re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=5112018-10-24T15:53:01.201109+00:00Google Strikes Back2018-10-24T15:24:55.566952+00:002018-10-24T15:53:01.201109+00:00John Malamatinasredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/google-strikes-back/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Google Strikes Back</h1>
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<img alt="im geplanten sozialen zentrum" height="420" src="/media/images/google_campus_innen.45abd954.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p></p><p>Überraschung? Am Mittwochmorgen gab Google in einer
gemeinsamen <a href="https://www.betterplace.org/c/neues/uploads/haus.betterplace.org/pressemitteilung-das-haus.pdf">Pressemitteilung</a>
mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren betterplace und KARUNA bekannt, dass
doch alles anders werden soll im Umspannwerk im Reichenberger Kiez. Die 3.000
Quadratmeter, die mal der Google Campus werden sollten, werden ein „Haus für
soziales Engagement“. Google übergibt die Schlüssel und betterplace wird das
neue Projekt gemeinsam mit KARUNA leiten und das inhaltliche Programm
gestalten.</p><p></p><p></p><p>betterplace ist nach eigenen Angaben ein „gemeinnütziges
Kreuzberger Sozialunternehmen, das seit elf Jahren sozialen Akteur*innen dabei
hilft Gutes besser zu tun“ – sprich: Eine Internetplattform, die Fundraising
für soziale Projekte fördert. KARUNA Sozialgenossenschaft mit Familiensinn und
KARUNA Zukunft für Kinder und Jugendliche International e.V. sind gemeinnützige
NGOs, die vor allem die Inklusion von ausgegrenzten Jugendlichen, etwa durch
das Projekt MOMO – the Voice of disconnected youth, fördert. In der
Digitalisierung und der Kooperation mit Google sieht die Initiative laut ihrer
Mitteilung großes Potential, um soziale Probleme zu lösen.
</p><p>Wenn im Frühjahr 2019 das Projekt eröffnen wird, sollen
„gemeinnützige Organisationen, soziale Initiativen und engagierte Helfer*innen
gemeinsam neue Ideen entwickeln, voneinander lernen und Veranstaltungen für die
Community organisieren“, so der vielversprechende Teaser. Ist dieser
Geisteswandel ein Sieg der Proteste der vergangenen Monate? Ein näherer Blick
auf die Pressekonferenz lohnt, um das Vorhaben einzuordnen. </p>
<h2>„Licht am Ende des Tunnels“</h2>
<p>Die Show kann starten: Beim Akkreditierungsstand können zunächst
Bauhelm und Schutzschuhe für den späteren Rundgang abgeholt werden. Brezeln und
Mineralwasser stehen bereit, Informationsmaterial und Pressemappe werden verteilt
und die Podiumsteilnehmenden sitzen schon bereit. Das Dreiergespann scheint
perfekt eingespielt – Gutmenschen United; wichtig vor allem Lächeln und
obligatorische Selfies. Allen geht es prächtig.</p>
<p></p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
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<img alt="Pressekonferenz" height="1332" src="/media/images/pressekoferenz.original.jpg" width="1776">
</div>
<figcaption>
<p>Die Pressekonferenz: Alle so voll begeistert!</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Den Start der Runde macht Rowan Barnett, Vertreter von
Google for Startups. Erfreut vermeldet er, dass endlich Licht am Ende des
Tunnels zu sehen sei in der Auseinandersetzung der Firma mit dem Projekt Google
Campus in Kreuzberg. Google war es laut Barnett „von Anfang an wichtig, das
Projekt im Kiez sozial zu integrieren und einen Mehrwert für alle zu schaffen“.
Am Tag der offenen Tür konnte, „wer es <i>wirklich</i>
wollte, sich schon ein Bild davon machen“ – und hätte auch dort schon Jörg Richert von
KARUNA angetroffen. Was der Mehrwert für Kreuzberg sei, war die zentrale Frage der
Diskussionen der letzten Monaten mit sozialen und zivilgesellschaftlichen
Akteuren. Google Vertreter hätten dazu mehrmals „Cafés besucht, mit Nachbarn
gesprochen, mit Theatern Kontakt aufgenommen und mit der Politik und Wirtschaft
geredet“.</p>
<p>Die Proteste gegen den Google-Campus seien wahrgenommen
worden, heißt es. Daher wolle Barnett die wichtige Frage gleich vorweg
beantworten: Welche Rolle spielten die Proteste für die neue Entscheidung?
„Natürlich“ entscheiden Google und seine Partner selbst, erklärt er, aber es sei
wichtig gewesen, in Dialog mit der Community zu treten. „Leider sind die
Akteure des Protests nicht Teil des neuen Vorhabens“ konstatiert er gleich
darauf mit gespieltem Bedauern. Aber die Zeit wurde genutzt um das Feedback
auszuwerten: Die spontane Nutzung der Räume sei wichtig und es soll ein Ort für
Synergien und Innovation sein.</p>
<p>Was Google nun mit dem neuen Projekt zu tun habe? Unter dem Satz „Wir stellen nur die
Räume und die Infrastruktur!“ kommt einiges zusammen: 14 Millionen Euro sollen
in den Umbau, die Miete und Nebenkosten sowie neue Möbel fließen. Direkte
Geldtransfers an die neuen Betreiber sind nicht vorgesehen. Das ganze Projekt
soll fünf Jahre bis 2023 laufen. Danach ist offen, wie es weitergeht.</p>
<h2>„Übergabe an die neue Hausherrin“</h2>
<p>Mit diesem Satz übergibt Google das Mikro und die Schlüssel
des Projekt an Carolin Silbernagl von betterplace. Es sei wirklich schwer,
meint diese, über so einen Raum zu sprechen, „weil so viele wunderbare
Möglichkeiten bestehen!“. In den 3.000 qm sollen Klassen- und Workshopräume für
20-50 Leute entstehen, Kongressräume für bis zu 200 Teilnehmer*innen sowie
weitere flexible Arbeits- und Aufenthaltsräume, in denen gemeinsam soziale
Projekte ausgearbeitet werden. Auch in der Pause soll diskutiert und
nachgedacht werden: Ein Café mit einer langen Tafel mit 25 Sitzen soll das
möglich machen. Es soll nicht nur nebeneinander, sondern miteinander gearbeitet
werden!</p>
<p>Die geplante Begegnungsstätte für die Zivilgesellschaft soll
eine Antwort auf die zunehmende Gentrifizierung und Verteuerung der Stadt sein:
„Wer innerhalb des S-Bahn-Rings aktiv sein möchte, muss oft 10.000 Euro Miete
hinblättern“. Das Projekt entstehe inmitten großer ökologischer und sozialer
Herausforderungen und das Engagement sei wichtig für die soziale Veränderung
und eine nachhaltige Wirtschaftlichkeit.</p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
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<img alt="baupläne soziales zentrum" height="1332" src="/media/images/das_neue_soziale_zentrum.original.jpg" width="1776">
</div>
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<p>Die Baupläne der geplanten Begegnungsstätte</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Wer über die Nutzung der Räume entscheide, fragt ein Journalist. „Wir werden
zweigleisig fahren“ antwortet Silbernagl und führt aus: Erstens werde die
Nutzung nach dem Prinzip „first come, first serve“ über das Internet verteilt,
mit dem Kriterium, das breite soziale Engagement vielfältig abzubilden. Und
zweitens werden die Partnerorganisationen selber moderierend Themen setzten und
Akteure von Außerhalb einladen.</p><h2>„Dies ist die zweite Besetzung. Darf ich die Besetzer
fotografieren?“?</h2>
<p>Mit diesem … Witz ist der nächste Sprecher, Jörg Richert von
KARUNA, schon kurz vor offiziellem Beginn der Pressekonferenz aufgefallen.
Richert ist stolz auf die neue Entwicklung und äußert einen großen Dank an
Google für diese Chance. Aber die Lösung mache ihn nicht 100 Prozent zufrieden:
„Wenn ich ehrlich bin, wollten wir Google dabei haben. Keine Separation,
sondern gemeinsam arbeiten. Respekt vor Google für die Entscheidung aber
gleichzeitig ein weinendes Auge“. Die Genossenschaft KARUNA wird gemeinsam mit
der Jugendinitiative MOMO einziehen und möchte viele soziale Projekte, vor
allem auch für Jugendliche und Schüler*innen möglich machen.</p>
<p>Darunter fällt auch Richerts Lieblingsprojekt: „Eine
Buslinie für Obdachlose, die von hier aus los gehen soll!“ Wohin, bleibt
unklar. Allgemein sei er aber nicht optimistisch, was den Kampf gegen
Gentrifizierung angehe. Aber es sei wichtig, die lange Kausalkette zu den
Gründen der Verteuerung zu verstehen und die Diskussion, wie angestoßen von
Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Elke Breitenbach, weiter zu
verfolgen. Dann durfte eine (namentlich nicht genannte) Vertreterin von MOMO
kurz das Projekt vorstellen. Die Quintessenz: Nur Tech-Unternehmen scheinen
aktuell in der Lage zu sein, auf die historischen Umbrüche antworten zu können.
Aber es könne nicht sein, dass nur ein Akteur das macht und Kooperationen oft
Lippenbekenntnisse sind. Es brauche einen multiperspektivistischen Weg. Und
diesen könne das neue Haus bieten.</p>
<p>Die Fragerunde im Anschluss ist unergiebig. Es werden keine wirklichen
kritischen Fragen gestellt, außer der, ob Google nach den fünf Jahren komplett
aussteige. Dies würde erst nach dem „Fünf-Jahresplan, bekannt von der DDR“
(allgemeines Gelächter) evaluiert, antwortet Richert. Kurz vor dem Ende der
Pressekonferenz erinnert der Google Vertreter die Moderation, dass unbedingt
der Baucontainer angesprochen werden soll. Ab Mitte November soll ein
Baucontainer außerhalb der Räumlichkeiten den Kontakt mit dem Kiez ermöglichen:
Jeden Mittwoch von 14:00-16:00 Uhr und Freitag von 10:00-12:00 Uhr solle der „Sprechcontainer“
verschiedene Aktivitäten anbieten. </p></div>
</section>
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<figure class="content-image">
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<img alt="Neue Baustelle" height="960" src="/media/images/google_campus.original.jpg" width="720">
</div>
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<p>Gutgelaunte Projektbeteiligte und der Soziale Container</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p><p>Beim anschließenden Rundgang erklären Silbernagl und Richert
mit Hilfe der jeweiligen Projektleiter*innen den Umbau und zukünftige Nutzung
der Räume. Gezeigt wird, wo der Empfang, das große Auditorium oder die
Workshopräume sein werden. Im Untergeschoss sei ein Herz- und Schmuckstück des
Hauses, der sogenannte „Prinzessinnengarten“, ein Wintergarten, der als
halb-offener Bereich dienen soll. Unter anderem soll das Projekt „Music for
good“, das Musikevents für gute Zwecke anbietet, hier angesiedelt sein.</p>
<p>Auch der soziale Baucontainer wird beim Rundgang besichtigt.
Er befindet sich innerhalb der Umzäunung des Geländes, der direkte Zugang ist
noch etwas schwer. Es bleibt abzuwarten, ob die Bevölkerung diesen abgezäunten
Baucontainer umarmen wird. Richert witzelt, er würde daneben seine Hängematte
aufhängen. Vielleicht hilft das ja.</p><h2>Alles anders? Wirklich? Das Mikro geht an die Bewegung</h2>
<p>Spaß beiseite. Google und seine Partner haben ihre Zeit wohl
wirklich geschickt genutzt und lancieren ein soziales Gegenprojekt – ein Haus
für soziales Engagement „für alle“. Wer sich aber ein offenes und gemütliches
soziales Zentrum zum abhängen, selbstorganisiert aktiv werden oder auch nur kiffen
darunter vorstellt, liegt falsch. Dort soll gearbeitet werden. Und diese Arbeit
soll ausgelebt und gefeiert werden: Die Grenzen zur Freizeit sollen weiter
verblassen. Dort soll „gesunde“, aber sicherlich keine direkte Demokratie
praktiziert werden.</p>
<p> Die Proteste gegen den Google-Campus waren und sind damit aber
auch weiterhin erfolgreich: Sie haben Google mit seinem gesamten Beraterstab
gezwungen, diese Proteste ernst zu nehmen und sich einen Alternativweg zu
überlegen. Zwar wird in längerer Frist die Start-Up-Kultur doch Eingang in
Kreuzberg finden – aber auf Umwegen, bei denen wiederum immer wieder neue
Widerstände entwickelt werden können. Die Taktik von Google erinnert an das
bekannte „Greenwashing“ anderer sozialer Projekte und Initiativen in der
Vergangenheit. An dieser Stelle sollte auch an die Ankündigung von Amazon in den USA vor wenigen Tagen erinnert werden, den Mindestlohn für seine Mitarbeiter auf 15 Dollar zu erhöhen – eine Antwort auf die breite Kritik –, ohne dabei zu erwähnen, dass Boni und andere Extras womöglich gestrichen werden. Die Nerds und Geeks aus Silicon Valley sehen sich als die ultimativen Weltverbesserer und Anführer einer breiten sozialen Veränderung auf neoliberale Art.</p><p>Die Vereinnahmung von Protest durch eine Alternative, bei der die
Zivilgesellschaft eingeweiht ist, ist dabei keine Innovation. Aber es ist eine
Chance: Vom Etappensieg aus hin zu einer weiteren und breiteren
Auseinandersetzung gegen Gentrifizierung, Verwertung und sozialen Ausschluss.
Die Lösungen von oben werden nie die unsere sein. Aber diese Weisheit reicht
nicht aus – sondern muss auf der Strasse und den Kiezen bestätigt werden. Und
diese Diskussion soll <a href="https://www.facebook.com/TOPB3rlin/photos/a.10152203242170256/10156588489390256/?type=3&theater">laut
TOP B3rlin</a>, einer Gruppe die mit dem Projekt
"Communist Counter Campus" gegen Google in den letzten Monaten aktiv
war, schon heute Abend beginnen.</p></div>
</section>
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<figure class="content-image">
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<img alt="TOP B3RLIN Ankündigung" height="683" src="/media/images/top_berlin.original.jpg" width="541">
</div>
<figcaption>
<p>✔️Google Campus verhindert ✖️Google enteignet ✖️Kommunismus</p>
</figcaption>
</figure>
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<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
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"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"2018-05-25T16:15:21.206577+00:002018-06-04T09:49:08.773361+00:00Maja Tschumi und Maurizioredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/eine-radikale-linke-muss-im-sozialen-verankert-sein/
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<h1>"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"</h1>
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<img alt="Potere al Popolo" height="420" src="/media/images/potere_popolo.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Potere al Popolo</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Die italienischen
Regierungswahlen in diesem Jahr haben den erwarteten starken
Rechtsrutsch in Italien bestätigt. Während den alten politischen
Parteien wie dem </i>Partito Democratico<i> (PD, zu diesem gehört
etwa der frühere Premier Matteo Renzi) und der </i>Forza Italia<i>
(der Silvio Berlusconi angehört) eine Absage erteilt wurde, erlebten
Proteststimmen wie die rassistische </i>Lega (ehemals Lega Nord<i> (LN)) im Norden
und die Populist*innen des </i>Movimento 5 Stelle<i> (M5S) einen massiven
Aufschwung. Mittlerweile ist klar, dass die M5S und die Lega die neue
Regierung bilden werden. Doch die bisher abgeschlossenen Verträge
zeigen kaum einen Bruch mit dem herkömmlichen Kurs des PD, sondern
lediglich eine Akzentuierung neoliberaler und repressiver Maßnahmen. Sie sind
weitaus nicht so antieuropäisch wie erwartet. Für die
Prekarisierten und auch die Arbeiter*innen so wichtige Wahlversprechen
wie die Rückgängigmachung des Jobs Act oder der Rentenreform werden
im Vertrag nicht erwähnt, ebenso wenig die Einführung des
Grundeinkommens (ein schillerndes Wahlversprechen der M5S). Nach
mehrmonatigen Verhandlungen stimmte nun Staatspräsident Sergio
Mattarella einem Vorschlag von M5S und Lega zu: Ministerpräsident
wird aller Voraussicht nach der Jurist Giuseppe Conte, ein der M5S
nahestehender Technokrat. Damit wird die dritte Republik eingeläutet.
Linke Ideen fanden bei diesen Wahlen wenig Ausdruck, auch ehemalige
linke Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Doch die aktuelle
politische Lage bringt auch neue linke Kräfte auf den Plan. Wir
führen unsere lose Reihe zu Italien fort und spüren diesen neuen
Gegenbewegungen nach. </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><i>Dazu zählt neue
kommunistische Bewegung </i><i>«Potere al
Popolo», die inzwischen italienweit aktiv ist. Der Impuls dazu
entstand bereits im Jahr 2014 in einem sozialen Zentrum in Neapel</i><i>
als eine Art Netzwerk von lokalen Basisinitiativen. Diese haben sich</i><i>
innerhalb des letzten Jahres national und international vernetzt und
der Zusammenschluss trat bei den Wahlen in Italien im März 2018 als
politische Bewegung an. Unsere Autorin Maja Tschumi hat mit dem
Aktivisten Maurizio aus Neapel über die Entwicklung der
kommunistischen Bewegung, über ihre Grundsätze, über Erfolge und
Herausforderungen und nicht zuletzt über die notwendigen Kämpfe
gesprochen, welche die junge Bewegung auch in Bezug auf die
erstarkenden neofaschistischen Kräfte in Italien vor sich hat</i><i>.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]: </b><i>Euch gibt es nun
seit knapp vier Jahren, bekannt wurde euer Name aber vor allem im
letzten halben Jahr.</i><b> </b><i>Welche
Vorgeschichte hat die kommunistische Bewegung «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Dazu müssen wir einige Schritte zurückgehen. Seit den 2000er Jahren befinden wir uns in Italien in bewegten, aber schwierigen
Zeiten. Die Krise der institutionellen Repräsentanz der
Linken gipfelte in den Ausschluss der letzten Kommunist*innen aus dem
Parlament im Jahr 2008. Die soziale Bewegung war trotz größeren
Mobilisierungen unfähig, Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse
abzuwehren. In diesen Jahren wurden die nationalen Tarifverträge
ausgehöhlt, der Kündigungsschutz aufgehoben, die Löhne eingefroren
und Formen prekärer Verträge, vor allem für junge Arbeiter*innen,
vervielfältigt. Nach und nach verlor die soziale Bewegung also an
Mobilisierungskraft, Demonstrationen verwandelten sich zu
ritualähnlichen Anlässen, an denen wir uns immer im engeren Kreis
wiederfanden. Dann, 2014, wurde rund um das Kollektiv «Clash City
Workers», das mit ihrem Buch «Dove sono i nostri» [1]
grundsätzliche Fragen innerhalb der sozialen Bewegung in Italien
hineintrug, ein erstes italienweites Netzwerk gegründet. Die soziale
Bewegung hatte sich vom politischen Subjekt verabschiedet, welches
der Motor der sozialen Veränderung sein kann. Für den größten
Teil der Bewegung wählte die Arbeiter*innenklasse rechts, in einigen
politischen Ansätzen gab es sozialen Klassen und daher den
Klassenkampf schon gar nicht mehr. Wir haben die Klassenfrage wieder
auf die Tagesordnung gebracht und starteten italienweite Treffen. In
der Folge lancierten wir einen Prozess, welcher ausgehend von der
Analyse der Zentralität des Klassenkonflikts zwischen Kapital und
Arbeiter*innen die politische Arbeit neu zu interpretieren versuchte:
Es ging nicht nur mehr darum, vor den Fabriktoren oder während
Demonstrationen mit einem Flugblatt zu erklären, was Ausbeutung ist
und wie wir darauf antworten müssen, sondern zu fragen, was die
aktuellen Bedürfnisse der sehr heterogenen Arbeiter*innenklasse sind,
zusammen mit Arbeiter*innen diese Fragen und Probleme zu diskutieren
und entsprechende Mobilisierungsmöglichkeiten zu finden. Denn auf
dem ganzen italienischen Territorium wird gekämpft, diese Kämpfe
bleiben aber territorial isoliert. Denken wir an die Kämpfe der
Logistikarbeiter*innen im Norden Italiens oder an die 25-jährige
Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon, NoTAV.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Das
heißt ihr habt versucht, die unterschiedlichen Kämpfe in Italien
wieder gemeinsam zu denken und zusammenzuführen. Wie war denn die
Lage in Neapel zu dieser Zeit?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Für
uns in Neapel war das Jahr 2015 ein wichtiges Jahr. Im März haben
wir, das sind die «Clash City Workers», zusammen mit dem
Studierendenkollektiv CAU und dem Schüler*innenkollektiv SAC, ein
ehemaliges psychiatrisches Gefängnis besetzt, welches seit
2007 leer stand: Das «Ex OPG». So
konnten wir einen qualitativen Sprung nach vorne machen. Wir hatten
nun einen Ort und eine Struktur zur Verfügung, auf deren Basis die
Aktivitäten in den Quartieren und mit den Arbeiter*innen zusammen
entwickelt werden konnten. Innerhalb von drei Jahren haben wir
zahlreiche soziale Aktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen
Hilfe (Mutualismus) vorangetrieben, welche jede Woche hunderte
Menschen zusammenbringen: vom medizinischen Ambulatorium zur
Anlaufstelle für Migrant*innen, von der proletarischen
Arbeiter*innenkammer zu kulturellen und Sportaktivitäten und vieles
mehr. [2].</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Im
November 2017 wurde «Potere al Popolo» dann als eine größere
politische Bewegung ins Leben gerufen, welche sich auf das Terrain
der Wahlen wagte. Was war die Ausgangslage für die Ausweitung zu
einer nationalen Bewegung?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Potere
al Popolo, verstanden als Zusammenschluss linker Organisationen und
Basisinitiativen, wurde auf der Basis der obengenannten Entwicklungen
geboren. Wir stehen vor massiven sozialen Problemen und Konflikten,
die organisiert bekämpft werden müssen. Die Arbeitsmarktreform Jobs
Act und die Bildungsreform «buona scuola» haben eine uferlose
Flexibilität eingeführt, vor allem für junge Arbeiter*innen, die
nun schon während der Schulzeit unentgeltet Praktikas in Betrieben
akzeptieren müssen; Schwarzarbeit ist mittlerweile zu einem
Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes geworden; jährlich <a href="http://banchedati.chiesacattolica.it/pls/cci_new_v3/V3_S2EW_CONSULTAZIONE.mostra_pagina?id_pagina=84393">migrieren
124.000 Italiener*innen ins Ausland</a>
(England, Deutschland, Schweiz die ersten Zielländer) [3], 40
Prozent davon sind 24- bis 34-jährige, 50 Prozent aus dem
«Mezzogiorno» (dem Süden Italiens). Täglich sterben drei
Arbeiter*innen am Arbeitsplatz und 1700 Arbeitsunfälle werden
gemeldet. Die Mitte-Links-Koalition (Partito Democratico, PD) sprang
schon vor Längerem auf den repressiven und fremdenfeindlichen Zug
einer rechtskonservativen Politik auf, links davon scheiterten alle
Versuche der Neuzusammensetzung einer alternativen politischen Kraft.
Daraufhin haben wir uns entschlossen, den Spieß umzudrehen: Wenn wir
– damit gemeint sind junge Männer, Frauen*, Prekäre – von
niemandem repräsentiert werden, warum repräsentieren wir uns nicht
einfach selbst und stoßen von den zahlreichen Basisinitiativen
ausgehend einen eigenen Organisierungsprozess an? Das war am 14.
November 2017. Nach einem entsprechenden Aufruf in den Sozialen
Medien versammelten sich nur vier Tage später, am 18. November 2017,
im «Teatro Italia» in Rom 800 Basisaktivist*innen aus ganz Italien,
um eine gemeinsame Perspektive und unsere Rolle bei den anstehenden
nationalen Wahlen zu diskutieren. Das war ein großer Erfolg und ein
deutliches Zeichen, dass wir mit unserer Einschätzung einen Nerv
getroffen haben.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Warum
der Name «Potere al Popolo»? Welche Rolle spielt darin die Idee
eines linken Populismus und welche Konnotationen hat der Begriff
«Popolo» in Italien?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> «Popolo»
ist sowohl ein soziologischer, als auch ein politischer Begriff.
Soziologisch entspringt er der aktuellen Analyse: Die nun seit über
zehn Jahren andauernde Krise und die politischen Antworten der
Bourgeoisie haben nicht nur die klassischen «proletarischen»
Arbeiter*innen empfindlich getroffen und in die Armut getrieben,
sondern auch Teile der Mittelschicht prekarisiert. Wir müssen also
die Neuzusammensetzung der Klasse auf der Basis dieser politischen
und ökonomischen Dynamiken fassen: Deindustrialisierungsprozesse,
prekäre Schwarzarbeit in den boomenden Sektoren (Tourismus,
Gastronomie, Hotelbranche, Call Center), Biographien zwischen
Arbeitslosigkeit, Stellensuche und prekären Jobs, ein massiver Abbau
sozialer Dienste, in erster Linie im Gesundheits- und Bildungssektor.
Politisch können wir uns nicht darauf beschränken, zum «klassischen
Proletariat» zu sprechen. «Popolo» integriert in dieser
Perspektive all diejenigen sozialen Subjekte, die als Arbeitslose,
Kleinhändler*innen, erwerbslose Hausarbeiterinnen etc. «proletarische
Existenzen» leben.
</p><p>
</p><p>Zudem
ist der Name Potere al Popolo historisch auf eine bestimmte
politische Tradition zurückzuführen. Wir denken da konkret an die
Erfahrungen der «Black Panther Party», welche die politische
Organisierung der schwarzen Bevölkerung in den USA und die soziale
Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zum Ziel hatte. Bekannt
wurden sie durch die Bilder von bewaffneten Männern in schwarzer
Lederjacke und Barett. Weniger bekannt sind ihre Basisaktivitäten –
die kostenlosen Frühstücke, welche sie den Armen verteilten, die
medizinischen Ambulatorien, die sie für die Communities aufbauten
oder auch die Alphabetisierungsprogramme für <i>Schwarze</i>. Sie gingen
also von konkreten sozialen Bedürfnissen von gesellschaftlich
Marginalisierten aus, um ihre sozialen Aktivitäten aufzubauen und
politische Organisierung vorzubringen. Wir befinden uns heute
natürlich in einer historisch total anderen Situation, doch wir
stellen fest, dass der freie Markt und der Staat immer mehr Menschen
vom sozialen Reichtum ausschliesst. Von diesen historischen
Erfahrungen gibt es also jede Menge zu lernen. Potere al Popolo
stellt sich in diese theoretische und politische Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Analyse habt ihr von der Linken Italiens – wo steht sie und warum
braucht es eine Bewegung wie «Potere al Popolo»?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Nicht
nur die italienische Linke, sondern die Linke <i>insgesamt</i>
hat in den letzten drei Jahrzehnten den Bezug zu den Ausgebeuteten
und Unterdrückten fast komplett verloren oder aufgegeben. Dies ist
unter anderem darauf zurückzuführen, dass linke Parteien
bürokratische Apparate geworden sind und sich viele politische
Aktivist*innen jenseits der konkreten Probleme der Arbeitenden
verstehen. Wir verstehen uns als einen Teil dieser sozialen Gruppe.
Wir arbeiten prekär und haben – mit oder ohne
Universitätsabschluss – kaum Zukunftsperspektiven. Im Süden
Italiens beträgt die Arbeitslosenquote unter 20-30jährigen im
Schnitt 36 Prozent, in gewissen Regionen sogar über 50 Prozent. Für
uns kann sich eine radikale Linke nur dann neu konstituieren, wenn
sie im Sozialen verankert ist. Das Prinzip, das wir hier verfolgen,
ist der Mutualismus. Dabei geht es uns um folgendes: Zu erforschen,
was die alltäglichen Probleme und Bedürfnisse der arbeitenden
Klasse sind, Formen der Organisierung zu finden, um diese Probleme
angehen zu können und über angemessene Mobilisierungsstrategien
kollektive Kämpfe zu starten – immer mit dem Ziel, unsere
existenziellen Bedürfnisse zu garantieren und zurück zu erkämpfen,
wo sie bedroht sind. Das geht von selbstverwalteten Kinderkrippen
über kulturelle und Sportangebote (Theater, Tanzkurse, Boxgym) bis
hin zu selbstorganisierten medizinischen Ambulatorien und «Camere
Popolari del Lavoro» (proletarische Arbeiter*innenkammern). Diese
Aktivitäten und Strukturen stellen eine Art «Trainingsorte» des
politischen Kampfes dar: Über die Mobilisierungen und Kämpfe wird
Partizipation, Organisierung und Selbstverwaltung geübt, evaluiert
und wenn möglich auf eine neue Ebene gehoben. Im Grunde genommen
machen wir aber nichts Neues, sondern knüpfen an die Tradition der
ersten sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen
Erfahrungen an, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts über
mutualistische Aktivitäten und in den von den Arbeiter*innen gebauten
«Case del Popolo» (Volkshäuser) breite Bewegungen zu organisieren
vermochten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>In
eurem Programm steht die «Verteidigung der Verfassung» an erster
Stelle. Ihr sprecht an verschiedenen Stellen immer wieder von
Demokratie – ist euer erklärtes Ziel nicht Sozialismus beziehungsweise
Kommunismus und eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Gesellschaft?</i></p><p>
</p><p>
</p><p>
<b>Maurizio:</b> Unser Programm ist das Resultat
von Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen
Kräften, die sich in Potere al Popolo versammeln. Um den Bezug auf
die Verfassung zu verstehen, müssen drei Dinge erklärt werden:
Erstens geht die italienische Verfassung aus dem Partisanenkampf
gegen den Faschismus hervor, sie beinhaltete also historisch wichtige
Elemente für die Befreiung der Arbeiter*innenklasse. Zweitens ist der
Punkt zur Verteidigung der Verfassung in unserem Programm in einen
konkreten historischen Kontext zu setzen: Im Dezember 2016 wurde in
Italien ein Referendum gegen die Verfassungsreform gewonnen.
Ministerpräsident Matteo Renzi (PD) wollte das wenige Progressive,
was die Verfassung heute noch beinhaltet, auch noch verabschieden und
ein Präsidialsystem einführen, welches seine Macht noch mehr
zentralisieren sollte. Das Referendum wurde auch dank wichtigen
Mobilisierungen von unten gewonnen. Drittens könnte es zwar den
Anschein erheben, dass unsere Forderungen rund um die Verfassung uns
ausschliesslich in einem bürgerlich-demokratischen Rahmen situieren,
doch wir denken, dass im gegebenen historischen Kontext solche
Auseinandersetzungen und Mobilisierungen für ein größeres Stück
vom Kuchen als Sprungbrett dienen können, um sich die ganze Bäckerei
zu nehmen. Klar, wir stehen hier vor objektiven Grenzen des Kapitals,
in dieser Krisenzeit überhaupt was abgeben zu können. Doch (leider)
ist eine kommunistische Perspektive heute nicht erreichbar. Darum
sind intermediäre Auseinandersetzungen, Mobilisierungen und Kämpfe
notwendig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kämpfe für die
Erlangung von Arbeitsverträgen von illegalisierten Arbeiter*innen,
die Anerkennung des medizinischen Ambulatoriums von Seiten der
öffentlichen Gesundheitseinrichtungen etc. Kämpfe darstellen, dank
denen wir uns als Kommunist*innen wieder einen sozialen und
politischen Raum erarbeiten und Hoffnung und Begeisterung auslösen
können für größere Ziele. Ohne diese «Zwischenschritte» ist es
schwierig, eine kommunistische Perspektive zu denken. Denn wir stehen
auch vor kulturellen Schwierigkeiten: Wir werden tagtäglich medial
mit Nachrichten bombardiert, die die Klasse spalten und im
materiellen Leben die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine noch
nie dagewesene kapitalistische Konkurrenz beziehungsweise einen «Krieg unter
den Armen» stürzen. Wir müssen also auch einen Weg finden, mit
unseren Worten die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen.
Dazu gehört, aktuelle politische Diskurse aufzugreifen und eine
eigenständige Analyse und Antwort darauf zu geben. Nur so können
Mobilisierungen funktionieren und Kämpfe angestossen werden.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
versucht die Basisarbeit und den Straßenkampf mit der Teilnahme an
den Wahlen, das heißt einem Weg über die Institutionen, zu verbinden.
Welches sind die Hürden, die sich dabei stellen und wie habt ihr
vor, sie zu überwinden?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Entscheidung, als neue politische Kraft an den nationalen Wahlen im
März 2018 teilzunehmen, erlaubte uns, den im 2014 angestoßenen
Prozess der Vernetzung zu intensivieren und in ganz Italien
Basisversammlungen zu organisieren, an denen hunderte von
Aktivist*innen teilnahmen: Alte Genoss*innen, die aber seit Jahren
nicht mehr organisiert waren; junge Menschen, die sich zuvor noch nie
in einem Kollektiv organisiert hatten; Basisaktivist*innen, die sich
in den letzten zehn Jahren auf ihre sozialen Aktivitäten
fokussierten und nun mit Potere al Popolo eine politische Perspektive
wiederentdeckten. Von Anfang an pochten wir darauf, nicht einfach
eine neue Partei oder eine Wahlkoalition zu sein, die
Parlamentsmitglieder stellt, sondern diesen medialen Moment zu
nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktivitäten zu
richten, die im ganzen Land von Genoss*innen vorangetrieben werden.
Wir kritisieren dieses Modell der politischen Repräsentation
durchaus und halten trotz Teilnahme an den nationalen Wahlen an
dieser Kritik fest. Denn ohne Mobilisierungen und Anstöße von unten
ist es unmöglich, auch auf der Ebene der institutionellen
Repräsentanz Einfluss nehmen zu können. Die nationalen Wahlen
stellten für uns in erster Linie auch eine Möglichkeit dar, auf
einer nationalen Ebene sichtbar und hörbar zu werden und an Kraft zu
gewinnen. Von Anfang an war also klar, dass es nicht lediglich um die
Wahl von Potere al Popolo gehen kann und auf institutioneller Ebene
für die Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu
kämpfen. Viel zentraler war für uns der Versuch, das Vertrauen an
direkte und kollektive Aktionen zu stärken und dafür den Kontext
der nationalen Parlamentswahlen zu nutzen. Uns ist natürlich bewusst, dass dies Gefahren mit sich bringt und lediglich eine schöne
Absichtserklärung bleibt, wenn nicht weiterhin Basisarbeit in Form
von lokalen Organisierungen und Mobilisierungen geleistet wird. Für
uns sind die sozialen und mutualistischen Aktivitäten der einzige
Weg, um eine starke Bewegung aufzubauen.
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Wer
wurde zur Kandidatur aufgestellt?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
Kandidatinnen* und Kandidaten von Potere al Popolo waren territoriale
Aktivist*innen von allen politischen Strukturen. Es waren also nicht
große und bekannte Namen, sondern die entlassene Call-Center
Arbeiterin, die in den letzten 18 Monaten einen Arbeitskampf gegen
die Entlassung von 1666 Mitarbeitenden angeführt hat, Aktivist*innen
der NoTAV-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon,
Aktivist*innen der «Brigate di solidarietà attiva», welche sich vor
etwa acht Jahren gebildet haben, um während den Naturkatastrophen
wie Überschwemmungen oder Erdbeben direkte Hilfe zu leisten und so
weiter. Die Kandidat*innen waren also immer Ausdruck lokaler Kämpfe,
Mobilisierungen und Basisinitiativen. Damit wollten wir auch zeigen:
Politik ist nicht nur institutionelle Repräsentanz in Hemd und
Anzug, sondern auch Widerstand, sich die Hände schmutzig machen,
Hoffnung auf tatsächliche Veränderung, Enthusiasmus von unten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Ihr
seid ganz klar eine klassenkämpferische «Bewegung». Wie würdet
ihr die Klasse der Arbeiter*innen heute in Italien fassen?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Die
massive Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Rentenreform, welche
das Rentenalter erhöhte, die Schulreformen, welche immer mehr
junge Menschen in einen hochprekarisierten Arbeitsmarkt drängen, der
Ab- und Umbau des öffentlichen Gesundheitssystems (in zehn Jahren
sind alleine in der Stadt Napoli zehn Notfallstationen geschlossen
worden), ein Migrationssystem, welches vor allem im Süden des Landes
die informelle Arbeit aufbläst und vieles mehr haben sowohl die
soziale Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse, wie auch die
Widerstands- und Organisierungsformen verändert. Es ist kein Zufall,
dass beispielsweise die wichtigsten Mobilisierungen der letzten Jahre
in Sektoren organisiert wurden, in denen die migrantischen
Arbeiter*innen dominieren, nämlich in der Logistikbranche im Norden
und bei den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter*innen im Süden. Zudem
hat sich die Integration der jungen Arbeiter*innen in den Arbeitsmarkt
in den letzten Jahren verändert, Schwarzarbeit und Vertragslosigkeit
– obwohl schon seit jeher Strukturmerkmal des (süd-)italienischen
Arbeitsmarktes – haben sich weiter verbreitet und sind zur
Normalität geworden. Schliesslich werden ältere Arbeiter*innen, die
in den 1980er Jahren noch in den Genuss der erkämpften
Errungenschaften der 1970er Jahren kamen (automatische Lohnanpassung,
Kündigungsschutz, gute Renten) zunehmend prekarisiert. Das sind nur
einige Beispiele, welche die Dynamiken der Klassenzusammensetzung
abbilden. Die andere Seite der Medaille sind die neuen
Organisationsformen, die von der Klasse ausgehen. Dabei denken wir an
die vor wenigen Wochen gegründete <a href="https://www.facebook.com/ridersunionbologna/">Gewerkschaft
der <i>Riders</i></a>,
an die seit Jahren nun immer grössere Bedeutung der Basis- und an
den politischen Niedergang der konföderalen Gewerkschaften und so
weiter.</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Welche
Strategien verfolgt «Potere al Popolo» auf regionaler, nationaler
und internationaler Ebene? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b>
Kernpunkt unserer politischen Struktur sind die
territorialen Versammlungen, von denen in den letzten sechs Monaten
über 150 in ganz Italien entstanden sind. Die territorialen
Versammlungen sind offen, jede* und jeder kann seine Themen
einbringen. An den Versammlungen werden politische Analysen generiert
sowie Aktionen und Kampagnen organisiert. <a href="https://poterealpopolo.org/continuare-migliorare-crescere-sulle-prossime-tappe-di-potere-al-popolo/">Ende
Mai wird eine nationale Versammlung organisiert</a>,
bei der es um die Frage geht, wie wir uns in naher Zukunft national –
und international – organisieren und vernetzen wollen. Wir bestehen
darauf, dass überall «Case del Popolo» (Volkshäuser) nach dem
Vorbild der Besetzung Ex-OPG in Napoli entstehen sollen, in denen man
sich treffen kann, soziale Aktivitäten und Aktivitäten der
gegenseitigen Hilfe vorangetrieben, politische Kämpfe organisiert,
Solidarität in Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen erfahren
oder auch einfach eine soziale und politische Gemeinschaftlichkeit
gelebt werden kann. Wir wollen einen Ort schaffen, der sich auf
diskursiver und praktischer Ebene gegen einen individualisierten
Alltag zur Wehr setzt und antirassistische, antisexistische und
solidarische Beziehungen innerhalb der Klasse fördert und bewahrt.
Während der Wahlkampagne haben wir viele Kontakte im Ausland knüpfen
können. Es waren vorwiegend Auslanditaliener*innen, teils von der
alten Migration, proletarische Arbeiter*innen, die in den 1960er,
1970er migriert sind und in den Strukturen der damaligen
Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften eine «politische
Heimat» hatten, teils von der neuen Migration, also Junge, die nach
Abschluss ihres Studiums ausgewandert sind und heute entweder an
Universitäten Forschung betreiben, oder eben auch in den
italienischen Restaurants in der Küche oder als KellnerInnen
arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der Potere al Popolo-Kollektive
im Ausland ist also sehr heterogen, was wiederum den Reichtum dieser
Kollektive darstellt. Mittlerweile gibt es Potere al Popolo-Kollektive fast in jeder größeren europäischen Stadt. Ja, sogar in
Mexiko-City wurde ein Kollektiv gegründet. Diese Strukturen sind
natürlich fundamental für unsere internationalistische Perspektive.
Darüber hinaus sind wir international mit vielen Kollektiven,
Organisationen und Parteien einen Austausch getreten: Vom
Arbeiter*innenkollektiv «Berlin Migrant Strikers» über die antifa
Gruppe «antifascisti Bruxelles», die Rosa-Luxemburg-Stiftung bis
hin zu Parteien wie der Kommunistischen Partei Belgiens (PTB), La
France Insoumise (LFI), der katalanischen CUP oder der
brasilianischen Landlosenbewegung MST (movimento sem terra).
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b> <i>Die
Wahlen selbst sind dann eher katastrophal zu Gunsten der Populist*innen des
MS5 und des rechts-konservativen und neofaschistischen Lagers
ausgefallen (eine </i><a href="https://revoltmag.org/articles/systemblockade-italien/"><i>Analyse
dazu</i></a><i> schrieb Raffaele
Traini für re:volt). In Napoli erreichte der MS5 sogar über 50
Prozent der Stimmen. Potere al Popolo erreichte 1,13 Prozent. Warum
konnten die Wähler*innen nicht mit linken Argumenten abgeholt werden? </i>
</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es
wäre naiv gewesen zu denken, wir könnten mit einer kaum vier Monate
jungen politischen Bewegung ein besseres Resultat erreichen als wir
jetzt erreicht haben. Zudem haben wir eine starke mediale Marginalisierung
und Verdrehung erlebt. So wurden während der Wahlkampagne in
diversen Städten Treffen von neofaschistischen Gruppen wie CasaPound
oder Forza Nuova organisiert, wogegen auf Antira- und Antifa-Demonstrationen mobilisiert wurde. Die Zeitungen sprachen aber zum
Beispiel kaum von der großen Demonstration in Macerata Anfang
Februar, nachdem ein durchgeknallter <a href="https://revoltmag.org/articles/nicht-die-zeit-zu-schweigen-es-ist-die-zeit-des-widerstands/">Neofascho
auf sechs <i>Schwarze</i> Menschen</a>
schoss, an der über 20.000 Menschen teilnahmen und für die wir
tausende Aktivist*innen von Potere al Popolo aus ganz Italien
zusammenbringen konnten. Wenn über uns gesprochen wurde, dann nur in
einem Atemzug mit den «Extremen» von Rechts – der bekannte
Diskurs der «opposti estremismi». Für uns ist entscheidend, dass
wir in dieser kurzen Zeit eine mediale Präsenz über Italien hinaus
erreicht haben. In Italien haben uns fast 400.000 Personen gewählt,
in den Städten und Stadtteilen, in denen wir sozial und politisch
aktiv sind, haben wir bis zu 8 Prozent Stimmanteil geholt. Diese
Stimmen zeigen uns, dass wir weitermachen müssen und unsere
Forderungen auf offene Ohren stossen. Selbstkritik ist aber insofern
angebracht, als auch wir es nicht geschafft haben, bei den
Wähler*innen eine breite Sensibilität für linke Themen zu wecken.
Erstens haben wir die Populist*innen des M5S falsch eingeschätzt: Wir
dachten, sie hätten ihren Zenith erreicht und die linken Wähler*innen,
die bisher M5S wählten, kämen nun dank einem linken, alternativen
Angebot in unsere Reihen. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Die
M5S konnte ihren Wahlanteil vor allem im Süden massiv ausbauen, ohne
jedoch eine soziale Präsenz in den Territorien zu haben. Zweitens
haben wir es nicht vermocht, mit unseren Argumenten über den
traditionellen linken Wähler*innenanteil hinaus zu überzeugen und zu
mobilisieren. Wir müssen verstehen, warum das so ist und daran
arbeiten.</p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maja
Tschumi [re:volt]:</b><i> </i><i>Italien
nach den Wahlen. Was sind die Herausforderungen und wie geht es mit
Potere al Popolo weiter?</i></p><p>
</p><p>
</p><p><b>Maurizio:</b> Es gibt
drei große mittel- und langfristige Herausforderungen. Erstens muss
es uns gelingen, die vielen territorialen, sozialen und
mutualistischen Aktivitäten zu intensivieren, zu verallgemeinern und
zu organisieren. Nur so können wir die gesellschaftlichen und
politischen Konflikte auf die Spitze treiben und ausgehend von
lokalen Mobilisierungen eine nationale oder gar europaweite Bewegung
etablieren. Zweitens müssen wir die politische Schulung unserer
Aktivist*innen vorantreiben, um unsere Analyse- und
Interventionsinstrumente zu schärfen und für die
raschen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen «bewaffnet»
zu sein. Diesbezüglich sind wir mit anderen internationalen
Bewegungen im Kontakt, um von ihren Erfahrungen zu lernen, zum Beispiel mit
der Landlosenbewegung Brasiliens MST. Sie hat mit der Eröffnung
ihrer Schule «Florestan Fernandez» im
Jahre 2005 zu einer Verbindung von alltäglichem und politischem
Wissen beigetragen und so viele Aktivist*innen ausbilden können, die
langfristig im Kampf des MST engagiert sind. Trotz unterschiedlicher
historischer und sozioökonomischer Kontexte können wir davon viel
lernen. Drittens müssen wir uns eine organisatorische Struktur
geben, die über die einfache Summe vieler Kollektive und
Organisationen hinausgeht. Ein medizinisches Ambulatorium in Neapel
ist eine unmittelbare Antwort auf die Krise des Gesundheitssystems
der Stadt und eine proletarische Arbeiter*innenkammer kann
Arbeitsverträge für eine Gruppe von illegalisierten Arbeiter*innen
erkämpfen. Denn ohne die Strukturierung über ein Netzwerk hinaus
bleiben wir machtlos gegenüber den massiven Angriffen des Kapitals,
welche wir heute erleben. In diesen Herausforderungen und Prozessen
befinden wir uns im Moment.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Fußnoten:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1] Hier findet sich eine <a href="http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=36460">deutsche
Buchbesprechung</a> von Clash
City Workers, <i>Dove sono i nostri. Lavoro, classe e movimenti
nell’Italia della crisi, la casa usher</i>, Lucca 2014. 202
Seiten.</p><p>
</p><p>
</p><p>[2]
Als Mutualismus verstehen wir eine Methode, um das Politische und das
Soziale zu verbinden: Durch die Praxis der gegenseitigen Hilfe werden
Probleme identifiziert, konkrete Antworten von unten darauf gegeben
und durch kollektive Mobilisierungen und Kämpfe politisiert. Diese
Methode knüpft an die Erfahrungen der ersten sozialistischen
Bewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts an.</p></div>
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</article>
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