re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5162020-10-28T11:28:57.466075+00:00Napoli gegen den Lockdown2020-10-28T11:28:57.466075+00:002020-10-28T11:28:57.466075+00:00Bethan Bowet-Jones, Franceso Pontarelli, Giuliano Granato und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/napoli-gegen-den-lockdown/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Napoli gegen den Lockdown</h1>
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<span class="content-copyright">ilmanifesto.it</span>
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<div class="rich-text"><p>Am letzten Freitag Abend, dem 23. Oktober 2020, kam es in Napoli wegen der Androhung eines neuen Lockdowns und den Folgen der tiefen sozialen Krise, die die Arbeiter*innenklasse in Italien gerade erleidet, zu Protesten. Ein zweiter Lockdown wurde am selben Nachmittag vom regionalen Gouverneur Vincenzo De Luca in einer Liveschaltung auf Facebook in Erwägung gezogen. An den spontanen Demonstrationen versammelten sich tausende von Menschen, die dafür die Ausgangssperre (23:00 Uhr) missachteten und nicht davor zurückschreckten, mit den Ordnungskräften in Konflikt zu geraten. Die Demonstration schaffte es nicht nur in Italien auf die Titelseiten der Zeitungen, sondern auch im <a href="https://www.nzz.ch/international/italien-teil-lockdown-gegen-covid-epidemie-ld.1583529">Ausland</a>. Im Zentrum der Berichterstattung standen vor allem die Gewaltszenen und das nicht sogleich identifizierbare soziale Subjekt, das sich am Freitag Nacht die Straße nahm. Bei den Protesten von Freitag handelte es sich nicht um die erste Demonstrationen seit der Aufhebung des ersten Lockdowns am 4. Mai 2020. Warum haben aber gerade sie für so viel Aufruhr gesorgt? Was steckt hinter diesen „gewalttätigen“ Massenaufständen inmitten der zweiten Welle der Corona-Krise? Und was können wir daraus lernen?</p><h2><b>Von der gesundheitlichen zur sozialen Pandemie</b></h2><p>Schon Anfang Juli 2020 hatte Innenministerin <a href="https://www.repubblica.it/politica/2020/07/09/news/luciana_lamorgese_election_day_autunno_caldo_decreti_sicurezza-261412143/">Luciana Lamorgese</a> im nationalen TV ihre Sorgen bezüglich den Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Krise Italiens nach der ersten Welle der Corona-Krise zum Ausdruck gebracht: „Die Gefahr eines heißen Herbstes ist real, denn im September werden wir die Auswirkungen dieser schweren Wirtschaftskrise sehen, die die Unternehmen getroffen hat. Die Geschäfte werden schließen, die Bürger werden keine Möglichkeiten mehr haben für ihre täglichen Bedürfnisse zu sorgen. Die Regierung hat versucht, diesen Bedürfnissen und Forderungen nachzukommen, aber die Gefahr eines heißen Herbstes ist real.“ Tatsächlich bestätigen die in Napoli ausgebrochenen Proteste zumindest teilweise die Ängste von Ministerin Lamorgese, denn sie finden in einem spezifischen sozialen Kontext statt.</p><p>Die erste Welle der Corona-Krise hat die tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche Italiens und die Unfähigkeit der Regierung ans Tageslicht gebracht, auf die elementarsten gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse einzugehen. Die Besonderheit der Produktionsstruktur Italiens – hoher Bestandteil von selbständig Arbeitenden, weit verbreitete irreguläre Arbeit vor allem im Süden des Landes, niedriger Beschäftigungsgrad von Frauen und Jugendlichen – hat dazu beigetragen, dass ein Grossteil der Arbeiter*innenklasse von den sozialen Maßnahmen der Regierung ausgeschlossen blieb oder diese für sie unzureichend waren. Somit hat der während den ersten drei Monaten der Krise eingeführte Lockdown eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten verursacht. Laut <a href="http://www.coldiretti.it/economia/un-milione-di-poveri-in-piu-nel-2020-per-leffetto-covid">Schätzungen</a> wird die Corona-Krise im Jahr 2020 eine Million neue Arme hervorbringen. Das größte Wachstum dieser neuen Armut hat Süditalien zu verzeichnen (plus 20 Prozent in Kampanien, plus 14 Prozent in Kalabrien, plus 11 Prozent in Sizilien). Laut europäischem Statistikamt <a href="https://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-statistical-books/-/KS-HA-20-001">Eurostat</a> gehört der <i>mezzogiorno</i> [Süditalien, Anm. d. Red.] heute zu den ärmsten Regionen Europas.</p><p>Dass die Region Kampanien ein soziales Pulverfass ist, war auch schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise bekannt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 50 Prozent und 700.000 Menschen beziehen das sogenannte Grundeinkommen (eine Art Sozialhilfe für armutsbetroffene Menschen). Kampanien steht zudem auf Platz 1 der Rangliste der irregulären Arbeit. Diese macht hier rund 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, und 7 von 10 vom Arbeitsinspektorat kontrollierten Unternehmen weisen Verstöße gegen Arbeiter*innenrechte auf. Durch die Corona-Krise verschärfen sich diese Probleme, infolgedessen wandelt sich das soziale Gefüge. Ohne garantierte Einkommen und sozialen Maßnahmen für alle, können pauperisierte Teile der Arbeiter*innenklasse oft nur auf die solidarischen Netzwerke gegenseitiger Hilfe (Stichwort „<a href="https://www.rosalux.eu/en/article/1375.manuale-del-mutualismo.html?print=1">Mutualismus</a>“) zählen.</p><h2><b>Die zweite Welle</b></h2><p>Es war allen klar, dass sich die Pandemie nach der ersten Welle weiter verbreiten würde und Expert*innen hatten schon früh empfohlen, sich auf eine Zunahme der Corona-Ansteckungen Ende Sommer, also auf die sogenannte zweite Welle vorzubereiten. Die Regierung hätte die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems priorisieren, die Gesundheitseinrichtungen mit dem nötigen Personal ausstatten und die Intensivstationen ausbauen müssen. Dies ist aber nicht geschehen. Die massive Zunahme der täglichen Neuansteckungen im fünfstelligen Bereich (21.273 allein am Sonntag, dem 25. Oktober) stellt die Stabilität des gesamten nationalen Gesundheitssystems in Frage. Die meisten Probleme treten vor allem in denjenigen Regionen auf, wo in den letzten Jahren massiv gespart und privatisiert wurde, was zur Schließung ganzer Krankenhäuser und Notfallstationen führte. Gesundheitspolitisch sind vor allem die Zunahme der täglich hospitalisierten Fälle (plus 719 am 25. Oktober), der Fälle in Intensivtherapie (plus 80 am 25. Oktober; insgesamt 1.208) und die Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Plätze besorgniserregend.</p><p>Kampanien gehört zu der vom Virus am stärksten betroffenen Region der zweiten Welle. Die täglichen Neuerkrankungen belaufen sich hier auf rund 2.000 Fälle. Es handelt sich um Zahlen, die während der ersten Phase nie erreicht wurden. Darum hat der regionale Gouverneur Vincenzo De Luca während seinen üblichen Facebook-Auftritten drastische Maßnahmen angekündigt: Ausgangssperre ab 23 Uhr in der ganzen Region, Beschränkung der interprovinziellen Bewegungsfreiheit, Appell an die Zentralregierung für die sofortige Einführung eines einmonatigen Lockdowns. Was aber ausblieb: Ideen und Vorschläge zur Absicherung der ökonomischen Bedürfnisse von tausenden von Arbeiter*innen, Kleinhändler*innen, Selbständigen und Prekarisierten, die mit einem Lockdown innerhalb von wenigen Monaten zum zweiten Mal ihr Einkommen oder ihre Existenzgrundlage verlieren werden. Die katholische karitative Organisation <a href="http://s2ew.caritasitaliana.it/materiali/Rapporto_Caritas_2020/Report_CaritasITA_2020.pdf">Caritas</a> hatte noch vor einigen Tagen eine Studie zur Zunahme der Armut veröffentlich. Darin wird erklärt, dass das gemeinsame Merkmal der „neuen Armut“ die Tatsache ist, auf keine Ersparnisse zurückgreifen zu können, wenn die Betroffenen gezwungen sind, länger als drei Monate ohne Einkommen auszukommen. Die Ankündigung von De Luca war also nur der Tropfen, der in Napoli das Fass zum Überlaufen brachte: Die Wut von tausenden von Bürger*innen explodierte in der Nacht vom 23. Oktober.</p><h2><b>Wer steckt hinter den sozialen Protesten?</b></h2><p>Die Wut, die sich in den Protesten ausdrückt, hat dazu geführt, dass sogar ausländische Medien darüber berichtet haben. Vom Bürgermeister von Napoli, Luigi De Magistris, über Regionspräsident Vincenzo De Luca bis hin zu Exponent*innen der Zentralregierung – alle haben die Ereignisse unisono als „geplante, kriminelle Aktionen von Ultras, Camorra und Faschisten“ degradiert. Die Politiker*innen und nationalen Medien verhielten sich also nicht besser als irgendwelche Verschwörungstheoretiker*innen, die die sozialen Gründe der Proteste mittels alter und herabwürdigender Stereotypen der Menschen des Südens (Stichwort „antineapolitanischer Meridionalismus“ <b>[1]</b>) verschleiern und delegitimieren.</p><p>Die Zusammensetzung der Proteste war tatsächlich vielfältig und komplex. Auf die Straße gingen Kleinhändler*innen, Selbstständige und informelle Arbeiter*innen. Sie haben sich mobilisiert, weil sie zu den sozialen Gruppen gehören, die in den letzten Jahren wegen der ökonomischen Krise bereits Schulden gemacht haben, für die soziale Dienste schlecht funktionieren und die den öffentlichen Institutionen daher kaum mehr trauen. Gerade in Napoli besteht zudem eine besondere Nähe zwischen Subproletarier*innen (also denjenigen, die am Rande der Gesellschaft leben oder in kleinkriminellen Kreisen verkehren) und Kleinbürgertum (denjenigen, die eigene Produktionsmittel besitzen: Handwerker*innen, Ladenbesitzer*innen usw.). Die Grenzen zwischen diesen sozialen Kategorien sind fließend, doch das soziale Milieu bleibt konstant und die Bereitschaft zum Konflikt groß. Mit der aktuellen Krise haben diese sozialen Gruppen einen ökonomischen und sozialen Statusverlust erlebt, was angesichts des Tourismusbooms in den letzten zehn Jahren besonders hart ist.</p><p>Das Kleinbürgertum ist eine komplexe soziale Kategorie, die von der „ehrlichen“ Kleinhändlerin reicht, die nur einen bescheidenen Lohn verdient und Schwierigkeiten hat, die Familie zu ernähren, bis zum Unternehmer, der jeden Abend 15.000 Euro einkassiert und seine Angestellten ohne Vertrag arbeiten lässt. Diese Personen waren am Freitag auf der Straße. Aber es protestierten auch ihre informellen Arbeiter*innen, Menschen, die einen Familienbetrieb führen und ihre arbeitslosen Freund*innen in der Nachbarschaft, die täglich mit tausenden Schwierigkeiten konfrontiert werden.</p><p>Der Großteil dieser Menschen hatte gute Gründe, auf die Straße zu gehen. Obwohl sich alle im Klaren waren, dass die zweite Welle stark einschlagen würde, haben De Luca und die Zentralregierung nichts unternommen, um eine Vertiefung der gesundheitlichen und sozialen Krise zu vermeiden. Die Proteste sind also vor allem darum ausgebrochen, weil in diesen Monaten die Ersparnisse aufgebraucht wurden und der Hunger und die psychologische Verzweiflung stark zugenommen haben. Heute haben die Menschen nicht mehr die gleiche Bereitschaft wie noch am 9. März 2020, einen Lockdown zu akzeptieren. Breite Teile der Gesellschaft sind nicht mehr bereit, neue Einschränkungen zu tolerieren. Zumal sie auf die Ineffizienz und Unfähigkeit einer politischen Klasse zurückgehen, die unfähig ist, das gesundheitliche und soziale Desaster zu vermeiden oder adäquat anzugehen. Im März hatte die nationale Regierung noch Gelder für soziale Maßnahmen gesprochen. Nun hat sie erklärt, dass kein Geld mehr zur Verfügung steht. Und während der regionale Gouverneur De Luca noch kurz vor den Regionalwahlen Ende September Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt hatte, hat er diesmal nichts mehr anzubieten. Folglich können die Forderungen der Proteste so zusammengefasst werden: „Wenn du uns einschließt, musst du uns bezahlen“.</p><h2><b>Weder Pest, noch Cholera</b></h2><p>Die an den Tag gelegte Gewalt während der Proteste ist ein Ausdruck sowohl der tiefen Krise als auch der widersprüchlichen sozialen Zusammensetzung der Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben. In den letzten Krisenmonaten hat sich eine soziale Spannung aufgebaut, die sich angesichts der Drohung eines neuen Lockdowns entladen hat. Während nicht nur konservative, sondern auch einige linke Kommentator*innen die Gewalttaten verurteilen, wäre es angebrachter, die Stimmen des Protests zu hören und sich für eine tiefgreifende Restrukturierung des öffentlichen Gesundheitssystems einzusetzen, die sich auf seriöse Präventionsprogramme und auf die territoriale Verankerung stützt. Zudem bräuchte es Maßnahmen zur ökonomischen Absicherung von Arbeiter*innen und denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die am stärksten von restriktiven Corona-Regeln betroffen sind.</p><p>Die Drohung eines neuen Lockdowns zeigt, dass die Einführung präventiver Maßnahmen der Regierenden zu spät kommen. Die zahlreichen Warnungen des Gesundheitspersonals bestätigen zudem, dass wir kurz vor der einer gesundheitlichen Katastrophe stehen. Wenn es so weiter geht, sterben wir in aufgrund von COVID-19 überfüllten Krankenhäusern mit überarbeiteten Gesundheitsarbeiter*innen oder aufgrund des politisch produzierten sozialen und ökonomischen Elends. Es liegt an uns, uns dieser zynischen Wahl zwischen Pest und Cholera entgegenzustellen.</p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> „Antineapolitanischer Meridionalismus“ bezeichnet die Vorurteile gegen die Leute des als „verwahrlost“ diffamierten Südens Italiens als kriminell, chaotisch, ungehobelt, unkultiviert und so weiter.</p><p></p><p><i>Die Autor*innen sind Mitglieder der linken Organisation</i> <a href="https://poterealpopolo.org/"><i>Potere al Popolo</i></a><i> und wohnen und kämpfen in Neapel.</i></p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Handzahmer Ungehorsam2019-01-05T12:22:27.871173+00:002019-01-05T12:22:27.871173+00:00Sergio Vittoriaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/handzahmer-ungehorsam/
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<h1>Handzahmer Ungehorsam</h1>
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<div class="rich-text"><p>In den letzten Tagen hat Italien – mal wieder – in Sachen Fluchtpolitik von sich reden machen: Das zivile Seenotrettungsschiff Sea Watch 3 sucht nun schon seit zwei Wochen einen Hafen im Mittelmeer, damit 32 Menschen, drei davon Kleinkinder, auf sicheren Boden gelangen können. Das Kräftemessen der europäischen Regierungen, angezettelt durch Innenminister Matteo Salvini, wird einmal mehr auf dem Rücken wehrloser Menschen ausgetragen; ob dabei Menschen mit ihrem Leben bezahlen werden, ist für die Mächtigen unbedeutend. Dies hat <a href="https://www.repubblica.it/politica/2019/01/04/news/migranti_di_maio_a_malta_fateli_sbarcare_noi_li_accoglieremo_-215830679/?ref=RHPPBT-BH-I0-C12-P1-S1.12-T1">gestern Abend</a> auch Vizepremierminister Luigi Di Maio nochmals bewiesen, der Europa eine Lektion der „Menschlichkeit“ erteilen will und angekündigt hat, ausschließlich die sich an Bord der Sea Watch 3 befindenden Frauen und Kinder aufzunehmen.</p><p>Gleichzeitig kündigen die Bürgermeister zahlreicher italienischer Städte an, gegenüber der rassistischen Politik des Innenministers ungehorsam zu sein. Die sogenannten <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109285.luigi-de-magistris-rebellischer-buergermeister.html">„rebellischen Bürgermeister“</a> Leoluca Orlando (Demokratische Partei, PD) von Palermo und Luigi De Magistris (Democrazia e Autonomia, DemA) aus Neapel haben schon mehrmals angekündigt, die Häfen für die zivilen Seenotrettungsschiffe zu öffnen. Bis jetzt blieben diese Ankündigungen leere Versprechungen, einerseits, weil die Verwaltung der Häfen nicht in der Macht der kommunalen Regierungen steht, sondern beim nationalen Infrastrukturministerium, andererseits, weil die Bürgermeister genau wissen, dass die lokalen Empfangsstrukturen nicht in der Lage sind, eine geeignete Antwort auf die Bedürfnisse der Geflüchteten zu geben.</p><h2>Opposition ohne Zähne?</h2><p>Die genannten Bürgermeister haben in diesen Tagen auch noch einmal ihre Opposition gegen das Anfang Dezember 2018 vom italienischen Parlament angenommenen Maßnahmepaket zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze unterstrichen. Mit den neuen Sicherheitsrichtlinien hat Salvini den humanitären Status für Geflüchtete abgeschafft, so dass in den nächsten Wochen rund 40.000 Geflüchtete obdachlos und papierlos werden. Zudem sollen Asylsuchende mit Aufenthaltsgenehmigung sich nicht mehr beim Einwohneramt anmelden dürfen. Gemeinden dürfen <a href="https://poterealpopolo.org/loro-si-organizzano-e-noi-un-primo-esame-del-decreto-sicurezza-e-delle-politiche-securitarie/">demnach</a> Asylsuchenden mit Aufenthaltsgenehmigung keinen Identitätsausweis mehr erstellen, der den Zugang zum Gesundheitssystem sowie zu Arbeitsvermittlungszentren ermöglicht. Die zwei Bürgermeister reihen sich in einen <a href="https://www.tpi.it/2019/01/03/sindaci-contro-decreto-sicurezza/">ungehorsamen Protest</a> ein, der sich seit den ersten Wochen nach der Annahme des neuen Maßnahmenpakets in ganz Italien ausgeweitet hat, von Turin über Florenz bis nach Reggio Calabria.</p><p>So wichtig diese angekündigten Absichtserklärungen in der aktuellen Wüste der Menschlichkeit auch sind, sie bleiben zurzeit tatenlos. Der Bürgermeister Palermos hat in den letzten Jahren stillschweigend die Politik der Demokratischen Partei unterstützt und sämtliche Maßnahmen des „Parteigenossen“ und ehemaligen Innenministers Marco Minniti umgesetzt, auch wenn sie verfassungswidrig und menschenunwürdig waren. So hat Marco Minniti die ambulanten Strassenverkäufer – meist Migrant*innen – im Namen der „öffentlichen Ordnung“ kriminalisiert und das Rekursrecht von abgewiesenen Geflüchteten massiv <a href="http://www.bleiberecht.ch/2017/05/29/bericht-solidaritaet-gegen-das-toedliche-asylregime-in-italien/">eingeschränkt</a>. In den letzten Wochen hat er sich dadurch ausgezeichnet, dass er Wohnbesetzung von armutsbetroffenen Menschen italienischer und migrantischer Herkunft hat räumen lassen. Er hat somit einem Beschluss von 2014 Folge geleistet, der unter der damaligen PD-Regierung von Matteo Renzi eingeführt wurde und Besetzenden verhindert, sich offiziell beim Einwohneramt anzumelden. Dass nun Leoluca Orlando im Namen der Menschlichkeit Opposition inszeniert, ist haarscharf kalkuliert: Die Demokratische Partei versucht dadurch politisches Terrain zu gewinnen, welches ihr in den letzten Jahren verloren ging.</p><p>Ähnliches gilt für den Bürgermeister De Magistris in Neapel. Schon vor Inkrafttreten der neuen Sicherheitsmaßnahmen kritisierten städtische Basisaktivist*innen, dass das städtische Einwohneramt die Anmeldung von residenzlosen Menschen – auch hier wieder: italienischer sowie migrantischer Herkunft – nicht annimmt und somit keine Identitätspapiere vergeben werden. Somit bleibt ihnen der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten verwehrt. Es würde allerdings eine einfache kommunale Weisung gegenüber dem Einwohneramt der Stadt ausreichen, um dieser diskriminierenden Praxis einen Riegel zu schieben. Diese ist bislang nicht erfolgt.</p><p>Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, werden die italienischen „rebellischen Bürgermeister“ als einzige legitime Opposition gegen die Zentralregierung Italiens gesehen. In den letzten Tagen haben sie mit ihren Aussagen diese ihnen zugeschriebene Rolle noch einmal verstärkt. Keine Frage, es ist begrüßenswert, dass sich lokale Politiker*innen einer zunehmen xenophoben Rhetorik und Politik entgegenstellen. Allerdings nehmen solche Lippenbekenntnisse die Dramatik der Lage nicht ernst genug. Sie bedienen damit die mediale Aufmerksamkeit ums Thema Migration und Flucht, mit dem Ziel, selbst auf die Titelseiten zu gelangen. Das hat aber wenig mit Rebellion und ebenso wenig mit solidarischer Klassenpolitik zu tun.</p><p></p></div>
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<p>Bild aus Neapel: Auf dem Transparent steht „Diese Lega ist eine Schande“. Es ist ein Zitat aus einem Lied von Pino Daniele, einem der grössten neapoletanischen Liedermacher.</p>
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"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"2018-05-25T16:15:21.206577+00:002018-06-04T09:49:08.773361+00:00Maja Tschumi und Maurizioredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/eine-radikale-linke-muss-im-sozialen-verankert-sein/
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<h1>"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"</h1>
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<span class="content-copyright">Potere al Popolo</span>
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</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Die italienischen
Regierungswahlen in diesem Jahr haben den erwarteten starken
Rechtsrutsch in Italien bestätigt. Während den alten politischen
Parteien wie dem </i>Partito Democratico<i> (PD, zu diesem gehört
etwa der frühere Premier Matteo Renzi) und der </i>Forza Italia<i>
(der Silvio Berlusconi angehört) eine Absage erteilt wurde, erlebten
Proteststimmen wie die rassistische </i>Lega (ehemals Lega Nord<i> (LN)) im Norden
und die Populist*innen des </i>Movimento 5 Stelle<i> (M5S) einen massiven
Aufschwung. Mittlerweile ist klar, dass die M5S und die Lega die neue
Regierung bilden werden. Doch die bisher abgeschlossenen Verträge
zeigen kaum einen Bruch mit dem herkömmlichen Kurs des PD, sondern
lediglich eine Akzentuierung neoliberaler und repressiver Maßnahmen. Sie sind
weitaus nicht so antieuropäisch wie erwartet. Für die
Prekarisierten und auch die Arbeiter*innen so wichtige Wahlversprechen
wie die Rückgängigmachung des Jobs Act oder der Rentenreform werden
im Vertrag nicht erwähnt, ebenso wenig die Einführung des
Grundeinkommens (ein schillerndes Wahlversprechen der M5S). Nach
mehrmonatigen Verhandlungen stimmte nun Staatspräsident Sergio
Mattarella einem Vorschlag von M5S und Lega zu: Ministerpräsident
wird aller Voraussicht nach der Jurist Giuseppe Conte, ein der M5S
nahestehender Technokrat. Damit wird die dritte Republik eingeläutet.
Linke Ideen fanden bei diesen Wahlen wenig Ausdruck, auch ehemalige
linke Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Doch die aktuelle
politische Lage bringt auch neue linke Kräfte auf den Plan. Wir
führen unsere lose Reihe zu Italien fort und spüren diesen neuen
Gegenbewegungen nach. </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><i>Dazu zählt neue
kommunistische Bewegung </i><i>«Potere al
Popolo», die inzwischen italienweit aktiv ist. Der Impuls dazu
entstand bereits im Jahr 2014 in einem sozialen Zentrum in Neapel</i><i>
als eine Art Netzwerk von lokalen Basisinitiativen. Diese haben sich</i><i>
innerhalb des letzten Jahres national und international vernetzt und
der Zusammenschluss trat bei den Wahlen in Italien im März 2018 als
politische Bewegung an. Unsere Autorin Maja Tschumi hat mit dem
Aktivisten Maurizio aus Neapel über die Entwicklung der
kommunistischen Bewegung, über ihre Grundsätze, über Erfolge und
Herausforderungen und nicht zuletzt über die notwendigen Kämpfe
gesprochen, welche die junge Bewegung auch in Bezug auf die
erstarkenden neofaschistischen Kräfte in Italien vor sich hat</i><i>.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]: </b><i>Euch gibt es nun
seit knapp vier Jahren, bekannt wurde euer Name aber vor allem im
letzten halben Jahr.</i><b> </b><i>Welche
Vorgeschichte hat die kommunistische Bewegung «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Dazu müssen wir einige Schritte zurückgehen. Seit den 2000er Jahren befinden wir uns in Italien in bewegten, aber schwierigen
Zeiten. Die Krise der institutionellen Repräsentanz der
Linken gipfelte in den Ausschluss der letzten Kommunist*innen aus dem
Parlament im Jahr 2008. Die soziale Bewegung war trotz größeren
Mobilisierungen unfähig, Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse
abzuwehren. In diesen Jahren wurden die nationalen Tarifverträge
ausgehöhlt, der Kündigungsschutz aufgehoben, die Löhne eingefroren
und Formen prekärer Verträge, vor allem für junge Arbeiter*innen,
vervielfältigt. Nach und nach verlor die soziale Bewegung also an
Mobilisierungskraft, Demonstrationen verwandelten sich zu
ritualähnlichen Anlässen, an denen wir uns immer im engeren Kreis
wiederfanden. Dann, 2014, wurde rund um das Kollektiv «Clash City
Workers», das mit ihrem Buch «Dove sono i nostri» [1]
grundsätzliche Fragen innerhalb der sozialen Bewegung in Italien
hineintrug, ein erstes italienweites Netzwerk gegründet. Die soziale
Bewegung hatte sich vom politischen Subjekt verabschiedet, welches
der Motor der sozialen Veränderung sein kann. Für den größten
Teil der Bewegung wählte die Arbeiter*innenklasse rechts, in einigen
politischen Ansätzen gab es sozialen Klassen und daher den
Klassenkampf schon gar nicht mehr. Wir haben die Klassenfrage wieder
auf die Tagesordnung gebracht und starteten italienweite Treffen. In
der Folge lancierten wir einen Prozess, welcher ausgehend von der
Analyse der Zentralität des Klassenkonflikts zwischen Kapital und
Arbeiter*innen die politische Arbeit neu zu interpretieren versuchte:
Es ging nicht nur mehr darum, vor den Fabriktoren oder während
Demonstrationen mit einem Flugblatt zu erklären, was Ausbeutung ist
und wie wir darauf antworten müssen, sondern zu fragen, was die
aktuellen Bedürfnisse der sehr heterogenen Arbeiter*innenklasse sind,
zusammen mit Arbeiter*innen diese Fragen und Probleme zu diskutieren
und entsprechende Mobilisierungsmöglichkeiten zu finden. Denn auf
dem ganzen italienischen Territorium wird gekämpft, diese Kämpfe
bleiben aber territorial isoliert. Denken wir an die Kämpfe der
Logistikarbeiter*innen im Norden Italiens oder an die 25-jährige
Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon, NoTAV.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Das
heißt ihr habt versucht, die unterschiedlichen Kämpfe in Italien
wieder gemeinsam zu denken und zusammenzuführen. Wie war denn die
Lage in Neapel zu dieser Zeit?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Für
uns in Neapel war das Jahr 2015 ein wichtiges Jahr. Im März haben
wir, das sind die «Clash City Workers», zusammen mit dem
Studierendenkollektiv CAU und dem Schüler*innenkollektiv SAC, ein
ehemaliges psychiatrisches Gefängnis besetzt, welches seit
2007 leer stand: Das «Ex OPG». So
konnten wir einen qualitativen Sprung nach vorne machen. Wir hatten
nun einen Ort und eine Struktur zur Verfügung, auf deren Basis die
Aktivitäten in den Quartieren und mit den Arbeiter*innen zusammen
entwickelt werden konnten. Innerhalb von drei Jahren haben wir
zahlreiche soziale Aktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen
Hilfe (Mutualismus) vorangetrieben, welche jede Woche hunderte
Menschen zusammenbringen: vom medizinischen Ambulatorium zur
Anlaufstelle für Migrant*innen, von der proletarischen
Arbeiter*innenkammer zu kulturellen und Sportaktivitäten und vieles
mehr. [2].</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Im
November 2017 wurde «Potere al Popolo» dann als eine größere
politische Bewegung ins Leben gerufen, welche sich auf das Terrain
der Wahlen wagte. Was war die Ausgangslage für die Ausweitung zu
einer nationalen Bewegung?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Potere
al Popolo, verstanden als Zusammenschluss linker Organisationen und
Basisinitiativen, wurde auf der Basis der obengenannten Entwicklungen
geboren. Wir stehen vor massiven sozialen Problemen und Konflikten,
die organisiert bekämpft werden müssen. Die Arbeitsmarktreform Jobs
Act und die Bildungsreform «buona scuola» haben eine uferlose
Flexibilität eingeführt, vor allem für junge Arbeiter*innen, die
nun schon während der Schulzeit unentgeltet Praktikas in Betrieben
akzeptieren müssen; Schwarzarbeit ist mittlerweile zu einem
Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes geworden; jährlich <a href="http://banchedati.chiesacattolica.it/pls/cci_new_v3/V3_S2EW_CONSULTAZIONE.mostra_pagina?id_pagina=84393">migrieren
124.000 Italiener*innen ins Ausland</a>
(England, Deutschland, Schweiz die ersten Zielländer) [3], 40
Prozent davon sind 24- bis 34-jährige, 50 Prozent aus dem
«Mezzogiorno» (dem Süden Italiens). Täglich sterben drei
Arbeiter*innen am Arbeitsplatz und 1700 Arbeitsunfälle werden
gemeldet. Die Mitte-Links-Koalition (Partito Democratico, PD) sprang
schon vor Längerem auf den repressiven und fremdenfeindlichen Zug
einer rechtskonservativen Politik auf, links davon scheiterten alle
Versuche der Neuzusammensetzung einer alternativen politischen Kraft.
Daraufhin haben wir uns entschlossen, den Spieß umzudrehen: Wenn wir
– damit gemeint sind junge Männer, Frauen*, Prekäre – von
niemandem repräsentiert werden, warum repräsentieren wir uns nicht
einfach selbst und stoßen von den zahlreichen Basisinitiativen
ausgehend einen eigenen Organisierungsprozess an? Das war am 14.
November 2017. Nach einem entsprechenden Aufruf in den Sozialen
Medien versammelten sich nur vier Tage später, am 18. November 2017,
im «Teatro Italia» in Rom 800 Basisaktivist*innen aus ganz Italien,
um eine gemeinsame Perspektive und unsere Rolle bei den anstehenden
nationalen Wahlen zu diskutieren. Das war ein großer Erfolg und ein
deutliches Zeichen, dass wir mit unserer Einschätzung einen Nerv
getroffen haben.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Warum
der Name «Potere al Popolo»? Welche Rolle spielt darin die Idee
eines linken Populismus und welche Konnotationen hat der Begriff
«Popolo» in Italien?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> «Popolo»
ist sowohl ein soziologischer, als auch ein politischer Begriff.
Soziologisch entspringt er der aktuellen Analyse: Die nun seit über
zehn Jahren andauernde Krise und die politischen Antworten der
Bourgeoisie haben nicht nur die klassischen «proletarischen»
Arbeiter*innen empfindlich getroffen und in die Armut getrieben,
sondern auch Teile der Mittelschicht prekarisiert. Wir müssen also
die Neuzusammensetzung der Klasse auf der Basis dieser politischen
und ökonomischen Dynamiken fassen: Deindustrialisierungsprozesse,
prekäre Schwarzarbeit in den boomenden Sektoren (Tourismus,
Gastronomie, Hotelbranche, Call Center), Biographien zwischen
Arbeitslosigkeit, Stellensuche und prekären Jobs, ein massiver Abbau
sozialer Dienste, in erster Linie im Gesundheits- und Bildungssektor.
Politisch können wir uns nicht darauf beschränken, zum «klassischen
Proletariat» zu sprechen. «Popolo» integriert in dieser
Perspektive all diejenigen sozialen Subjekte, die als Arbeitslose,
Kleinhändler*innen, erwerbslose Hausarbeiterinnen etc. «proletarische
Existenzen» leben.
</p><p>
</p><p>Zudem
ist der Name Potere al Popolo historisch auf eine bestimmte
politische Tradition zurückzuführen. Wir denken da konkret an die
Erfahrungen der «Black Panther Party», welche die politische
Organisierung der schwarzen Bevölkerung in den USA und die soziale
Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zum Ziel hatte. Bekannt
wurden sie durch die Bilder von bewaffneten Männern in schwarzer
Lederjacke und Barett. Weniger bekannt sind ihre Basisaktivitäten –
die kostenlosen Frühstücke, welche sie den Armen verteilten, die
medizinischen Ambulatorien, die sie für die Communities aufbauten
oder auch die Alphabetisierungsprogramme für <i>Schwarze</i>. Sie gingen
also von konkreten sozialen Bedürfnissen von gesellschaftlich
Marginalisierten aus, um ihre sozialen Aktivitäten aufzubauen und
politische Organisierung vorzubringen. Wir befinden uns heute
natürlich in einer historisch total anderen Situation, doch wir
stellen fest, dass der freie Markt und der Staat immer mehr Menschen
vom sozialen Reichtum ausschliesst. Von diesen historischen
Erfahrungen gibt es also jede Menge zu lernen. Potere al Popolo
stellt sich in diese theoretische und politische Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Analyse habt ihr von der Linken Italiens – wo steht sie und warum
braucht es eine Bewegung wie «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Nicht
nur die italienische Linke, sondern die Linke <i>insgesamt</i>
hat in den letzten drei Jahrzehnten den Bezug zu den Ausgebeuteten
und Unterdrückten fast komplett verloren oder aufgegeben. Dies ist
unter anderem darauf zurückzuführen, dass linke Parteien
bürokratische Apparate geworden sind und sich viele politische
Aktivist*innen jenseits der konkreten Probleme der Arbeitenden
verstehen. Wir verstehen uns als einen Teil dieser sozialen Gruppe.
Wir arbeiten prekär und haben – mit oder ohne
Universitätsabschluss – kaum Zukunftsperspektiven. Im Süden
Italiens beträgt die Arbeitslosenquote unter 20-30jährigen im
Schnitt 36 Prozent, in gewissen Regionen sogar über 50 Prozent. Für
uns kann sich eine radikale Linke nur dann neu konstituieren, wenn
sie im Sozialen verankert ist. Das Prinzip, das wir hier verfolgen,
ist der Mutualismus. Dabei geht es uns um folgendes: Zu erforschen,
was die alltäglichen Probleme und Bedürfnisse der arbeitenden
Klasse sind, Formen der Organisierung zu finden, um diese Probleme
angehen zu können und über angemessene Mobilisierungsstrategien
kollektive Kämpfe zu starten – immer mit dem Ziel, unsere
existenziellen Bedürfnisse zu garantieren und zurück zu erkämpfen,
wo sie bedroht sind. Das geht von selbstverwalteten Kinderkrippen
über kulturelle und Sportangebote (Theater, Tanzkurse, Boxgym) bis
hin zu selbstorganisierten medizinischen Ambulatorien und «Camere
Popolari del Lavoro» (proletarische Arbeiter*innenkammern). Diese
Aktivitäten und Strukturen stellen eine Art «Trainingsorte» des
politischen Kampfes dar: Über die Mobilisierungen und Kämpfe wird
Partizipation, Organisierung und Selbstverwaltung geübt, evaluiert
und wenn möglich auf eine neue Ebene gehoben. Im Grunde genommen
machen wir aber nichts Neues, sondern knüpfen an die Tradition der
ersten sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen
Erfahrungen an, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts über
mutualistische Aktivitäten und in den von den Arbeiter*innen gebauten
«Case del Popolo» (Volkshäuser) breite Bewegungen zu organisieren
vermochten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>In
eurem Programm steht die «Verteidigung der Verfassung» an erster
Stelle. Ihr sprecht an verschiedenen Stellen immer wieder von
Demokratie – ist euer erklärtes Ziel nicht Sozialismus beziehungsweise
Kommunismus und eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Gesellschaft?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Unser Programm ist das Resultat
von Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen
Kräften, die sich in Potere al Popolo versammeln. Um den Bezug auf
die Verfassung zu verstehen, müssen drei Dinge erklärt werden:
Erstens geht die italienische Verfassung aus dem Partisanenkampf
gegen den Faschismus hervor, sie beinhaltete also historisch wichtige
Elemente für die Befreiung der Arbeiter*innenklasse. Zweitens ist der
Punkt zur Verteidigung der Verfassung in unserem Programm in einen
konkreten historischen Kontext zu setzen: Im Dezember 2016 wurde in
Italien ein Referendum gegen die Verfassungsreform gewonnen.
Ministerpräsident Matteo Renzi (PD) wollte das wenige Progressive,
was die Verfassung heute noch beinhaltet, auch noch verabschieden und
ein Präsidialsystem einführen, welches seine Macht noch mehr
zentralisieren sollte. Das Referendum wurde auch dank wichtigen
Mobilisierungen von unten gewonnen. Drittens könnte es zwar den
Anschein erheben, dass unsere Forderungen rund um die Verfassung uns
ausschliesslich in einem bürgerlich-demokratischen Rahmen situieren,
doch wir denken, dass im gegebenen historischen Kontext solche
Auseinandersetzungen und Mobilisierungen für ein größeres Stück
vom Kuchen als Sprungbrett dienen können, um sich die ganze Bäckerei
zu nehmen. Klar, wir stehen hier vor objektiven Grenzen des Kapitals,
in dieser Krisenzeit überhaupt was abgeben zu können. Doch (leider)
ist eine kommunistische Perspektive heute nicht erreichbar. Darum
sind intermediäre Auseinandersetzungen, Mobilisierungen und Kämpfe
notwendig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kämpfe für die
Erlangung von Arbeitsverträgen von illegalisierten Arbeiter*innen,
die Anerkennung des medizinischen Ambulatoriums von Seiten der
öffentlichen Gesundheitseinrichtungen etc. Kämpfe darstellen, dank
denen wir uns als Kommunist*innen wieder einen sozialen und
politischen Raum erarbeiten und Hoffnung und Begeisterung auslösen
können für größere Ziele. Ohne diese «Zwischenschritte» ist es
schwierig, eine kommunistische Perspektive zu denken. Denn wir stehen
auch vor kulturellen Schwierigkeiten: Wir werden tagtäglich medial
mit Nachrichten bombardiert, die die Klasse spalten und im
materiellen Leben die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine noch
nie dagewesene kapitalistische Konkurrenz beziehungsweise einen «Krieg unter
den Armen» stürzen. Wir müssen also auch einen Weg finden, mit
unseren Worten die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen.
Dazu gehört, aktuelle politische Diskurse aufzugreifen und eine
eigenständige Analyse und Antwort darauf zu geben. Nur so können
Mobilisierungen funktionieren und Kämpfe angestossen werden.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
versucht die Basisarbeit und den Straßenkampf mit der Teilnahme an
den Wahlen, das heißt einem Weg über die Institutionen, zu verbinden.
Welches sind die Hürden, die sich dabei stellen und wie habt ihr
vor, sie zu überwinden?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Entscheidung, als neue politische Kraft an den nationalen Wahlen im
März 2018 teilzunehmen, erlaubte uns, den im 2014 angestoßenen
Prozess der Vernetzung zu intensivieren und in ganz Italien
Basisversammlungen zu organisieren, an denen hunderte von
Aktivist*innen teilnahmen: Alte Genoss*innen, die aber seit Jahren
nicht mehr organisiert waren; junge Menschen, die sich zuvor noch nie
in einem Kollektiv organisiert hatten; Basisaktivist*innen, die sich
in den letzten zehn Jahren auf ihre sozialen Aktivitäten
fokussierten und nun mit Potere al Popolo eine politische Perspektive
wiederentdeckten. Von Anfang an pochten wir darauf, nicht einfach
eine neue Partei oder eine Wahlkoalition zu sein, die
Parlamentsmitglieder stellt, sondern diesen medialen Moment zu
nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktivitäten zu
richten, die im ganzen Land von Genoss*innen vorangetrieben werden.
Wir kritisieren dieses Modell der politischen Repräsentation
durchaus und halten trotz Teilnahme an den nationalen Wahlen an
dieser Kritik fest. Denn ohne Mobilisierungen und Anstöße von unten
ist es unmöglich, auch auf der Ebene der institutionellen
Repräsentanz Einfluss nehmen zu können. Die nationalen Wahlen
stellten für uns in erster Linie auch eine Möglichkeit dar, auf
einer nationalen Ebene sichtbar und hörbar zu werden und an Kraft zu
gewinnen. Von Anfang an war also klar, dass es nicht lediglich um die
Wahl von Potere al Popolo gehen kann und auf institutioneller Ebene
für die Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu
kämpfen. Viel zentraler war für uns der Versuch, das Vertrauen an
direkte und kollektive Aktionen zu stärken und dafür den Kontext
der nationalen Parlamentswahlen zu nutzen. Uns ist natürlich bewusst, dass dies Gefahren mit sich bringt und lediglich eine schöne
Absichtserklärung bleibt, wenn nicht weiterhin Basisarbeit in Form
von lokalen Organisierungen und Mobilisierungen geleistet wird. Für
uns sind die sozialen und mutualistischen Aktivitäten der einzige
Weg, um eine starke Bewegung aufzubauen.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Wer
wurde zur Kandidatur aufgestellt?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Kandidatinnen* und Kandidaten von Potere al Popolo waren territoriale
Aktivist*innen von allen politischen Strukturen. Es waren also nicht
große und bekannte Namen, sondern die entlassene Call-Center
Arbeiterin, die in den letzten 18 Monaten einen Arbeitskampf gegen
die Entlassung von 1666 Mitarbeitenden angeführt hat, Aktivist*innen
der NoTAV-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon,
Aktivist*innen der «Brigate di solidarietà attiva», welche sich vor
etwa acht Jahren gebildet haben, um während den Naturkatastrophen
wie Überschwemmungen oder Erdbeben direkte Hilfe zu leisten und so
weiter. Die Kandidat*innen waren also immer Ausdruck lokaler Kämpfe,
Mobilisierungen und Basisinitiativen. Damit wollten wir auch zeigen:
Politik ist nicht nur institutionelle Repräsentanz in Hemd und
Anzug, sondern auch Widerstand, sich die Hände schmutzig machen,
Hoffnung auf tatsächliche Veränderung, Enthusiasmus von unten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
seid ganz klar eine klassenkämpferische «Bewegung». Wie würdet
ihr die Klasse der Arbeiter*innen heute in Italien fassen?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
massive Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Rentenreform, welche
das Rentenalter erhöhte, die Schulreformen, welche immer mehr
junge Menschen in einen hochprekarisierten Arbeitsmarkt drängen, der
Ab- und Umbau des öffentlichen Gesundheitssystems (in zehn Jahren
sind alleine in der Stadt Napoli zehn Notfallstationen geschlossen
worden), ein Migrationssystem, welches vor allem im Süden des Landes
die informelle Arbeit aufbläst und vieles mehr haben sowohl die
soziale Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse, wie auch die
Widerstands- und Organisierungsformen verändert. Es ist kein Zufall,
dass beispielsweise die wichtigsten Mobilisierungen der letzten Jahre
in Sektoren organisiert wurden, in denen die migrantischen
Arbeiter*innen dominieren, nämlich in der Logistikbranche im Norden
und bei den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter*innen im Süden. Zudem
hat sich die Integration der jungen Arbeiter*innen in den Arbeitsmarkt
in den letzten Jahren verändert, Schwarzarbeit und Vertragslosigkeit
– obwohl schon seit jeher Strukturmerkmal des (süd-)italienischen
Arbeitsmarktes – haben sich weiter verbreitet und sind zur
Normalität geworden. Schliesslich werden ältere Arbeiter*innen, die
in den 1980er Jahren noch in den Genuss der erkämpften
Errungenschaften der 1970er Jahren kamen (automatische Lohnanpassung,
Kündigungsschutz, gute Renten) zunehmend prekarisiert. Das sind nur
einige Beispiele, welche die Dynamiken der Klassenzusammensetzung
abbilden. Die andere Seite der Medaille sind die neuen
Organisationsformen, die von der Klasse ausgehen. Dabei denken wir an
die vor wenigen Wochen gegründete <a href="https://www.facebook.com/ridersunionbologna/">Gewerkschaft
der <i>Riders</i></a>,
an die seit Jahren nun immer grössere Bedeutung der Basis- und an
den politischen Niedergang der konföderalen Gewerkschaften und so
weiter.</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Strategien verfolgt «Potere al Popolo» auf regionaler, nationaler
und internationaler Ebene? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b>
Kernpunkt unserer politischen Struktur sind die
territorialen Versammlungen, von denen in den letzten sechs Monaten
über 150 in ganz Italien entstanden sind. Die territorialen
Versammlungen sind offen, jede* und jeder kann seine Themen
einbringen. An den Versammlungen werden politische Analysen generiert
sowie Aktionen und Kampagnen organisiert. <a href="https://poterealpopolo.org/continuare-migliorare-crescere-sulle-prossime-tappe-di-potere-al-popolo/">Ende
Mai wird eine nationale Versammlung organisiert</a>,
bei der es um die Frage geht, wie wir uns in naher Zukunft national –
und international – organisieren und vernetzen wollen. Wir bestehen
darauf, dass überall «Case del Popolo» (Volkshäuser) nach dem
Vorbild der Besetzung Ex-OPG in Napoli entstehen sollen, in denen man
sich treffen kann, soziale Aktivitäten und Aktivitäten der
gegenseitigen Hilfe vorangetrieben, politische Kämpfe organisiert,
Solidarität in Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen erfahren
oder auch einfach eine soziale und politische Gemeinschaftlichkeit
gelebt werden kann. Wir wollen einen Ort schaffen, der sich auf
diskursiver und praktischer Ebene gegen einen individualisierten
Alltag zur Wehr setzt und antirassistische, antisexistische und
solidarische Beziehungen innerhalb der Klasse fördert und bewahrt.
Während der Wahlkampagne haben wir viele Kontakte im Ausland knüpfen
können. Es waren vorwiegend Auslanditaliener*innen, teils von der
alten Migration, proletarische Arbeiter*innen, die in den 1960er,
1970er migriert sind und in den Strukturen der damaligen
Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften eine «politische
Heimat» hatten, teils von der neuen Migration, also Junge, die nach
Abschluss ihres Studiums ausgewandert sind und heute entweder an
Universitäten Forschung betreiben, oder eben auch in den
italienischen Restaurants in der Küche oder als KellnerInnen
arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der Potere al Popolo-Kollektive
im Ausland ist also sehr heterogen, was wiederum den Reichtum dieser
Kollektive darstellt. Mittlerweile gibt es Potere al Popolo-Kollektive fast in jeder größeren europäischen Stadt. Ja, sogar in
Mexiko-City wurde ein Kollektiv gegründet. Diese Strukturen sind
natürlich fundamental für unsere internationalistische Perspektive.
Darüber hinaus sind wir international mit vielen Kollektiven,
Organisationen und Parteien einen Austausch getreten: Vom
Arbeiter*innenkollektiv «Berlin Migrant Strikers» über die antifa
Gruppe «antifascisti Bruxelles», die Rosa-Luxemburg-Stiftung bis
hin zu Parteien wie der Kommunistischen Partei Belgiens (PTB), La
France Insoumise (LFI), der katalanischen CUP oder der
brasilianischen Landlosenbewegung MST (movimento sem terra).
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Die
Wahlen selbst sind dann eher katastrophal zu Gunsten der Populist*innen des
MS5 und des rechts-konservativen und neofaschistischen Lagers
ausgefallen (eine </i><a href="https://revoltmag.org/articles/systemblockade-italien/"><i>Analyse
dazu</i></a><i> schrieb Raffaele
Traini für re:volt). In Napoli erreichte der MS5 sogar über 50
Prozent der Stimmen. Potere al Popolo erreichte 1,13 Prozent. Warum
konnten die Wähler*innen nicht mit linken Argumenten abgeholt werden? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es
wäre naiv gewesen zu denken, wir könnten mit einer kaum vier Monate
jungen politischen Bewegung ein besseres Resultat erreichen als wir
jetzt erreicht haben. Zudem haben wir eine starke mediale Marginalisierung
und Verdrehung erlebt. So wurden während der Wahlkampagne in
diversen Städten Treffen von neofaschistischen Gruppen wie CasaPound
oder Forza Nuova organisiert, wogegen auf Antira- und Antifa-Demonstrationen mobilisiert wurde. Die Zeitungen sprachen aber zum
Beispiel kaum von der großen Demonstration in Macerata Anfang
Februar, nachdem ein durchgeknallter <a href="https://revoltmag.org/articles/nicht-die-zeit-zu-schweigen-es-ist-die-zeit-des-widerstands/">Neofascho
auf sechs <i>Schwarze</i> Menschen</a>
schoss, an der über 20.000 Menschen teilnahmen und für die wir
tausende Aktivist*innen von Potere al Popolo aus ganz Italien
zusammenbringen konnten. Wenn über uns gesprochen wurde, dann nur in
einem Atemzug mit den «Extremen» von Rechts – der bekannte
Diskurs der «opposti estremismi». Für uns ist entscheidend, dass
wir in dieser kurzen Zeit eine mediale Präsenz über Italien hinaus
erreicht haben. In Italien haben uns fast 400.000 Personen gewählt,
in den Städten und Stadtteilen, in denen wir sozial und politisch
aktiv sind, haben wir bis zu 8 Prozent Stimmanteil geholt. Diese
Stimmen zeigen uns, dass wir weitermachen müssen und unsere
Forderungen auf offene Ohren stossen. Selbstkritik ist aber insofern
angebracht, als auch wir es nicht geschafft haben, bei den
Wähler*innen eine breite Sensibilität für linke Themen zu wecken.
Erstens haben wir die Populist*innen des M5S falsch eingeschätzt: Wir
dachten, sie hätten ihren Zenith erreicht und die linken Wähler*innen,
die bisher M5S wählten, kämen nun dank einem linken, alternativen
Angebot in unsere Reihen. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Die
M5S konnte ihren Wahlanteil vor allem im Süden massiv ausbauen, ohne
jedoch eine soziale Präsenz in den Territorien zu haben. Zweitens
haben wir es nicht vermocht, mit unseren Argumenten über den
traditionellen linken Wähler*innenanteil hinaus zu überzeugen und zu
mobilisieren. Wir müssen verstehen, warum das so ist und daran
arbeiten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Italien
nach den Wahlen. Was sind die Herausforderungen und wie geht es mit
Potere al Popolo weiter?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es gibt
drei große mittel- und langfristige Herausforderungen. Erstens muss
es uns gelingen, die vielen territorialen, sozialen und
mutualistischen Aktivitäten zu intensivieren, zu verallgemeinern und
zu organisieren. Nur so können wir die gesellschaftlichen und
politischen Konflikte auf die Spitze treiben und ausgehend von
lokalen Mobilisierungen eine nationale oder gar europaweite Bewegung
etablieren. Zweitens müssen wir die politische Schulung unserer
Aktivist*innen vorantreiben, um unsere Analyse- und
Interventionsinstrumente zu schärfen und für die
raschen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen «bewaffnet»
zu sein. Diesbezüglich sind wir mit anderen internationalen
Bewegungen im Kontakt, um von ihren Erfahrungen zu lernen, zum Beispiel mit
der Landlosenbewegung Brasiliens MST. Sie hat mit der Eröffnung
ihrer Schule «Florestan Fernandez» im
Jahre 2005 zu einer Verbindung von alltäglichem und politischem
Wissen beigetragen und so viele Aktivist*innen ausbilden können, die
langfristig im Kampf des MST engagiert sind. Trotz unterschiedlicher
historischer und sozioökonomischer Kontexte können wir davon viel
lernen. Drittens müssen wir uns eine organisatorische Struktur
geben, die über die einfache Summe vieler Kollektive und
Organisationen hinausgeht. Ein medizinisches Ambulatorium in Neapel
ist eine unmittelbare Antwort auf die Krise des Gesundheitssystems
der Stadt und eine proletarische Arbeiter*innenkammer kann
Arbeitsverträge für eine Gruppe von illegalisierten Arbeiter*innen
erkämpfen. Denn ohne die Strukturierung über ein Netzwerk hinaus
bleiben wir machtlos gegenüber den massiven Angriffen des Kapitals,
welche wir heute erleben. In diesen Herausforderungen und Prozessen
befinden wir uns im Moment.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Fußnoten:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1] Hier findet sich eine <a href="http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=36460">deutsche
Buchbesprechung</a> von Clash
City Workers, <i>Dove sono i nostri. Lavoro, classe e movimenti
nell’Italia della crisi, la casa usher</i>, Lucca 2014. 202
Seiten.</p><p>
</p><p>
</p><p>[2]
Als Mutualismus verstehen wir eine Methode, um das Politische und das
Soziale zu verbinden: Durch die Praxis der gegenseitigen Hilfe werden
Probleme identifiziert, konkrete Antworten von unten darauf gegeben
und durch kollektive Mobilisierungen und Kämpfe politisiert. Diese
Methode knüpft an die Erfahrungen der ersten sozialistischen
Bewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts an.</p></div>
</section>
</article>
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