re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5122021-10-01T08:04:56.896716+00:00Was wir über die anstehenden Kommunalwahlen in Italien wissen sollten2021-10-01T08:04:56.896716+00:002021-10-01T08:04:56.896716+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/was-wir-%C3%BCber-die-anstehenden-kommunalwahlen-in-italien-wissen-sollten/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Was wir über die anstehenden Kommunalwahlen in Italien wissen sollten</h1>
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<span class="content-copyright">potere al popolo</span>
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<div class="rich-text"><p>An diesem Wochenende gehen die Menschen in Italien zum zweiten Mal seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie an die Urnen. Am 3. und 4. Oktober 2021 werden rund 14 Millionen von ihnen in 1.342 Städten und Gemeinden Italiens ihre Bürgermeister:innen sowie die Stadt- und Gemeinderät:innen wählen.</p><p>Ähnlich wie bei den Regionalwahlen im September 2020 handelt es dabei wieder um „unpolitische Wahlen“: Die Wahldebatten im Vorfeld konzentrierten sich vor allem auf persönliche Geschichten der Kandidat:innen, welche Kandidat:innen auf welchen Wahllisten stehen – und daher welche Klientele hinter welcher politischen Strömung stehen – und auf alle möglichen Skandale, in die Einzelpersonen oder Parteien verwickelt sind, anstatt die tatsächlichen politischen Programme der Parteien und ihrer Kandidat:innen zu thematisieren. In den meisten Städten scheint es, als würden die Wahlen überhaupt nicht wahrgenommen werden.</p><h2><b>Die Zentralregierung der Experten</b></h2><p>Dabei finden die Wahlen in einer ziemlich komplexen politischen Situation statt: Seit Februar 2021 hat Italien eine Regierung der so genannten „nationalen Einheit“ unter der Führung des Ministerpräsidenten und ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Die Hauptaufgabe dieser „Regierung der Experten“ ist es, einen Weg aus der aktuellen Krise zu finden. Draghi will zum einen das Wirtschaftswachstum und den Schuldenabbau fördern und die Bürokratie abbauen, die derzeit angeblich die „Freiheit des Unternehmertums“ erschwert – und zum anderen die Eindämmung des Coronavirus gewährleisten.</p><p>Obwohl es sich bei dieser sogenannten „Regierung der Besten“ um eine technische Regierung handelt, bedeutet dies nicht, dass sie Reformen ohne jede Opposition durchsetzen kann. Ganz im Gegenteil. Politik ist keine technische Frage, sondern eine Frage von Klasseninteressen und Machtverhältnissen. Und Mario Draghi <a href="https://revoltmag.org/articles/italien-repression-gegen-arbeitsk%C3%A4mpfe/">entpuppt sich</a> als verlängerter Arm der <i>Confindustria</i>, des wichtigsten Verbandes der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in Italien, und dessen neoliberaler Politik.</p><p>Ende Juni 2021 schaffte Draghi den zu Beginn der Pandemie eingeführten Kündigungsschutz ab. Die <i>Confindustria</i>, die großen Gewerkschaften und die Regierung versprachen gemeinsam, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Entlassungswelle zu vermeiden – aber die Privatunternehmen nutzten die Abschaffung des Arbeitnehmerschutzes natürlich dazu, um Arbeiter:innen zu entlassen und ganze Produktionsstätten in Drittstaaten zu verlagern.</p><p>Offiziell hat die Zahl der Arbeitslosen in Italien seit Beginn der Pandemie um eine Million Menschen zugenommen; aktuell steigt die Arbeitslosigkeit weiter an. Es finden wichtige Arbeiter:innenproteste (bei <a href="https://www.facebook.com/insorgiamoconilavoratorigkn">GKN</a>, <a href="https://poterealpopolo.org/whirlpool-non-abbassiamo-la-guardia-la-lotta-continua/">Whirlpool</a> und vielen anderen Betrieben) und politische Kampagnen gegen <a href="https://poterealpopolo.org/fermiamo-le-delocalizzazioni/">Standortverlagerungen</a> statt. Die Regierung zögert allerdings, sich gegen die Interessen des Kapitals zu stellen und setzt die neoliberale Politik fort. Aufgrund dieses Widerspruches zwischen tatsächlichen Bedürfnissen der Arbeiter:innen und den politischen Antworten der Regierung nehmen die sozialen Spannungen weiter zu.</p><h2><b>COVID-19-Beschränkungsmaßnahmen</b></h2><p>Den <a href="https://ourworldindata.org/covid-vaccinations">offiziellen Statistiken</a> zufolge hat Italien eine der höchsten Impfraten in Europa. Diese Tatsache ist auf die rigorose Impfpolitik von Premierminister Draghi zurückzuführen. Letzte Woche wurde damit begonnen, gefährdeten Personen die dritte Impfdosis zu verabreichen; zudem führte die Regierung einige Maßnahmen ein, um noch mehr Menschen zum Impfen zu bewegen: Die COVID-19-Impfbescheinigung ist in Restaurants und im Fernverkehr erforderlich und wird ab dem 15. Oktober für Angestellte des öffentlichen Dienstes obligatorisch sein.</p><p>Die restriktiven Maßnahmen gegen COVID-19 führen zu sozialen und politischen Spaltungen. Regelmäßig kommt es zu sozialen Protesten, die von der so genannten Anti-Vax-Bewegung organisiert werden. Auch wenn sie nicht sehr zahlreich sind, ziehen sie die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit aufgrund der zunehmenden Erwerbslosigkeit und der Verarmung einer breiten Bevölkerungsschicht an. Außerdem nutzt die extreme Rechte die Straßenaktionen gegen die Linie der Regierung dazu, sich in die Proteste einzumischen und ihre reaktionären Positionen zu verbreiten.</p><p>An diesen restriktiven Maßnahmen entzündet sich die Spaltung der institutionellen Rechten. Matteo Salvinis Partei <i>Lega</i>, die lange Zeit die wichtigste Partei in der politischen Landschaft Italiens war, ist intern in Fraktionen gespalten: die erste versucht, aus der allgemeinen sozialen Unzufriedenheit der Menschen im Zusammenhang mit den restriktiven Maßnahmen und der Impffrage Kapital zu schlagen. Sie sind darauf aus, mit der „Regierung der nationalen Einheit“ zu brechen und vorgezogene Neuwahlen zu forcieren. Die zweite stellt sich stärker auf die Seite der technischen Regierung von Mario Draghi, um auf diese Weise die Rechte der Arbeiter:innen abzubauen und die wirtschaftlichen Interessen des Kapitals zu verteidigen.</p><h2><b>Rekonfiguration von Mitte-Links und Mitte-Rechts</b></h2><p>In diesem allgemeinen Kontext werden die wichtigsten italienischen Städte ihre neuen Bürgermeister:innen und Stadträt:innen wählen. Vor allem in Städten wie Mailand, Turin, Bologna, Rom und Neapel werden die Wahlen ein Indikator für das Vertrauen der Bevölkerung in die führenden Parteien sein.</p><p>Die <i>5-Sterne-Bewegung (M5S)</i>, die lange als <i>die</i> populistische Option Italiens galt und bei den nationalen Wahlen 2018 die stärkste Partei war (sie konnte damals 32,68 Prozent der Stimmen auf sich vereinen), hat in den letzten zwei Jahren an Zustimmung verloren. <a href="https://www.openpolis.it/come-sondaggi-ed-elezioni-amministrative-influenzano-lazione-dei-partiti/">Umfragen</a> schätzen ihr aktuelles Stimmenpotenzial auf etwa 15 bis 16 Prozent ein. Als die Koalition mit der Lega im September 2019 (die erste Regierung von Guiseppe Conte (M5S)) zerbrach, rückte eine erhebliche Anzahl von Abgeordneten nach rechts. In Zusammenarbeit mit der <i>Demokratischen Partei</i> (PD) (zweite Conte-Regierung, von September 2019 bis Februar 2021) setzten sie eine Mitte-Links-Koalition durch und wurden zu einem festen Bestandteil davon. Es war die Rückkehr des <a href="https://hessen.rosalux.de/news/id/43253/wohin-steuert-italien-nach-den-ersten-wahlen-der-corona-krise?cHash=e8130a668e6d7830b8a0e4639cd9f1b3">Bipolarismus</a> in Italien.</p><p>Obgleich M5S und die PD die Mitte-Links-Koalition der Regierung von Mario Draghi unterstützen, treten sie in drei von fünf Großstädten bei den aktuellen Kommunalwahlen getrennt an. In den Städten, in denen die 5-Sterne-Bewegung in der letzten Legislaturperiode das Bürgermeisteramt errungen hat, etwa in Turin (Chiara Appendino) und Rom (Virginia Raggi), wird sie nun aller Voraussicht nach eine vernichtende Niederlage erleiden – und riskieren, beide Städte an die Mitte-Rechts-Kandidaten zu verlieren.</p><p>Die Demokratische Partei beschloss indes, in Mailand allein anzutreten. Der derzeitige Bürgermeister Beppe Sala wird dort bestätigt werden, wahrscheinlich sogar in der ersten Runde. In Neapel und Bologna, wo die beiden Parteien jeweils in einer Koalition mit einem Bürgermeisterkandidaten der PD antreten, wird ihre Mitte-Links-Koalition wahrscheinlich die Wahlen gewinnen. Die Ergebnisse werden ein starkes koalitionsinternes Signal sein und die dominante Rolle der Demokratischen Partei in der Mitte-Links-Koalition stärken.</p><p>Nicht zuletzt: In allen größeren Städten treten die Rechten in einer Mitte-Rechts-Koalition aus den drei großen Parteien <i>Forza Italia</i>, Lega und <i>Fratelli d’Italia</i> (Brüder Italiens, unter der Führung von Giorgia Meloni) an. In den jüngsten nationalen Umfragen erreichten die drei Parteien etwa 45-47 Prozent der Stimmen, wobei die neofaschistischen „Brüder Italiens“ Salvinis Lega überholt haben und über 20 Prozent erreichen. Diese Verschiebung hat weniger Bedeutung für die aktuellen Kommunalwahlen als für die künftigen nationalen Wahlen, bei denen Giorgia Meloni die Führung von Matteo Salvini in der Mitte-Rechts-Koalition herausfordern wird.</p><h2><b>Weiterreichende Auswirkungen der Kommunalwahlen</b></h2><p>Neben der Analyse der allgemeinen Zustimmungen für die Parteien gibt es bei diesen Kommunalwahlen zwei weitere wichtige Herausforderungen. Erstens: Wer auch immer die Kommunalwahlen gewinnt, wird sich als potenziell führende Partei für die für 2023 geplanten nationalen Wahlen bestätigen. Ein gutes Ergebnis bei diesen Kommunalwahlen wird den Weg in die nächste Legislaturperiode ebnen.</p><p>Der zweite Punkt betrifft die Verteilung der Gelder aus dem Europäischen Konjunkturprogramm/Next Generation EU. Die italienische Regierung hat einen Nationalen Konjunktur- und Resilienzplan (Pnrr) ausgearbeitet, der im Wesentlichen ein <a href="https://italy.representation.ec.europa.eu/notizie-ed-eventi/notizie/nextgenerationeu-la-commissione-europea-approva-il-piano-la-ripresa-e-la_it">Investitionsplan</a> für die 191,5 Milliarden Euro ist, die von der Europäischen Union zur Überwindung der aktuellen Krise, zur Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums und zur Anpassung der institutionellen Settings bereitgestellt werden.</p><p>Ein großer Teil des Geldes ist für Infrastrukturprojekte, den ökologischen Umbau sowie den Übergang hin zu einer grünen Wirtschafts- und Stadtentwicklung vorgesehen. Der Investitionsplan wird zwar auf nationaler Ebene entworfen; die Verwaltung der Mittel erfolgt aber auf regionaler und lokaler Ebene. Mit anderen Worten: Diese Mittel zu verwalten bedeutet, eine enorme Geldmenge zu kontrollieren. Das wiederum bedeutet, sich mit dem Geld parlamentarische Mehrheiten gewährleisten zu können und diejenigen Klientele zu bedienen, die die Stimmen gegeben haben.</p><h2><b>Und die Linke?</b></h2><p>Die italienische Linke wählt bei diesen Wahlen zwei verschiedene Optionen. Eine davon ist <i>Sinistra Italiana</i>, eine politische Partei, die 2017 aus einer Abspaltung von der Demokratischen Partei, einem Zusammenschluss mit Sinistra Ecologia e Libertà und unter Beteiligung von ehemaligen Politiker:innen der 5-Sterne-Bewegung entstanden ist. Sinistra Italiana hat sich in die Wahllisten der linken Mitte integriert, um, wie der Parteivorsitzende Nicola Fratoianni es ausdrückte, „eine unabhängige linke politische Option in einer Koalition mit der Demokratischen Partei und der 5-Sterne-Bewegung“ aufzubauen.</p><p>Mit der Unterstützung der Mitte-Links-Koalition wird Sinistra Italiana allerdings zur Krücke des links angemalten Neoliberalismus der Demokratischen Partei. Sie ignoriert die Wende, die die PD in den letzten zwanzig Jahren vollzogen hat: Während ihrer Regierungszeit baute sie Arbeiter:innenrechte ab, unterstützte größenwahnsinnige und unnötige Infrastrukturprojekte, trug zur Umweltzerstörung bei und errichtete Mauern gegen Migrant:innen. In der Mitte-Links-Koalition gibt es keinen Platz für eine alternative linke Politik.</p><p>Die Partei<i> Potere al Popolo</i> hat stattdessen beschlossen, entweder allein (Mailand, Bologna, Rom) oder in Koalition mit progressiven Listen, die unabhängige Bürgermeisterkandidat:innen unterstützen (Turin und Neapel), an den Wahlen teilzunehmen. Unabhängig von der taktischen Erwägung, allein oder in einer unabhängigen Koalition anzutreten, besteht der Grundgedanke darin, eine Alternative zum entstandenen Bipolarismus zu schaffen: eine Alternative zur konservativen und neofaschistischen Mitte-Rechts-Politik und eine Alternative zum Neoliberalismus von Mitte-Links. Beides sind unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille.</p><p><i>Potere al Popolo</i> macht deutlich, dass es nicht möglich ist, eine solche Alternative einzig mittels Vereinbarungen zwischen zentralen Figuren linker Parteien und Wahlkoalitionen aufzubauen. Eine linke Alternative braucht ein neues politisches Projekt, das im sozialen Gefüge verwurzelt ist, welches Kommunist:innen organisieren wollen: prekär beschäftigte Arbeiter:innen, Frauen*, Migrant:innen und andere.</p><p>So gesehen haben Wahlen eine doppelte Aufgabe: Erstens, die öffentliche Aufmerksamkeit von Wahlen zu nutzen, um von den Menschen wahrgenommen zu werden. Das bedeutet, die popularen Kämpfe zu intensiveren und das politische Programm der Partei in Bezug auf die Menschen auszurichten; zweitens, in die Kommunalparlamente gewählt zu werden, um den Alltag des bürgerlichen Spektakels zu stören und so die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, um die Stimme des Volkes und der sozialen Kämpfe in die Institutionen zu bringen. Es ist genau dieses politische Spannungsfeld, in dem sich Potere al Popolo heute bewegt.</p><hr/><h3><b>Anmerkung:</b></h3><p>Der Artikel erschien am 29. September 2021 bei<i> Peoples’ Dispatch</i> <a href="https://peoplesdispatch.org/2021/09/29/what-to-know-about-the-upcoming-local-elections-in-italy/">„<b>What to know about the upcoming local elections in Italy”</b></a>. Er wurde von Johanna Bröse ins Deutsche übersetzt und an einigen Stellen vom Autor ergänzt. </p></div>
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Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?2020-05-07T16:21:01.393813+00:002020-05-07T16:24:59.762092+00:00Giuliano Granatoredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/was-bedeutet-die-phase-2-in-italien-f%C3%BCr-die-arbeitswelt/
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<h1>Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Knapp zwei Monate nach der Einführung des Lockdowns (der sogenannten „Phase 1“, wie die italienische Regierung sie bezeichnete) am 9. März 2020 befinden wir uns in Italien nun im Übergang zur sogenannten „Phase 2“, also der (schrittweisen) Wiedereröffnung der industriellen Produktion und des gesellschaftlichen Lebens. Seit dem 27. April nehmen rund drei Millionen Arbeiter*innen ihre Arbeit wieder auf. Sie ergänzen nun all jene Arbeiter*innen, die während des Lockdowns trotz gesundheitlichen Risiken nie aufgehört hatten zu arbeiten. Anfang Mai wurden die meisten industriellen Aktivitäten wieder gestartet. Für einen Teil der Dienstleistungen und des Handels ist der Zeitplan, den Premierminister Giuseppe Conte am 26. April angekündigt hatte, etwas gestreckter: Bis zum 1. Juni soll Italien zur „Normalität“ zurückkehren – falls die Zahl der Erkrankungen und der Todesopfer von Covid-19 nicht wieder zu steigen beginnt.</p><p>Während für die Lohnabhängigen vielerorts die „Phase 2“ eine zunehmende <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1257720339976671233?s=20">Gefahr für Leib und Leben</a> bedeutet, gibt es an anderen Orten dennoch Bewegung: In den letzten zwei Monate der Pandemie haben die Arbeiter*innenkämpfe bereits zwei verschiedene Phasen erlebt und in Kürze werden wir in die dritte Phase eintreten.</p><h2><b>Phase 1: Die Arbeiter*innen mobilisieren sich für das Recht auf Leben</b></h2><p>In den ersten beiden Märzwochen erlebten wir eine kurze, aber intensive Phase der Arbeiter*innenmobilisierung: wilde Streiks, Streiks, die von den konfliktorientierten Basisgewerkschaften USB, S.I. Cobas und CUB und teilweise von der FIOM (die größte Metallarbeiter*innengewerkschaft, die zum linken Gewerkschaftsbund CGIL gehört) organisiert wurden, oder auch Arbeitsniederlegungen durch Inanspruchnahme von Krankheitstagen, Urlaub und Spezialabsenzen. Für einen Teil der Klasse handelte es sich zudem um einen Kampf für die Einführung von<i> smart working</i>, also von der computergestützten Heimarbeit. Dabei ging es aber nicht darum, diese Form der Arbeit grundsätzlich als besseres Arbeitsverhältnis zu sehen, sondern darum, unmittelbar das Ansteckungsrisiko zu minimieren.</p><p>Die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL hinkten diesen Streiks oft hinterher, was auf ihre abnehmende Verankerung in den Betrieben zurückzuführen ist. Sie begannen die Belegschaften erst dann zu verteidigen, als die Streiks schon in vollem Gange waren. Ein Beispiel für dieses Versäumnis sind die Arbeiter*innenproteste bei FIAT-FCA in Pomigliano d’Arco bei Neapel. Hier hatten die Arbeiter*innen die Arbeit aufgrund der fehlenden gesundheitlichen Schutzmaßnahmen niedergelegt. Erst infolge dieser Streiks unterzeichneten die Unternehmensleitung und die Gewerkschaften ein betriebliches Abkommen zur Sicherstellung der gesundheitlichen Schutzmaßnahmen, was wiederum zur vorübergehenden Schließung der Fiat-Werke italienweit – und später gar europaweit – führte.</p><p>Durch die gewichtige <a href="https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00026914/07_Coppola_Italien.pdf">Rolle von FIAT-FCA im italienischen Kapitalismus</a> hatte dieser Protest einen starken Beispielcharakter auch für andere Sektoren. So mussten auch einige andere Unternehmen aufgrund der als Protestform gewählten hohen krankheitsbedingten Abwesenheitsquote „schließen“. Daraufhin reagierte der Staat: Das nationale Sozialversicherungsamt INPS übte Druck auf die Hausärzt*innen aus und erteilte ihnen die Weisung, die Arbeiter*innen nicht mehr so leichtfertig krankzuschreiben, um die Arbeitsabsenzen zu beschränken.</p><p>In diesen ersten Wochen des Lockdowns erlebte Italien also über das gesamte Territorium verteilt einen weitreichenden und diffusen Ungehorsam. Es handelte sich nicht um offensive Kämpfe, sondern vielmehr um einem Widerstand der Arbeiter*innen gegen den neuen Druck einer <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">Arbeit in Zeiten des Coronavirus</a>. In den Kämpfen stand der Schutz des Lebens der Arbeiter*innen vor jedem anderen (ökonomischen) Bedürfnis. Innerhalb weniger Stunden wurde den Arbeiter*innen bewusst: Die Unternehmen behandelten die Arbeiter*innen schlicht als stets zur Verfügung stehende „Waren“; für sie waren die Wirtschaftszahlen wichtiger als die Leben „ihrer“ Arbeiter*innen; und sie waren weiterhin bereit, eine Wirtschaftsentwicklung zu verteidigen, die für die Unternehmen volle Taschen, für die Menschen jedoch – letztlich – den Tod bedeutete.</p><p>Eine mögliche Wiederaufnahme dieses Widerstands der Arbeiter*innen in Form von öffentlich ausgetragenen Kämpfen oder mittels versteckter Formen des Widerstands als „weapons of the weak“, wie es die amerikanische Soziologin Beverly Silver in ihrem Werk <a href="https://libcom.org/files/Beverly_J._Silver-Forces_of_Labor__Workers'_Movements_and_Globalization_Since_1870_(Cambridge_Studies_in_Comparative_Politics)__-Cambridge_University_Press(2003).pdf"><i>Forces of Labor</i></a> (2003) beschrieben hat, prägte die politische Debatte darüber, welche Sektoren als essentiell und lebensnotwendig zu bezeichnen sind und welche nicht.</p><p>Obwohl die Regierung zunächst nicht auf die Forderungen nach einer unmittelbaren Wiedereröffnung der industriellen Produktion des Unternehmensverbandes Confindustria einging, lenkte sie jetzt in vielen Punkten dennoch ein. So bedeutet die von der Regierung angekündigte Phase 2 eine Wiederaufnahme der industriellen Tätigkeiten und gleichzeitig eine Fortsetzung des Lockdowns – auch wenn in gelockerter Form – für die Menschen im Alltag.</p><h2><b>Phase 2: Weiterführung der Produktion und Rückgriff auf soziale Sicherungsnetze</b></h2><p>Nach den ersten zwei Wochen im Lockdown änderte sich die Situation. Die Streiks nahmen rasant ab. Grund dafür war in erster Linie ein infames <a href="http://www.governo.it/it/articolo/il-presidente-conte-videoconferenza-con-le-parti-sociali/14304">„Protokoll über die Sicherheit an den Arbeitsplätzen“</a>, das Regierung, Unternehmensverband und Gewerkschaften am 14. März unterzeichneten. Mit diesem „sozialpartnerschaftlich“ unterzeichneten Protokoll gab die Regierung in dem Moment, in dem Millionen von Arbeiter*innen für die vorübergehende Schließung der Produktion kämpften, den Unternehmen die Möglichkeit, sie auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter*innen weiter laufen zu lassen. Den Arbeiter*innen blieb also nichts anderes übrig, als weiterhin den individuellen Weg der Arbeitsabwesenheit (Krankheit, Urlaub, Spezialabsenzen) zu wählen. Darauf wurde vor allem dort zurückgegriffen, wo die kollektiven und öffentlich ausgetragenen Kämpfe verloren wurden und die Produktion weiter lief, wo nicht auf<i> smart working</i> zurückgegriffen werden konnte und wo die nötigen Schutzdispositive (Schutzmasken, Handschuhe, Desinfizierung der Arbeitsplätze und so weiter) nicht eingeführt wurden. Auch wenn der Handlungsspielraum der Arbeiter*innen dadurch wesentlich eingeschränkt war, stellte diese Kampfform der Arbeitsabwesenheit weiterhin ein starkes Signal dar: Sie legte die kapitalistische Logik offen, in der die Garantie von Profit in Antithese zur Verteidigung des Lebens steht.</p><p>Viele Unternehmen wurden durch die Bedrohung der Arbeitskämpfe und den gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, gesundheitliche Schutzdispositive einzuführen; andere Unternehmen argumentierten jedoch mit der Möglichkeit des Arbeitsplatzverlusts für die Lohnabhängigen. Sie nutzten damit die Angst vor Arbeitslosigkeit aus, um die Produktion weiterzuführen; ganz so, als ob nichts wäre. Viele Arbeiter*innen berichteten über das <a href="https://poterealpopolo.org/faq-emergenza-covid-19-per-lavoratori-e-lavoratrici/">„rote Telefon“</a> von <i>Potere al Popolo</i>, dass sie gezwungen waren, gegenüber der Polizei Falschaussagen zu machen, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Dies war beispielsweise oft bei irregulär Arbeitenden der Fall, die über keinen Arbeitsvertrag verfügen und daher rechtlich betrachtet gar nicht zur Arbeit fahren durften.</p><p>Ein weiteres seit Beginn der Pandemie mögliches Instrument zur Weiterführung der Produktion seitens der Unternehmen war die Beantragung einer Spezialbewilligung bei den Präfekturen – also den Vertretungen des Innenministeriums in den Provinzen. Diese Ausnahmeregelungen wurden so offen formuliert und die Kontrollen in den Betrieben so unzureichend durchgeführt, dass es de facto für die Unternehmen einfach war, straffrei weiter zu produzieren.</p><p>Von dieser Möglichkeit der Ausnahmeregelung machten bis Ende April über 196.000 Unternehmen Gebrauch, wobei nur in sechs Prozent der Fälle die Anfrage abgelehnt wurde. Den Unternehmen wurde gestattet, in der Zeit zwischen der Einreichung und der Prüfung des Antrages wieder zu öffnen. Es handelte sich dabei um eine lange Zeitdauer wenn man bedenkt, dass die Präfekturen bisher weniger als 50 Prozent der Gesuche bearbeitet haben.</p><p>In dieser zweiten Phase versuchten diejenigen Arbeiter*innen, die tatsächlich nicht zur Arbeit fahren konnten, sozialstaatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten. Es gab einen regelrechten Ansturm auf das Kurzarbeitsgeld und auf den Bonus von 600 Euro für Selbständige. Im Wesentlichen formulierten die Arbeiter*innen zwei Forderungen: Erstens die Integration derjenigen Klassensegmente in die sozialstaatlichen Hilfsleistungen, die von den bestehenden Versicherungen ausgeschlossen sind. Zweitens die Entwicklung neuer sozialstaatlicher Instrumente für die Ausgeschlossenen; dazu gehören vor allem die Forderungen nach einem Notlage-Grundeinkommen (<i>reddito d'emergenza</i>), die kollektive Regularisierung von papierlosen Arbeitsmigrant*innen, die zeitliche Ausdehnung der Arbeitslosenentschädigung und Spezialzahlungen für Care-Arbeiter*innen.</p><p>Die Maßnahmen der italienischen Zentralregierung wurden ergänzt durch Maßnahmen der einzelnen Regionen, doch noch heute warten aufgrund der Trägheit der institutionellen Prozesse Millionen von Arbeiter*innen auf den Zugang zu ihren Rechten. Dabei geht es nicht um ein blindes Hoffen auf die Gutmütigkeit der Regierung. Es geht darum, dass die Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeiter*innen tatsächlich beschlossen wurden und also alle Arbeiter*innen ein Recht darauf haben, auch wenn die Maßnahmen letztlich ungenügend bleiben werden.</p><p>Obwohl die Regierung stets verspricht, „schnell zu handeln“, spielt sie auf Zeit. Das angekündigte April-Dekret, das die Lücken der vorherigen Dekrete schließen sollte und sowohl Liquiditätshilfen für Unternehmen als auch die Aufstockung der sozialstaatlichen Hilfeleistungen vorsah, wird nun doch erst Anfang Mai verabschiedet. Die wachsende Wartezeit schränkt aber die Möglichkeit größerer Mobilisierungen ein, die Arbeiter*innen beschränken ihre Forderungen fast ausschließlich auf ihre jeweiligen Berufskategorien.</p><h2><b>Phase 3: Die Unternehmen nehmen die Produktion wieder auf – und die Arbeiter*innen ihren Kampf?</b></h2><p>Mit der letzten April-Woche fand auch die „Generalprobe“ auf die Wiedereröffnung der Produktion statt. Der Wiederaufnahme zahlreicher bis dahin noch geschlossener Tätigkeiten gingen nationale und/oder lokale Abkommen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften über die Notwendigkeit der Umsetzung wichtiger Sicherheitsmaßnahmen voraus.</p><p>Viele dieser Abkommen wurden von den Medien hoch gelobt. So konnte der Widerspruch zwischen Profit der Unternehmen und der Gesundheit der Arbeiter*innen, welcher in den ersten Wochen des Pandemieausbruchs mit beispielloser Klarheit zutage getreten war, wieder verschleiert werden. FIAT-FCA, Electrolux, Whirlpool und viele andere Großunternehmen wurden als Vorbilder präsentiert: Die Unternehmen kümmerten sich um die Gesundheit der Arbeiter*innen! Oder gar noch zynischer: sei sei sogar eine absolute Priorität des „italienischen Geschäftsmodells“!</p><p>Viel wahrscheinlicher, als diese Heilsbotschaft suggeriert, ist jedoch eine Intensivierung des Klassenwiderspruchs in dieser dritten Phase. Sie ist ein neuer Kampfzyklus zur Verteidigung der Gesundheit, der die Logik des Lebens vor die Logik des Profits stellen wird. Es wird sich aber nicht um ein „zurück zur Phase 1“ handeln: Zum einen, weil die präventive Repression es schwierig gemacht hat, die kämpfenden Arbeiter*innen materiell zu unterstützen (ein Streik kann zwar ausgerufen und praktiziert werden, doch ihn mit einem Streikposten oder gar mit einer Demonstration zu unterstützen ist nach wie vor sehr schwierig). Andererseits auch deshalb nicht, weil die ökonomische Krise immer spürbarer wird und seit rund einem Monat die Angst um die Zukunft für viele Menschen real und immer erdrückender geworden ist.</p><p>Die im Protokoll vom 14. März vorgesehenen Organe, die sogenannten „Kontrollausschüsse“ für die Durchsetzung von Maßnahmen, haben ihre Arbeit in den einzelnen Unternehmen de facto nicht flächendeckend aufgenommen; in nur 40 Prozent aller Unternehmen wurden sie tatsächlich gegründet. Dort, wo sie existieren, bleiben sie aber nach wie vor untätig. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die gewerkschaftlichen und sicherheitstechnischen Vertretungen der Arbeiter*innen in den Betrieben – <i>rappresentanze sindacali unitarie</i> (RSU),<i> rappresentanza sindacale aziendale</i> (RSA), <i>rappresentante dei lavoratori per la sicurezza</i> (RLS) sind drei betriebliche Arbeiter*innenorgane, die mit den deutschen Betriebsräten verglichen werden können – zur Zielscheibe nicht nur der Unternehmensleitungen werden könnten, sondern auch der Arbeiter*innen selbst. Und zwar deshalb, weil viele Arbeiter*innen aufgrund der Angst vor einer schweren ökonomischen Krise und einem allfälligen Jobverlust trotz der gesundheitlichen Risiken dem Motto des Unternehmensverbandes Confindustria – „Arbeit um jeden Preis“ – Folge leisten könnten. Dies wird insbesondere in denjenigen Betrieben passieren, in denen die Arbeiter*innenvertretungen die Stimme der Unternehmensleitung repräsentieren und dort, wo die Gewerkschaften ganz abwesend sind.</p><p>Das Risiko besteht darin, dass in den Unternehmen Bedingungen stillschweigend akzeptiert werden, die schädlich sind für die Gesundheit der Arbeiter*innen. Die Repressions- und Erpressungsmöglichkeiten der Unternehmen haben sich vervielfacht: die Drohung der Betriebsschließung oder der Verringerung des Arbeitsvolumens, der Verlust von Marktanteilen, die Verwendung einer selektiven Kurzarbeit, die sogenannten „Störenfrieden“ oder den als nicht funktional definierten Arbeiter*innen auferlegt werden; die Verweigerung von<i> smart working</i> aus nicht objektiven Gründen, sondern als „Strafe“; und nicht zuletzt die Androhung von Entlassungen, sobald den Unternehmen das Recht dazu wieder eingeräumt wird (im Dekret „Cura Italia“ wurde ein Kündigungsverbot bis Mitte Mai verabschiedet, das im April-Dekret bis zum Ende der Pandemie verlängert werden soll). Es ist also von wesentlicher Bedeutung, dass im April-Dekret das Kündigungsverbot erneuert und die staatliche Unterstützung von Unternehmen an Bedingungen geknüpft wird. Ansonsten werden sie – wie schon so oft – neue finanzielle Unterstützungsleistungen dazu nutzen, um zu einem späteren Zeitpunkt Kündigungen auszusprechen oder „Restrukturierungen“ vorzunehmen.</p><h2><b>Was tun in der offiziellen „Phase 2“?</b></h2><p>Aufgrund des gezeichneten Szenarios müssen wir davon ausgehen, dass die Konflikte, die an den Arbeitsplätzen ausbrechen werden, entscheidend sein werden für die Zukunft unserer Klasse. Dabei spielt es keine Rolle, ob es diese Arbeitskämpfe an die Öffentlichkeit schaffen oder ob sie mehrheitlich eher „unterirdisch“ verlaufen – sie werden auf jeden Fall spürbar sein. Was sind nun unsere Aufgaben als linke Organisationen angesichts dieser neuen Phase? Was ist „unsere“ Phase 3, die wir ihr vorausschicken?</p></div>
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<p>"Pandemie, Arbeit und Phase 2 - Drei konkrete Vorschläge"</p>
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<div class="rich-text"><h4><i>1) Die Produktion und ihre Kämpfe sichtbar machen!</i></h4><p>Zunächst einmal geht es darum, der „Außenwelt“ mitzuteilen, was in den Betrieben geschieht. Dafür sind alle Kanäle, Strukturen und Netzwerke unentbehrlich, die uns heute zur Verfügung stehen: Einzelne Aktivist*innen, Arbeiter*innen, denen wir im Laufe der letzten Jahre begegnet sind, gewerkschaftliche Strukturen jeglicher Art. Es ist notwendig, eine gemeinsame Anstrengung auf uns zu nehmen, um das sichtbar zu machen, was in den „verborgenen Stätten der Produktion“ (Marx) vor sich geht. Denn dabei handelt es sich nicht um eine private Angelegenheit von Unternehmen, es ist das Interesse der Allgemeinheit, zu wissen, was an den Arbeitsplätzen passiert.</p><h4><i>2) Populare Komitees bilden!</i></h4><p>Wir können die Verteidigung der Gesundheit in den Betrieben dabei nicht allein den direkt betroffenen Arbeiter*innen überlassen. Aus den oben dargelegten Gründen besteht die Gefahr, dass die (ökonomische) Erpressung, der wir alle ausgesetzt sind, eine angemessene Verteidigung erschwert.</p><p>Es ist notwendig, die Schaffung von popularen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter*innen in die Wege zu leiten, die auf territorialer Basis von Aktivist*innen, aber auch von Gewerkschaften, Kollektiven, sozialen und politischen Organisationen gebildet werden. Ihre Aufgabe wäre es, als Werkzeug in den Händen jene*r Arbeiter*innen zu fungieren, die an den einzelnen Arbeitsplätzen nicht über das angemessene Kräfteverhältnis verfügen.</p><p>Gleichzeitig müssen wir fordern, dass die für die Kontrolle zuständigen Institutionen, wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest vorrangig auf die Kontrolle der Unternehmen hinarbeiten: Das nationale Arbeitsinspektorat, die Finanzpolizei, die lokale Polizei und die lokalen Gesundheitsinstitutionen müssen aufhören, alle 100 Meter Posten zu errichten, um die Menschen zu kontrollieren, ob sie individuell die Sicherheitsvorschriften einhalten; vielmehr müssen sie sich auf die Kontrolle der Arbeits- und Gesundheitsbedingungen in den Betrieben konzentrieren und sich so für das Recht auf das Leben von Millionen von Menschen in den Produktionsstätten einsetzen. Auch in diesem Fall schlagen wir die Einrichtung von popularen Komitees vor, die die Koordinierung dieser Tätigkeiten organisieren. Dies muss mit der Beteiligung der Gewerkschaften, aber unter Ausschluss der Unternehmensvertretungen geschehen, denn in einem popularen Kontrollorgan darf niemand vertreten sein, der „kontrolliert“ werden muss.</p><h4><i>3) Auf die ökologische Transformation hinarbeiten!</i></h4><p>Auf einer allgemeineren politischen Ebene besteht die Notwendigkeit, über die Einrichtung einer „Agentur für die ökologische Transition“ nachzudenken. In naher Zukunft werden zahlreiche Betriebe schließen und viele Unternehmen werden enorme staatliche finanzielle Unterstützung anfordern. Im Kontext der aktuellen Ausweitung der „staatlichen Hilfen“, des <i>common sense</i> über die Nützlichkeit staatlicher Interventionen und der ersten Verstaatlichungsprozesse bestimmter Unternehmen, muss der Staat die Rolle eines intervenierenden Akteurs der Industrie- und Wirtschaftspolitik werden und auf die Entwicklung eines Plans für die Zukunft hinarbeiten. Einige Unternehmen müssen vom Staat übernommen und mit Rücksicht auf eine gesundheitliche und ökologische Produktion weiterentwickelt werden. Während dieses Übergangs muss den Arbeiter*innen der nötige sozialstaatliche Schutz und die berufliche Weiterbildung garantiert werden.</p><p>Das sind in keinster Weise unrealistische Forderungen. Es fehlt oft einzig der politische Wille und die politische Kraft dazu, einen solchen Übergang zu organisieren. Die Regierung hat in diesen Tagen enschieden, die Einführung der <i>plastic tax</i> und der <i>sugar tax</i> hinauszuzögern. Dieses Hinauszögern steht unseren Interessen nicht aufgrund der fehlenden Staatseinnahmen entgegen – die tatsächlichen Einnahmen wären laut den Plänen der Regierung sowieso sehr niedrig –, sondern aufgrund des politischen Signals, das mit dieser Entscheidung ausgesendet wird: die ökologische Frage – und somit diejenige des Lebens der Arbeiter*innen – ist für die Regierung zweitrangig im Vergleich zu den Profitbedürfnissen der Unternehmen.</p><p>Die Welt von morgen wird nicht aus einem sowieso unmöglichen Zurück in die Vergangenheit hervorgehen. Eine Vergangenheit, die für viele von uns bereits die „Krankheit“ war. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass wir in die für uns richtige Richtung gehen.</p><hr/><p><i>Giuliano Granato ist ein Arbeiter, der aufgrund seines gewerkschaftlichen Aktivismus entlassen wurde. Er ist zudem Mitglied der nationalen Koordination der linken Organisation</i> <a href="http://www.poterealpopolo.org/"><i>Potere al Popolo</i></a><i>.</i></p><p></p><p><i>Übersetzung von Maurizio Coppola.</i></p></div>
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Ein Brief aus Italien2020-03-17T17:07:26.354357+00:002020-03-17T17:12:55.117304+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-brief-aus-italien/
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<div class="rich-text"><p>Die Verbreitung des Coronavirus konfrontiert uns mit einem bisher noch nie dagewesenen Szenario. Obwohl einige Regierungen, insbesondere die USA, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung immer noch unterschätzen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Covid-19 vor einigen Tagen offiziell zur Pandemie erklärt; immer mehr Regierungen beginnen, das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen.</p><p>Italien ist, was Ansteckung und Tote angeht, das am zweitschlimmsten betroffene Land nach China, mit knapp 27.980 bestätigten Fällen und über 2.158 Todesfällen (Stand 17.3.2020) – Tendenz steigend. Italien kann somit als Testfall dafür angesehen werden, wie das Virus andere Länder im Norden der Welt treffen könnte. Die Situation entwickelt sich sehr schnell und sorgt für viel Verwirrung. Wir denken deshalb, es macht Sinn, ein paar kurze Überlegungen zu einigen Aspekten dieser Krise zu teilen: die staatliche Antwort auf die Verbreitung des Virus; die Maßnahmen der Regierung; die sich daraus ergebenden sozialen Kämpfe; unsere Organisierung unter den sich veränderten und stets verändernden Umständen.</p><p>Covid-19 ist ein neuer Virus – die Expert*innen haben sich daher Zeit genommen, über die Art und Weise zu entscheiden, an ihn heranzutreten. Die dadurch verursachte Verwirrung, gepaart mit der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der ungeprüfte Informationen in der heutigen Welt verbreitet werden, führt dazu, dass eine Fülle unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Ratschläge und Analysen angeboten werden. Bis vor einer Woche definierten einige prominente Persönlichkeiten, darunter auch Politiker*innen, die Erkrankung schlicht als eine schwere Grippe, die nur alte Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten betrifft. Inzwischen ist jedoch die Ernsthaftigkeit von Covid-19 für jede*n in Italien klar geworden. Covid-19 hat das italienische Gesundheitssystem in die Knie gezwungen.</p><p>Dafür gibt es drei Hauptgründe: Erstens, das Virus breitet sich tatsächlich effektiv und schnell aus; Zweitens, wenn Menschen ernsthaft erkranken, müssen sie wochenlang in Intensivstationen gepflegt werden; Drittens, die Kürzungen und Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte haben die Kapazität des öffentlichen Gesundheitssystems ausgehöhlt, das sonst weitaus besser hätte auf die Krise antworten können. Obwohl das Gesundheitssystem in einigen Regionen des Nordens in vielerlei Hinsicht für europäische Verhältnisse gut ist, hat die Tatsache, dass das System auf regionaler Ebene verwaltet wird, große landesinterne Unterschiede produziert. Bisher wurde erkannt, dass das einzige wirksame Mittel zur Eindämmung der Ansteckung darin besteht, den Kontakt zwischen den Menschen zu begrenzen. Aus diesem Grund haben die betroffenen Länder beschlossen, bestimmte Gebiete oder, im Falle Italiens, das ganze Land vorübergehend zur Sperrzone zu deklarieren.</p><p>Die unterschiedlichen Reaktionen der Regierungen auf das Virus spiegeln das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der jeweiligen Länder wider. Im Falle Italiens hat die Regierung einige drastische Maßnahmen ergriffen; obwohl schon früher viel mehr hätte getan werden können und sollen. Insbesondere hat die italienische Regierung versucht, eine Balance zu finden zwischen der wachsenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit auf der einen Seite und den Interessen des Kapitals auf der anderen Seite. Dies hat allzu oft zu Regierungsentscheidungen geführt, die zweiterem Vorrang einräumen und somit Menschen in Gefahr bringen.</p><h2><b>Italiens Umgang mit der Krise</b></h2><p>Am 4. März erklärte Italien die Schließung der am stärksten betroffenen Gebiete im Norden und verbot unnötige Reisen. Die Einzelheiten der Verordnung wurden den Medien zugespielt, bevor die Regierung die Möglichkeit hatte, sie offizielle anzukündigen. Die führte dazu, dass Hunderte von Menschen in die Bahnhöfe der Städte des Nordens strömten, in der Hoffnung, einen Zug zu erwischen, der sie aus den roten Zonen brachte. Viele Menschen reisten in dieser Nacht durch das Land und schmälerten somit die Wirkung der Sicherheitsmaßnahmen, da das Virus dadurch möglicherweise in neue Regionen gebracht wurde.</p><p>Am 9. März wurde die Verordnung dann auf das ganze Land ausgedehnt. Alle öffentlichen Versammlungen und unnötige Reisen sind verboten, Bars müssen um 18 Uhr schließen und jede*r, die*der sein Haus verlässt, musste ein Formular mit detaillierten Angaben über Wohnort, Arbeitsort und weiteren Erklärungen mit sich tragen. Die Schließung von Schulen und Universitäten wurde bis zum 3. April verlängert.</p><p>In der Nacht vom 11. März kündigte die Regierung die Schließung aller nicht wesentlichen Geschäfte an. Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Postämter, Zeitungshändler*innen und Tankstellen bleiben jedoch offen. Auf Druck der Confindustria, dem italienischen Unternehmensverband, wurden zudem viele produktive Tätigkeiten nicht in diese neue Verordnung integriert. Das bedeutet, dass Arbeiter*innen der Industrie, von Call Center, Logistikarbeiter*innen und viele Arbeiter*innen weiterer Sektoren weiterhin täglich zur Arbeit fahren müssen.</p><p>Diese letzte Verordnung hat zu einer Situation geführt, in der es den Menschen verboten ist, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und auf den Straßen zu spazieren (außer in Notfällen). Die Menschen werden gezwungen, zu Hause zu bleiben – gleichzeitig ist aber weiterhin ein beträchtlicher Teil der Arbeiter*innen noch in Fabriken zusammengepfercht; Menschen, die keine lebensnotwendigen Güter herstellen oder keine lebensnotwendigen Dienstleistungen anbieten.</p><p>Seit der Einführung dieser Verordnung gab es in vielen Lagerhäusern und Fabriken zahlreiche Meldungen von Verstößen gegen den gesundheitlichen Schutz der Arbeiter*innen. Am 9. März traten die Beschäftigten der FIAT-Fabrik im süditalienischen Pomigliano d'Arco bei Neapel in einen wilden Streik, um gegen die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen zu protestieren. Die Logistikarbeiter*innen eines Lagers des Unternehmens Bartolini in Caorso bei Piacenza im Norden und diejenigen eines TNT-Lagerhaus in Caserta (Süden) taten dasselbe. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes gehen stündlich Berichte über Streiks ein, die große Produktionsstätten im ganzen Land betreffen (weitere Einzelheiten sind <a href="https://poterealpopolo.org/coronavirus-sciopero-ovunque/">hier</a> auf italienisch und <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">hier</a> auf deutsch zu finden). Die größte Basisgewerkschaft USB hat zu einem 32-stündigen Streik in allen nicht wesentlichen Sektoren aufgerufen, die großen Gewerkschaftsbünde hingegen haben mit der Regierung und der Vertreter*innen der Unternehmen ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, welches jedoch in keiner Weise den Forderungen nach gesundheitlichem und sozialem Schutz der kämpfenden Belegschaften entspricht.</p><p>In diesen letzten Wochen wurden auch die italienischen Gefängnisse zum Brennpunkt sozialer Proteste. Das italienische Gefängnissystem befindet sich seit langem in eine Krise: Veraltete Einrichtungen und eine massive Überbelegung bedeuten, dass Italiens Gefängnisse ständig gegen die geltenden Gesetze, Vorschriften und oft auch fundamentalen Menschenrechten verstoßen. Unter diesen Bedingungen lösten die staatlichen Restriktionen (unter anderem Besuchsverbot, Begrenzung der Anrufe an Familien und der Arbeitserlaubnis bis zum 31. Mai) landesweit Aufstände in den Gefängnissen aus. Vierzehn Menschen sind während dieser Revolten unter noch unklaren Umständen gestorben. Es wurde berichtet, dass ein Wärter in Vicenza positiv auf Covid-19 getestet wurde, und Familien berichteten von der Angst der Häftlinge, die nur begrenzten Zugang zu Informationen und Beratung haben. Wenn „der Grad der Zivilisation in einer Gesellschaft durch das Betreten ihrer Gefängnisse beurteilt werden kann“ (Dostojewski), dann geht es Italien nicht gut.</p><p>Die Regierung hat nun ein weiteres Paket von wirtschaftlichen Maßnahmen ankündigt. Es heißt, dies sieht die Unterbrechung der Zahlung von Hypotheken und die Ausweitung der Zahlung von Erwerbslosengelder vor. Es bleibt aber noch unklar, ob Maßnahmen für Selbständige, Arbeiter*innen mit Null-Stunden-Verträgen oder für diejenigen im informellen Sektor darin Platz finden. Die Regierung hat als Reaktion auf das Covid-19 25 Milliarden Euro für außerordentliche ökonomische Maßnahmen gesprochen, doch angesichts der Tatsache, dass Italiens Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist es schwer vorstellbar, dass eine solche Summe eine signifikante Wirkung zeigen wird. Die EU hatte in ihrem Vorgehen Flexibilität gezeigt, doch schon am 12. März zog sich die Europäische Zentralbank von einer weiteren Unterstützung zurück und ließ die italienischen Anleiherenditen in die Höhe schnellen. Die Weltwirtschaft steuert auf eine schwere Rezession zu, Italien wird es wohl stärker als die meisten anderen Länder treffen.</p><h2><b>Coronavirus und Mutualismus: Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?</b></h2><p>Wenn eine Krise eine von Ungleichheit geprägten Gesellschaft trifft, sind es immer die Schwachen, die am meisten darunter leiden: ältere Menschen, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Frauen, Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten. Als <i>Potere al Popolo</i> versuchen wir, die Isolation jeder und jedes einzelnen zu durchbrechen und Beziehungen der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zwischen den Menschen und <i>Communities</i> aufzubauen. In vielen Städten haben wir ein System gegenseitiger Hilfe für Menschen eingerichtet, die Unterstützung bei der täglichen Arbeit benötigen, etwa beim Einkaufen von Produkten des täglichen Bedarfs (unter sicheren Bedingungen).</p><p>Wir haben auch ein <i>rotes Telefon</i> eingerichtet, eine nationale Hotline also, um den von der Krise betroffenen Arbeiter*innen Beratungen unterschiedlichster Art zu bieten. Das rote Telefon wurde vor einigen Tagen aufgeschaltet, aber bereits am ersten Tag haben wir rund 70 Anrufe von Arbeiter*innen erhalten; von Arbeiter*innen, die gezwungen sind, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, entlassen wurden oder im informellen Sektor arbeiten und daher riskieren, von den angekündigten Krisenmaßnahmen der Regierung ausgeschlossen zu werden. Mit den aus diesen Anrufen gesammelten Informationen können wir planen, welche Maßnahmen wir als Organisation ergreifen müssen und Forderungen an die Unternehmen und die Regierung formulieren. Alle Anrufe an das rote Telefon werden zunächst von einer kleinen Gruppe aktivistischer Jurist*innen entgegengenommen; anschließend werden die Arbeiter*innen mit den Aktivist*innen vor Ort zur weiteren Unterstützung in Kontakt gesetzt.</p><p>Bislang haben wir drei Schlüsselbereiche für die Intervention der gegenseitigen Hilfe identifiziert. Der erste Bereich ist der Logistiksektor: Wir sind mit Lagerarbeiter*innen von Amazon in Kontakt gekommen, die uns erklärt haben, dass sie aufgrund der gestiegenen Nachfrage mehr (dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben) und unter Bedingungen arbeiten müssen, die nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen entsprechen. Der zweite Bereich sind die Call Center: diese Unternehmen haben sich geweigert, den Arbeiter*innen Heimarbeit zu gestatten, da die Kosten für die Anschaffung der notwendigen Technologie zu hoch seien; und so bleiben die Arbeiter*innen weiterhin in engen Büros zusammengepfercht. In beiden Fällen haben Anwält*innen eine formelle Meldung an die betreffenden Unternehmen geschickt und gefordert, dass die Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt werden und alle Arbeiter*innen vom Zwang zu Überstunden befreit werden.</p><p>Der dritte Bereich betrifft die Saisonarbeiter*innen. In Italien gibt es eine große Zahl von Saisonarbeiter*innen, insbesondere in der Landwirtschaft und im Tourismus, aber auch in den Fabriken. Saisonarbeit ist eine Form der unsicheren und prekären Arbeit, weil die Unternehmen nicht verpflichtet sind, am Ende einer Saison und bei Vertragsende wieder die gleichen Arbeiter*innen anzustellen. Ihnen ist jedoch der Zugang zu Arbeitslosengeld garantiert (nicht alle Arbeiter*innen haben das Recht auf Arbeitslosengeld in Italien). Wir haben die Regierung und das Ministerium für soziale Sicherheit mit der Forderung angeschrieben, dass Saisonarbeiter*innen, die aufgrund der Krise in diesem Jahr nicht wieder eingestellt werden, für die gesamte Dauer dieser verlängerten Arbeitslosigkeit Leistungen gewährt werden.</p><p>Abgesehen von diesen drei konkreten Fällen, die Beispiele für die mögliche Umsetzung unmittelbarer Maßnahmen sind, fordern wir die Regierung auf, die Gehälter aller betroffenen Arbeiter*innen zu garantieren, einschließlich der selbständig Arbeitenden, derjenigen, die ohne gültigen Vertrag arbeiten und Arbeiter*innen der Gig-Economy. Wir fordern, dass jede*r, die*der seine Arbeit verloren hat, Arbeitslosenunterstützung erhält und dass jede*r, die*der nicht in der Lage ist, die Miete, die Hypothek oder Rechnungen zu bezahlen, ein Zahlungserlass gewährt wird.</p><p>Wir fordern zudem, dass die Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern eingestellt werden und den Arbeiter*innen die Lohnfortzahlung garantiert wird.</p><p>Schließlich fordern wir, dass der Staat massiv in das Gesundheitssystem investiert, mehr Gesundheitsarbeiter*innen mit unbefristeten Verträgen einstellt und die Produktion von Medikamenten und Gesundheitsgeräten unter öffentliche Kontrolle bringt. Wir fordern, dass die Regierung den Sparkurs umkehrt und den Europäischen Fiskalpakt aufhebt. Italien steht nun vor einer schweren Wirtschaftskrise; nur ein vollständiger Paradigmenwechsel mit enormen staatlichen Investitionen in die Wirtschaft und in öffentliche Dienste und die Schaffung von Arbeitsplätzen wird uns vor den schlimmsten Konsequenzen dieser Katastrophe bewahren.</p><hr/><p><i>Der Brief der Genoss*innen erschien zuerst auf der</i> <a href="https://poterealpopolo.org/brief-aus-italien-in-zeiten-des-coronavirus/"><i>Webseite</i></a><i> von von Potere Al Popolo. Er wurde auch in weitere Sprachen übersetzt. Wir haben den Text endredaktionell bearbeitet und aktualisiert.</i></p><p>Übersetzung: Mauricio Coppola und Evrim Muştu.</p></div>
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Arbeiten in Zeiten des Coronavirus2020-03-13T19:36:19.140165+00:002020-03-13T19:56:46.035318+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/
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<div class="rich-text"><p>Seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie hat die italienische Regierung in den letzten 20 Tagen fast <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/coronavirus-provvedimenti-pioggia-media-al-giorno-ADjpVHC">täglich eine Verordnung</a> erlassen. Diese Dekrete führen „dringliche Maßnahmen zum Schutz gegen die Ansteckung auf das ganze nationale Gebiet“ ein. In der Verordnung vom 5. März wurde zuerst einmal die Region Lombardei und weitere 14 Provinzen Norditaliens zur „roten Zone“ deklariert, in denen die über 16 Millionen wohnhaften Menschen nur noch für die Arbeit und für den Einkauf ihr Haus verlassen durften. Am 9. März wurde der Ausnahmezustand in ganz Italien ausgerufen und die Sperrzone auf alle 21 Regionen ausgeweitet. Tatsächlich sind seither alle Schulen Italiens geschlossen, in vielen Städten schließen zahlreiche Läden schon um 18 Uhr. Doch zahlreich sind die gemeldeten Verstöße gegen die Maßnahmen: Die nötige Sicherheitsdistanz von einem Meter zwischen den Personen wurde nicht respektiert, einige Bars blieben bis nach 18 Uhr geöffnet und viele Jugendlichen versammelten sich in hoher Zahl auf den Straßen.</p><p>Angesichts dieser Tatsache trat am 11. März Premierminister Giuseppe Conte erneut vor die Medien und kündigte eine weitere Verschärfung der Maßnahmen an. In der Ansprache sagte er kurz und prägnant: „Alle ökonomischen Aktivitäten und Geschäfte bleiben vorübergehend und mindestens bis zum 25. März geschlossen, mit Ausnahme von Lebensmittelläden und Apotheken. Somit garantieren wir weiterhin den Zugang zu den lebensnotwendigen Produkten.“ <a href="https://jacobinitalia.it/tutti-a-casa-tranne-gli-operai/"><i>Tutti a casa</i></a><i> –</i> alle zu Hause bleiben, heißt es also. Ist das der Weg, um der Verbreitung des Virus endlich einen Riegel vorzuschieben? Und können auch wirklich alle zu Hause bleiben?</p><h2><b>Alle zu Hause, außer die Arbeiter*innen</b></h2><p>Eine genauere Analyse des letzten <a href="http://www.governo.it/it/articolo/coronavirus-conte-firma-il-dpcm-11-marzo-2020/14299">Verordnungstextes</a> zeigt indes, dass nicht nur Lebensmittelläden und Apotheken offen bleiben, sondern praktisch der komplette Produktionsapparat des Landes weiter funktionieren soll. Ausgeschlossen bleiben nur der Detailverkauf, die Gastronomie (etwa Bars, Pubs, Restaurants, Eisstände, Konditoreien) und die personenbezogenen Dienstleistungen (darunter fallen Friseur*innen, Barbier, Kosmetiker*innen). Weitergearbeitet werden soll „mit Respekt der Hygienevorschriften“ (selbstverständlich!) in der Essenslieferung, in den Banken und Finanzinstituten, bei den Versicherungen und der Post sowie auch in der Landwirtschaft, der Viehzucht und der ganzen Produktionskette von Lebensmitteln (von der Verarbeitung von Agrarprodukten, bis zu den Waren- und Dienstleistungszulieferern des Sektors).</p><p>Was die produktiven Aktivitäten betrifft, empfiehlt die italienische Regierung die Anwendung von Hausarbeit, die Vorverlegung von Urlaub (was einem Zwang zum Urlaub und daher zur Arbeit in Urlaubszeit gleichkommt!), den Rückgriff auf die in den Tarifverträgen vorgesehenen sozialen Maßnahmen (schwammig genug!) und die Einführung von Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (fixer Arbeitsplatz, Verteilung von Atemschutzmasken und Handschuhen, regelmäßige Reinigung und Desinfektion des Arbeitsortes und so weiter). Es bleibt aber bei Empfehlungen, es sind keine Anordnungen.</p><h2><b>Die produktive Kontinuität sichern</b></h2><p>Mit dieser dringlichen Verordnung versucht die italienische Regierung einen unmöglichen Balanceakt: Auf der einen Seite geht es darum, die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv zu beschränken, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen; auf der anderen Seite hingegen darum, den Bedürfnissen der sich schon vor dem Ausbruch des Virus in eine Krise zusteuernden Unternehmen nachzukommen. Diese hatten sich in den letzten Tagen sehr oft zum Einfluss des Coronavirus auf den <a href="https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/7969896b-en.pdf?expires=1584052604&id=id&accname=guest&checksum=EF8A0B9A28FEA179B0ECEBD2438A652B">Gang der Wirtschaft</a> geäußert und stets die Weiterführung der Produktion gefordert, trotz <a href="http://www.protezionecivile.gov.it/media-comunicazione/comunicati-stampa/dettaglio/-/asset_publisher/default/content/coronavirus-sono-12-839-i-positivi">exponentiellem Anstieg</a> der vom Virus betroffenen Fälle. „Selbstregulierung und produktive Kontinuität ist die vom Unternehmensverband Confindustria empfohlene Weg“ ist in ihrer Zeitung <i>Il Sole 24 Ore</i> zu lesen. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit sei es „unerlässlich, die Betriebe offen zu halten und der produktiven Aktivität und dem freien Warenverkehr Kontinuität zu geben. Die Produktionsketten heute zu unterbrechen würde bedeuten, Marktanteile zu verlieren und exportorientierte Betriebe zu schließen.“ Dies wiederum sei, so die Kommentatorin der Zeitung, Nicoletta Picchio, „ein Signal fehlender produktiver Fähigkeit für das Ausland, die kurzfristig kaum aufzuholen ist. Der Produktionsunterbruch wäre ein schlimmer Fehler, das würde unser Tod bedeuten.“ Sie sieht die Geier schon über ihnen kreisen: „Unsere Konkurrenten greifen uns an, sie sind bereit, diese Momente der Schwäche auszunutzen.“ <b>[1]</b></p><h2><b>Arbeit statt Gesundheit?</b></h2><p>In Italien wird also weiter produziert. Wie sieht es nun aber derzeit in den „verborgenen Stätten der Produktion“ aus? Eine besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst einmal den Gesundheitsarbeiter*innen. Seit dem Ausbruch des Virus werden in TV und Presse ihre „Held*innengeschichten“ tagtäglich erzählt: Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, keine Ruhetage, konstant den Gefahren der Ansteckung ausgesetzt. Doch die Gesundheitsarbeiter*innen selbst lehnen diese Held*innengeschichten ab. Sie sagen, es gehe nicht darum, die individuelle Anstrengung der einzelnen Arbeiter*innen hervorzuheben, sondern auf die systemischen Mängel des italienischen Gesundheitssystems – <a href="https://www.gimbe.org/pagine/1229/it/report-72019-il-definanziamento-20102019-del-ssn">Unterfinanzierung und Umstrukturierung</a> – hinzuweisen, die dazu führten, dass in Zeiten des Ausnahmezustandes die Gesundheitsarbeiter*innen fast übermenschliche Anstrengungen an den Tag legen müssen. Sie berichten auch davon, dass es konstant an individuellen Schutzvorkehrungen [sogenannte „dpi“, <i>dispositivi di protezione individuale</i>] mangelt, dass die Intensivstationen total überbelegt sind und somit andere Krankenhausbereiche auf Kosten anderer Patient*innen zu Intensivstationen umgewandelt werden müssen, dass ständig Ärzt*innen und Pfleger*innen fehlen, so dass in einigen Fällen <a href="https://espresso.repubblica.it/attualita/2020/03/11/news/coronavirus-reclutati-gli-studenti-infermieri-siamo-senza-protezioni-tutele-assicurazione-1.345488?ref=HEF_RULLO">Medizinstudierende rekrutiert</a> werden, um diese Lücken zu füllen und so weiter.</p><p>Die Prekarisierung des Arbeitsalltages betrifft jedoch nicht nur Gesundheitsarbeiter*innen in den Krankenhäusern. Confindustria behauptet zwar, dass „Fabriken zurzeit die sichersten Orte sind, weil Präventivmaßnahmen getroffen wurden“, doch die Arbeiter*innen sehen das anders <b>[2]</b>: „<a href="https://www.la7.it/laria-che-tira/video/coronavirus-lo-sfogo-degli-operai-per-conte-il-virus-si-ferma-davanti-ai-cancelli-delle-fabbriche-si-12-03-2020-312852?fbclid=IwAR2h9ObV6diKkDvONAhF1_3b41XSLdK0S4_8zkE_cCqIV3_Z_R6MLzjbBM8">Der Coronavirus macht nicht vor den Fabriktoren halt</a>“, bringt es eine Arbeiterin auf den Punkt. In vielen Sektoren der Produktion ist die Arbeit trotz Lahmlegung des restlichen Landes intensiviert worden. In gewissen Betrieben der Logistikbranche stiegen die Auftragszahlen massiv, wie beispielsweise bei Amazon. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben. Amazon hält sich jedoch weder an die Betriebshygiene, noch hat der Konzern den Arbeiter*innen individuelle Schutzvorkehrungen garantiert. Erst nachdem <a href="http://www.ansa.it/piemonte/notizie/2020/03/11/coronavirus-positivo-dipendente-amazon-in-piemonte_55d8c86c-ed14-4e8f-a009-95c021eff37a.html">ein Fall von Coronavirus im Lager von Torrazza Piemonte</a> aufgedeckt wurde, wurde der Betrieb gereinigt und desinfiziert und einige Arbeiter*innen in Quarantäne gestellt.</p><p>Auch in vielen Call Center wird mehr gearbeitet als zuvor, vor allem in Betrieben, die Aufträge von öffentlichen Institutionen übernommen haben und während diesen Zeiten zusätzliche Hotline-Dienste anbieten. In einem Call Center in Napoli wurden einige Maßnahmen getroffen (die Zuweisung eines fixen Computers, Sicherheitsdistanz von einem Meter), andere hingegen nicht (fehlende Seife und Desinfektionsmittel in den WCs). Manche Maßnahmen grenzen ans Absurde, wie beispielsweise die Aufforderung, Kaffeeautomaten auszuschalten, um „unnötige Menschenansammlungen zu vermeiden.“ Die Betriebsleitung des Call Center lehnt weiterhin den Vorschlag der Hausarbeit ab; die Arbeiter*innen sind aufgrund der zusätzlichen Dienste hingegen gezwungen, Überstunden zu leisten.</p><p>Kaum eine Stimme haben diejenigen, die ohne Vertrag, irregulär und daher ohne Sozialversicherungsschutz arbeiten: Care-Arbeiter*innen müssen aus Angst vor einer Ansteckung zu Hause bleiben, vor allem diejenigen, die mit alten Menschen arbeiten; (Schein-)Selbständige sind nicht erwerbslosenversichert und riskieren nun einen längeren Lohnausfall, falls <i>smart working</i> nicht umsetzbar ist; junge Arbeiter*innen ohne Vertrag, die in Bars, Restaurants oder anderen „Zuliefererbetrieben“ des Tourismus (vor allem in den Städten) tätig sind, wurden aufgrund der Verordnung von einem Tag auf den anderen entlassen und sind nun ohne Job. Für diese Sektoren sehen die Verordnungen der Regierung bis heute keine Lösungen vor.</p><h2><b>Widerstand formiert sich</b></h2><p>Immer mehr Arbeiter*innen akzeptieren diese mangelnden gesundheitlichen und sozialen Sicherheitsvorkehrungen jedoch nicht und beginnen zu streiken. Zahlreich sind die Beispiele der landesweiten Arbeitsniederlegungen, vor allem in der <a href="https://contropiano.org/news/politica-news/2020/03/11/bartolini-fca-ikea-scioperi-spontanei-la-sicurezza-prima-del-profitto-0125077">Logistikbranche</a> und in den <a href="https://torino.repubblica.it/cronaca/2020/03/12/news/scioperi_spontanei_in_piemonte_contro_le_fabbriche_aperte_regole_di_sicurezza_non_rispettate_-251052173/">Regionen</a>, in denen der Virus schon weit verbreitet ist. In einigen Fällen geht es aber auch um weit mehr als um Gesundheitsschutz. Die <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1238085207338729472?s=20">Arbeiter*innen der Luxuskleiderfabrik Corneliani in Mantova</a> fordern nicht nur die Einhaltung jeglicher Schutzmaßnahmen in der Produktion, sondern auch die vorübergehende Schließung der Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern. Dem Interesse der Confindustria, die Produktion um jeden Preis – vor allem um den der Gesundheit der Arbeiter*innen – weiterzuführen, setzen die spontanen Proteste der Arbeiter*innen eine Grenze.</p><p>Von den großen Gewerkschaftsverbänden CGIL, CISL und UIL ist in diesen Tagen indes weit weniger zu hören als vom Unternehmensverband. Die drei Maschinen- und Metallindustriegewerkschaften Fiom, Fim und Uilm rennen den Protesten der Arbeiter*innen regelrecht hinterher und verlangen die <a href="https://www.fiom-cgil.it/net/index.php/comunicazione/stampa-e-relazioni-esterne/7328-le-fabbriche-si-fermino-fino-a-domenica-22-marzo-per-applicare-le-misure-sanitarie-di-contrasto-al-covid-19">Schließung der Fabriken</a> bis zum 22. März, „um alle Arbeitsplätze zu sanieren, zu sichern und neu zu organisieren.“ Die Basisgewerkschaften fordern hingegen mehr: Die USB ruft zu einem <a href="https://www.usb.it/leggi-notizia/coronavirus-usb-proclama-32-ore-di-sciopero-nei-settori-industriali-non-essenziali-fermare-le-fabbriche-garantire-la-salute-e-il-salario-1232.html">32-stündigen Streik</a> auf und fordert die „vorübergehende Unterbrechung aller industriellen Aktivitäten, mit Ausnahme derjenigen, die eng mit dem Kampf gegen die Pandemie verbunden sind.“ Der SI Cobas schließlich ruft zu <a href="http://sicobas.org/2020/03/11/italia-stato-di-agitazione-nazionale-su-tutte-le-categorie-coronavirus-situazione-insostenibile-in-migliaia-di-aziende/">sofortigen italienweiten Mobilisierungen und Arbeitsniederlegungen</a> in allen Kategorien aus und fordert die Einberufung eines Verhandlungstisches mit der Regierung und dem Arbeitsministeriums.</p><p>Die Krise des Coronavirus hat also den Interessenskonflikt zwischen Profitmaximierung seitens der Unternehmen und dem Gesundheitsschutz und der Jobgarantie seitens der Arbeiter*innen entblößt und verschärft. Der Gang der Arbeitsproteste bleibt offen, sicher ist nur eines: Die Arbeiter*innen haben es satt, die Krise sowohl mit ihrer Gesundheit als auch mit der Arbeitsplatzsicherheit und dem sozialen Schutz bezahlen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass die Arbeitskonflikte den Coronavirus bei weitem überleben werden.</p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Nicoletta Picchio, Imprese decisiva la continuità aziendale, ilsole24ore 12.03.2020, S.2.</p><p><b>[2]</b> Die aufgeführten Beispiele von Prekarisierung und Arbeitsniederlegung sind einerseits den <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/da-fincantieri-ad-amazon-stabilimenti-parte-protesta-la-sicurezza-ADl3DrC">Berichterstattungen von Tageszeitungen</a> und Gewerkschaften entnommen, andererseits handelt es sich um Dokumentationen des <a href="https://poterealpopolo.org/il-coronavirus-non-contagi-i-diritti-dei-lavoratori-parte-la-nostra-assistenza-telefonica/"><i>Roten Telefons</i> von <i>Potere al Popolo</i></a>, einem mit dem Ausbruch des Coronavirus aufgeschalteten Service. Das Rote Telefon ist eine Hotline, auf die Arbeiter*innen anrufen können, um Verstöße und fehlende Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu melden. Arbeitsrechtler*innen und Aktivist*innen von Potere al Popolo informieren darüber, was ein Unternehmen gesetzlich tun muss und wie die Arbeiter*innen sich organisieren und handeln können. Bisher wurden hunderte von Fällen dokumentiert.</p><p><b>Titelbild</b>: Die Basisgewerkschaft USB protestiert vor dem Ministerium für ökonomische Entwicklung.</p></div>
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<p>Das rote Telefon von Potere al Popolo</p>
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Ein Jahr rechtskonservative Regierung in Italien – es braucht Linke Antworten!2019-01-25T13:21:36.476955+00:002019-01-25T13:28:10.968340+00:00Maja Tschumiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-jahr-rechtskonservative-regierung-in-italien-es-braucht-linke-antworten/
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<h1>Ein Jahr rechtskonservative Regierung in Italien – es braucht Linke Antworten!</h1>
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<span class="content-copyright">Potere Al Popolo</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Ende November 2018 erließ die rechtskonservative Regierung Italiens ein Sicherheitsgesetz, das die Asylpolitik des südeuropäischen Landes umpflügte. Mit unerbittlicher Härte geht der neue Innenminister Matteo Salvini gegen Migrant*innen vor. Er schließt Häfen, schafft den humanitären Flüchtlingsstatus ab und schränkt die Aufenthaltsrechte ein. Europa soll bewiesen werden, dass Italien nicht mehr bereit ist, seine Rolle als Erstaufnahmeland im unausgewogenen Dublin-Abkommen zu übernehmen. Und die Migrant*innen zahlen den Preis dieser rassistischen Politik.</i></p><p><i>Für viele Arbeiter*innen war das Wahlversprechen eines Grundeinkommens des heute amtierenden Arbeitsministers Luigi Di Maio (Movimento Cinque Stelle, MS5) eine große Hoffnung. Er sicherte sich mit diesem Versprechen vor allem die Stimmen im armen Süden Italiens. Vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung und einem Budgetstreit mit der EU wird schnell klar, dass Di Maio sein Versprechen nicht halten kann und sich schon der nächste Angriff auf die Arbeitsbedingungen abzeichnet.</i></p><p><i>In dieser Gemengelage ist eine linke Opposition und die Verteidigung basaler Rechte der Migrant*innen und Arbeiter*innen unabdingbar. Doch auf parteipolitischer Ebene ist die Linke tot. Der Partito Democratico (PD) hat unter Matteo Renzis neoliberaler Agenda seine Glaubwürdigkeit bei der arbeitenden und jungen Bevölkerung seit langem verloren. Und weiter Links ist alles zersplittert. Deshalb war es in den letzten Wahlen der M5S, auf den die unteren Klassen setzten. Nach einem Jahr Koalitionsregierung von MS5 und LEGA ist aber auch diese Hoffnung enttäuscht. In dieser Wüste setzen einige auf die Bürgermeister aus Neapel, Palermo, Florenz und anderen Städten, die ihre oppositionelle Haltung gegen die Politik der Zentralregierung kundtun. Doch ihnen sind in vielen wichtigen Entscheidungen politisch und juristisch die Hände gebunden und ihre Opposition bleibt daher ein Lippenbekenntnis. Es sind vor allem die Basisbewegungen in den Städten, die für Veränderung kämpfen. Italien braucht eine neue Linke, das ist klar.</i></p><p><i>Bei den Wahlen am 4. März 2018 tauchte die neue kommunistische Bewegung Potere al Popolo (PaP) auf. Trotz magerem Wahlresultat ist sie unterdessen zu einer nationalen Bewegung angewachsen. Vor einem Jahr hat unsere Autorin Maja Tschumi mit dem Aktivisten Maurizio aus Neapel</i> <a href="https://revoltmag.org/articles/eine-radikale-linke-muss-im-sozialen-verankert-sein/"><i>über PaP gesprochen</i></a><i>.</i></p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Was ist unterdessen passiert? Wie sind die aktuellen politischen Verhältnisse in Italien aus linker und marxistischer Perspektive einzuschätzen und wie positioniert sich darin – strategisch und politisch – Potere al Popolo?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Das neue Sicherheitsdekret hat in Italien das Asylrecht stark angegriffen. Bisher gab es drei Wege für eine Person, in Italien Asyl zu beantragen: 1. der internationale Schutz, 2. der subsidiäre Schutz welcher dann vergeben wird, wenn zwar die persönlichen Verfolgungskriterien nach der Genfer Konvention nicht bestehen, jedoch dem*der Asylsuchenden im Herkunftsland ein schwerer Schaden drohen würde, und 3. der humanitäre Schutz. Der humanitäre Schutz wurde jenen gewährt, die zwar nicht beweisen konnten, dass sie persönlich verfolgt wurden, eine Rückführung in ihr Herkunftsland aber wegen Unzumutbarkeit der dortigen Lage oder eines fehlenden Rückführungsvertrages zwischen Italien und dem Herkunftsland unmöglich ist. Diesen humanitären Flüchtlingsstatus hat das neue Sicherheitsgesetz abgeschafft. Folglich werden rund 40'000 Geflüchtete diesen Status verlieren, und damit auch das Recht, in Notunterkünften zu wohnen und ihren Aufenthalt zu verlängern. Kurzum: sie werden obdachlos und illegalisiert.</p><p>Dem neuen Sicherheitsgesetz zufolge kann sich eine geflüchtete Person nur noch dann beim Einwohnermeldeamt einschreiben und also Residenz beantragen, wenn sie in einer Auffangstruktur lebt, den sogenannten SPRAR (Servizi Protezione Richiedenti Asilo e Rifugiati, deutsch: Dienste Schutz von Asylsuchenden und Geflüchtete) oder CAS (Centri di Accoglienza Straordinaria, deutsch: Zentren der außerordentlichen Zuflucht). Das schränkt den Bewegungsradius und den Handlungsspielraum dieser Menschen massiv ein.</p><p>Das Sicherheitsgesetz von Salvini betrifft aber nicht nur Migrant*innen, sondern auch die Rechte der italienischen Bevölkerung. So werden zum Beispiel Straßenblockaden im Rahmen politischer Demonstrationen künftig mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. Besetzungen von Häusern zu Wohnzwecken werden kriminalisiert.</p><p>Im Kontext der Schließung der Häfen für Flüchtlingsschiffe haben sich verschiedene Bürgermeister Italiens dem Sicherheitsgesetz politisch entgegengestellt und versuchen über gerichtliche Urteile das Gesetz auszuhebeln. Es sei verfassungswidrig und verstoße gegen die Menschenrechte. So zum Beispiel der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando vom PD und der Bürgermeister De Magistris von Neapel.</p><p>Das sind die Gründe, warum in linken Kreisen im Ausland das Bild der „rebellischen Bürgermeistern“ aufkommt, und dass die neue Opposition gegen die Zentralregierung also vor allem aus den Kommunen komme.</p><p>Natürlich sind die Bürgermeister auf diskursiver Ebene ein wichtiger Gegenpol zur rassistischen Rhetorik Salvinis. Doch Basisaktivist*innen in den jeweiligen Städten kämpfen schon seit Jahren gegen den politischen Unwillen der kommunalen Verwaltungen, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrant*innen und Geflüchteten zu verbessern. De Magistris aus Neapel hat schon zwei Mal mit der Ankündigung reagiert, den Hafen von Neapel für die Aquarius und die Sea Watch zu öffnen, doch konkret passierte nie etwas. Warum? Einerseits unterstehen die Häfen dem nationalen Infrastrukturministerium. Andererseits ist die Infrastruktur der Stadt heute nicht in der Lage, Geflüchtete aufzunehmen und ihnen eine Perspektive zu geben. De Magistris könnte allerdings mit einer einfachen kommunalen Weisung die Schwierigkeiten im Einwohnermeldeamt lösen, wo Migrant*innen immer noch diskriminierend behandelt werden und oft keine Residenz erhalten. Doch seine Politik hinkt auch hier weit hinterher. Die Glorifizierung des munizipalistischen Ansatzes der „rebellischen Bürgermeister“ macht deshalb meiner Meinung nach politisch wenig Sinn. Wichtiger ist es, die zivilgesellschaftliche Aktivierung, die eine solche Rhetorik tatsächlich ermöglicht, zu organisieren und gleichzeitig mit einer Kontrolle von unten die Missstände der kommunalen Politik und ihre Umsetzung in den öffentlichen Ämtern anzuprangern. Denn nach wie vor sind es in erster Linie die Basisbewegungen in den Städten, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Geflüchteten und Obdachlosen kämpfen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Kann man die Politik des Bürgermeisters Mimmo Lucano in Riace, der für seine Flüchtlingspolitik von der italienischen Regierung unter Hausarrest gestellt wurde, nicht als positives Beispiel verstehen?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In der Tat ist Riace ein Beispiel, dass die Möglichkeit einer anderen Migrations- und Zufluchtspolitik aufzeigt. Riace verfolgt allerdings ein Projekt in puncto Migrationspolitik, das bereits in den 90er Jahren entstanden ist. Mimmo Lucano ist ein Genosse, der seit Jahrzehnten die Flüchtlingspolitik anders prägte. Es begann mit der Aufnahme kurdischer Flüchtlinge. Aber auch die Politik Lucanos muss man in einem größeren Kontext verstehen. In vielen Dörfern Süditaliens gibt es praktisch keine Arbeit mehr und die Jungen wandern in den Norden des Landes aus. Viele Dörfer sind regelrecht vom Aussterben bedroht – so auch Riace. Diese andere Zuwanderungspolitik war und ist auch ein Weg, das Dorf wiederzubeleben. Das betrifft nicht nur eine andere Migrations- und Zufluchtspolitik, sondern auch die Frage der solidarischen Ökonomie. So hat Mimmo Lucano beispielsweise die lokale Müllabfuhr an eine lokale Kooperative vergeben – weit weg von krimineller Infiltration und multinationalen Interessen. Dafür wurde er dann auch gerichtlich verurteilt und kann zurzeit nicht in Riace leben. Es ist natürlich klar, dass es sich hier um einen Angriff auf das Modell Riace handelt.</p><p>In einem Interview hat Mimmo Lucano auch die Grenzen seiner Rebellion unterstrichen und ist in einer politischen Perspektive viel weitsichtiger als die meisten „rebellischen Bürgermeister“ und ihre Anhänger*innen. <a href="https://www.linkiesta.it/it/article/2019/01/07/mimmo-lucano-salvini-migranti-sea-watch-sea-eye-riace-sindaci-ribelli/40639/?fbclid=IwAR2dwcgE5gfFINv4icAjKfWAN3Tzfl1Xs2QrZAe5VKXLgo5Cc5T_R6Csel4">So äußerte Mimmo</a> unter anderem: „Die Unmenschlichkeit gewinnt immer mehr die Oberhand und Salvini ist nur die Spitze des Eisbergs einer abdriftenden Gesellschaft. Die rebellischen Bürgermeister repräsentieren einen Moment des Stolzes derjenigen, die sich weigern, Komplizen zu sein. Es reicht jedoch nicht, sich auf die Konfrontation zu beschränken: Wir müssen eine politische und soziale Opposition schaffen und uns nicht nur darauf beschränken, zu sagen, dass wir nicht einverstanden sind.“</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Potere al Popolo (PaP) ist ja gerade eine Organisation verschiedener Basisbewegungen, die in Neapel und anderen Städten Italiens aktiv sind. Am 4. März 2018 beteiligte sich PaP an den nationalen Wahlen. Wie hat sich die Bewegung seit dem März 2018 entwickelt? Was ist eure Antwort auf das Vakuum der Linken und die autoritäre Politik in Italien?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Nach dem 4. März dauerte es rund zwei Monate, bis die Regierung gebildet werden konnte. Sie war ein Kompromiss zwischen Di Maio (MS5, stärkste Partei) und Salvini (Lega, zweitstärkste Kraft). Meiner Meinung nach handelte es sich von Anfang an um einen wackligen Kompromiss: Die M5S war die Partei mit dem besten Wahlergebnis, doch Salvini und die Lega waren die tatsächlichen Gewinner, da sie von Beginn an den Takt vorgeben. Die anfängliche Dominanz des MS5 wurde durch eine zunehmende Dominanz der Lega und ihrem Aushängeschild, dem jetzigen Innenminister Salvini, abgelöst, der vor allem in Sachen Sicherheits- und Migrationspolitik die Stimmung anheizt. Die M5S wirkt dagegen wie ein Fähnchen im Wind und passt sich letztendlich sehr oft den Bedürfnissen der Lega an.</p><p>Das hat auch Konflikte innerhalb der M5S verstärkt, unter deren Banner auch „Linke“ organisiert sind und gewählt wurden. Tatsächlich hatten sich einige Parlamentarier*innen der M5S gegen das neue Sicherheitsgesetz aufgelehnt. Doch sie haben die parteiinterne Auseinandersetzung verloren und konnten nichts bewirken. Als dann aber nach langem Ringen im italienischen Parlament und auch zwischen der italienischen Regierung und der Europäischen Union Ende 2018 das Haushaltsbudget verabschiedet wurde, stellten sich erneut einige Parlamentarier*innen der M5S quer und stimmten dagegen. Fünf Senator*innen wurden aus dem MS5 ausgeschlossen und die Regierung hat im Senat nur noch eine knappe Mehrheit.</p><p>Die italienische Regierung ist also weit weniger stabil als sie nach außen den Eindruck vermitteln will. Es ist unklar, ob sie weitere vier Jahre durchhält.</p><p>Auch wenn PaP bei den nationalen Wahlen 2018 nur 1,1 Prozent geholt hat, ist dies in Anbetracht der jungen Existenz und des neuen Charakters von PaP ein zufriedenstellendes Resultat. PaP zeichnet sich durch einen doppelten Charakter aus. Das Projekt basiert auf den zahlreichen mutualistischen Solidarstrukturen in den italienischen Städten, in den Quartieren und Provinzen. Gleichzeitig versucht PaP ihr politischer Ausdruck und ihre politische Organisation auf nationaler Ebene zu sein. Eine Bewegung mit diesem Doppelcharakter aufzubauen ist eine große Herausforderung, aber in unseren Augen zurzeit die einzige Möglichkeit, in Italien eine legitime linke Alternative mit Klassencharakter aufzubauen. Das braucht Zeit, das braucht eine gute Verankerung in den Regionen, Gemeinden und Kommunen Italiens. Kurzum: es braucht eine stetige und langfristige Basisarbeit, eine „langsame Ungeduld“ wie das der verstorbene französische Philosoph und Kommunist Daniel Bensaïd bezeichnete.</p><p>Nachdem wir es am 4. März 2018 nicht ins Parlament geschafft haben – die Einstiegshürde liegt bei 3 Prozent – konzentrierten wir uns auf die Stärkung der territorialen Strukturen und auf den Aufbau einer handlungsfähigen politischen Organisation. Es gab es innerhalb von PaP zwei verschiedene Haltungen unserer „historischen Aufgabe“.</p><p>Auf der einen Seite gab es jene Kräfte, die PaP als Plattform oder Netzwerk ohne eigene Autonomie, sondern als Summe der bestehenden Organisationen (Ex Opg/Clash City Workers, Rete dei Comunisti/Eurostop, Rifondazione Comunista und Sinistra anticapitalista) verstanden. Dieser Position (Rifondazione Comunista, Sinistra Anticapitalista) zufolge sollten politische Entscheide weiterhin in den Organisationen diskutiert und unter dem Schirm von PaP zu einem Kompromiss gebracht werden. PaP dient ihnen zufolge als neues Sozialforum in der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung.</p><p>Auf der anderen Seite gab es jene Kräfte (Ex Opg/Clash City Workers, Rete dei Communisti/Eurostop), die sich darauf beriefen, dass PaP vor allem durch den Aufruf von Basisaktivist*innen entstanden ist, die bis dahin kein „politisches zu Hause“ hatten, weil sie sich nicht in der alten linken Politik und den alten linken Parteien Italiens wiedererkennen konnten. Diese Position versteht PaP als breites Netzwerk von Basisaktivist*innen und Basisbewegungen, die in einer Organisation zusammenkommen. Es geht ihnen darum, ein eigenes neues politisches Projekt aufzubauen mit eigenen politischen Strukturen und eigenen Entscheidungsgremien.</p><p>Infolge dieses Konflikts kam es zum Austritt von Rifondazione Comunista und Sinistra Anticapitalista. Dieser Austritt ist politisch nicht einfach zu verarbeiten, hat PaP meiner Meinung nach aber in Sachen politischer Klarheit auch gestärkt.</p><p>Seit gut drei Monaten haben wir nun eine nationale Koordination von 80 Personen, 60 davon sind Repräsentant*innen der territorialen Versammlungen und 20 sind Aktivist*innen, die PaP von Anfang an mitgeprägt haben. Die nationale Koordination trifft sich einmal pro Monat und diskutiert grundsätzliche politische Themen, Kampagnen und Mobilisierungen. Die Diskussionen werden dann in die territorialen Versammlungen zurückgetragen. Über zentrale Entscheidungen wird schließlich auf einer digitalen Plattform abgestimmt, zu der alle Mitglieder von PaP Zugang haben. Trotz einer gewissen Zentralisierung der Organisation behalten die territorialen Versammlungen viel politische Entscheidungsmacht.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Worin liegt die gewonnene politische Klarheit?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In den letzten 30 Jahren wechselten sich Mitte-Rechts und Mitte-Links-Regierungen ab und lieferten sich einen „Wettstreit“, wer die schwerwiegenderen, neoliberalen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter*innen umsetzen konnte. Heute ist das Wort „sinistra“ (links) in Italien derart ausgehöhlt, dass man sich nicht mehr darauf berufen kann, ohne in die gleiche Ecke gedrängt zu werden wie der Partito Democratico (PD), der historisch aus der Kommunistischen Partei Italiens gewachsen ist. Wir wollen gerade nicht die Scherben einer ehemaligen Linken zusammenkehren. Wir wollen eine politische Kraft sein, die sich entschieden gegen die herrschende Politik stellt und wieder eine kommunistische Gesellschaftsperspektive eröffnet. Dafür müssen wir auch das historische Versagen der Linken betonen und auf diese Bezeichnung verzichten.</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Ihr macht also wieder unter dem Begriff „ Kommunismus“ Politik.</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Natürlich ist im Jahre 2019 auch dieser Begriff nicht unproblematisch, wenn er nicht kontextualisiert und genau definiert wird. Wir sind gezwungen, einen ideologischen Kampf zu führen und dem Begriff einen klaren Inhalt zu geben: Kampf gegen soziale Ungleichheit, für eine menschliche Migrationspolitik, für die Stärkung der Rechte der Arbeiter*innen etc. Wenn es also darum geht sich zu positionieren, bezeichnen wir uns auf jeden Fall viel eher als Kommunist*innen, denn als Linke. Offen gesagt arbeiten wir aber auch mit diesem Begriff wenig nach außen hin. Wir versuchen uns eher auf unsere Basisaktivitäten zu konzentrieren und das ins Zentrum zu rücken, was wir täglich in unserer sozialen und politischen Arbeit tun.</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Was sind heute die zentralen politischen Themen von PaP?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Ausgehend von unserer alltäglichen Arbeit in den Regionen würde ich zusammenfassend drei Themen in den Vordergrund stellen.</p><p>Erstens die Umverteilung des Reichtums. Italien zeichnet sich durch eine unglaublich große Ungleichheit aus. Das gilt sowohl in Bezug auf soziale Klassen, als auch geografisch zwischen dem Norden und dem Süden. Umverteilungspolitik bedeutet in diesem Kontext z.B. eine progressivere Besteuerung von Kapitaleinkommen einzuführen, aber gleichzeitig auch Investitionen für den Ausbau sozialer Dienste, Infrastrukturen und ökologischen Industrien im Süden.</p><p>Zweitens die Stärkung der Arbeit und der Arbeiter*innenrechte. Seit Mitte der 80er Jahre hat die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen fast tatenlos der Deregulierung der Arbeit zugesehen, z.B. bei der Einführung des Jobs Act, d.h. der Flexibilisierung der Anstellungsbedingungen. Neben den Forderungen, die in den von uns unterstützten einzelnen Arbeitskämpfen formuliert werden – z.B. Kampf gegen die Externalisierung von öffentlichen Jobs, die Einschränkung der befristeten Arbeit, etc. – ist in unseren Augen folgende Forderung zentral: Weniger Arbeit für jeden Einzelnen, dafür sichere Arbeit für alle. Das scheint uns die einzig realistische Maßnahme zu sein gegen die Arbeitslosigkeit der Jugend, gegen die weit verbreitete Prekarität und Irregularität der Arbeit und gegen die stetige Erhöhung des Rentenalters.</p><p>Drittens setzen wir uns für eine solidarische und menschliche Migrations- und Zufluchtspolitik ein. Das bedeutet neben Fürsorge, die migrantischen Arbeiter*innen als Teil der Klasse zu verstehen und sich mit ihnen zu organisieren. Immigration und Emigration muss in Italien zusammen gedacht werden. Denn gerade der Süden Italiens erlebt eine massive Auswanderung von jungen Arbeiter*innen. In den letzten 15 Jahren haben zwei Millionen Menschen den Süden des Landes verlassen. Das sind durchschnittliche Zahlen, welche sogar diejenigen der großen Auswanderungswellen der Nachkriegszeit übertreffen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Du sprichst von Umverteilungspolitik. Inwiefern folgt ihr dabei einer kommunistischen – und nicht vielmehr reformistischen – Agenda? Denn eine Umverteilungspolitik zielt ja nicht in erster Linie auf die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ab.</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzuschaffen ist ganz klar unser Ziel. Doch auf den Tag X zu warten scheint uns politisch wenig interessant und noch weniger realistisch. Wenn wir zum Beispiel einen Streik mit der Forderung begleiten, dass wir die Produktionsverhältnisse abschaffen wollen, dann klingt das zwar ganz nett, geht aber kaum auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Streikenden ein. Es braucht Zwischenschritte, also eine Art Minimalprogramm, welches rund um die großen sozialen und politischen Themen entwickelt wird. Sowohl für die Arbeiter*innenbewegung wie auch für eine politische Organisation wie PaP ist es fundamental, „kleinere“ Kämpfe zu kämpfen, um überhaupt wieder die Perspektive zu erreichen, die Produktionsverhältnisse umstoßen zu können.</p><p>Ganz in der Tradition von Rosa Luxemburg würde ich behaupten, dass beide Kämpfe notwendig sind. Mit dem Kampf um demokratische Rechte und mit ihrer Ausübung können die Arbeiter*innen zum Bewusstsein ihrer Klasseninteressen kommen. Wir kommen nicht schrittweise, Reform für Reform, zur Revolution. Vielmehr sind diese Kämpfe und Kampagnen für uns die Möglichkeit von materiellen Verbesserungen für die Arbeiter*innen im Hier und Jetzt. Darüber hinaus sind sie ein Übungsfeld hinsichtlich Solidarität mit den Kämpfenden, Untersuchung zur Lage des sozialen und politischen Subjekts, Organisierung der Arbeiter*innen und Massen. Erst wenn wir Kämpfe kämpfen und gewinnen, wird eine revolutionäre Perspektive allgemein wieder erkennbar.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Wie schätzt ihr die aktuellen Arbeitspolitik von Di Maio ein und was ist eure Antwort darauf?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]</b>: Der Arbeitsminister Di Maio stammt selbst aus der Region um Neapel, und zwar aus Pomigliano d’Arco, einer ehemaligen Fiat-Hochburg. In den 80er und 90er Jahren erlebte Süditalien, das der Industrialisierung im Norden bereits hinterherhinkte, eine massive Deindustrialisierung. Wichtige Fabriken wurden abgebaut – Fiat auf Sizilien, Italsider im neapolitanischen Bagnoli, zahlreiche kleinere Produktionsstätten etc. Bis heute stagniert im Süden die ökonomische Entwicklung, obwohl in vielen Gebieten die Industrie durch Dienstleistungsbetriebe ersetzt worden ist. Doch in Call Centern beispielsweise ist die Arbeitsproduktivität niedriger und somit die Ausbeutung der Arbeitskraft größer. Tatsächlich herrschen dort haarsträubende Arbeitsbedingungen: unbefristete Verträge à gogo, extrem tiefe Löhne, teilweise 600 Euro für eine Vollzeitstelle, lange Arbeitszeiten.</p><p>Di Maio und mit ihm die MS5 haben die politische Hegemonie vor allem in Süditalien aufgebaut, unter anderem mit dem Versprechen eines Grundeinkommens (reddito di cittadinanza). Während des Wahlkampfs hieß das noch: jede*r Bürger*in erhält 780 Euro im Monat, unabhängig, ob er*sie arbeitet oder nicht. In Italien leben rund 1,8 Millionen arme Familien, das sind über 5 Millionen Menschen. Nach den Wahlen wurde schnell klar, dass dieses Versprechen mit dem gegebenen Haushaltsbudget nicht umsetzbar ist. Der Streit um das Haushaltsbudget und das Austeritäts-Diktat der Europäischen Union kam verschärfend hinzu. Das dafür versprochene Budget ist viel zu klein. Außerdem fehlt die Infrastruktur, d.h. die Arbeitsämter sind technologisch unterversorgt und personell unterbesetzt. Das führte zu zahlreichen Anpassungen, die die Idee eines Grundeinkommens pervertierten. Das <b>„</b>Grundeinkommen“, wie es schlussendlich gesetzlich verankert wurde, ist nun eine Finanzierung von privaten Unternehmen, da diese bei Anstellung einer arbeitslosen Person bis zu 18 Monaten in den Genuss von Steuererleichterung kommen. Es ist eine Art workfare Armenhilfe, weil es in das System der Sozialhilfe (reddito d'inclusione) integriert wird und die Armutsbetroffenen zwingt, jegliche Arbeit anzunehmen. Schließlich ist es diskriminierend gegenüber Migrant*innen, da sie erst nach 10 Jahren regulärem Aufenthalt eine Anfrage für das „Grundeinkommen“ einreichen können. Das ist eine Politik fürs Kapital, nicht für die Arbeiter*innen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Ein großes Problem im Süden ist auch die Schwarzarbeit. Gerade in der Landwirtschaft hören wir ja immer wieder von den sklavenartigen Arbeitsbedingungen für Migrant*innen...</b></p><p><b>Maurizio[PaP]:</b> Man muss differenzieren. In den urbanen Zentren und Städten sind es vor allem junge, gut ausgebildete italienische Arbeiter*innen in der Gastronomie und im Tourismus, die von Schwarzarbeit betroffen sind. Migrantischen Arbeiter*innen findet man eher im Bereich der privaten Hausarbeit (Arbeiter*innen aus Osteuropa, Bangladesch, Sri Lanka) und der Landwirtschaft (Arbeiter*innen aus Schwarzafrika). Schwarzarbeit ist in Italien also nicht ein spezifisch migrantisches Problem, sie betrifft alle Proletarisierten. Doch auf dem ausdifferenzierten und segregierten Arbeitsmarkt gibt es kaum Begegnungsmomente zwischen italienischen und migrantischen Arbeiter*innen im Produktionsprozess selbst – besonders im Süden. Für die Erarbeitung einer neuen solidarischen und antirassistischen Klassenpolitik und die Verbindung verschiedener Kämpfe ist das eine hohe Hürde. Wir sind überzeugt, dass es neue gewerkschaftliche Strukturen braucht, die nicht nur betrieblich, sondern territorial organisiert sind. Als politischen Organisation müssen wir Kämpfe verbinden und Orte schaffen, an denen sich Schwarzarbeiter aus verschiedenen Sektoren treffen und organisieren können.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Ist das nicht eben klassischerweise die Aufgabe von Gewerkschaften?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In Italien haben die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL, wie fast überall in Europa, an Legitimität verloren. Die verbleibenden Mitglieder sind mehrheitlich Rentner*innen. Das entspricht zwar dem Bild einer alternden Gesellschaft in Italien, es zeigt aber auch die Unfähigkeit der traditionellen Gewerkschaften, auf die aktuellen Probleme der Arbeiter*innen eine Antwort zu geben. In den letzten zehn Jahren sind daher die Basisgewerkschaften, wie beispielsweise die S.I. Cobas im Logistiksektor Norditaliens und die Unione sindacale di base USB auf den Feldern Süditaliens stärker geworden. Sie sind heute der eigentliche Ort der Organisierung der migrantischen Arbeiter*innen.</p><p>Junge Arbeiter*innen, die schwarz arbeiten, organisieren sich über die Strukturen von Basisbewegungen wie PaP. Die Anlaufstelle für Arbeiter*innen Camera Popolare del Lavoro z.B. verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wie die Basisgewerkschaften. Im letzten Jahr wurde eine Kampagne gegen Schwarzarbeit (v.a. in Tourismus und Gastronomie) gefahren. Diese erstreckte sich von Demonstrationen bis Arbeitsklagen. Die Forderungen drehten sich dabei meist um eine bessere Entlohnung, die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die Ausstellung eines Arbeitsvertrages und die systematische Bestrafung von Unternehmen, die Arbeiter*innen schwarz anstellen. Es handelt sich um wichtige Momente der Organisierung dieser neuen Formen der Arbeit.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Du hast vorhin die Klassenspaltung durch Rassismus angesprochen. Eine andere große Spaltung unter rechtskonservativen Regierungen ist der Angriff auf die Rechte, die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit von Frauen* in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz. Das Erstarken feministischer Bewegungen in den letzten Jahren zeigt, dass den feministischen Kämpfen im Kampf gegen rechtskonservative und autoritäre Tendenzen eine zentrale Rolle zukommt. Gibt es ein feministisches Programm bei PaP?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> PaP konzentriert sich im politischen Kampf stark auf die Rolle der Frauen*. PaP beteiligt sich an der Bewegung <i>Non una die meno</i> (dt. „Nicht eine weniger“), die neben Argentinien und Spanien auch in Italien sehr stark ist. <i>Non una di meno</i> ist keine homogene Bewegung. Unterschiedliche Sensibilitäten und theoretische Perspektiven sind darin enthalten. Wir versuchen die Perspektive zu stärken, die den feministischen Kampf mit dem Klassenkampf verbindet.</p><p>Politisch geht es darum, grundlegende Rechte der Frauen zu verteidigen, so beispielsweise das Abtreibungsrecht. Obwohl von Gesetzes wegen die öffentlichen Krankenhäuser eine Abtreibung vornehmen müssen, gibt es heute noch zahlreiche Ärzte, die sich aus moralischen Gründen weigern. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass solche medizinischen Eingriffe illegal und unkontrolliert gemacht werden – mit erhöhtem Risiko für die betroffenen Frauen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, da Italien im internationalen Vergleich bezüglich Lohnunterschieden zwischen Frauen* und Männern laut Gender Gab Report 2017 auf Platz 82 von 144 liegt. Im Jahr 2015 stand Italien noch auf Platz 50.</p><p>Die aktuelle Regierung betreibt eine Politik, die ideologisch das Bild der Frau* als Produzentin von Kindern und als dem Mann unterstellt stärkt. Es wurde mit dieser Regierung ein Ministerium für Familienpolitik gegründet und ein Gesetz verabschiedet, welches verheirateten Frauen* beim dritten Kind ein Stück Land zuweist. Diese sexistische und patriarchale Politik ist kaum zu übertreffen. Auch innerhalb der Organisation von PaP sollen Frauen* im politischen Prozess stärker werden. Frauen* sind nicht nur verschiedentlich ausgebeutet, sondern auch zunehmend Protagonist*innen von Kämpfen. Das ist wichtig zu betonen und sichtbar zu machen. Darum ist es für uns auch wichtig, dass Viola Carofalo als prekär arbeitende junge Frau aus dem Süden offizielle Sprecherin von PaP ist. Junge Frauen* sollen sich in unserer Organisation wiedererkennen können.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Habt ihr auch Kämpfe im Bereich Care-Arbeit?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Care-Arbeit ist nicht nur weiblich, sondern vorwiegend auch migrantisch. Die Kämpfe in diesem Bereich konzentrieren sich vorwiegend auf den Erhalt eines regulären Arbeitsvertrages, der Zugang zu einer geregelten Aufenthaltsbewilligung ermöglicht. Es handelt sich hier allerdings meist um individuelle Kämpfe, die keinen kollektiven Charakter haben. Eine Ausweitung der staatliche Alterspflege ist für uns Grundvoraussetzung, um die Rechte der Frauen* innerhalb der Familie und der Arbeit zu stärken. Denn in einem Land, in dem der „social welfare“ vorwiegend Familiensache ist, ist die Forderung nach geregelter Arbeit in diesem Bereich nicht nur eine soziale, sondern auch eine feministische Forderung.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Zu einem anderen Thema. PaP will sich an den kommenden Europawahlen am 26. Mai 2019 beteiligen. Warum? Wird dadurch nicht das Gewicht von der Basisarbeit erneut auf die politische Organisation verlagert?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Wir befinden uns zurzeit noch im Entscheidungsprozess über die Form, wie wir an den Europawahlen teilnehmen wollen. Zur Debatte steht, ob wir das als eigenständige politische Kraft, oder auf der Basis eines klaren politischen Programms in Koalition mit anderen politischen Gruppierungen und Personen machen. Dass wir kandidieren steht fest, auch wenn die Hürde hoch ist. In Italien müssen über 150'000 Unterschriften gesammelt werden, um zu den EU-Wahlen antreten zu können. Eine Wahlkampagne stellt für uns aber in erster Linie eine Möglichkeit dar, PaP in weiteren Kreisen bekannt zu machen und unsere Themen zu platzieren. Wir stellen fest, dass die Debatte um das Haushaltsbudget und die soziale Frage auch innerhalb der Arbeiter*innenschaft in Zusammenhang mit den Richtlinien der EU und ihrer Austeritätspolitik geführt wird.</p><p>Der aktuell herrschende Ultraliberalismus ruft nach autoritären Staaten, um seine Profitinteressen zu verteidigen. Der Europäismus, wie er von Merkel und Macron propagiert wird und der Souveränismus von Orban und Salvini sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich in dieser historischen Phase gegenseitig bedingen und befruchten. Die Dynamiken innerhalb der Konstituierung der Vereinigten Staaten Europas sind nicht linear, wir müssen ihre Komplexität fassen und daraus resultierend unsere Position formulieren. Drei Themen könnten dafür zentral sein:</p><p><i>Die Frage der Verschuldung und der Rückzahlung der Schulden.</i> Aus linker Perspektive gibt es auch in Italien die populistische Forderung des Italexit und der Schaffung einer Union der mediterranen Länder gegen das Diktat der starken Ökonomie Deutschland innerhalb der EU. Meiner Meinung nach wird aber das propagandistische Potential der Forderung nach einem EU-Austritt überbewertet. Die EU ist ein institutioneller Kontext, den Italien nicht einfach mit einem Nein umgehen kann. Wenn es nicht die EU-Institutionen sind, die Austeritätsprogramme durchboxen wollen, um die Schulden gegenüber den Banken zu zahlen, dann werden es andere internationale Institutionen wie der Internationalen Währungsfonds (IWF) sein. Ich finde es viel wichtiger den Slogan „Wir zahlen eure Schulden nicht“ stark zu machen und notfalls die EU zu zwingen, Italien aus der Union zu werfen. Das alles ist aber abhängig von der Kraft von progressiven sozialen und politischen Kräften innerhalb Italiens und Europas.</p><p><i>Die Fragen der Arbeit und der sozialen Rechte.</i> Der Arbeitsmarkt ist nicht mehr national, sondern zunehmend europäisch organisiert. Der Schengen-Raum ist jedoch kein homogener, sondern ein stark differenzierter Arbeitsmarkt, in dem unterschiedliche Grade der Ausbeutung vorherrschen. Das ist im Interesse aller Kapitalfraktionen innerhalb der EU. Wir müssen daher auch Kämpfe unterstützen und organisieren, die für die gleichen Rechte für alle Arbeiter*innen innerhalb der EU einstehen. Damit verbunden sind Fragen der Auslagerung von Arbeitsplätzen in die sogenannten Niedriglohnländer ebenso wie Solidarität mit Arbeitskämpfen in anderen EU-Ländern. Wenn es beispielsweise Arbeitskämpfe bei Fiat gibt, müssen wir politische Kontakte zu Arbeiter*innen und Organisationen in die Länder knüpfen, wo Fiat unterdessen auch noch produziert, um sie über die Kämpfe hier zu informieren. Auch die Frage der Garantie von sozialen Rechten ist grenzüberschreitend, also die Frage nach einem „europäischen Sozialstaat“, für den und in dem wir Kämpfe organisieren können.</p><p><i>Das Thema Migration.</i> Die Diskussion um die Zufluchtspolitik und gegen die Schließung der Häfen müssen wir meiner Meinung nach um das Argument ergänzen, dass Europa – vor allem in afrikanischen Ländern – das neokoloniales Interesse verfolgt, Ressourcen anzuzapfen und Investitionen zu erhöhen, um für das europäische Kapital neue Profitmöglichkeiten zu schaffen. Unter anderem vor diesem Hintergrund muss man auch die Idee der Schaffung einer europäischen Armee betrachten. Vor einigen Wochen hat Deutschland erklärt, man werde die Armee ausbauen, um künftig eine zentrale Rolle auch in einer potentiellen europäischen Armee zu spielen. Das ist ganz klar als imperialer Moment in Konkurrenz mit anderen Großmächten der Welt (China, Russland, USA) zu verstehen. Wir dürfen uns also in puncto Migration nicht auf den Kampf um die Rechte der Migrant*innen beschränken. Antimilitaristische und antiimperialistische Positionen sind genauso wichtig, um der Gegenüberstellung von liberaler Willkommenskultur vs. autoritärem „Hafen-Schliessen“ zu entkommen und die Diskussion wieder zu politisieren.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Was ist die Aufgabe im kommenden Jahr 2019?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Neben den EU-Wahlen bleibt es für uns sehr wichtig, die Balance aufrecht zu erhalten zwischen Basisarbeit und dem Aufbau von regionalen, mutualistischen Solidarstrukturen auf der einen Seite und der Stärkung einer von der Basisarbeit ausgehenden und handlungsfähigen politischen Organisation auf der anderen Seite. PaP darf sich nicht ausschließlich auf den Aufbau der politischen Organisation konzentrieren. Das birgt die Gefahr, sich von den Alltagskonflikten der Arbeiter*innen zu distanzieren. PaP soll vielmehr ein Instrument sein, um genau jenes soziale Terrain zurück zu erobern, welches die Linke in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Es ist also äußerst wichtig, dass PaP in den Bewegungen und der Lebens- und Arbeitsrealität der Proletarisierten verankert bleibt.</p></div>
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"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"2018-05-25T16:15:21.206577+00:002018-06-04T09:49:08.773361+00:00Maja Tschumi und Maurizioredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/eine-radikale-linke-muss-im-sozialen-verankert-sein/
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<span class="content-copyright">Potere al Popolo</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Die italienischen
Regierungswahlen in diesem Jahr haben den erwarteten starken
Rechtsrutsch in Italien bestätigt. Während den alten politischen
Parteien wie dem </i>Partito Democratico<i> (PD, zu diesem gehört
etwa der frühere Premier Matteo Renzi) und der </i>Forza Italia<i>
(der Silvio Berlusconi angehört) eine Absage erteilt wurde, erlebten
Proteststimmen wie die rassistische </i>Lega (ehemals Lega Nord<i> (LN)) im Norden
und die Populist*innen des </i>Movimento 5 Stelle<i> (M5S) einen massiven
Aufschwung. Mittlerweile ist klar, dass die M5S und die Lega die neue
Regierung bilden werden. Doch die bisher abgeschlossenen Verträge
zeigen kaum einen Bruch mit dem herkömmlichen Kurs des PD, sondern
lediglich eine Akzentuierung neoliberaler und repressiver Maßnahmen. Sie sind
weitaus nicht so antieuropäisch wie erwartet. Für die
Prekarisierten und auch die Arbeiter*innen so wichtige Wahlversprechen
wie die Rückgängigmachung des Jobs Act oder der Rentenreform werden
im Vertrag nicht erwähnt, ebenso wenig die Einführung des
Grundeinkommens (ein schillerndes Wahlversprechen der M5S). Nach
mehrmonatigen Verhandlungen stimmte nun Staatspräsident Sergio
Mattarella einem Vorschlag von M5S und Lega zu: Ministerpräsident
wird aller Voraussicht nach der Jurist Giuseppe Conte, ein der M5S
nahestehender Technokrat. Damit wird die dritte Republik eingeläutet.
Linke Ideen fanden bei diesen Wahlen wenig Ausdruck, auch ehemalige
linke Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Doch die aktuelle
politische Lage bringt auch neue linke Kräfte auf den Plan. Wir
führen unsere lose Reihe zu Italien fort und spüren diesen neuen
Gegenbewegungen nach. </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><i>Dazu zählt neue
kommunistische Bewegung </i><i>«Potere al
Popolo», die inzwischen italienweit aktiv ist. Der Impuls dazu
entstand bereits im Jahr 2014 in einem sozialen Zentrum in Neapel</i><i>
als eine Art Netzwerk von lokalen Basisinitiativen. Diese haben sich</i><i>
innerhalb des letzten Jahres national und international vernetzt und
der Zusammenschluss trat bei den Wahlen in Italien im März 2018 als
politische Bewegung an. Unsere Autorin Maja Tschumi hat mit dem
Aktivisten Maurizio aus Neapel über die Entwicklung der
kommunistischen Bewegung, über ihre Grundsätze, über Erfolge und
Herausforderungen und nicht zuletzt über die notwendigen Kämpfe
gesprochen, welche die junge Bewegung auch in Bezug auf die
erstarkenden neofaschistischen Kräfte in Italien vor sich hat</i><i>.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]: </b><i>Euch gibt es nun
seit knapp vier Jahren, bekannt wurde euer Name aber vor allem im
letzten halben Jahr.</i><b> </b><i>Welche
Vorgeschichte hat die kommunistische Bewegung «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Dazu müssen wir einige Schritte zurückgehen. Seit den 2000er Jahren befinden wir uns in Italien in bewegten, aber schwierigen
Zeiten. Die Krise der institutionellen Repräsentanz der
Linken gipfelte in den Ausschluss der letzten Kommunist*innen aus dem
Parlament im Jahr 2008. Die soziale Bewegung war trotz größeren
Mobilisierungen unfähig, Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse
abzuwehren. In diesen Jahren wurden die nationalen Tarifverträge
ausgehöhlt, der Kündigungsschutz aufgehoben, die Löhne eingefroren
und Formen prekärer Verträge, vor allem für junge Arbeiter*innen,
vervielfältigt. Nach und nach verlor die soziale Bewegung also an
Mobilisierungskraft, Demonstrationen verwandelten sich zu
ritualähnlichen Anlässen, an denen wir uns immer im engeren Kreis
wiederfanden. Dann, 2014, wurde rund um das Kollektiv «Clash City
Workers», das mit ihrem Buch «Dove sono i nostri» [1]
grundsätzliche Fragen innerhalb der sozialen Bewegung in Italien
hineintrug, ein erstes italienweites Netzwerk gegründet. Die soziale
Bewegung hatte sich vom politischen Subjekt verabschiedet, welches
der Motor der sozialen Veränderung sein kann. Für den größten
Teil der Bewegung wählte die Arbeiter*innenklasse rechts, in einigen
politischen Ansätzen gab es sozialen Klassen und daher den
Klassenkampf schon gar nicht mehr. Wir haben die Klassenfrage wieder
auf die Tagesordnung gebracht und starteten italienweite Treffen. In
der Folge lancierten wir einen Prozess, welcher ausgehend von der
Analyse der Zentralität des Klassenkonflikts zwischen Kapital und
Arbeiter*innen die politische Arbeit neu zu interpretieren versuchte:
Es ging nicht nur mehr darum, vor den Fabriktoren oder während
Demonstrationen mit einem Flugblatt zu erklären, was Ausbeutung ist
und wie wir darauf antworten müssen, sondern zu fragen, was die
aktuellen Bedürfnisse der sehr heterogenen Arbeiter*innenklasse sind,
zusammen mit Arbeiter*innen diese Fragen und Probleme zu diskutieren
und entsprechende Mobilisierungsmöglichkeiten zu finden. Denn auf
dem ganzen italienischen Territorium wird gekämpft, diese Kämpfe
bleiben aber territorial isoliert. Denken wir an die Kämpfe der
Logistikarbeiter*innen im Norden Italiens oder an die 25-jährige
Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon, NoTAV.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Das
heißt ihr habt versucht, die unterschiedlichen Kämpfe in Italien
wieder gemeinsam zu denken und zusammenzuführen. Wie war denn die
Lage in Neapel zu dieser Zeit?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Für
uns in Neapel war das Jahr 2015 ein wichtiges Jahr. Im März haben
wir, das sind die «Clash City Workers», zusammen mit dem
Studierendenkollektiv CAU und dem Schüler*innenkollektiv SAC, ein
ehemaliges psychiatrisches Gefängnis besetzt, welches seit
2007 leer stand: Das «Ex OPG». So
konnten wir einen qualitativen Sprung nach vorne machen. Wir hatten
nun einen Ort und eine Struktur zur Verfügung, auf deren Basis die
Aktivitäten in den Quartieren und mit den Arbeiter*innen zusammen
entwickelt werden konnten. Innerhalb von drei Jahren haben wir
zahlreiche soziale Aktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen
Hilfe (Mutualismus) vorangetrieben, welche jede Woche hunderte
Menschen zusammenbringen: vom medizinischen Ambulatorium zur
Anlaufstelle für Migrant*innen, von der proletarischen
Arbeiter*innenkammer zu kulturellen und Sportaktivitäten und vieles
mehr. [2].</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Im
November 2017 wurde «Potere al Popolo» dann als eine größere
politische Bewegung ins Leben gerufen, welche sich auf das Terrain
der Wahlen wagte. Was war die Ausgangslage für die Ausweitung zu
einer nationalen Bewegung?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Potere
al Popolo, verstanden als Zusammenschluss linker Organisationen und
Basisinitiativen, wurde auf der Basis der obengenannten Entwicklungen
geboren. Wir stehen vor massiven sozialen Problemen und Konflikten,
die organisiert bekämpft werden müssen. Die Arbeitsmarktreform Jobs
Act und die Bildungsreform «buona scuola» haben eine uferlose
Flexibilität eingeführt, vor allem für junge Arbeiter*innen, die
nun schon während der Schulzeit unentgeltet Praktikas in Betrieben
akzeptieren müssen; Schwarzarbeit ist mittlerweile zu einem
Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes geworden; jährlich <a href="http://banchedati.chiesacattolica.it/pls/cci_new_v3/V3_S2EW_CONSULTAZIONE.mostra_pagina?id_pagina=84393">migrieren
124.000 Italiener*innen ins Ausland</a>
(England, Deutschland, Schweiz die ersten Zielländer) [3], 40
Prozent davon sind 24- bis 34-jährige, 50 Prozent aus dem
«Mezzogiorno» (dem Süden Italiens). Täglich sterben drei
Arbeiter*innen am Arbeitsplatz und 1700 Arbeitsunfälle werden
gemeldet. Die Mitte-Links-Koalition (Partito Democratico, PD) sprang
schon vor Längerem auf den repressiven und fremdenfeindlichen Zug
einer rechtskonservativen Politik auf, links davon scheiterten alle
Versuche der Neuzusammensetzung einer alternativen politischen Kraft.
Daraufhin haben wir uns entschlossen, den Spieß umzudrehen: Wenn wir
– damit gemeint sind junge Männer, Frauen*, Prekäre – von
niemandem repräsentiert werden, warum repräsentieren wir uns nicht
einfach selbst und stoßen von den zahlreichen Basisinitiativen
ausgehend einen eigenen Organisierungsprozess an? Das war am 14.
November 2017. Nach einem entsprechenden Aufruf in den Sozialen
Medien versammelten sich nur vier Tage später, am 18. November 2017,
im «Teatro Italia» in Rom 800 Basisaktivist*innen aus ganz Italien,
um eine gemeinsame Perspektive und unsere Rolle bei den anstehenden
nationalen Wahlen zu diskutieren. Das war ein großer Erfolg und ein
deutliches Zeichen, dass wir mit unserer Einschätzung einen Nerv
getroffen haben.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Warum
der Name «Potere al Popolo»? Welche Rolle spielt darin die Idee
eines linken Populismus und welche Konnotationen hat der Begriff
«Popolo» in Italien?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> «Popolo»
ist sowohl ein soziologischer, als auch ein politischer Begriff.
Soziologisch entspringt er der aktuellen Analyse: Die nun seit über
zehn Jahren andauernde Krise und die politischen Antworten der
Bourgeoisie haben nicht nur die klassischen «proletarischen»
Arbeiter*innen empfindlich getroffen und in die Armut getrieben,
sondern auch Teile der Mittelschicht prekarisiert. Wir müssen also
die Neuzusammensetzung der Klasse auf der Basis dieser politischen
und ökonomischen Dynamiken fassen: Deindustrialisierungsprozesse,
prekäre Schwarzarbeit in den boomenden Sektoren (Tourismus,
Gastronomie, Hotelbranche, Call Center), Biographien zwischen
Arbeitslosigkeit, Stellensuche und prekären Jobs, ein massiver Abbau
sozialer Dienste, in erster Linie im Gesundheits- und Bildungssektor.
Politisch können wir uns nicht darauf beschränken, zum «klassischen
Proletariat» zu sprechen. «Popolo» integriert in dieser
Perspektive all diejenigen sozialen Subjekte, die als Arbeitslose,
Kleinhändler*innen, erwerbslose Hausarbeiterinnen etc. «proletarische
Existenzen» leben.
</p><p>
</p><p>Zudem
ist der Name Potere al Popolo historisch auf eine bestimmte
politische Tradition zurückzuführen. Wir denken da konkret an die
Erfahrungen der «Black Panther Party», welche die politische
Organisierung der schwarzen Bevölkerung in den USA und die soziale
Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zum Ziel hatte. Bekannt
wurden sie durch die Bilder von bewaffneten Männern in schwarzer
Lederjacke und Barett. Weniger bekannt sind ihre Basisaktivitäten –
die kostenlosen Frühstücke, welche sie den Armen verteilten, die
medizinischen Ambulatorien, die sie für die Communities aufbauten
oder auch die Alphabetisierungsprogramme für <i>Schwarze</i>. Sie gingen
also von konkreten sozialen Bedürfnissen von gesellschaftlich
Marginalisierten aus, um ihre sozialen Aktivitäten aufzubauen und
politische Organisierung vorzubringen. Wir befinden uns heute
natürlich in einer historisch total anderen Situation, doch wir
stellen fest, dass der freie Markt und der Staat immer mehr Menschen
vom sozialen Reichtum ausschliesst. Von diesen historischen
Erfahrungen gibt es also jede Menge zu lernen. Potere al Popolo
stellt sich in diese theoretische und politische Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Analyse habt ihr von der Linken Italiens – wo steht sie und warum
braucht es eine Bewegung wie «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Nicht
nur die italienische Linke, sondern die Linke <i>insgesamt</i>
hat in den letzten drei Jahrzehnten den Bezug zu den Ausgebeuteten
und Unterdrückten fast komplett verloren oder aufgegeben. Dies ist
unter anderem darauf zurückzuführen, dass linke Parteien
bürokratische Apparate geworden sind und sich viele politische
Aktivist*innen jenseits der konkreten Probleme der Arbeitenden
verstehen. Wir verstehen uns als einen Teil dieser sozialen Gruppe.
Wir arbeiten prekär und haben – mit oder ohne
Universitätsabschluss – kaum Zukunftsperspektiven. Im Süden
Italiens beträgt die Arbeitslosenquote unter 20-30jährigen im
Schnitt 36 Prozent, in gewissen Regionen sogar über 50 Prozent. Für
uns kann sich eine radikale Linke nur dann neu konstituieren, wenn
sie im Sozialen verankert ist. Das Prinzip, das wir hier verfolgen,
ist der Mutualismus. Dabei geht es uns um folgendes: Zu erforschen,
was die alltäglichen Probleme und Bedürfnisse der arbeitenden
Klasse sind, Formen der Organisierung zu finden, um diese Probleme
angehen zu können und über angemessene Mobilisierungsstrategien
kollektive Kämpfe zu starten – immer mit dem Ziel, unsere
existenziellen Bedürfnisse zu garantieren und zurück zu erkämpfen,
wo sie bedroht sind. Das geht von selbstverwalteten Kinderkrippen
über kulturelle und Sportangebote (Theater, Tanzkurse, Boxgym) bis
hin zu selbstorganisierten medizinischen Ambulatorien und «Camere
Popolari del Lavoro» (proletarische Arbeiter*innenkammern). Diese
Aktivitäten und Strukturen stellen eine Art «Trainingsorte» des
politischen Kampfes dar: Über die Mobilisierungen und Kämpfe wird
Partizipation, Organisierung und Selbstverwaltung geübt, evaluiert
und wenn möglich auf eine neue Ebene gehoben. Im Grunde genommen
machen wir aber nichts Neues, sondern knüpfen an die Tradition der
ersten sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen
Erfahrungen an, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts über
mutualistische Aktivitäten und in den von den Arbeiter*innen gebauten
«Case del Popolo» (Volkshäuser) breite Bewegungen zu organisieren
vermochten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>In
eurem Programm steht die «Verteidigung der Verfassung» an erster
Stelle. Ihr sprecht an verschiedenen Stellen immer wieder von
Demokratie – ist euer erklärtes Ziel nicht Sozialismus beziehungsweise
Kommunismus und eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Gesellschaft?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Unser Programm ist das Resultat
von Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen
Kräften, die sich in Potere al Popolo versammeln. Um den Bezug auf
die Verfassung zu verstehen, müssen drei Dinge erklärt werden:
Erstens geht die italienische Verfassung aus dem Partisanenkampf
gegen den Faschismus hervor, sie beinhaltete also historisch wichtige
Elemente für die Befreiung der Arbeiter*innenklasse. Zweitens ist der
Punkt zur Verteidigung der Verfassung in unserem Programm in einen
konkreten historischen Kontext zu setzen: Im Dezember 2016 wurde in
Italien ein Referendum gegen die Verfassungsreform gewonnen.
Ministerpräsident Matteo Renzi (PD) wollte das wenige Progressive,
was die Verfassung heute noch beinhaltet, auch noch verabschieden und
ein Präsidialsystem einführen, welches seine Macht noch mehr
zentralisieren sollte. Das Referendum wurde auch dank wichtigen
Mobilisierungen von unten gewonnen. Drittens könnte es zwar den
Anschein erheben, dass unsere Forderungen rund um die Verfassung uns
ausschliesslich in einem bürgerlich-demokratischen Rahmen situieren,
doch wir denken, dass im gegebenen historischen Kontext solche
Auseinandersetzungen und Mobilisierungen für ein größeres Stück
vom Kuchen als Sprungbrett dienen können, um sich die ganze Bäckerei
zu nehmen. Klar, wir stehen hier vor objektiven Grenzen des Kapitals,
in dieser Krisenzeit überhaupt was abgeben zu können. Doch (leider)
ist eine kommunistische Perspektive heute nicht erreichbar. Darum
sind intermediäre Auseinandersetzungen, Mobilisierungen und Kämpfe
notwendig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kämpfe für die
Erlangung von Arbeitsverträgen von illegalisierten Arbeiter*innen,
die Anerkennung des medizinischen Ambulatoriums von Seiten der
öffentlichen Gesundheitseinrichtungen etc. Kämpfe darstellen, dank
denen wir uns als Kommunist*innen wieder einen sozialen und
politischen Raum erarbeiten und Hoffnung und Begeisterung auslösen
können für größere Ziele. Ohne diese «Zwischenschritte» ist es
schwierig, eine kommunistische Perspektive zu denken. Denn wir stehen
auch vor kulturellen Schwierigkeiten: Wir werden tagtäglich medial
mit Nachrichten bombardiert, die die Klasse spalten und im
materiellen Leben die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine noch
nie dagewesene kapitalistische Konkurrenz beziehungsweise einen «Krieg unter
den Armen» stürzen. Wir müssen also auch einen Weg finden, mit
unseren Worten die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen.
Dazu gehört, aktuelle politische Diskurse aufzugreifen und eine
eigenständige Analyse und Antwort darauf zu geben. Nur so können
Mobilisierungen funktionieren und Kämpfe angestossen werden.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
versucht die Basisarbeit und den Straßenkampf mit der Teilnahme an
den Wahlen, das heißt einem Weg über die Institutionen, zu verbinden.
Welches sind die Hürden, die sich dabei stellen und wie habt ihr
vor, sie zu überwinden?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Entscheidung, als neue politische Kraft an den nationalen Wahlen im
März 2018 teilzunehmen, erlaubte uns, den im 2014 angestoßenen
Prozess der Vernetzung zu intensivieren und in ganz Italien
Basisversammlungen zu organisieren, an denen hunderte von
Aktivist*innen teilnahmen: Alte Genoss*innen, die aber seit Jahren
nicht mehr organisiert waren; junge Menschen, die sich zuvor noch nie
in einem Kollektiv organisiert hatten; Basisaktivist*innen, die sich
in den letzten zehn Jahren auf ihre sozialen Aktivitäten
fokussierten und nun mit Potere al Popolo eine politische Perspektive
wiederentdeckten. Von Anfang an pochten wir darauf, nicht einfach
eine neue Partei oder eine Wahlkoalition zu sein, die
Parlamentsmitglieder stellt, sondern diesen medialen Moment zu
nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktivitäten zu
richten, die im ganzen Land von Genoss*innen vorangetrieben werden.
Wir kritisieren dieses Modell der politischen Repräsentation
durchaus und halten trotz Teilnahme an den nationalen Wahlen an
dieser Kritik fest. Denn ohne Mobilisierungen und Anstöße von unten
ist es unmöglich, auch auf der Ebene der institutionellen
Repräsentanz Einfluss nehmen zu können. Die nationalen Wahlen
stellten für uns in erster Linie auch eine Möglichkeit dar, auf
einer nationalen Ebene sichtbar und hörbar zu werden und an Kraft zu
gewinnen. Von Anfang an war also klar, dass es nicht lediglich um die
Wahl von Potere al Popolo gehen kann und auf institutioneller Ebene
für die Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu
kämpfen. Viel zentraler war für uns der Versuch, das Vertrauen an
direkte und kollektive Aktionen zu stärken und dafür den Kontext
der nationalen Parlamentswahlen zu nutzen. Uns ist natürlich bewusst, dass dies Gefahren mit sich bringt und lediglich eine schöne
Absichtserklärung bleibt, wenn nicht weiterhin Basisarbeit in Form
von lokalen Organisierungen und Mobilisierungen geleistet wird. Für
uns sind die sozialen und mutualistischen Aktivitäten der einzige
Weg, um eine starke Bewegung aufzubauen.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Wer
wurde zur Kandidatur aufgestellt?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Kandidatinnen* und Kandidaten von Potere al Popolo waren territoriale
Aktivist*innen von allen politischen Strukturen. Es waren also nicht
große und bekannte Namen, sondern die entlassene Call-Center
Arbeiterin, die in den letzten 18 Monaten einen Arbeitskampf gegen
die Entlassung von 1666 Mitarbeitenden angeführt hat, Aktivist*innen
der NoTAV-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon,
Aktivist*innen der «Brigate di solidarietà attiva», welche sich vor
etwa acht Jahren gebildet haben, um während den Naturkatastrophen
wie Überschwemmungen oder Erdbeben direkte Hilfe zu leisten und so
weiter. Die Kandidat*innen waren also immer Ausdruck lokaler Kämpfe,
Mobilisierungen und Basisinitiativen. Damit wollten wir auch zeigen:
Politik ist nicht nur institutionelle Repräsentanz in Hemd und
Anzug, sondern auch Widerstand, sich die Hände schmutzig machen,
Hoffnung auf tatsächliche Veränderung, Enthusiasmus von unten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
seid ganz klar eine klassenkämpferische «Bewegung». Wie würdet
ihr die Klasse der Arbeiter*innen heute in Italien fassen?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
massive Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Rentenreform, welche
das Rentenalter erhöhte, die Schulreformen, welche immer mehr
junge Menschen in einen hochprekarisierten Arbeitsmarkt drängen, der
Ab- und Umbau des öffentlichen Gesundheitssystems (in zehn Jahren
sind alleine in der Stadt Napoli zehn Notfallstationen geschlossen
worden), ein Migrationssystem, welches vor allem im Süden des Landes
die informelle Arbeit aufbläst und vieles mehr haben sowohl die
soziale Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse, wie auch die
Widerstands- und Organisierungsformen verändert. Es ist kein Zufall,
dass beispielsweise die wichtigsten Mobilisierungen der letzten Jahre
in Sektoren organisiert wurden, in denen die migrantischen
Arbeiter*innen dominieren, nämlich in der Logistikbranche im Norden
und bei den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter*innen im Süden. Zudem
hat sich die Integration der jungen Arbeiter*innen in den Arbeitsmarkt
in den letzten Jahren verändert, Schwarzarbeit und Vertragslosigkeit
– obwohl schon seit jeher Strukturmerkmal des (süd-)italienischen
Arbeitsmarktes – haben sich weiter verbreitet und sind zur
Normalität geworden. Schliesslich werden ältere Arbeiter*innen, die
in den 1980er Jahren noch in den Genuss der erkämpften
Errungenschaften der 1970er Jahren kamen (automatische Lohnanpassung,
Kündigungsschutz, gute Renten) zunehmend prekarisiert. Das sind nur
einige Beispiele, welche die Dynamiken der Klassenzusammensetzung
abbilden. Die andere Seite der Medaille sind die neuen
Organisationsformen, die von der Klasse ausgehen. Dabei denken wir an
die vor wenigen Wochen gegründete <a href="https://www.facebook.com/ridersunionbologna/">Gewerkschaft
der <i>Riders</i></a>,
an die seit Jahren nun immer grössere Bedeutung der Basis- und an
den politischen Niedergang der konföderalen Gewerkschaften und so
weiter.</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Strategien verfolgt «Potere al Popolo» auf regionaler, nationaler
und internationaler Ebene? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b>
Kernpunkt unserer politischen Struktur sind die
territorialen Versammlungen, von denen in den letzten sechs Monaten
über 150 in ganz Italien entstanden sind. Die territorialen
Versammlungen sind offen, jede* und jeder kann seine Themen
einbringen. An den Versammlungen werden politische Analysen generiert
sowie Aktionen und Kampagnen organisiert. <a href="https://poterealpopolo.org/continuare-migliorare-crescere-sulle-prossime-tappe-di-potere-al-popolo/">Ende
Mai wird eine nationale Versammlung organisiert</a>,
bei der es um die Frage geht, wie wir uns in naher Zukunft national –
und international – organisieren und vernetzen wollen. Wir bestehen
darauf, dass überall «Case del Popolo» (Volkshäuser) nach dem
Vorbild der Besetzung Ex-OPG in Napoli entstehen sollen, in denen man
sich treffen kann, soziale Aktivitäten und Aktivitäten der
gegenseitigen Hilfe vorangetrieben, politische Kämpfe organisiert,
Solidarität in Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen erfahren
oder auch einfach eine soziale und politische Gemeinschaftlichkeit
gelebt werden kann. Wir wollen einen Ort schaffen, der sich auf
diskursiver und praktischer Ebene gegen einen individualisierten
Alltag zur Wehr setzt und antirassistische, antisexistische und
solidarische Beziehungen innerhalb der Klasse fördert und bewahrt.
Während der Wahlkampagne haben wir viele Kontakte im Ausland knüpfen
können. Es waren vorwiegend Auslanditaliener*innen, teils von der
alten Migration, proletarische Arbeiter*innen, die in den 1960er,
1970er migriert sind und in den Strukturen der damaligen
Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften eine «politische
Heimat» hatten, teils von der neuen Migration, also Junge, die nach
Abschluss ihres Studiums ausgewandert sind und heute entweder an
Universitäten Forschung betreiben, oder eben auch in den
italienischen Restaurants in der Küche oder als KellnerInnen
arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der Potere al Popolo-Kollektive
im Ausland ist also sehr heterogen, was wiederum den Reichtum dieser
Kollektive darstellt. Mittlerweile gibt es Potere al Popolo-Kollektive fast in jeder größeren europäischen Stadt. Ja, sogar in
Mexiko-City wurde ein Kollektiv gegründet. Diese Strukturen sind
natürlich fundamental für unsere internationalistische Perspektive.
Darüber hinaus sind wir international mit vielen Kollektiven,
Organisationen und Parteien einen Austausch getreten: Vom
Arbeiter*innenkollektiv «Berlin Migrant Strikers» über die antifa
Gruppe «antifascisti Bruxelles», die Rosa-Luxemburg-Stiftung bis
hin zu Parteien wie der Kommunistischen Partei Belgiens (PTB), La
France Insoumise (LFI), der katalanischen CUP oder der
brasilianischen Landlosenbewegung MST (movimento sem terra).
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Die
Wahlen selbst sind dann eher katastrophal zu Gunsten der Populist*innen des
MS5 und des rechts-konservativen und neofaschistischen Lagers
ausgefallen (eine </i><a href="https://revoltmag.org/articles/systemblockade-italien/"><i>Analyse
dazu</i></a><i> schrieb Raffaele
Traini für re:volt). In Napoli erreichte der MS5 sogar über 50
Prozent der Stimmen. Potere al Popolo erreichte 1,13 Prozent. Warum
konnten die Wähler*innen nicht mit linken Argumenten abgeholt werden? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es
wäre naiv gewesen zu denken, wir könnten mit einer kaum vier Monate
jungen politischen Bewegung ein besseres Resultat erreichen als wir
jetzt erreicht haben. Zudem haben wir eine starke mediale Marginalisierung
und Verdrehung erlebt. So wurden während der Wahlkampagne in
diversen Städten Treffen von neofaschistischen Gruppen wie CasaPound
oder Forza Nuova organisiert, wogegen auf Antira- und Antifa-Demonstrationen mobilisiert wurde. Die Zeitungen sprachen aber zum
Beispiel kaum von der großen Demonstration in Macerata Anfang
Februar, nachdem ein durchgeknallter <a href="https://revoltmag.org/articles/nicht-die-zeit-zu-schweigen-es-ist-die-zeit-des-widerstands/">Neofascho
auf sechs <i>Schwarze</i> Menschen</a>
schoss, an der über 20.000 Menschen teilnahmen und für die wir
tausende Aktivist*innen von Potere al Popolo aus ganz Italien
zusammenbringen konnten. Wenn über uns gesprochen wurde, dann nur in
einem Atemzug mit den «Extremen» von Rechts – der bekannte
Diskurs der «opposti estremismi». Für uns ist entscheidend, dass
wir in dieser kurzen Zeit eine mediale Präsenz über Italien hinaus
erreicht haben. In Italien haben uns fast 400.000 Personen gewählt,
in den Städten und Stadtteilen, in denen wir sozial und politisch
aktiv sind, haben wir bis zu 8 Prozent Stimmanteil geholt. Diese
Stimmen zeigen uns, dass wir weitermachen müssen und unsere
Forderungen auf offene Ohren stossen. Selbstkritik ist aber insofern
angebracht, als auch wir es nicht geschafft haben, bei den
Wähler*innen eine breite Sensibilität für linke Themen zu wecken.
Erstens haben wir die Populist*innen des M5S falsch eingeschätzt: Wir
dachten, sie hätten ihren Zenith erreicht und die linken Wähler*innen,
die bisher M5S wählten, kämen nun dank einem linken, alternativen
Angebot in unsere Reihen. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Die
M5S konnte ihren Wahlanteil vor allem im Süden massiv ausbauen, ohne
jedoch eine soziale Präsenz in den Territorien zu haben. Zweitens
haben wir es nicht vermocht, mit unseren Argumenten über den
traditionellen linken Wähler*innenanteil hinaus zu überzeugen und zu
mobilisieren. Wir müssen verstehen, warum das so ist und daran
arbeiten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Italien
nach den Wahlen. Was sind die Herausforderungen und wie geht es mit
Potere al Popolo weiter?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es gibt
drei große mittel- und langfristige Herausforderungen. Erstens muss
es uns gelingen, die vielen territorialen, sozialen und
mutualistischen Aktivitäten zu intensivieren, zu verallgemeinern und
zu organisieren. Nur so können wir die gesellschaftlichen und
politischen Konflikte auf die Spitze treiben und ausgehend von
lokalen Mobilisierungen eine nationale oder gar europaweite Bewegung
etablieren. Zweitens müssen wir die politische Schulung unserer
Aktivist*innen vorantreiben, um unsere Analyse- und
Interventionsinstrumente zu schärfen und für die
raschen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen «bewaffnet»
zu sein. Diesbezüglich sind wir mit anderen internationalen
Bewegungen im Kontakt, um von ihren Erfahrungen zu lernen, zum Beispiel mit
der Landlosenbewegung Brasiliens MST. Sie hat mit der Eröffnung
ihrer Schule «Florestan Fernandez» im
Jahre 2005 zu einer Verbindung von alltäglichem und politischem
Wissen beigetragen und so viele Aktivist*innen ausbilden können, die
langfristig im Kampf des MST engagiert sind. Trotz unterschiedlicher
historischer und sozioökonomischer Kontexte können wir davon viel
lernen. Drittens müssen wir uns eine organisatorische Struktur
geben, die über die einfache Summe vieler Kollektive und
Organisationen hinausgeht. Ein medizinisches Ambulatorium in Neapel
ist eine unmittelbare Antwort auf die Krise des Gesundheitssystems
der Stadt und eine proletarische Arbeiter*innenkammer kann
Arbeitsverträge für eine Gruppe von illegalisierten Arbeiter*innen
erkämpfen. Denn ohne die Strukturierung über ein Netzwerk hinaus
bleiben wir machtlos gegenüber den massiven Angriffen des Kapitals,
welche wir heute erleben. In diesen Herausforderungen und Prozessen
befinden wir uns im Moment.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Fußnoten:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1] Hier findet sich eine <a href="http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=36460">deutsche
Buchbesprechung</a> von Clash
City Workers, <i>Dove sono i nostri. Lavoro, classe e movimenti
nell’Italia della crisi, la casa usher</i>, Lucca 2014. 202
Seiten.</p><p>
</p><p>
</p><p>[2]
Als Mutualismus verstehen wir eine Methode, um das Politische und das
Soziale zu verbinden: Durch die Praxis der gegenseitigen Hilfe werden
Probleme identifiziert, konkrete Antworten von unten darauf gegeben
und durch kollektive Mobilisierungen und Kämpfe politisiert. Diese
Methode knüpft an die Erfahrungen der ersten sozialistischen
Bewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts an.</p></div>
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</article>
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