re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=4812018-05-07T14:12:35.325732+00:00Umkämpfte Erinnerungen2018-05-07T14:12:35.325732+00:002018-05-07T14:12:35.325732+00:00Felix Brozredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/umk%C3%A4mpfte-erinnerungen/
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<h1>Umkämpfte Erinnerungen</h1>
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<div class="rich-text"><p>Jedes
Jahr findet in der lettischen Hauptstadt Riga eine der letzten
relevanten faschistischen Großveranstaltungen statt. Bis zu
zweitausend ehemalige SS-Angehörige versammeln sich im Stadtzentrum.
Anlass ist der Jahrestag der Gründung zweier lettischer SS-Legionen.
Gleichzeitig protestieren Antifaschist*innen gegen die möglicherweise
weltweit größte Versammlung von Helfer*innen der antisemitischen
und faschistischen Vernichtungsmaschinerie. Anders als die
SS-Versammlung wird der antifaschistische Protest jedoch von massiven
Einschränkungen und politischer Repression begleitet.
</p>
<p>Basis
für eine solche Politik ist die umfassende Leugnung der
weitreichenden Kollaboration von Teilen der lettischen Bevölkerung
mit dem deutschen Regime. Das entsprechende nationale Geschichtsbild
dient vorrangig drei Zielen: erstens dem Aufbau eigener
Entlastungsmythen, mit denen die geschichtlich belegbare Beteiligung
sowie die politische Verantwortung an der Shoa negiert werden sollen.
Zweitens geht die Leugnung der Kolloborationen Hand in Hand mit
antikommunistischen Geschichtsbildern und dem Ausbau eines
antikommunistischen Diskurses, der die Kollaboration als Teil einer
„nationalen Befreiung von der sowjetischen Besatzung"
verklärt. Drittens ist eine solche Praxis Teil einer umfassenden
ideologischen sowie geopolitischen Abgrenzung gegenüber Russland.<br/>
</p><h3>
Der
politische Kern des faschistische Gedenkens</h3><p>
Seit 1991 wird
in Riga jährlich am sogenannten „Tag der Legionäre", dem Tag
der Gründung der ersten und zweiten lettischen Waffen-SS-Legion,
deren Mitgliedern gedacht. An den Veranstaltungen nehmen neben den
noch lebenden SS-Angehörigen und ihren Familien ebenfalls Mitglieder
gegenwärtiger faschistischer Organisationen und auch kirchliche
Vertreter teil. Dementsprechend ist der gemeinsame Gottesdienst
obligatorischer Bestandteil der Veranstaltung. Aber wie kann es zu
einer solchen breiten Unterstützung für Kriegsverbrecher kommen?
Wie in zahlreichen anderen post-sowjetischen Staaten, werden die
ehemaligen Kollaborateur*innen der deutschen SS-Einheiten in Lettland
als vermeintlich "reguläre Soldaten" verklärt. Auf diese
Weise erfolgt eine Legitimation von faschistischer Kollaboration, die
entsprechend "gereinigt" Eingang in die nationale
Geschichtsschreibung findet. Dabei ist die Aufrechterhaltung eines
geschichtsrevisionistischen Selbstbildes sowie die Rehabilitierung
der SS oder diverser „Freiwilligenbataillone" nicht von den
ökonomischen und geopolitischen Interessen der herrschenden
politischen Klasse zu trennen.
</p>
<p>Die
Kundgebung und Ehrung am "Tag der Legionäre" wird von der
nationalistischen, neoliberalen und anti-russischen Partei "Nacionālā
apvienība"
(„<i>Nationale
Vereinigung - Alles für Lettland“</i>
) organisiert. Sie ist
mit 16 von 100 Sitzen in der Saeima (dem lettischen Parlament)
vertreten und stellt drei Minister*innenposten in der aktuellen
Regierung. Die Partei ist damit ein wichtiger Teil der neoliberalen
politischen Elite Lettlands, was sich ebenfalls daran zeigt, dass in
diesem Jahr auch Vertreter*innen der Regierungspartei "Vienotība"
an der Versammlung teilnahmen. Nicht
zuletzt durch diese enge Verbindung zwischen Gedenken und
Repräsentant*innen der offiziellen lettischen Politik ergeben sich
deutliche Parallelen zur Gedenkpolitik anderer post-sowjetischer
Staaten (bspw. Ungarn, Ukraine). Auch dort beteiligen sich rechte und
neoliberale Kräfte aus der herrschenden politischen Klasse aktiv an
der Rehabilitierung faschistischer Verbrecher*innen.
</p>
<p>Gleichzeitig
verstehen viele Teilnehmende die Kundgebungen in Riga als deutliches
Abgrenzungssignal gegenüber Russland, welches das Gedenken wiederum
seinerseits als Provokation auffasst. Der anti-russischen Tendenz
folgend begreift sich eine Mehrheit der ehemaligen SS-Angehörigen
nicht als Teil des faschistischen Machtapparates, sondern vielmehr
als "Veteranen" des Kampfes gegen die Rote Armee. [1]
Folgerichtig werden Wehrmacht und SS innerhalb des Marsches als
„Befreier" stilisiert, die das notwendige militärische
Korrektiv darstellten, um Lettland seine Souveränität nach der
Okkupation durch die Sowjetunion 1940 wiederzugeben. [ebd.] Vor
diesem Hintergrund werden die „Legionäre" mit ihren
Verbrechen zu Bewahrern einer nationalen Unabhängigkeit umgedeutet.
Dabei fügen sich die geschichtsrevisionistischen Ansichten der
Teilnehmenden größtenteils nahtlos in den herrschenden lettischen
Geschichtsdiskurs ein. So entsteht der Eindruck, dass die Kundgebung
im Zusammenspiel mit einer sich politisch zuspitzenden
anti-russischen Stimmung nicht zuletzt einer schleichenden
Mobilmachung reaktionärer Positionen gegenüber dem "gefürchteten"
Nachbarstaat dienen. Widerspruch wird dabei nicht geduldet, sodass
antifaschistische Gegenproteste bereitwillig von den lettischen
Repressionsorganen unterdrückt werden. Bündnisse wie „Lettland
ohne Nazismus" werden immer wieder am Protest gehindert und
deutsche Antifaschist*innen sogar widerrechtlich bei der Einreise
abgewiesen bzw. abgeschoben.[2]<br/>
</p>
<h3><a></a>Kollaboration
als indivduelles Moment?<br/></h3><p>
Trotz der dominanten Tendenzen,
die nationale Geschichte im Sinne politischer Überlegungen von den
Spuren faschistischer Kollaboration zu befreien, lassen sich die
bekannten Fakten nur schwer leugnen. Während der Besatzung standen
unterschiedlichen Angaben zufolge 160.000 – 200.000 Lett*innen im
militärischen Dienst der Besatzungsmacht. Diese arbeiteten häufig
der Vernichtung jüdischer Bewohner*innen Lettlands zu und stellten
eine wichtige Ressource für die Verfolgung. Deportationen und
Massenmorde wurden dabei von Sondereinheiten der deutschen
Sicherheitspolizei, vor allem der „Einsatzgruppe A",
durchgeführt. Darüber hinaus initiierten deutsche Einheiten
„spontane" Progrome, indem sie antisemitische Lett*innen in
paramilitärischen Einheiten organisierten und bewaffneten. [3]
Mehrere hundert Jüd*innen sind bei diesen „Aufständen" im
Land getötet worden. Insgesamt sind schätzungsweise 80.000
lettische Jüd*innen in der Shoa ermordet worden. Allein 13.000 von
ihnen fielen unmittelbar der Einheit um den Letten Viktors
Arājs zum Opfer. Darüber hinaus waren die bis zu 1.200 von ihm
geführten Kollaborateure an Massenerschießungen in den Wäldern des
Rigaer Umlandes beteiligt, die 12.000
Menschen das Leben kosteten. [4] Neben der direkten und
administrativen Beteiligung an der Verfolgung von Jüd*innen, waren
die Aussichten auf ökonomische Vorteile ausschlaggebend. Gerade die
Aussicht auf materielle Bereicherung nach der Vertreibung bzw. der
Räumung des Rigaer Ghettos Ende 1943 ermutigte Nicht-Jüd*innen zu
politischem Opportunismus. </p><p>
Viele dieser Verbrechen finden in
der offiziellen oder dominanten lettischen Geschichtsschreibung kaum
einen Platz. So ist bspw. das freifinanzierte lettische
„Okkupationsmuseum" in Riga bemüht, die Verantwortung für
Verbrechen im „Reichskommissariat Ostland" auf Individuen und
einzelne Biographien herunterzubrechen. Nicht zu leugnende
Verbrechen, wie die der Gruppe um Arājs,
werden so zu Einzeltaten in einem vermeintlich nicht-faschistischen
Staat. Gleichzeitig werden andere Kollaborateur*innen noch als
„nationale Partisanen“ verherrlicht, wie das Rigaer Museum
„Eckhaus“ als ehemaliger Ort des Riager Hauptquartiers des
Komitees für Staatssicherheit (KGB) bemüht.
</p>
<h3>Umkämpfte
Erinnerungen und ihre Funktionen</h3>
<p>Der
Mythos von der „Befreiung" von der Sowjetunion, die Lettland
nach dem Hitler-Stalin-Pakt okkupierte, ist weiterhin bestimmend. Die
Leugung weitgehender Kollaborationen im Rahmen der Shoa sowie die
Rehabilitierung der daran beteiligten faschistischer Einheiten
erfüllen im Rahmen des Status Quo wichtige Aufgaben. In Lettland
sowie vielen ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken ist der Kampf um
die geopolitische und -strategische Ausrichtung seit 1989 neu
entfacht. Der antikommunistische Diskurs gegen die Sowjetunion dient
heute dazu, um ideologisch gegen Russland mobil zu machen. Die
baltischen Länder sind wie viele osteuropäische Staaten inzwischen
NATO-Frontstaaten und Orte zunehmender Konzentration von
entsprechendem militärischem Gerät und Personal. Die große
Veteranen-Veranstaltung ist als Teil einer umfassenden Strategie zu
verstehen, die politische Grenzziehung zwischen der EU/ NATO und
Russland weiter festzuschreiben. Während
aktuell Kriegsschiffe der NATO-Bündnispartner in der Stadt ankern,
geht der ideologische Kampf nur wenige hundert Meter vor dem
zentralen „Freiheitsdenkmal" im Rahmen der
Gedenkveranstaltungen weiter. Auch in den benachbarten Staaten
Litauen und Estland sind vergleichbare rechte Diskurskämpfe zu
beobachten. Neben der zunehmenden Militarisierung durch
NATO-Präsenzen nehmen reaktionäre Gewschichtsdeutungen als Teil
umfassender Abgrenzungsbewegungen weiter zu.
</p><p>
So
stellt die ideologische Grenzziehung mit Blick auf die ethnische
Zusammensetzung Lettlands eine große gesellschaftliche
Herausforderung dar. Fast 27 Prozent der Lett*innen bezeichnen sich
selbst als Russ*innen. Sie sehen sich von lettischen
Nationalist*innen immer wieder mit Anschuldigungen konfrontiert,
„Agent*innen des Nachbarlandes zu sein". Politische
Auseinandersetzungen und Bewertungen um die Geschichte des Landes
werden vor diesem Hintergrund häufig ethnisiert. Das provokante,
faschistische Gedenken im politischen Zentrum des Landes bildet somit
nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche
Demarkationslinie. 2018 wird das lettische Parlament neu gewählt.
Ein weiterer Ausbau des Stimmenanteils von Parteien, die den
Fachismus relativieren oder verherrlichen sowie anti-russischer
Positionen vertreten, ist angesichts der Spannungen wahrscheinlich.
Die neoliberale und reaktionäre lettische Elite wird mit allen
Mitteln weiter an der „Westanbindung" halten, die
revisionistische Veranstaltung ist ein nicht zu vernachlässigendes
Glied davon. Es wäre die Aufgabe einer solidarischen
antifaschistische Bewegung, sich auch Gedanken zur möglichen
Unterstützung der lettischen Genoss*innen zu machen, um dem
pro-faschistischen Backlash international zu begegnen. </p><p></p><hr/>
<h3>Anmerkungen:<br/></h3><p>
<b>[1]
</b>Julian Feldmann: Lettland: Jubel für SS und Bundeswehr,
https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Lettland-Jubel-fuer-SS-und-Bundeswehr,riga162.html<br/>
<br/>
<b>[2]
</b>Thomas Willms: Keine Ehrung der lettischen Waffen-SS!,
https://vvn-bda.de/keine-ehrung-der-lettischen-waffen-ss-2/<br/>
<br/>
<b>[3]</b>
Jörg Baberowksi: Pogrome und Exekutionen tagein tagaus,
http://www.deutschlandfunkkultur.de/pogrome-und-exekutionen-tagein-tagaus.1270.de.html?dram:article_id=247199<br/>
<br/>
<b>[4]
</b>Katrin Reichelt: Between initiative an oppertunism: the role of
Latvians in the persecution of the jews under Nazi occupation, Riga
2015.<br/>
<br/>
</p></div>
</section>
</article>
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