re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=4892018-06-12T20:48:06.098136+00:00Die Vergessenen2018-05-12T11:49:18.402761+00:002018-06-12T20:48:06.098136+00:00Katja Bartholdredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-vergessenen/
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<h1>Die Vergessenen</h1>
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<img alt="Ein Werkstor, auf dem Schilder angebracht sind" height="420" src="/media/images/martina_Roell_-_flickr.5f160efa.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Martina Roell | Flickr</span>
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<div class="rich-text"><p>„Ich bin keine Feministin!“,
reagiert Beate auf mein Lob, während sie am Streikposten Flyer verteilt. Sie
ist seit Jahrzehnten angestellt in einem Betrieb der Metallindustrie und setzt
sich seit Jahren als einzige Frau im Betriebsrat für die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten ein. „Das war am Anfang nicht ohne, ich musste mich ganz schön
durchsetzen“, erzählt sie über ihre ersten Jahre der Arbeit im Betriebsrat und
der Gewerkschaft: In einer immer noch männlich dominierten Sphäre. Sie bringt
sich ein, stellt Fragen und kämpft leidenschaftlich und beharrlich für mehr
Rechte für Beschäftigte und auch für Frauen außerhalb des Betriebes. Oft kommt
sie bereits vor Arbeitsbeginn, um ihre Kolleginnen nicht nur für die
Betriebsratswahl zu informieren, sondern auch vor den Kollegen zu warnen, die
sie für die AfD werben wollen. Und dennoch ist sie nicht angebunden an eine
feministische Bewegung. Sie kämpft allein mit wenigen. Obwohl sie noch nie
eingeladen wurde zu feministischen Treffen oder Kontakt zu denen hatte, die
sich als feministische Szene behaupten, weiß sie, dass sie kein Teil davon ist.</p><p>
</p><p>Ich bin auf einer Konferenz zum
Frauenkampftag und erlebe das, was ich selbst aus einigen Feminismustreffen
bereits kenne. „Asozial sagt man nicht“, wird eine ältere Frau zum Schweigen
gebracht, als sie die heutigen Arbeitsbedingungen mit diesem Adjektiv
beschreibt. Die Frau ist Tischlerin und hat sich in der DDR während einer
weiterbildenden Studiums in sogenannten Frauenkreisen engagiert und
Frauenhäuser aufgebaut. Mit der LGBT-Bewegung und Sternchenschreibung kann sie
jedoch nichts anfangen. Danach sagt sie nichts mehr. Arbeitsbedingungen sind
während der weiteren Workshops kein Thema mehr. Jetzt geht es um Sexismus in
der linken Szene, darum, nicht allein den Tisch abräumen zu wollen im besetzten
Haus, es geht um die Frauenquote in guten Jobs und die Gestaltung von
männerfreien Workshops. All das sind wichtige Themen. Die Sprache ist gegendert
und auch der Kleidungsstil der anwesenden Frauen erscheint auf den ersten Blick
rebellisch; auf den zweiten jedoch einer Einheitlichkeit angepasst. Irgendwann
ist die ältere Dame nicht mehr da.</p><p>
</p><p>Zwei Szenen, die nichts miteinander zu tun haben – leider.</p><p>
</p><p>Im Betrieb ist Beate oft allein
mit ihrem Mut. Die meisten Männer dort belächeln sie für die Aktionen der
Ortsfrauen ihrer Gewerkschaft am Frauentag. Sie bräuchte genau das, was die
Feministinnen in ihren Bündnissen haben: Orte und „Raum“ zum Austauschen – und
eine Gemeinschaft. Und dennoch lade ich sie nicht zu diesen Treffen ein. Denn
ich weiß, sie wäre dort kein Teil von etwas; sie wäre eine Außenseiterin aus
einer rauen, nicht erwünschten Welt. Beate bezeichnet sich als Arbeiter und
nicht als Arbeiterin. Oft seufzt sie „typisch Männer – so sind sie halt“ und
findet nicht jeden sexistischen Witz skandalös. Ihre Sprache würde anecken, ihr
Lebensstil als spießig identifiziert und niemand würde mit ihr in den Pausen
sprechen.</p><p>
</p><p>Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe
in der Industrie seien abzulehnen, sie dienten lediglich zur Erhaltung von
Privilegien weißer Männer, ist der Grundtenor von Thesen, die ich von Prof. Dr. Silke van Dyk und Stefanie Graefe auf einer
Tagung zum Thema „Arbeiterbewegung von rechts?“ zu hören bekomme [Editoriale Anmerkung hierzu am Ende des Textes]. Sie bekommen Applaus. Ich muss
an Beate und ihre Kolleginnen denken, die nicht einmal Erwähnung finden und
frage mich, um wessen Privilegien es in dieser Diskussion wirklich geht. Beate
wird davon nichts erfahren, denn auch diese Diskussionen werden ausschließlich
von AkademikerInnen geführt, über „sie“ – diese abstrakten Arbeiter. Und so
vertiefen sie sich immer weiter; die Gräben zwischen der Welt der (Fabrik-)Arbeit
und derer, die darüber diskutieren. Ohne sie zu kennen: die, die täglich im
Morgengrauen die Fabriken betreten und versuchen, sie am Ende des Tages auch
mit erhobenem Haupt wieder zu verlassen. Eine Welt, in der der
Interessengegensatz kein theoretisches Konstrukt, sondern täglich erfahrbare
Realität darstellt. An Orten, wo sie einst ein Kollektiv waren, werden jetzt
Kantinen gebaut, die durch eine Glaswand zwischen Angestellten und ArbeiterInnen
trennt. Eine Welt, in der versucht wird, die Konkurrenz unter den Beschäftigten
durch die Zahlung von Prämien zu erhöhen. Eine Welt, in der 25-jährige ManagerInnen
50-jährigen FacharbeiterInnen ihre Austauschbarkeit vorhalten. In dieser Welt
gibt es sie noch, die rußverschmierten Arbeiter, die sich durchschlagen in
einer Welt voller Regeln und wenig Ertrag. Diese Welt macht denen Angst, die
sauber bleiben wollen. Sauber und unberührt von diskriminierenden Erfahrungen,
sexistischen Sprüchen und der Einfachheit der Menschen, die gleichzeitig
geprägt ist von Kollegialität und Gemeinschaft untereinander. In dieser Welt
gibt es auch viele Frauen. Frauen, die sich gegen ihre Arbeitgeber zur Wehr
setzen, sich unter ihren Kollegen Respekt verschaffen; aber auch Frauen, die
genug haben von Schichtarbeit und Kinderbetreuung und sich nicht einbringen. Sie vereint eins: Sie finden in der feministischen Szene kaum
Erwähnung und noch seltener Gehör.</p><p>
</p><p>Es ist nachvollziehbar, dass sich
Frauen in einer kapitalistischen Welt, die sie zur Ware degradiert, eine Rückzugs-
oder gar Wohlfühlzone schaffen, die durch Regeln sicherstellen soll, keine
Diskriminierung zu erfahren. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere junge
Frauen* diese Orte suchen; es braucht diese Räume, um eigene und gemeinsame Erfahrungen zu reflektieren Jedoch sind diese Räume oft in sich
geschlossen und prägen leider nicht den Charakter einer "Bewegung": Diese Welt ist starr und voller Verhaltensregeln. Die Debatten sind
ähnlich, die Awareness-Teams nicht neu und am Abend wird zu Sookee
getanzt. Aus Angst vor den
Eindringlingen aus der sexistischen Außenwelt werden die Regeln mithin so
diktatorisch, dass sie nicht zugänglich sind für die <i>anderen</i> Frauen, die ebenfalls betroffen sind von den
kapitalistischen Zwängen. Frauen, die nicht in linken Lesekreisen sozialisiert
wurden und sich vegan ernähren; Frauen, die nicht in den Büchern ihrer Kinder
diskriminierende Bezeichnungen und Formulierungen schwärzen und ihre sexuelle
Orientierung in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit stellen; Frauen, die
sich nicht über Frauenquoten in Führungsetagen den Kopf zerbrechen, sondern
darüber, ob das Geld am Ende das Monats für Miete und die Kinder reicht.</p><p>
</p><p>Mit den Erniedrigten der
Klassenpolitik von oben hat die feministische Bewegung, wie ich sie kenne, nur
partikulär zu tun. Sollten sie nicht in den cleanen Berufen der Care-Arbeit wie
Pflege oder Erziehung arbeiten, sondern sich täglich in der industriellen Welt
behaupten, tauchen sie einfach nicht auf. Schlimmer noch: Sie werden sogar
verurteilt. Solibesuche werden oft eher zur Beobachtung eines anderen
Universums statt eine tatsächliche Vernetzung mit den Akteuren und Akteurinnen
in der industriellen Arbeitswelt. Doch ohne eine starke Durchsetzungskraft im
produktionellen Kreislauf werden auch Arbeitskämpfe in der reproduktionellen
Sphäre nicht an Macht gewinnen. Nur wenn beide Bereiche sich abstimmen und die
Arbeit koordiniert niederlegen, können wir gesellschaftlich in beiden Bereichen
Drück aufbauen. <br/></p><p>Durch die Abgrenzung zum Schutz
vor Sexismus und Antifeminismus ist eine Abgrenzung nach unten entstanden. Viele
Akteur*innen der feministischen Szene kommen damit erst gar nicht in Berührung
kommen mit ihnen: Mit Männern, die beim Streik die Bockwürste mit den bloßen
Händen aus dem kochenden Wasser holen, die auch mit sexistischen Sprüchen nicht
geizen und mit Frauen, die darüber lachen oder meist sogar selbst ähnliche Witze
machen. Abgrenzung wird durchaus wahrgenommen und gefühlt von den Menschen, die
sich ausgeschlossen fühlen aus den politischen Debatten, auch in der Linken. Ein
JoJo-Effekt ist entstanden, bei dem jede die andere irritiert,
vorurteilsbeladen und oftmals abschätzig beäugt. Uns Feministinnen* entgeht dadurch
eine wichtige Begegnung mit Menschen, die erbarmungslos konfrontiert
sind mit den Unterdrückungsmechanismen des Kapitals, aber dadurch auch wissen,
was kämpfen und zusammenhalten bedeutet. Wir verpassen, welche Stimmung erzeugt
wird, wenn Frauen und Männer, Deutsche und MigrantInnen, Alte und Junge sich
gemeinsam vor dem Werkstor einhaken, um beim Streik dem Chef die Einfahrt zu
blockieren. Wie sie, mit Tränen in den Augen und Kraft in der Stimme,
verkünden, dass sie zusammenhalten, dass sie kämpfen werden, weil es notwendig
ist für ein kleines Stück mehr Gerechtigkeit in der täglichen Arbeitswelt –
auch wenn es Risiko bedeutet. Nur wenn wir – die in den Augen
vieler Arbeiterinnen und Arbeiter Privilegierten – unser Wissen und unsere
Bildung teilen mit denen, die nicht auf unseren Tagungen und Workshops
anzutreffen sind, können wir wieder eine Stärke entwickeln, uns antifeministischen,
faschistischen Akteuren entgegen zu stellen, die in der gesamten Gesellschaft anzutreffen sind. Nur gemeinsam werden wir eine
Chance haben gegen die Abwertung und Ausbeutung, die wir alle erfahren –
und Alternativen
zum Kapitalismus entwickeln können.
Dazu müssen wir unsere Ängste überwinden und respektvoll denen begegnen,
die uns Angst machen, weil sie nicht unseren Lifestyle teilen. <br/></p><p>Nur so ist
vielleicht auch Beate auch nicht mehr allein mit ihren männlichen Kollegen beim
Streikaufrufverteilen vorm Werkstor.</p><p>
</p><hr/><p>Katja Barthold ist als
Gewerkschaftssekretärin in Thüringen tätig. Als Akademikerin, Feministin und
Gewerkschafterin ist sie Teil beider Welten.</p><hr/><b>Editoriale Anmerkung:<br/></b>Der Artikel von Katja Barthold hat für eine ganze Reihe interessante Diskussionen gesorgt. Einiges davon werden wir hoffentlich in Kürze in weiterführenden Debattenbeiträgen erörtern. Die Passage, in der es um Arbeitskämpfe in der Industrie und die Bewertung derselben geht, hat besondere Aufmerksamkeit erhalten. Silke van Dyk, die darin erwähnt wird, hat sich nach Veröffentlichung des Artikels bei uns
gemeldet und ihre Kritik an der Darstellung geäußert. Sie
schreibt: "Ich werde hier mit einem Satz widergegeben, der weder
wörtlich noch
sinngemäß dem gemeinsam mit Stefanie Graefe präsentierten Beitrag
entstammt." Es geht aus Sicht der Autorin um eine Darstellung einer spezifische Position, die auf genannter Tagung thematisiert wurde. Wir halten dies für legitim. Da es hier aber eine namentliche Nennung und Zuordnung gibt, haben wir uns entschlossen, diese nachträgliche Anmerkung dazuzufügen, den Passus umzuformulieren und auch zuvor gesetzte Anführungszeichen zu entfernen, die als direktes Zitat missverstanden werden konnten. <br/><br/>
<p><b>Update 12.06.18:</b> Wir haben zwischenzeitlich nochmals
Post von Silke van Dyk und Stefanie Graefe erhalten. Sie haben für die
Auseinandersetzung mit ihren Positionen zwei Lesehinweise mitgegeben, die wir
euch nicht vorenthalten wollen: "Wir möchten zum Beitrag von Katja
Barthold anmerken, dass wir bei der betreffenden Veranstaltung nicht über
Arbeitskämpfe von Industriearbeiter*innen gesprochen haben und dass wir diese
weder wörtlich noch sinngemäß delegitimieren. Dies entspricht absolut nicht
unserer Position. Wer sich für diese genauer interessiert, kann <a href="http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2017/dowling-van-dyk-graefe.pdf">hier
nachlesen</a> (Link zur Prokla, Anm. Red.). Oder, ausführlicher, in dem
demnächst erscheinenden Aufsatz: </p>
<p><i>Silke van Dyk/Stefanie Graefe
(2018): Identitätspolitik oder Klassenkampf? Über eine falsche Alternative in
Zeiten des Rechtspopulismus, in: Karina Becker/Klaus Dörre/Peter Reif-Spirek
(Hrsg.): Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit - Verteilungskämpfe - Populistische
Revolte, Frankfurt/M. (Campus).“</i></p>
<br/><br/><b></b><p><br/></p></div>
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