es handelte sich also vielmehr
um eine Form der rechten Meinungsmache, die immer wieder auf allen
kolumbianischen Medien hoch und runter lief und bei nicht wenigen zu einer
Wahlentscheidung für den tatsächlich extremen Rechtspopulisten Duque geführt
haben könnte.</p>
<p>Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Fragmentierung der
kolumbianischen Linken und hier insbesondere des Friedenslagers. Es spricht
Bände, dass die traditionellen mitte-links Parteien des Landes – Alianza Verde
und Polo Democrático Alternativo – den neoliberalen Universitätsprofessor
Sergio Fajardo als Kandidaten aufstellten, der sich im Diskurs stehts bemühte,
sich selbst als <a href="http://www.elpais.com.co/politica/hay-que-romper-con-la-polarizacion-de-este-pais-sergio-fajardo.html">„Mitte zwischen den Extremen“</a> dastehen zu lassen und zum Beispiel in Venezuela –
in Übereinstimmung mit der radikalen Rechten – eine <a href="https://www.youtube.com/watch?v=nFVhbwYcAo4">„Diktatur“ am Werke</a> sieht. „Mitte“ heißt in Kolumbien eben, einen
stark rechts geprägten Diskurs zu bedienen. Und schließlich versagten aus dem
gleichen Grund auch die liberalen FriedensbefürworterInnen Sergio Fajardo, Humberto
de la Calle sowie Santos' Partido de la U und die Führung der Partido Liberal
dem angeblich „extremen“ Gustavo Petro in der zweiten Präsidentschaftsrunde die
Unterstützung. Während die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten <a href="http://www.eltiempo.com/elecciones-colombia-2018/presidenciales/el-mensaje-de-fajardo-en-que-defiende-el-voto-en-blanco-230764">Fajardo</a> und <a href="http://caracol.com.co/radio/2018/05/31/politica/1527783042_740366.html">De la Calle</a> für ein „voto en blanco“ (Ungültig Wählen)
votierten (zuletzt dann 4,8 Prozent der Stimmen), liefen letztere <a href="http://caracol.com.co/radio/2018/05/31/politica/1527783042_740366.html">„Friedensparteien“</a> sogar offen zum Friedensgegner Duque über.
Angesichts dieser Spaltung des Pro-Friedenslagers half es dann auch wenig, dass
die Alianza Verde, ein Teil des Polo Democrático Alternativo und die Basis der
Partido Liberal den Kandidaten Petro unter teilweise <a href="https://www.elespectador.com/elecciones-2018/noticias/politica/las-condiciones-de-la-alianza-verde-para-apoyar-gustavo-petro-articulo-791591">absurden Auflagen</a> unterstützte, indem sie diesen etwa auf die Erhaltung der Demokratie
verpflichteten und damit erneut in eine „extreme“ Ecke stellten.</p>
<p>Abseits dieser Faktoren kann festgehalten werden, dass die kolumbianische
Gesellschaft offensichtlich noch nicht bereit dazu ist, das Koordinatensystem
des Krieges zu verlassen. Petro stand für zu viel Wandel und zu wenig
Kontinuität. Sein Programm war im Prinzip ein modernes links-liberales
Programm, das bürgerliche Rechte der Minderheiten, Ökologiefragen,
Frauenrechte, demokratische Rechte und die Entwicklung einer stabilen
Binnenwirtschaft unter Vorzeichen eines sozialstaatlichen Kapitalismus auf
Basis der Friedensverträge in den Mittelpunkt stellte. Ein Programm, das
offensichtlich für den politischen Diskurs des Landes zu progressiv war, um
Mehrheiten gewinnen zu können. Allerdings auch ein Programm, das nicht im
Interesse des kolumbianischen Kapitals ist, dem eben an der Exportbindung, und
nicht an der Entwicklung einer nationalen Industrie gelegen ist. </p>
<h2><b>Widerstand oder Kapitulation?</b></h2>
<p>Für die noch im Guerillakrieg aktive ELN wird das Wahlergebnis aller
Voraussicht nach einen Eintritt in die bewaffnete Konfrontation auf hohem
Niveau bedeuten. Es ist davon auszugehen, dass Duque nicht zuletzt auf Druck
aus den Reihen seiner Partei die Verhandlungen mit der ELN, die von der
Santos-Regierung zuletzt in der kubanischen Hauptstadt Havanna wieder
aufgenommen wurden, platzen lassen wird – zumal diese bislang wenig ergiebig
waren und immer wieder durch Phasen massiver Kampfhandlungen begleitet wurden.
Die ELN hat bis zuletzt darauf hingewiesen, dass ein Gelingen von
Friedensverhandlungen an der Umsetzung der Verträge von Havanna mit den FARC
gemessen wird. Ein Szenario, das mit einem Präsidenten Duque nahezu
unerreichbar geworden ist. </p>
<p>Wie die neue Linkspartei FARC auf die komplette Delegitimierung ihrer
Agenda reagieren wird, ist bislang noch unklar. Bekannt ist, dass immer mehr
entwaffnete Ex-Guerilleros aufgrund der mangelnden Garantien unter einem
Präsidenten Duque, aber auch der Inhaftierung von Jesús Santrich <a href="https://amerika21.de/analyse/203512/kolumbien-dissidenz-friede-wahlen?platform=hootsuite">die Entwaffnungszonen (ZVTN) verlassen</a> und sich entweder anderen bewaffneten Gruppen
anschließen oder untertauchen. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, dass FARC-Führer
Iván Márquez sich bereits an einen unbekannten <a href="http://www.elcolombiano.com/colombia/ivan-marquez-se-ira-a-miravalle-caqueta-FB8571654">Ort in Caqueta zurückgezogen hat</a>. Gleichzeitig versucht die Führung der
Linkspartei, ihre Basis an der Stange zu halten. Präsident Duque wird die
Ex-Guerilla mit allen Mitteln attackieren und unter Druck setzen – ganz zu
schweigen von der drohenden Komplett-Demontage der Friedensverträge und aller
Garantien. Faktisch bleiben der FARC vor diesem Szenario nur zwei Wege offen:
Sie kann den Weg der Unión Patriótica (UP), ihrer Vorgängerpartei, gehen und
versuchen, den legalen Kurs aufrecht zu erhalten und sich auf den Widerstand
der sozialen Bewegungen, zum Beispiel einem breiten linken Bündnis mit Petros
Colombia Humana, zu verlassen. In Anbetracht der zunehmenden
Bedeutungslosigkeit der Friedensverträge sowie der Ermordung von Mitgliedern
und Sozialen AktivistInnen geschähe dies allerdings unter fortwährendem Zerfall
der Partei. Auf diesen Kurs der Führung weist das <a href="https://www.redglobe.de/lateinamerika-karibik/kolumbien/20069-farc-zum-wahlergebnis-in-kolumbien">aktuelle Statement der FARC</a> zum Wahlsieg Duques hin. Es ist aber ebenso
möglich, dass nun Sektoren an der Basis der neuen Linkspartei die Rückkehr in
den bewaffneten Konflikt wählen und diese damit weiter schwächen. Angesichts
der vollständigen Entwaffnung und der weitestgehenden Offenlegung ihrer
Struktur wäre dies ein gefährliches Unterfangen und würde die Wiedervereinigung
der derzeit führungslosen FARC-Dissidenz voraussetzen. Auf eine solche mögliche
Entwicklung weisen verschiedene <a href="https://amerika21.de/analyse/203512/kolumbien-dissidenz-friede-wahlen?platform=hootsuite">linke AnalystInnen hin</a>. Daneben ist auch eine Stärkung der ELN möglich,
da diese als weiterhin authentische, militante Kraft gilt.</p>
<p>Abseits der bewaffneten Dimension wird es für die Partei-, wie
außerparlamentarische Linke im Land nötig sein, dem rechten Diskurs
selbstbewusst entgegen zu treten. Es ist keine Lösung <a href="https://www.semana.com/nacion/articulo/entrevista-rodrigo-londono-timochenko-como-candidato-de-la-farc/554946">vor diesem einzuknicken</a>, wie in den vergangenen Jahren von nahezu allen
AkteurInnen geschehen, indem gegen die eigene Agenda als Linke Stellung bezogen
wird, um im rechten Diskurs als „akzeptabel" zu gelten – so
nachvollziehbar das angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist. Angesichts der
unter Duque fortgesetzten oder sich sogar intensivierenden staatlich-paramilitärischen
Repressions- und Tötungspraxis, sowie der Ablehnung durch die Bevölkerungsmehrheit
verlangt dieser Weg viel Mut und Engagement. Er ist jedoch unabdingbar, um die „linke
Lücke“ in einem öffentlich wahrnehmbaren politischen Diskurs zu füllen. Die
kolumbianische Linke und im Besonderen die sozialen Bewegungen brauchen dabei internationale
Unterstützung und Solidarität – nicht nur gegen den weiterhin mordenden
Paramilitarismus, sondern auch für die Umsetzung der Friedensverträge von
Havanna als Ausgangspunkt für einen politischen Kampf gegen die Ursachen des
bewaffneten Konflikts. „Frieden und Soziale Gerechtigkeit“ wird dabei eine
zentrale Losung bleiben, unter der sich eine breite linke Widerstandsfront
gegen den Rechtspopulisten Duque formieren kann. </p></div>
</section>
</article>
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