re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=482021-03-17T21:59:02.758548+00:00Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz2021-03-15T15:38:24.919544+00:002021-03-17T21:59:02.758548+00:00Meral Çınarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/burkaverbot-und-sozialhilfedetektive-der-schweiz/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="rota asz beitragsbild.jpg" height="420" src="/media/images/rota_asz_beitragsbild.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">ROTA Migrantische Selbstorganisation</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Am 7. März fanden in der Schweiz Volksabstimmungen auf Kantons- und Bundesebene statt. Einige von ihnen waren offen gegen Menschen- und Freiheitsrechte gerichtet. <a href="https://www.zh.ch/de/politik-staat/wahlen-abstimmungen/abstimmungen.html">Darunter folgende</a>:</p><ol><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob die staatsbürgerschaftlichen Informationen und die nationale Identität von Personen, die Straftaten begehen oder im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, veröffentlicht werden sollen. Diese von der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP) in Gang gesetzte Volksinitiative mit dem Titel „Bei Polizeimeldungen sind die Nationalitäten anzugeben“ wurde mit 43,76 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.</li><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob Sozialhilfeempfänger*innen, die im Verdacht stehen, Betrug oder Missbrauch mit der Sozialhilfe zu begehen, von Detektiven verfolgt werden dürfen/sollen. Die vom Kantonsrat Zürich vorgeschlagene Gesetzesänderung (Sozialhilfegesetz SHG Klare rechtliche Grundlage für Sozialdetektive) wurde mit 67,73 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li><li>Eine Schweiz-weite Volksinitiative mit dem Titel „Ja zum Verhüllungsverbot“, die ein Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum (Einkaufszentren, Schulen, Straßen usw.) forderte. Diese Initiative wurde mit 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li></ol><p>Das, was diese (Gesetzes-)Initiativen eint: Sie sind rassistisch und insbesondere gegen Migrant*innen gerichtet. Als ob die mangelhaften und unhygienischen Bedingungen nicht ausreichten, wurden <i>refugees</i>, die in Lagern lebten, während der Corona-Pandemie noch weiter isoliert. Besuche wurden verboten, Ein- und Ausgehen aus den Lagern penibel kontrolliert. Migrantische Arbeitskräfte befinden sich mitten in einer sich verschärfenden Armuts- und Arbeitslosigkeitsspirale, da die Pandemie diejenigen Wirtschaftssektoren besonders stark trifft, in denen Migrant*innen hauptsächlich arbeiten. Natürlich sind migrantische Frauen* von diesen Umständen gleich doppelt betroffen. Durch diese Initiativen bröckelt der Lebensstandard von Migrant*innen noch weiter und die Mauern, die sie umgeben, werden noch weiter hochgezogen – und das unter Umständen der Krise und Pandemie. Mit ihnen zeigt sich der rassistische und potenziell antidemokratische Charakter des schweizerischen Staates.</p><h2>Im Windschatten der Rechten</h2><p>Die erste Initiative wurde, wie gesagt, von der reaktionärsten und rassistischsten Partei der Schweiz, der SVP in Gang gesetzt. Die Logik ist klar: Ausländer*innen begehen viel mehr Straftaten als „Einheimische“. Daher ein Gesetz, das ihrer „sauberen, weißen Rasse und Hochkultur“ die Absolution erteilen soll. Außerdem soll die Veröffentlichung von Angaben über Herkunft rassistische Argumente und migrationsfeindliche Haltungen befeuern. Die Initiative wurde zwar nicht angenommen. Wird sie aber etwas besser organisiert (so wie die Initiative zum Verhüllungsverbot) und findet kein Widerstand dagegen statt, dann wird auch die SVP-Initiative beim nächsten Versuch durchkommen.</p><p>Und was soll man zur Gesetzesinitiative des Kantons Zürich sagen, die es ermöglicht, dass Sozialhilfeempfänger*innen durch Detektive nachspioniert werden kann? Die SVP ist eine klar rassistische Partei, aber warum hat der Züricher Kantonsrat das Bedürfnis, eine solche Gesetzesinitiative vorzuschlagen? Einige Politiker*innen sagen, das sei deshalb gemacht worden, um einer viel härteren Gesetzesinitiative der SVP zuvorzukommen und diese somit abzuwehren. Das ist eine wirklich interessante Argumentationsweise für die Politik in einem Land, das sich selbst zu den demokratischsten und liberal-freiheitlichsten der Welt zählt.</p><p>Es ist offensichtlich, dass dieses vage formulierte und daher in alle Richtungen dehnbare Gesetz einzig dafür gut sein wird, den Zugang zur Sozialhilfe, die angesichts der Pandemie-bedingten Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut der einzige Ausweg für viele Menschen ist, weiter zu erschweren. Wenn man sich vor Augen hält, wer in der Schweiz am meisten Sozialhilfe beantragen muss, erkennt man auch sofort den rassistischen Charakter des Gesetzes. Der Kanton Zürich, der in der Pandemie versagt hat, zwingt mit dieser Gesetzesinitiative Migrant*innen in den Niedriglohnsektor, in die Armut und letztlich dazu, das Land zu verlassen.</p><h2>Das Verhüllungsverbot</h2><p>Mag der rassistische und migrant*innenfeindliche Charakter der ersten beiden Abstimmungen unzweifelhaft erscheinen, so sind die Dinge etwas vertrackter, wenn es um das als Verhüllungsverbot deklarierte „Burkaverbot“ geht. Vor allem für Männer.</p><p>Die SVP hat <a href="https://www.svpag.ch/kampagne/verhuellungsverbot/">einige Begründungen</a> für diesen Gesetzesvorschlag ins Feld geführt. Zum einen wird der Islam mit Terrorismus gleichgesetzt und das Gesetz so auch als Maßnahme gegen Terror bezeichnet. Anscheinend sind wir Frauen* für den Terror verantwortlich, ohne davon zu wissen. Es würde mich wirklich interessieren, wie genau Terroranschläge verhindert werden, wenn es Frauen* untersagt wird mit einer Burka das Haus zu verlassen.</p><p>Aber damit nicht genug, sie erklären uns auch, dass sie die Freiheit der Frauen* für wichtig befinden und dieses Gesetz es den Frauen* erleichtern soll, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Weil jetzt natürlich ganz bestimmt alle betroffenen Frauen* plötzlich ihre Burka ablegen und nach draußen rennen werden…</p><p>Es wäre absurd anzunehmen, dass eine rassistische Partei wie die SVP tatsächlich auch nur einen einzigen Finger rührt für die Frauen*befreiung. Sie waren ja auch diejenigen, die sich am stärksten gegen den Frauen*streik gestellt und sogar dagegen organisiert haben. Sie haben kein anderes Ziel als Frauen*rechte zurückzunehmen und zwar beginnend mit den Rechten migrantischer Frauen*. Sie fürchten sich vor der Befreiung der Frau*. Sie fürchten sich vor der Befreiung und der Organisation der migrantischen Frauen*, die die prekären, am schlechtesten bezahlten Jobs ohne soziale Absicherung machen, die die Schweizer*innen nicht machen wollen und genau dadurch aber dafür sorgen, dass die Schweiz jeden Morgen erneut aufsteht und den Tag beginnt.</p><p>Wir dürfen auch nicht übersehen, dass mit dem Fokus auf die Burka gleichzeitig der in ganz Europa wachsende antiislamische Rassismus in der Schweiz seinen Ausdruck findet. Dadurch, dass muslimische Frauen* zur Zielscheibe erklärt werden, werden vermittelt alle Frauen* zur Zielscheibe erklärt.</p><p>Darüber hinaus fügt die SVP auch noch hinzu, dass ein Vermummungsverbot es der Polizei bei Demonstrationen erleichtert, „Straftäter“ schnell ausfindig zu machen. Obwohl die Initiative offiziell als Vermummungsverbot betitelt ist, lässt aber schon die Werbung der Initiator*innen, die eine Frau* mit Burka zeigt, keinen Zweifel daran, worum es wirklich geht: ein Verbot der Burka.</p><p>Jetzt ist aber die Fehlannahme, dass ein solches Gesetz die Frauen* befreien wird, nicht allein bei der SVP, rassistischen Parteien und konservativen Schweizer*innen verbreitet. Einige liberale, linke, ja sogar linksradikale Männer und Frauen* haben auch für das Gesetz gestimmt. Die dahingehende Argumentation von Frauen* deutet eher auf Angst und Manipulation im Zuge steigenden Drucks hin. Sie meinen, dass die Verhüllung der Frauen* ein Freiheitsproblem und der Islam eine Religion sei, die Frauen* unterdrückt und dieses Gesetz den Druck auf Frauen* vermindern würde. Hingegen denken viele Frauen* aus dem Mittleren Osten, dass der Islam eingeschränkt werden muss, nicht zuletzt deshalb, weil sie unter dessen repressiven Charakter leiden und sich davon befreien wollen. Daher stimmten auch sie dem Gesetz zu. Diese Argumente mögen richtig oder falsch sein, ich kann sie jedenfalls nachvollziehen. Frauen*, die über dieses Gesetz abstimmen, denken zugleich auch an sich. Sie treffen eine Entscheidung hinsichtlich ihrer eigenen Kleidung. Sie kommentieren dadurch ihre Geschlechtsgenoss*innen. Aber diese Argumentation muss man strikt von der Argumentation der weißen europäischen bürgerlich-patriarchalen Männer trennen, die eine sowohl in Form wie auch Inhalt rassistische Argumentation vorbringen.</p><h2>Und die Männer?</h2><p>Männer, denen – mit Ausnahme von gewissen Institutionen und LGBTIQ+-Erfahrungen – noch nie in ihrem Leben in ihre Kleidung hineingeredet wurde, haben keinen Begriff davon, was es heißt, aufgrund einer bestimmten Kleidung nicht auf die Straße oder ins Einkaufszentrum gehen zu können beziehungsweise sich dafür umziehen, ein Kleidungsstück aus- oder anziehen zu müssen. Und wie sie keinen Unterschied zwischen der freien Wahl eines Kleidungsstücks aus religiösen Gründen und dem erzwungenen Tragen eines Kleidungsstücks sehen, so sehen sie auch nicht, dass das erzwungene Ablegen eines Kleidungsstücks eben auch nur ein weiterer Zwang ist.</p><p>Nun gut, Männer, die für die Frauen*befreiung eintreten und mit denen wir in vielen Bereichen gemeinsamen marschieren, hinterfragen also religiös konnotierte Kleidungsstücke und wollen sie im Namen der Frauen*befreiung verbieten. Aber hinterfragen sie auch ihre eigene Männlichkeit, die vom Patriarchat beherrschten Religionen, oder das bürgerliche Verständnis von Mode, das oft stark vom Geschmack der Männer beeinflusst ist?</p><p>Das Einzige, was Männer hinsichtlich dieser Abstimmung verstehen sollten, ist Folgendes: Es ist überhaupt nichts Emanzipierendes daran, wenn die Kleidung von Frauen* zum Politikum wird und eine Abstimmung darüber auch Männern offen steht. Dieses Recht gibt ihnen der patriarchale Schweizer Staat. Dass nun vor allem Männer, die in vielen politischen Initiativen mit uns Seite an Seite stehen, diesen Unsinn im Namen der Befreiung der Frauen* verteidigen und dafür stimmen, ist eine inakzeptable linke Männerkrankheit. Es ist zugleich der Versuch das zu verschleiern, was die Frauen* wirklich unterdrückt und ausbeutet.</p><h2>Was Frauen* wirklich gefangen hält</h2><p>Aus meiner Sicht ist es zentral zu hinterfragen, was es denn nun wirklich ist, das Frauen* so unterdrückt und gefangen hält, dass sie nicht einmal ihre Kleidung frei wählen können. Die islamische Religion, die einige gesellschaftliche Regeln zusammenfasst und gewisse Glaubenswerte zum Ausdruck bringt? Oder ist es doch eher die Tatsache, dass diese Religion von patriarchalen Strukturen geprägt wurde und dass sich Männer das Recht herausnehmen ihre Regeln zu bestimmen, die dann wiederum das Leben der Frauen* in ein Gefängnis verwandeln?</p><p>Es ist eine Realität, dass der Islam, wie alle Religionen, unter starkem patriarchalen Druck geprägt wurde und deshalb der freie Wille der Frauen* immer beiseite geschoben wurde. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, wo Frauen* nicht nur über ihre Kleidung nicht frei entscheiden können, sondern auch ihren Glauben nicht frei leben können. Was hier die Freiheit der Frauen* wirklich beschränkt, ist also nicht ein Stück Stoff, sondern das Patriarchat. Patriarchale Strukturen haben sich in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphären festgesetzt und über Arbeit und Körper der Frauen* ein Herrschaftssystem errichtet.</p><p>Wenn es aber um die Frauen*emanzipation geht, dann können wir erst dann von einer wirklichen Freiheit sprechen, wenn Frauen* einzig und allein selbst darüber entscheiden können wie sie ihren Körper verhüllen. Wir sind nicht allein dadurch freier, dass wir Kleidung tragen, die mehr von unserem Körper zeigt. Wir sind frei, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen selbst und ohne Manipulation treffen können. Erst in einer Situation, wo wir also völlig selbstständig und frei von Manipulation entscheiden können, was wir tragen wollen, sind Shorts und Burka gleichermaßen tatsächlich nur mehr Stoffstücke.</p><p>Kurz gefasst: Sich für die Emanzipation der Frauen* einzusetzen heißt, sich für die Entwicklung des freien Willens der Frauen* und für die Aufhebung des patriarchalen Drucks auf Frauen* zu kämpfen. Ein solches Gesetz zu entwerfen und zur Abstimmung zu bringen heißt jedoch, ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten der Frauen* als Menschen (was nicht selten vergessen wird und unbedingt betont werden muss) zu lancieren.</p><p>Leider konnten die linken, feministischen Gruppen in der Schweiz, die den Gesetzesentwurf abgelehnt haben, vor der Abstimmung keine starke Initiative dagegen organisieren. Aber wenn wir Frauen* nicht wollen, dass sich Männer (oder ein von Männern beherrschtes System) das Recht herausnehmen, sich in die Kleidung von Frauen* einzumischen und irgendwann auch gegen unsere Shorts wettern, dann müssen wir uns klar gegen diese patriarchale Haltung stellen und einen Gegenstandpunkt organisieren.</p><hr/><p>Meral Çınar ist eine feministische Aktivistin aus der Schweiz. Sie ist auch eine Mibegründerin der migrantischen Selbstorganisation <a href="https://revoltmag.org/articles/unsere-lebensbedingungen-m%C3%BCssen-sich-grundlegend-%C3%A4ndern/">ROTA</a>.</p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p>Der Text erschien zu erst am 11. März auf Türkisch im feministischen Onlinemagazin <a href="http://feminerva.com/2021/03/isvicrede-burka-yasagi/"><i>feminerva</i></a>. Aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Alp Kayserilioğlu und Max Zirngast.</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
„Ich werde nie wieder die Rolle der stummen Zuschauerin akzeptieren“2020-11-25T09:49:29.279121+00:002021-02-13T12:19:37.725589+00:00Merle Weberredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ich-werde-nie-wieder-die-rolle-der-stummen-zuschauerin-akzeptieren/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>„Ich werde nie wieder die Rolle der stummen Zuschauerin akzeptieren“</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="xf7z2l3ou423.jpg" height="420" src="/media/images/xf7z2l3ou423.42e80471.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p></p><hr/><p></p><div>
<iframe width="100%" height="120" src="https://www.mixcloud.com/widget/iframe/?feed=https%3A%2F%2Fwww.mixcloud.com%2Frevolt_mag%2Faudio-ich-werde-nie-wieder-die-rolle-der-stummen-zuschauerin-akzeptieren%2F&hide_cover=1" frameborder="0"></iframe>
</div>
<p></p><p><i>Der Beitrag wurde eingesprochen von CeeJay und Emexota.</i></p><hr/><p>Ich möchte heute einen Ausschnitt meiner Geschichte mit euch teilen. Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen. Es ist schwer, daran zu denken. Es ist schwer, zu erinnern. Und das ist kein Zufall. Was man verdrängt, kann man nicht verurteilen. Was man verdrängt, kann man nicht anklagen. Was man verdrängt, kann man nicht bekämpfen.</p><p>Es ist kein Zufall, dass es so schwer ist, über die Dinge zu sprechen, die uns angetan werden. Wir werden stillgemacht. Die Täter leben mit der Angst, dass außer ihnen immer mindestens noch eine weitere Person weiß, was sie getan haben: Wir. Sie machen uns still, weil sie genau wissen, dass wir niemals vergessen werden, was sie uns angetan haben. Sie nennen uns Lügnerinnen. Sie werfen uns vor, dass wir übertreiben. Sie reden uns ein, wir bilden uns alles nur ein. Sie reden uns ein, wir seien zu empfindlich, wir seien verrückt, krank, dumm, schwach, selbst schuld. Sie tun alles, uns unsere eigenständige Wahrnehmung ihrer Taten zu nehmen. Denn in unserer Wahrnehmung sind sie Täter. Sie bekämpfen unsere Stimmen, gerade weil sie wissen, dass wir nicht übertreiben, dass wir nicht lügen, dass wir nicht verrückt sind. Gerade weil sie wissen, dass wir die Wahrheit sprechen, bekämpfen sie uns. Sie fürchten sich vor uns! Eine nach der anderen erheben wir unserer Stimme. Eine nach der anderen schlagen wir zurück. Sie wissen, dass sie uns nicht aufhalten können, wenn wir uns zusammentun. Und wir wissen es auch.</p><p>Die Taten eines anderen machen einen zum Opfer, das macht man nicht selbst. Ich bin zum Opfer gemacht worden. Aber ich weigere mich, mich dafür zu schämen. Ich bin nicht verantwortlich für seine Taten. Er soll sich schämen, für das was er mir angetan hat! Der Täter soll sich schämen! Ich bin Opfer und ich bin stolz. Stolz, dass ich überlebt habe. Stolz, dass ich heile. Stolz, dass ich kämpfe, gegen Typen wie ihn. Jetzt erst recht. Soll noch einer kommen und mich schwach nennen, ich weiß was ich durchgestanden habe. Ich weiß, wie schwer die Last ist, die ich trage. Ich weiß, wie stark ich bin. Es gibt nichts Stärkeres, als ein Opfer, dass überlebt, sich wieder aufbaut und aus seinem Schmerz Widerstand macht.</p><p>Wenn ich zurückblicke, gibt es vieles, was ich bereue. Ich habe viele Fehler gemacht. Ich hätte mir viel ersparen können, wenn ich besser auf mich aufgepasst hätte. Wenn ich mich besser und früher gewehrt hätte. Aber ich habe es nicht. Und das ist ok. Ich vergebe mir. Egal, wie viele Fehler ich gemacht habe. Egal, welche Fehler ich gemacht habe: Ich lasse mir nicht die Verantwortung für seine Taten zuschieben. Er allein ist verantwortlich für sein Handeln. Das Recht, sicher vor emotionalen, körperlichen oder sexualisierten Übergriffen zu sein, müssen wir uns nicht erst verdienen. Egal was wir tun. Wir haben es. Punkt.</p><p>Wenn er mit mir geredet hat, hat er mich immer zur stummen Zuhörerin seiner Heldengeschichten gemacht. Er hat erzählt und erklärt, erklärt und erzählt ohne Pause. Ich war für ihn nur Publikum. Wenn ich gesprochen habe, hat er mir nicht zugehört, und wenn ich ihm widersprochen habe, kam er gar nicht mehr klar. Also habe ich aufgehört. Irgendwann habe ich eigentlich gar nichts mehr gesagt. Ich habe meine Rolle angenommen in seinem Theater, in dem seine Geschichten spannender und seine Argumente besser waren als meine. Ich habe mich von ihm in die Rolle der stummen Zuhörerin drängen lassen. Ich habe mir meine Stimme von ihm nehmen lassen.</p><p>Ich bin zu ihm nach Hause gegangen und ich bin geblieben, obwohl ich mich gelangweilt habe. Ich bin geblieben, obwohl ich mich unwohl gefühlt habe. Ich habe Warnsignale ignoriert und bin geblieben. Ich habe meine eigenen Bedürfnisse übergangen, und meine eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt, weil ich dachte, dass ich nicht das Recht, habe ihn zu enttäuschen.</p><p>Ich habe mein erstes <i>nein</i> nicht durchgesetzt. Ich habe mein zweites <i>nein</i> nicht durchgesetzt, und alle, die danach kamen. Ich habe seine Manipulationen nicht durchschaut. Ich habe mein letztes <i>nein</i> nicht durchgesetzt und bin eingebrochen. Ich habe aufgegeben. Ich habe <i>ja</i> gesagt und gehofft, dass es schnell vorbeigeht. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe weder geschrien noch geschlagen. Ich habe in seinem Bett geschlafen und bin erst am nächsten Morgen gegangen. Ich habe verdrängt, was er getan hat. Ich habe mich dafür verantwortlich gemacht, dass es nicht schön war für mich. Ich bin ein zweites Mal zu ihm gegangen, um es besser zu machen. Ich hab‘ den Angst-Knoten in meinem Bauch ignoriert und bin trotzdem hingegangen. Habe wieder mein erstes <i>nein</i> nicht durchgesetzt. Bin wieder nicht gegangen. Ich habe wieder mein letztes <i>nein</i> nicht durchgesetzt und danach einfach gar nichts mehr gesagt. Ich habe wieder nichts getan und gewartet bis er fertig ist.</p><p>Ich habe wieder verdrängt was er getan hat. Ich habe nicht ernst genommen, dass es mir dreckig ging. Ich habe nicht ernst genommen, dass ich nachts von Vergewaltigungen träume und morgens nicht aufstehen will. Ich habe die Freude am Leben verloren. Ich habe angefangen mich selbst zu verletzen. Ich bin jeden Morgen aufgewacht und wollte nicht mehr leben. Ich bin jeden Abend eingeschlafen, und war froh, noch einen Tag geschafft zu haben.</p><p>Ich habe denen geglaubt, die mir das Gefühl gegeben haben, dass es mir schlecht geht, weil ich schwach und krank bin. Ich habe viel zu lange Menschen meine Freunde genannt, die mich stumm gemacht haben, statt zu fragen, was passiert ist. Ich habe ein Jahr gebraucht, um zu erinnern und zu benennen, dass ich vergewaltigt wurde. Ich habe heute, fast vier Jahre später, manchmal immer noch Probleme damit.</p><p>Ich hätte so viel besser machen können. Aber ich vergebe mir. Ich vergebe mir, dass ich mich nicht besser geschützt habe. Ich vergebe mir, dass ich ihn nicht aufgehalten habe. Ich vergebe mir, dass ich meine Wahrnehmung verleugnet habe. Ich vergebe mir. Er allein ist verantwortlich für seine Taten. Das Recht, sicher vor emotionalen, körperlichen oder sexualisierten Übergriffen zu sein, muss ich mir nicht erst verdienen. Egal was ich tue. Ich habe es. Punkt.</p><p>Ihm werde ich nie vergeben. Und auch wenn ich manchmal gerne würde, ich werde nie vergessen. Denn Erinnern heißt Kämpfen. Ich werde nie wieder aufhören mit dem Kämpfen. Ich werde nie wieder die Rolle der stummen Zuschauerin akzeptieren.</p><p>Also kämpfe ich, gegen ihn und jeden, der auf seiner Seite steht.</p><p>Für alles, was Menschen wie er uns genommen haben. Für alle, die nicht überlebt haben. Für alle, die ihre Stimme noch nicht gefunden haben. Für alle, die immer noch unter den Folgen leiden. Für alle, die ohne Angst vor Übergriffen leben wollen. Für jede von uns!</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Heute kümmern wir uns nicht! Frauen*streik in der Schweiz2019-06-22T09:58:04.108275+00:002019-06-22T09:59:31.841794+00:00Maja Tschumiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/heute-k%C3%BCmmern-wir-uns-nicht-frauenstreik-in-der-schweiz/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Heute kümmern wir uns nicht! Frauen*streik in der Schweiz</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Frauenstreik in der Schweiz am 14. Juni 2019" height="420" src="/media/images/5dmz5a2j02dx_RBHjBUs.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Am Morgen des 14. Juni ist die Vorfreude auf den Tag fast mit den Händen greifbar. Als ich mich durch die Straßen Berns Richtung Hirschengraben bewege, auf dem Weg zu einem Treffen mit einer ersten Gruppe von Frauen, sehe ich die Vorboten überall: Die aufgesprühten Streiklogos, lila Luftballone und Transparente: „We don’t care“, „Patriarchat abschaffen“, „Wenn Frau* will, steht alles still“. Ich bemerke, wie ich bei jeder Person, die lila trägt, überlege, ob sie streikt. Jene, die streiken, werfen mir dann meist irgendwann einen Blick zu, der sagt: Wir sehen uns später! Eine Frau entschuldigt sich, dass sie arbeiten geht und nicht zum Streik kommt. Was für ein Tag, an dem sich mal nicht jene entschuldigen, die erwerbslos sind (der systematischen neoliberalen Disziplinierungs- und Abwertungsrhetorik gegenüber Menschen ohne Lohnarbeit sei Dank!), sondern umgekehrt. Bereits am Morgen liegt eine Energie in der Luft, aufgeladen von einer monatelangen Mobilisierung. Ich merke, wie es auch mich packt: aufgeregt rufe ich noch einmal meine Schwester an, sage ihr, sie müsse unbedingt zum Frauen*steik kommen. Sie ist selbstständig und Mutter von drei Kindern. Noch ist sie unschlüssig, ob sie kommen kann.</p><p>Bereits in der Nacht haben Frauen* in Zürich und in anderen Städten rasselnd und trommelnd zum Streik aufgerufen. Aktionen und kleinere Demoumzüge begannen schon in den frühen Morgenstunden. Am Ende des Tages werden sich in der gesamten Schweiz an die 500'000 Frauen* beteiligt haben: Sie* sind auf die Strasse gegangen, haben an Aktionen teilgenommen oder ihre* Arbeit niedergelegt. Der Frauen*streik vom Juni 2019 ist die grösste politische Demonstration der jüngeren Schweizer Geschichte. Und es ist nicht der erste Streik.</p><p>Während die zahllosen Frauen*streiks in Spanien, Deutschland und Italien am 8. März 2019 stattfanden, rief der Frauen*kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) im Januar 2018 zum Frauen*streik am 14. Juni 2019 auf. Man wollte damit an den historischen Tag vom 14. Juni 1991 anschliessen, an dem zum ersten Mal rund eine halbe Million Frauen* an Protest- und Streikaktionen teilnahmen. Anlass zum Streik 1991 war das zehnjährige Jubiläum der Verankerung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung. Der SGB rief damals zum Streik auf, weil die Umsetzung des Artikels nur zögerlich vorangetrieben wurde und nach wie vor gravierende Ungleichheiten und Ausgrenzungen bestanden. Man versuchte, einige zentrale Problemlagen anzugehen, die zuvor noch nicht einmal Thema politischer Auseinandersetzungen waren: So gab es – neben den zentralen Feldern der Lohnungleichheit und der sozioökonomischen Diskriminierung von Haus-und Carearbeit – zum Beispiel noch keinen gesetzlichen Mutterschutz. Der Frauenstreik 1991 führte natürlich nicht zur vollständigen Behebung von Lohnungleichheit und Diskriminierung. Dennoch sind seine Erfolge beträchtlich: Mitte der 1990er Jahre wurde vom Parlament verbindliche Regeln für die Umsetzung des Gleichstellungsartikels aufgestellt, darin war auch ein Verbot der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Dies war für die damalige Deregulierungseuphorie bemerkenswert. Und 2004 stimmte das Volk nach drei erfolglosen Anläufen einer Mutterschaftsversicherung zu. Damit wurde eine Verfassungsartikel von 1945 endlich umgesetzt.</p><p>Auch der diesjährige Frauen*streik beklagt die anhaltenden systematischen Ungleichheiten trotz gesetzlicher Verankerung der Gleichstellung in der Bundesverfassung. In vielen Forderungen von damals ist die Schweiz nämlich auch heute nicht viel weiter. Die Schweiz hat das teuerste Kinderbetreuungssystem der Welt. Meist lohnt es sich für Frauen* mit zwei Kindern nicht mehr, Vollzeit zu arbeiten, weil so ihr ganzer Lohn direkt für die Kinderbetreuung ausgegeben werden müsste. Zudem haben bis heute Väter lediglich einen Tag Vaterschaftsurlaub und die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen* für gleiche Arbeit beträgt noch immer im Schnitt um die 20 Prozent. Dies alles führt zu einer systematischen Benachteiligung der Frauen* auf dem Arbeitsmarkt, in der Altersvorsorge und in der Kinderbetreuung.</p><h2><b>Internationale Streikvorposten und Mobilisierung</b></h2><p>Der diesjährige Frauen*streik verdankt seinen Schwung in der Mobilisierung diesmal nicht einem Jubiläum, sondern einer internationalen Bewegung, die 2016 in Argentinien und dann in ganz Südamerika unter dem Hashtag #NiUnaMenos aufkam und der #Metoo-Debatte in Europa und den USA. So kam es 2018 in 177 Ländern zu Demonstrationen und Kundgebungen, wobei Spanien mit einem Generalstreik für die Gleichberechtigung, an dem mindestens fünf Millionen Menschen teilnahmen, besonders hervorstach. Im Folgenden wurde die Idee eines Streiks auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, Polen (dort mit dem Fokus auf dem Recht auf legale und staatlich finanzierte Abtreibung) und der Schweiz, aufgegriffen.</p><p>Auch wenn in der Schweiz die Gewerkschaften den Frauen*streik aktiv vorantrugen, handelte es sich nicht um einen klassischen, von Gewerkschaften initiierten Streik. So kam dann auch von einigen Seiten die Kritik, man würde damit den Begriff des Streiks aushöhlen: Die zentrale Demonstration fand um 17.30 Uhr statt und Frauen* konnten auch nach der Arbeit teilnehmen. Dennoch gab es bereits tagsüber tausende Aktionen und den Aufruf an alle Frauen*, um 15.24 Uhr ihre Arbeit niederzulegen. Bei einer klassischen nine-to-five-Woche (auf Vollzeitstellen gerechnet) beginnen dort nämlich täglich die rund 20 Prozent unbezahlte Arbeit von Frauen*.</p><p>Es macht sehr viel Sinn, von einem Streik zu sprechen: Es handelt sich um einen politischen Streik. Der Begriff verweist neben den Protestaktionen und der Demonstration auch auf die ungesehene, unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit, die von Frauen* gleistet wird – in der Reproduktion wie auch in der Produktionsphäre. Klassische Streiks im Sinne einer Arbeitsniederlegung fanden vorwiegend im öffentlichen Sektor, im Bereich der Altenpflege und in der Reinigung statt. Dort wurden teilweise auch wichtige Erfolge verzeichnet: in Luzern erreichten zum Beispiel Angestellte einer Reinigungsfirma nach drei Stunden Arbeitsniederlegung, dass Reise und Vorarbeitsarbeiten in Zukunft bezahlt werden. Die Mobilisierung war sehr breit abgestützt und ging von sehr verschiedenen Gruppen aus. Das machte es möglich, dass über eher klassisch feministische Streikforderungen – nach gleichem Lohn, mehr Betreuungsmöglichkeiten für Familienangehörige und dem aktiven Kampf gegen Sexismus – auch durchaus antikapitalistische und antifaschistische Forderungen im breiten Bündnis mitgetragen wurden.</p><p>Den ganzen Tag über erscheinen immer neue Meldungen über Streikposten und erfolgreiche kreative Aktionen gegen reaktionäre Rollenbilder, antifeministische politische Kampagnen, die rassistische und sexistische Migrations- und Austeritätspolitik und vieles mehr.</p><p>Und dann sagt auch meine Schwester zur Demonstration am Abend zu. Wir treffen uns um 17 Uhr in Bern. Als wir uns treffen, werden wir beide von der Euphorie ergriffen. Wir fühlen uns stark, mutig, aufgehoben und schön. Ich merke, dass uns beide diese Erfahrung prägen und weitere Kämpfe daran anknüpfen werden. Meine Schwester und ich sind beide selbstständig arbeitend: ich als Dokumentarfilmregisseurin, sie als Naturmedizinerin mit drei Kindern. Beide erfahren wir auf unterschiedliche Weise die Einschränkungen und Hindernisse aufgrund der patriarchalen Verhältnisse und unseres Geschlechts. Um nur ein Beispiel zu nennen: Meine Schwester muss sich als Mutter immer wieder rechtfertigen, dass sie «ernsthaft» arbeitet und ich realisiere immer mehr, dass ich mich in einem Beruf bewege, in dem es kaum Strukturen für die Vereinbarkeit von Beruf eine Familie gibt und darüber hinaus Frauen* im Lohn und in der Sichtbarkeit - strukturell - stark diskriminiert werden. Es braucht viel Kraft, sich dagegen immer wieder zu behaupten. Wir haben aktuell diese Kraft, doch wir würden sie gerne für anderes einsetzen.</p><h2><b>Ist das erst der Anfang?</b></h2><p>Die Schweiz hat kaum eine Streikkultur. Daher trug der Frauen*streik auch zur Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit bei, sich diesem Kampfmittel wieder mehr anzunhähern. Unter diesem Begriff setzten die Frauen* den Tag nicht nur in die Tradition des Kampfes um Gleichstellung, sondern auch des Klassenkampfes. Und das ist wichtig, denn es sind vor allem bürgerliche Frauen*, die sich auf einem patriarchal ausgerichteten Arbeitsmarkt behaupten können, weil sie über die Mittel verfügen, die Reproduktionsarbeit auf eine andere – meist migrantische oder weniger gut situierte – Frau* auszulagern.</p><p>Die Forderungen des Frauen*streiks dieses Jahr sind nicht neu. Nichtsdestotrotz müssen sie mit neuer Vehemenz eingefordert werden. Und die Teilnahme von 500'000 Menschen am Frauen*streik 2019 hat ein deutliches Zeichen für die Dringlichkeit dieser Forderungen gesetzt. So gingen in Zürich 160'000 Frauen* auf die Strasse, in Basel 40'000 und in Bern 40'000 und in Lausanne 30'000. Aber auch in kleineren Städten wurde gestreikt. Es nahmen zahlreiche Frauen* am Streik teil, die Diskriminierung und Ungleichbehandlung direkt an ihrem Körper, in ihrem Leben oder in ihrer Familie erleben, ohne jedoch direkt politisch oder gewerkschaftlich organisiert zu sein. Bereits in den frühen Morgenstunden war eine aussergewöhnliche Stimmung in den Städten und die Solidarität zwischen lila gekleideten Frauen* bereits zu spüren. Es war für einmal ein Tag, an dem sich Frauen* entschuldigten, zur Arbeit zu gehen. An den Demonstrationen war die Stimmung euphorisch. Zentral war an diesem Tag aber nicht nur die materielle Arbeitsniederlegung, sondern auch sich in die Augen zu schauen und zu erkennen, dass man mit den eigenen Problemen und Wünschen nicht alleine ist. Das macht Mut, gibt Kraft und ist der Anfang von einer Organisierung. Die Demonstrationen bestanden zu 80 Prozent aus Frauen* - aus allen Schichten, Altersklassen und auch Frauen* mit Migrationshintergrund nahmen teil.</p><p>Neben den Erfolgen in konkreten Arbeitskämpfen, war wohl der grösste Verdienst der Frauen* an diesem Tag, ihre Forderungen kämpferisch sichtbar gemacht zu haben und auch untereinander die grosse und überschwängliche Solidarität untereinander gespürt zu haben, die diesen Tag ausmachte. Selten wurde so viel und auf so differenzierte Weise über die Lage der Frauen* in der Schweiz debattiert wie im Vorfeld des Frauen*streiks. Jene Frauen*, die am 14. Juni dabei waren, werden diesen Tag nicht so schnell vergessen. Auch wenn die Forderungen an diesem Tag sehr breit und heterogen waren, haben wir alle zumindest eines ganz klar gespürt: Wir sind nicht allein und wir können, wenn wir solidarisch sind, eine ungemeine Kraft entfalten: Gegen das Patriarachat, gegen den Kapitalismus, gegen Ausbeutung und Diskriminierung.</p><p>Auch bei „Friday for Future“ und in verschiedenen migrantischen Bewegungen sind es international die Frauen* die sich gegen kapitalistische Ausbeutung und rechtskonservative und faschistoide Politiken und Mobilisierungen zur Wehr setzen. Das wird nun auch besonders mit diesem Streik deutlich. Die langfristige politische und organisatorische Wirkung des zweiten nationalen Frauen*streiks bleibt noch abzuwarten. Was aber definitiv klar ist: er wird in die Geschichte eingehen!</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Die feministische Internationale2018-11-08T10:00:00+00:002018-11-08T11:09:19.562818+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-feministische-internationale/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Die feministische Internationale</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="44584892_693362047701823_9053310487487315968_o(1).jpg" height="420" src="/media/images/44584892_693362047701823_9053.57492425.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">frauen*streik</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Unter dem Banner des Frauen*streiks haben sich seit einigen Monaten Frauen* zusammengefunden, die mit unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Hintergründen gemeinsam aktiv geworden sind. Redakteurin Johanna Bröse im Gespräch mit Jenny und Anthea, die in Berlin im Streik-Komitee aktiv sind. Es geht um die Stärke des Streik-Begriffs in Theorie und Praxis, um historische Vorbilder und internationale Verbündete und um die Frage, wie radikal ein feministischer Streik sein kann – oder muss.</i></p><p></p><p><b>Hallo ihr beiden! Erzählt doch bitte zuerst einmal: Wie entstand der Zusammenschluss des Frauen*streiks?</b></p><p><b>Anthea:</b> Wir haben uns im Mai das erste Mal in Berlin getroffen. Das war ein sehr offenes Treffen, an dem unterschiedliche Gruppen, Netzwerke, Bündnisse und Einzelpersonen beteiligt waren. Diesen offenen Charakter wollten wir beibehalten. Das heißt, wir sind kein klassisches Bündnis, sondern wollen wirklich offen sein und allen Leuten möglichst breite Beteiligung ermöglichen. Daher sprechen wir auch als Einzelpersonen und nicht als Repräsentantinnen für das gesamte Streikkomitee.</p><p><b>Jenny:</b> Seit wir hier in Berlin das offene Treffen machen, kommen immer total viele Frauen* und fühlen sich von der Idee sehr angesprochen. Wir haben schon in verschiedenen Städten Veranstaltungen gemacht, und die Anzahl der Beteiligten steigt immer weiter, neue Gruppen gründen sich. Diese Eigendynamiken nehme ich schon als Zeichen wahr, dass die Leute Lust darauf haben.</p><p><b>Was macht den Frauen*streik besonders?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ein Streik ist ja sowieso <i>der</i> klassische Kampf im Arbeitsbereich – aber der Frauen*streik erweitert diesen Bezug noch. Er macht eine feministische Perspektive darin auf: Es wird nicht mehr nur Lohnarbeit einbezogen, sondern eben auch Sorge- und Care-Arbeit. Es geht damit um generelle Arbeitsverhältnisse, nicht nur um Lohnarbeitsverhältnisse. Und dadurch geht es auch nicht nur um den klassischen Tarifstreik, sondern um eine erweiterte Form des Streikbegriffs. Es geht also nicht nur darum, für bessere Löhne oder bessere Arbeitsverhältnisse in der Lohnarbeit zu kämpfen, sondern gleichzeitig für bessere Bedingungen in der Care- und Pflegearbeit, in der Kinderbetreuung, im Haushalt und so weiter. Der Streik richtet das Augenmerk auf die geschlechtliche Arbeitsteilung in ganz vielen Bereichen, auf unsichtbare oder unbezahlte Arbeit, die in der Gesellschaft viel häufiger von Frauen* geleistet wird. Damit geht es konkret um gesellschaftliche Verhältnisse, auch um Sexismus, sexualisierte Gewalt und so weiter. Die Stärke eines feministischen Frauen*streiks mit diesem Grundsatz ist, dass er das alles miteinbeziehen kann und dabei – trotzdem und gerade deswegen! – vor allem ein Arbeitskampf ist. Weil es alles Arbeit ist. Und das wird durch den Streikbegriff deutlich. Das ist wirklich stark. Ich freue mich sehr darüber, wie viel da gemeinsam bearbeitet wird, und wie viele feministische Kontexte unter diesem Regenschirm des Frauen*streiks zusammenkommen können.</p><p><b>Jenny:</b> Der Frauen*streik ist letztlich ein politischer Streik. Es geht uns um ein anderes Verständnis von Streik und Arbeit. Wir wollen nicht nur einen altbekannten Arbeitskampf am Arbeitsplatz führen. Sondern wir wollen <i>alle</i> Arbeit bestreiken, das heißt Pflegearbeit, Hausarbeit, Reproduktionsarbeit, emotionale Arbeit, die unsichtbar gemacht wird und so weiter. Wir wollen damit auch in die öffentliche Debatte eingreifen und deutlich machen, was für Arbeit wir jeden Tag leisten. Und ich würde noch hinzufügen, dass das Besondere die Praxisform ist. Dass wir deutlich sagen "Wir streiken!", das finde ich ansprechender und ausdrucksstärker als die Demonstrationen, die in den letzten Jahren um den Frauen*kampftag um den 8. März herum stattgefunden haben. Diese waren wichtig, aber wir haben beschlossen: Wir wollen nicht mehr nur demonstrieren, sondern wir streiken, weil es uns reicht. Für mich zeigt der Begriff und die Praxis des Streiks, dass Frauen* von ihrer Stellung in der Gesellschaft her Macht haben, und dass wir diese auch nutzen sollten. Dafür müssen wir uns nur zusammenschließen.</p><p><b>Ihr hebt also die politische Komponente des Streiks und die Stärke des Begriffs hervor. Jetzt ist ja der Frauen*streik an sich kein ganz neues Phänomen. Könnt ihr erzählen, woher die Frauenstreikidee kommt und ob ihr euch auf andere feministische Kämpfe bezieht?</b></p><p><b>Jenny:</b> Auf jeden Fall. Die Erfolge der feministischen Streiks in Argentinien, in Polen, in den USA und in Spanien in den letzten Jahren haben definitiv Mut gemacht. Man spürte o den enormen Rückhalt für die streikenden Frauen* aus der Gesellschaft heraus, das war sehr inspirierend. Wenn wir auf die eigene Geschichte in Deutschland schauen, finde ich auch den Frauen*streik, den es hier 1994 gab, sehr zentral. Der Blick auf die Erfahrungen von damals, auf diesen fast vergessenen Streik, ist aus vielen Gründen wichtig, vor allem aber aufgrund der rechtlichen Voraussetzungen von Streiks. Streikbedingungen sind nämlich überall unterschiedlich, und in Deutschland ist der politische Streik als solcher zum Beispiel verboten. Daher ist der Streik in Deutschland 1994 ein wichtiger Anknüpfungspunkt, weil er mit der ähnlichen rechtlichen Struktur ausgefochten wurde. Da anzuknüpfen, mit den Streik-Aktivist*innen von damals zu sprechen und von ihren Erfahrungen zu lernen und sie mitzunehmen, das ist total wichtig.</p><p><b>Anthea:</b> Ich würde den Streik in Spanien hervorheben. Er ist zwar nicht wirklich eine historische Bezugnahme, aber nur deshalb, weil er immer noch anhält. Er hat starken Einfluss weltweit hinterlassen und für große Motivation gesorgt. Man muss sich das einmal vorstellen: In diesem Jahr sind in Spanien am Frauen*kampftag fünf Millionen Frauen* auf die Straße gegangen und haben einen unglaublich breiten Protest veranstaltet. Dieser hat sozusagen die Kraft deutlich gemacht, die Frauen* haben. Es gab in den letzten Jahren schon öfter die Versuche, auch in Deutschland einen Frauenstreik wieder aufleben zu lassen. Man kann jetzt ein bisschen spekulieren, warum es bei diesen Versuchen noch nicht so geklappt hat, aber ich glaube, ein wichtiger Grund, warum das jetzt mit so viel Kraft passiert, ist, weil die Frauen* merken, dass überall sonst auch viel passiert. Es sind lauter einzelne feministische Bewegungen, die dabei sind, eine feministische Internationale zu bilden.</p><p><b>Zwar haben in den letzten Jahren Streiks im Sorge-Bereich, in Kitas, Krankenhäusern und so weiter zugenommen, aber eine verbindende, feministische Perspektive hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Woran macht ihr fest, dass sich daran nun etwas ändert? Wie läuft der Frauen*streik an – und gibt es darin auch Dynamiken, von denen ihr selbst überrascht seid?</b></p><p><b>Jenny:</b> Es gibt Signale, auf die wir total gehofft haben: Wenn wir von der Idee des Frauenstreiks erzählen, fühlen sich sehr viele Menschen sofort angesprochen. Wir haben schon in verschiedenen Städten Veranstaltungen gemacht, und die Anzahl der Beteiligten steigt immer weiter. Auch wenn wir hier in Berlin offene Treffen (bei Interesse einfach auf der Seite des Frauen*streiks informieren, Anm. Red.) machen, kommen immer sehr viele Frauen*. Es entwickeln sich dabei auch Eigendynamiken, verschiedene Arbeitsgruppen entstehen und so weiter. Das nehme ich schon als Zeichen, dass die Idee auf fruchtbaren Boden fällt.</p><p><b>Anthea</b>: Manchmal überrascht es uns aber dennoch, wie rasant sich die Idee verbreitet. In verschiedenen Städten und Regionen haben sich nun Gruppen gegründet: in NRW, Leipzig, Hamburg, Dresden, Augsburg, Freiburg, Jena, München und so weiter. Es ist schön zu sehen, wie der Ansatz Erfolg hat, dass die Frauen* in all den unterschiedlichen Städten dezentrale Strukturen aufbauen, sich vernetzen und eigene Ideen für die Streikpraxis einbringen. Man kann uns als Streik-Komitee auch in Städte oder Regionen einladen, wenn es dort Frauen* gibt, die sich organisieren wollen.</p><p><b>Jenny</b>: Und nun steht unser erstes bundesweites Treffen vor der Tür. Es wird am 10. und 11. November in Göttingen stattfinden und der Ort sein, an dem das erste Mal Menschen aus den verschiedenen Streik-Komitees und Netzwerken zusammentreffen. Und in Berlin ist die nächste Aktion am 25. November die Demo zum internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen*. Es wird unter anderem vom International Women Space organisiert, und wir werden die Demonstration soweit wir können unterstützen.</p><p><b>Lassen sich die unterschiedlichen Formen von selbstorganisierten oder wilderen Streiks, von Widerständigkeit am Arbeitsplatz, in den letzten Jahren auch als Wegbereiter für euren Streik lesen? Beziehungsweise, inwiefern haben die verschiedenen Kämpfe von Marginalisierten und Prekarisierten in Deutschland einen spezifischen Platz im Frauen*streik?</b></p><p><b>Anthea</b>: Die Zunahme an Streikformen von Prekarisierten abseits der klassischen Lohnarbeit kommt definitiv dem Frauen*streik zugute. Wir lernen aus den Erfahrungen, vieles fließt auch in unsere Planungen ein. Vor allem auch, weil es in einem solchen Frauen*streik, der ja ein politischer Streik ist, kreative Formen braucht, um zu streiken. Arbeitsniederlegungen in der klassischen Form sind ja teilweise nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, vor allem in den stark prekarisierten Berufen. Es ist wichtig Streikformen zu finden, die es ermöglichen mit zu streiken ohne den Arbeitsplatz zu gefährden! Da kann man auf jeden Fall sehr viel aus den vergangenen Kämpfen ziehen, sei es von den kraftvollen Streiks migrantisierter Menschen, von Bummelstreiks oder den „Dienst nach Vorschrift“ -Widerständen im Pflegebereich. Von solchen Kämpfen profitiert der Frauen*streik total, weil wir diese Stärke brauchen und auch selbst hervorbringen wollen. Mit unserem Streik setzen wir direkt an den Ausbeutungsverhältnissen an, und das haben uns zum Beispiel die genannten Streiks gelehrt.</p><p><b>In anderen Ländern, etwa in der Türkei oder in Brasilien, kann beobachtet werden, dass feministische Strukturen die stärkste Gegenwehr gegen zunehmende autoritäre Staatsbestrebungen sind. Auch in Deutschland wird das aktuell zum Thema: Feminismus als Bollwerk gegen rechts muss neu gestärkt werden. Wie seht ihr das?</b></p><p><b>Anthea</b>: Man muss zunächst einmal sehen, dass der Antifeminismus einer der zentralen Verknüpfungspunkte zwischen all den unterschiedlichen Akteuren der rechten und neurechten Bewegungen ist. Das erhöht nur noch die Notwendigkeit, aus einer feministischen Offensive heraus stark gegen rechts aufzutreten. Eine Stärke beim Frauen*streik – oder generell an den feministischen Bewegungen, die sich derzeit weltweit aufgestellt haben – ist, dass er ermöglicht, aus der klassischen Defensiv-Politik herauszukommen. Auch in Deutschland sind die Elemente des Frauen*streiks für mich das erste Mal seit längerem Ausdruck einer offensiven Politikpraxis. Das macht ihn sehr stark: Er weist nach vorne, kämpft stärker <i>für</i> etwas, nicht immer nur dagegen. In dieser Offensive liegt auch eine Strategie gegen rechts.</p><p><b>Jenny</b>: Unser Konzept beruht ja unter anderem darauf, dass wir den Streik als Praxisform begreifen. Wir gehen davon aus, dass man, um eine erfolgreiche linke Politik machen zu können, feministische Kämpfe als das sehen muss, was sie derzeit sind: Die erfolgreichsten Kämpfe. Es ist deutlich, dass wir klare feministische Forderungen in Bezug auf die Geschlechterfrage, auf Patriarchat und Kapitalismus weiter an zentraler Stelle positionieren müssen. Damit wenden wir uns unmittelbar gegen rechts.</p><p><b>Eine "Neue Klassenpolitik" gilt derzeit für viele Linke als eine Hoffnungsträgerin. Im Kern sind damit gemeinsame solidarische Praxen in ganz unterschiedlichen Feldern gemeint, die daran ansetzen, die entlang vielfältiger geschlechtlicher und ethnischer Linien aufgespaltene Arbeiter*innenklasse zu einen. Ist der Frauen*streik so eine Art praktischer Ausdruck eines Bemühens um Neue Klassenpolitik?</b></p><p><b>Jenny</b>: Ja, voll. Die ganze Debatte um Identitätspolitik versus Klassenpolitik wird im Frauen*streik produktiv bearbeitet und in der politischen Praxis ausgehandelt. Wir machen nicht nur eine abstrakte Herrschaftskritik, sondern fokussieren – wie Anthea vorhin schon sagte – auf die grundlegenden Ausbeutungsverhältnisse, unter denen wir leiden. Der Frauen*streik ist damit nicht das Ultimative, was kommt, sondern ein Mittel zum Zweck für gesellschaftliche Veränderung.</p><p><b>Anthea</b>: Volle Zustimmung.</p><p><b>Gibt es Bereiche, wo ihr auf Widerstand stoßt, oder ihr merkt: Oha, darauf müssen wir weiterhin gut aufpassen? Praktisch oder in den Diskussionen?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ein Punkt, der auf jeden Fall längerfristige Arbeit erfordert, ist der betriebliche Streik als Teil des Frauen*streiks. Wir können vielleicht jetzt noch nicht davon ausgehen, dass der Streik im kommenden Jahr schon total groß wird. Es handelt sich ja um einen politischen Streik, der gewerkschaftlich wenig Rückhalt hat. Rechtlich ist es eine Grauzone: Man kann nicht zu einem politischen Streik aufrufen, an dem sich etwa die Gewerkschaften offen beteiligen können. Sie können das einfach qua ihrer eigenen begrenzten rechtlichen Handhabe nicht. Das heißt für uns vor allem, dass wir eine weitere Aufgabe haben: den politischen Streik als solchen wieder zu legitimieren. Derzeit ist also der Streik in Betrieben noch eine sehr große Baustelle, an der wir noch viel arbeiten müssen. Unter anderem bedeutet das, sich die Frage zu stellen, wie man mit Gewerkschaften zusammenarbeiten kann.</p><p><b>Jenny</b>: Im Komitee selbst gibt es Menschen, die in Gewerkschaften sind, und auch generell viele Menschen in den Gewerkschaften, die die Idee total gut finden. Der Frauen*streik schließt ja auch an die Streiks an, die von Gewerkschaftsseite in den letzten Jahren unterstützt oder initiiert wurden.</p><p><b>Anthea:</b> Es ist auf jeden Fall eine langfristigere Vernetzungs-und Solidaritätsarbeit nötig. Aber das ist ok, weil wir wollen ja nicht nur 2019 streiken, sondern es geht ja auch um langfristige Perspektiven. Wir wollen den Frauen*streik langfristig aufbauen, und immer größer werden.</p><p><b>Jenny:</b> Genau. Wir sammeln weiterhin kreative Ideen, wie man auch in dieser Lage streiken kann, ohne den Job der Einzelpersonen zu gefährden. Das ist ein langfristiger Prozess, bei dem uns noch ein paar Steine im Weg liegen.</p><p><b>Alex Wischnewski und Kerstin Wolter, die ebenfalls Teil des Streik-Komitees sind, haben den Streik in einem</b> <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1086551.feministischer-streik-zeit-fuer-die-naechste-eskalationsstufe.html"><b>Artikel</b></a><b> "die nächste Eskalationsstufe" genannt. Es liegt nahe, bei euch nachzufragen: Wie radikal ist der Frauen*Streik?</b></p><p><b>Anthea:</b> Ich finde, dass der Aspekt der Radikalität sehr zentral ist. Wir haben viel Potenzial. So divers unser Komitee und unsere Diskussionen auch sind, gibt es wenig Kontroversen in der Einschätzung von kapitalistischer Ausbeutung im Arbeitsbereich und in der sozialen Reproduktion, die vor allem durch Frauen* geleistet wird. Diesen Mechanismus aufzubrechen, der die kapitalistische Maschine am Laufen hält, dagegen zu kämpfen und darüber hinauszuweisen, darüber sind wir uns einig. Gleichermaßen die Verbindung von Kapitalismus und Patriarchat und die Herrschaftsverhältnisse, die sie reproduzieren: Dagegen kämpfen wir.</p><p><b>Jetzt habt ihr vorhin schon das anstehende Vernetzungstreffen in Göttingen genannt. Dass wir unsere Leser*innen dazu auffordern, dort hinzufahren: Eh klar, aber könnt ihr dazu noch etwas mehr sagen? Und wie kann man den Frauen*streik weiterhin unterstützen?</b></p><p><b>Anthea</b>: In Göttingen geht es vor allem darum, uns gegenseitig kennenzulernen und zu vernetzen. Wir wollen sehen, wie in den verschiedenen Städten und Netzwerken gearbeitet wird, welche Aktionen die Streikkomitees planen und was unsere gemeinsame Arbeitsform sein könnte. Wir wollen an einem bundesweiten Aufruf arbeiten, um gemeinsam aufzutreten und zu zeigen: Darum machen wir den Frauen*streik! Und nicht zuletzt wollen wir auch schon aktiv in die Vorbereitung einsteigen, Verabredungen treffen und kreativ werden. Das Treffen ist offen für alle, auch für interessierte Einzelpersonen. In den Städten, in denen es bereits Netzwerke gibt, kann man super in die AG-Strukturen einsteigen, aber es ist auch total cool und wichtig, einfach vor Ort – am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld und so weiter – mit Leuten zu sprechen und in den Austausch zu starten. Ob man gemeinsam am 8. März einen Betriebsrat einberufen will oder man mit anderen Frauen* gemeinsam andere Aktionsformen findet: Es geht darum, das Thema im Umfeld stark zu machen.</p><p><b>Jenny</b>: Der Kongress in Göttingen ist offen für FLTI*-Personen (Frauen*, Lesben, Trans, Inter, Anm. Redaktion). Aber für cis-Männer (Begriff für männlich sozialisierte, heterosexuelle Menschen, Anm. Redaktion), gibt es bereits Vernetzungsstrukturen solidarischer Männer*, welche die Kinderbetreuung unterstützen wollen. Es können gerne noch mehr werden.</p><hr/><p>Auf der Webseite des Frauen*streiks gibt es Informationen zu anstehenden Veranstaltungen, Flyer und Materialien, Links zu weiteren interessanten feministischen Gruppen weltweit und vieles mehr: <a href="http://frauenstreik.org">frauenstreik.org</a></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Die Vergessenen2018-05-12T11:49:18.402761+00:002018-06-12T20:48:06.098136+00:00Katja Bartholdredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-vergessenen/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Die Vergessenen</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Ein Werkstor, auf dem Schilder angebracht sind" height="420" src="/media/images/martina_Roell_-_flickr.5f160efa.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Martina Roell | Flickr</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>„Ich bin keine Feministin!“,
reagiert Beate auf mein Lob, während sie am Streikposten Flyer verteilt. Sie
ist seit Jahrzehnten angestellt in einem Betrieb der Metallindustrie und setzt
sich seit Jahren als einzige Frau im Betriebsrat für die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten ein. „Das war am Anfang nicht ohne, ich musste mich ganz schön
durchsetzen“, erzählt sie über ihre ersten Jahre der Arbeit im Betriebsrat und
der Gewerkschaft: In einer immer noch männlich dominierten Sphäre. Sie bringt
sich ein, stellt Fragen und kämpft leidenschaftlich und beharrlich für mehr
Rechte für Beschäftigte und auch für Frauen außerhalb des Betriebes. Oft kommt
sie bereits vor Arbeitsbeginn, um ihre Kolleginnen nicht nur für die
Betriebsratswahl zu informieren, sondern auch vor den Kollegen zu warnen, die
sie für die AfD werben wollen. Und dennoch ist sie nicht angebunden an eine
feministische Bewegung. Sie kämpft allein mit wenigen. Obwohl sie noch nie
eingeladen wurde zu feministischen Treffen oder Kontakt zu denen hatte, die
sich als feministische Szene behaupten, weiß sie, dass sie kein Teil davon ist.</p><p>
</p><p>Ich bin auf einer Konferenz zum
Frauenkampftag und erlebe das, was ich selbst aus einigen Feminismustreffen
bereits kenne. „Asozial sagt man nicht“, wird eine ältere Frau zum Schweigen
gebracht, als sie die heutigen Arbeitsbedingungen mit diesem Adjektiv
beschreibt. Die Frau ist Tischlerin und hat sich in der DDR während einer
weiterbildenden Studiums in sogenannten Frauenkreisen engagiert und
Frauenhäuser aufgebaut. Mit der LGBT-Bewegung und Sternchenschreibung kann sie
jedoch nichts anfangen. Danach sagt sie nichts mehr. Arbeitsbedingungen sind
während der weiteren Workshops kein Thema mehr. Jetzt geht es um Sexismus in
der linken Szene, darum, nicht allein den Tisch abräumen zu wollen im besetzten
Haus, es geht um die Frauenquote in guten Jobs und die Gestaltung von
männerfreien Workshops. All das sind wichtige Themen. Die Sprache ist gegendert
und auch der Kleidungsstil der anwesenden Frauen erscheint auf den ersten Blick
rebellisch; auf den zweiten jedoch einer Einheitlichkeit angepasst. Irgendwann
ist die ältere Dame nicht mehr da.</p><p>
</p><p>Zwei Szenen, die nichts miteinander zu tun haben – leider.</p><p>
</p><p>Im Betrieb ist Beate oft allein
mit ihrem Mut. Die meisten Männer dort belächeln sie für die Aktionen der
Ortsfrauen ihrer Gewerkschaft am Frauentag. Sie bräuchte genau das, was die
Feministinnen in ihren Bündnissen haben: Orte und „Raum“ zum Austauschen – und
eine Gemeinschaft. Und dennoch lade ich sie nicht zu diesen Treffen ein. Denn
ich weiß, sie wäre dort kein Teil von etwas; sie wäre eine Außenseiterin aus
einer rauen, nicht erwünschten Welt. Beate bezeichnet sich als Arbeiter und
nicht als Arbeiterin. Oft seufzt sie „typisch Männer – so sind sie halt“ und
findet nicht jeden sexistischen Witz skandalös. Ihre Sprache würde anecken, ihr
Lebensstil als spießig identifiziert und niemand würde mit ihr in den Pausen
sprechen.</p><p>
</p><p>Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe
in der Industrie seien abzulehnen, sie dienten lediglich zur Erhaltung von
Privilegien weißer Männer, ist der Grundtenor von Thesen, die ich von Prof. Dr. Silke van Dyk und Stefanie Graefe auf einer
Tagung zum Thema „Arbeiterbewegung von rechts?“ zu hören bekomme [Editoriale Anmerkung hierzu am Ende des Textes]. Sie bekommen Applaus. Ich muss
an Beate und ihre Kolleginnen denken, die nicht einmal Erwähnung finden und
frage mich, um wessen Privilegien es in dieser Diskussion wirklich geht. Beate
wird davon nichts erfahren, denn auch diese Diskussionen werden ausschließlich
von AkademikerInnen geführt, über „sie“ – diese abstrakten Arbeiter. Und so
vertiefen sie sich immer weiter; die Gräben zwischen der Welt der (Fabrik-)Arbeit
und derer, die darüber diskutieren. Ohne sie zu kennen: die, die täglich im
Morgengrauen die Fabriken betreten und versuchen, sie am Ende des Tages auch
mit erhobenem Haupt wieder zu verlassen. Eine Welt, in der der
Interessengegensatz kein theoretisches Konstrukt, sondern täglich erfahrbare
Realität darstellt. An Orten, wo sie einst ein Kollektiv waren, werden jetzt
Kantinen gebaut, die durch eine Glaswand zwischen Angestellten und ArbeiterInnen
trennt. Eine Welt, in der versucht wird, die Konkurrenz unter den Beschäftigten
durch die Zahlung von Prämien zu erhöhen. Eine Welt, in der 25-jährige ManagerInnen
50-jährigen FacharbeiterInnen ihre Austauschbarkeit vorhalten. In dieser Welt
gibt es sie noch, die rußverschmierten Arbeiter, die sich durchschlagen in
einer Welt voller Regeln und wenig Ertrag. Diese Welt macht denen Angst, die
sauber bleiben wollen. Sauber und unberührt von diskriminierenden Erfahrungen,
sexistischen Sprüchen und der Einfachheit der Menschen, die gleichzeitig
geprägt ist von Kollegialität und Gemeinschaft untereinander. In dieser Welt
gibt es auch viele Frauen. Frauen, die sich gegen ihre Arbeitgeber zur Wehr
setzen, sich unter ihren Kollegen Respekt verschaffen; aber auch Frauen, die
genug haben von Schichtarbeit und Kinderbetreuung und sich nicht einbringen. Sie vereint eins: Sie finden in der feministischen Szene kaum
Erwähnung und noch seltener Gehör.</p><p>
</p><p>Es ist nachvollziehbar, dass sich
Frauen in einer kapitalistischen Welt, die sie zur Ware degradiert, eine Rückzugs-
oder gar Wohlfühlzone schaffen, die durch Regeln sicherstellen soll, keine
Diskriminierung zu erfahren. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere junge
Frauen* diese Orte suchen; es braucht diese Räume, um eigene und gemeinsame Erfahrungen zu reflektieren Jedoch sind diese Räume oft in sich
geschlossen und prägen leider nicht den Charakter einer "Bewegung": Diese Welt ist starr und voller Verhaltensregeln. Die Debatten sind
ähnlich, die Awareness-Teams nicht neu und am Abend wird zu Sookee
getanzt. Aus Angst vor den
Eindringlingen aus der sexistischen Außenwelt werden die Regeln mithin so
diktatorisch, dass sie nicht zugänglich sind für die <i>anderen</i> Frauen, die ebenfalls betroffen sind von den
kapitalistischen Zwängen. Frauen, die nicht in linken Lesekreisen sozialisiert
wurden und sich vegan ernähren; Frauen, die nicht in den Büchern ihrer Kinder
diskriminierende Bezeichnungen und Formulierungen schwärzen und ihre sexuelle
Orientierung in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit stellen; Frauen, die
sich nicht über Frauenquoten in Führungsetagen den Kopf zerbrechen, sondern
darüber, ob das Geld am Ende das Monats für Miete und die Kinder reicht.</p><p>
</p><p>Mit den Erniedrigten der
Klassenpolitik von oben hat die feministische Bewegung, wie ich sie kenne, nur
partikulär zu tun. Sollten sie nicht in den cleanen Berufen der Care-Arbeit wie
Pflege oder Erziehung arbeiten, sondern sich täglich in der industriellen Welt
behaupten, tauchen sie einfach nicht auf. Schlimmer noch: Sie werden sogar
verurteilt. Solibesuche werden oft eher zur Beobachtung eines anderen
Universums statt eine tatsächliche Vernetzung mit den Akteuren und Akteurinnen
in der industriellen Arbeitswelt. Doch ohne eine starke Durchsetzungskraft im
produktionellen Kreislauf werden auch Arbeitskämpfe in der reproduktionellen
Sphäre nicht an Macht gewinnen. Nur wenn beide Bereiche sich abstimmen und die
Arbeit koordiniert niederlegen, können wir gesellschaftlich in beiden Bereichen
Drück aufbauen. <br/></p><p>Durch die Abgrenzung zum Schutz
vor Sexismus und Antifeminismus ist eine Abgrenzung nach unten entstanden. Viele
Akteur*innen der feministischen Szene kommen damit erst gar nicht in Berührung
kommen mit ihnen: Mit Männern, die beim Streik die Bockwürste mit den bloßen
Händen aus dem kochenden Wasser holen, die auch mit sexistischen Sprüchen nicht
geizen und mit Frauen, die darüber lachen oder meist sogar selbst ähnliche Witze
machen. Abgrenzung wird durchaus wahrgenommen und gefühlt von den Menschen, die
sich ausgeschlossen fühlen aus den politischen Debatten, auch in der Linken. Ein
JoJo-Effekt ist entstanden, bei dem jede die andere irritiert,
vorurteilsbeladen und oftmals abschätzig beäugt. Uns Feministinnen* entgeht dadurch
eine wichtige Begegnung mit Menschen, die erbarmungslos konfrontiert
sind mit den Unterdrückungsmechanismen des Kapitals, aber dadurch auch wissen,
was kämpfen und zusammenhalten bedeutet. Wir verpassen, welche Stimmung erzeugt
wird, wenn Frauen und Männer, Deutsche und MigrantInnen, Alte und Junge sich
gemeinsam vor dem Werkstor einhaken, um beim Streik dem Chef die Einfahrt zu
blockieren. Wie sie, mit Tränen in den Augen und Kraft in der Stimme,
verkünden, dass sie zusammenhalten, dass sie kämpfen werden, weil es notwendig
ist für ein kleines Stück mehr Gerechtigkeit in der täglichen Arbeitswelt –
auch wenn es Risiko bedeutet. Nur wenn wir – die in den Augen
vieler Arbeiterinnen und Arbeiter Privilegierten – unser Wissen und unsere
Bildung teilen mit denen, die nicht auf unseren Tagungen und Workshops
anzutreffen sind, können wir wieder eine Stärke entwickeln, uns antifeministischen,
faschistischen Akteuren entgegen zu stellen, die in der gesamten Gesellschaft anzutreffen sind. Nur gemeinsam werden wir eine
Chance haben gegen die Abwertung und Ausbeutung, die wir alle erfahren –
und Alternativen
zum Kapitalismus entwickeln können.
Dazu müssen wir unsere Ängste überwinden und respektvoll denen begegnen,
die uns Angst machen, weil sie nicht unseren Lifestyle teilen. <br/></p><p>Nur so ist
vielleicht auch Beate auch nicht mehr allein mit ihren männlichen Kollegen beim
Streikaufrufverteilen vorm Werkstor.</p><p>
</p><hr/><p>Katja Barthold ist als
Gewerkschaftssekretärin in Thüringen tätig. Als Akademikerin, Feministin und
Gewerkschafterin ist sie Teil beider Welten.</p><hr/><b>Editoriale Anmerkung:<br/></b>Der Artikel von Katja Barthold hat für eine ganze Reihe interessante Diskussionen gesorgt. Einiges davon werden wir hoffentlich in Kürze in weiterführenden Debattenbeiträgen erörtern. Die Passage, in der es um Arbeitskämpfe in der Industrie und die Bewertung derselben geht, hat besondere Aufmerksamkeit erhalten. Silke van Dyk, die darin erwähnt wird, hat sich nach Veröffentlichung des Artikels bei uns
gemeldet und ihre Kritik an der Darstellung geäußert. Sie
schreibt: "Ich werde hier mit einem Satz widergegeben, der weder
wörtlich noch
sinngemäß dem gemeinsam mit Stefanie Graefe präsentierten Beitrag
entstammt." Es geht aus Sicht der Autorin um eine Darstellung einer spezifische Position, die auf genannter Tagung thematisiert wurde. Wir halten dies für legitim. Da es hier aber eine namentliche Nennung und Zuordnung gibt, haben wir uns entschlossen, diese nachträgliche Anmerkung dazuzufügen, den Passus umzuformulieren und auch zuvor gesetzte Anführungszeichen zu entfernen, die als direktes Zitat missverstanden werden konnten. <br/><br/>
<p><b>Update 12.06.18:</b> Wir haben zwischenzeitlich nochmals
Post von Silke van Dyk und Stefanie Graefe erhalten. Sie haben für die
Auseinandersetzung mit ihren Positionen zwei Lesehinweise mitgegeben, die wir
euch nicht vorenthalten wollen: "Wir möchten zum Beitrag von Katja
Barthold anmerken, dass wir bei der betreffenden Veranstaltung nicht über
Arbeitskämpfe von Industriearbeiter*innen gesprochen haben und dass wir diese
weder wörtlich noch sinngemäß delegitimieren. Dies entspricht absolut nicht
unserer Position. Wer sich für diese genauer interessiert, kann <a href="http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2017/dowling-van-dyk-graefe.pdf">hier
nachlesen</a> (Link zur Prokla, Anm. Red.). Oder, ausführlicher, in dem
demnächst erscheinenden Aufsatz: </p>
<p><i>Silke van Dyk/Stefanie Graefe
(2018): Identitätspolitik oder Klassenkampf? Über eine falsche Alternative in
Zeiten des Rechtspopulismus, in: Karina Becker/Klaus Dörre/Peter Reif-Spirek
(Hrsg.): Arbeiterbewegung von rechts? Ungleichheit - Verteilungskämpfe - Populistische
Revolte, Frankfurt/M. (Campus).“</i></p>
<br/><br/><b></b><p><br/></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Jeder Tag, an dem wir kämpfen, ist ein Feiertag!2018-03-12T11:34:41.951308+00:002018-03-12T14:24:19.874174+00:00Eleni Triantafyllopoulouredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/jeder-tag-dem-wir-k%C3%A4mpfen-ist-ein-feiertag/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Jeder Tag, an dem wir kämpfen, ist ein Feiertag!</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Auf dem Banner steht: Keine Toleranz für Sexismus, Patriarchat und Kapitalismus" height="420" src="/media/images/photo_prin.73a110af.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Prin</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p><p>Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen
der kapitalistischen Krise haben in den letzten Jahren weltweit zu einer
massiven Wiederbelebung und Stärkung von Frauenkämpfen und zu einer
Radikalisierung der LGBTQ-Bewegung geführt. Auch in Griechenland. Der 8. März
war ein Tag des Widerstands gegen jede Form der Unterdrückung: „Keinerlei
Toleranz gegenüber Sexismus, Patriarchat und Kapitalismus“, tönte es lautstark
aus tausenden Kehlen eines mächtigen Demonstrationszugs, der durch die
Innenstadt von Athen zog. Aufgerufen und organisiert wurde der Protest von
unterschiedlichen feministischen Strukturen und Gruppierungen gegen Sexismus
und Patriarchat, aber auch von Organisationen der radikalen Linken. Darüber
hinaus beteiligte sich eine große Anzahl an Studierendengruppen und
Basisorganisationen. Geflüchtete Frauen* nahmen mitsamt ihren Kindern am
Protest teil, sie erhoben ihre Stimme gegen ihre spezifische multiple
Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Klasse. </p>
<p>Frauen* in Griechenland sind in den letzten Jahren stark von
den sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise betroffen. Die steigende
Arbeitslosigkeit in Kombination mit den kollabierenden wohlfahrtsstaatlichen
Sicherungssystemen und der Schließung sozialer Infrastrukturen wie Kindergärten
zwangen viele Frauen* dazu, zur häuslichen Arbeit
zurückzukehren und Unterstützungsfunktionen für Kinder, Patienten oder ältere
Familienmitglieder zu übernehmen. Darüber hinaus sind diejenigen, die auf dem
Arbeitsmarkt bleiben, auf vielfältige Weise mit alltäglicher Diskriminierung
und Sexismus konfrontiert – zusätzlich zu Arbeitsverhältnissen, die immer prekärer und unsicherer
werden. Erkämpfte Verbesserungen von grundlegenden Rechten, die Frauen* in den
vergangenen Jahrzehnten erzielten – etwa Unterstützungsleistungen bei
Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft –, gibt es einfach nicht mehr.
Arbeitgeber*innen stellen Frauen* vor die Wahl: „Wenn Sie einen Job haben wollen,
sollten Sie keine Kinder haben“. Tatsächlich ist es für eine arbeitslose oder
eine im Niedriglohnsektor arbeitende Frau* heute fast unmöglich, die
notwendigen Ausgaben für die Geburt eines Kindes zu decken. Gleichzeitig gibt
es unzählige Fälle, in denen Frauen* ihre Arbeit aufgrund einer Schwangerschaft
verloren haben. Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs, welches
Unternehmen ermöglicht, schwangere Lohnarbeiter*innen trotz eines bestehenden
rechtlichen „Schutz“rahmens bei Massenentlassungen ebenfalls zu entlassen, ist
eine Vorschau auf die arbeiterfeindliche Politik, die folgen wird. </p>
<p>Nicht zuletzt sind in den letzten Jahren immer mehr Fälle
von Gewalt und körperlichem Missbrauch gegenüber Frauen* und LGBTQ-Personen am
Arbeitsplatz, zu Hause oder sogar auf der Straße öffentlich geworden.
Femi(ni)zide, sexuelle Belästigung und Gewalt im öffentlichen und privaten Raum
nehmen dramatisch zu, wenn sich die sozialen Auswirkungen der Krise verschärfen.
In diesem Zusammenhang muss der anhaltende Kampf gegen Ungleichheiten und
Diskriminierung in Bildung und Arbeit, gegen Geschlechterstereotype und
-unterdrückung (auch in Bezug auf sexuelle Orientierung, Herkunft oder
Hautfarbe) sowie der Kampf für Grundrechte wie Mutterschutz und
Erziehungsurlaub ins Zentrum unserer Anstrengungen gerückt werden. Die kollektive
Durchsetzung dieser Forderungen ist eine Voraussetzung, um den Weg zu weiteren
revolutionären Veränderungen zu öffnen. Wir hoffen mit Blick auf die Kämpfe in
Spanien als Beispiel, dass sich die Proteste weiter radikalisieren und im
nächsten Jahr der 8. März ein weltweiter Tag des massiven Streiks von
lohnarbeitenden und Reproduktionsarbeit leistenden Frauen* sein wird. Jeder Tag
des Kampfes ist für uns eine Feier. Keine Toleranz für Patriarchat und Kapitalismus!</p><hr/>Eleni Triantafyllopoulou ist Redakteurin bei der
linksradikalen Zeitung <a href="http://prin.gr/">Πριν (Prin)</a>. <br/>Übersetzung: Johanna Bröse<hr/>Auf dem Banner des Artikelbilds steht der Slogan: "Jeder Tag des Kampfes
ist für uns eine Feier. Keine Toleranz für Patriarchat und Kapitalismus".<p><br/> </p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Basisorganisierungen mit einem klassenkämpferischen Banner" height="2448" src="/media/images/basisorgas-classstruggle.original.jpg" width="3264">
</div>
<figcaption>
<p>Die Initiative der Koordination von Basisgewerkschaften auf der Frauen*kampfdemo. Auf dem Banner steht: "Der 8. März ist kein Tag zum Feiern, er ist ein Tag des Klassenkampfs".</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Türkei: Angriff auf Frauen vor dem 8. März2018-03-07T20:43:50.265399+00:002018-03-08T08:27:27.690680+00:00Meral Çınarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkei-angriff-auf-frauen-vor-dem-8-m%C3%A4rz/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Türkei: Angriff auf Frauen vor dem 8. März</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Angriff auf Pressekonferenz" height="420" src="/media/images/DXcslfpXcAAYpMl.bf08910c.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Die
strukturelle Krise des kapitalistischen Systems führt weltweit zu
politischen und sozialen Verwerfungen. Um die Ausgebeuteten und
Unterdrückten bei Stange zu halten und zu verhindern, dass sie ihre
berechtigte Wut und Frustration in eine tatsächlich anti-systemische
oppositionelle Politik kanalisieren, greifen die herrschenden Klassen
immer öfter auf autoritäre, rassistische, sexistische und andere
widerliche Methoden zurück. Die Verrohung des ohnehin nicht sehr
gehobenen politischen Klimas trifft dabei immer öfter und heftiger
Frauen, Migrant*innen, LGBT-Individuen und Arbeiter*innen. Daher ist
es auch kein Wunder, dass eine militante Frauenbewegung weltweit
immer sichtbarer wird. An Tagen wie dem 8. März wird das
besonders deutlich. In vielen Ländern gehen hunderttausende Frauen
auf die Straße und demonstrieren – mit für die jeweiligen Länder
spezifischen Forderungen – gemeinsam gegen das Patriarchat.<p>
</p><p>
</p><p>
In
der Türkei ist die Frauenbewegung seit langem eine der aktivsten,
lautesten und buntesten gesellschaftlichen Dynamiken. Obwohl mittlerweile jegliche Opposition zum Regime von Tayyip Erdoğan
bei
der nur geringsten Regung sofort unterdrückt wird, gehen die Frauen
noch immer zu zehntausenden auf die Straße und demonstrieren gegen
die täglichen Frauenmorde, gegen permanente Belästigung,
Vergewaltigung und Kindesmissbrauch. Die gesellschaftliche Verrohung
schritt in der Türkei in den letzten Jahren rapide voran und dabei
traf es vor allem Frauen und Mädchen.
</p><p>
</p><p>
</p><p>
Und so gehen die Frauen auch dieses Jahr zum 8. März auf die Straße. In
Istanbul und Ankara fanden am Sonntag, dem 4. März, erste Demos
statt, wobei die Beteiligten an einer Presseerklärung in Ankara <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2018/03/04/polis-ankaradaki-8-mart-eylemini-dagitti/">sofort
niedergeknüppelt</a> wurden. Nichtsdestotrotz werden am 8. März in Istanbul und
Ankara und anderen Städten „Nachtmärsche“ stattfinden.<br/></p><p>
</p><p>
</p><p>
Eine
der aktivsten Organisationen in der Frauenbewegung der Türkei sind
die Kampushexen (<i>Kampüs
Cad</i><i>ıları</i>),
die
an unzähligen Universitäten junge Frauen organisieren. Sie wollen
Frauensolidarität in Wort und Praxis aufbauen, organisieren
Lesekreise, Seminare und Selbstverteidigungskurse, intervenieren bei
Belästigung und Vergewaltigung und versuchen ganz allgemein das
Alltagsleben von Frauen zu erleichtern (zum Beispiel mit kleinen
Boxen für Hygieneartikel an Unitoiletten). Klingt jetzt zwar nicht
so terroristisch, ist aber so – meint zumindest der türkische Staat.</p><p>
</p><p>
</p><p>
Wenige
Tage vor dem diesjährigen 8. März rief die Polizei die Familien von 15
Mitgliedern der Kampushexen in Ankara an. Einige Eltern wurden direkt von
der Arbeit geholt und aufs Polizeihauptquartier gebracht, wo ihnen dann
erklärt wurde, dass ihre Töchter Mitglieder einer „kriminellen“
oder gar „terroristischen“ Organisation seien – nämlich der
Kampushexen. Mit der üblichen Polizeitaktik wurden völlig
zusammenhangslos Bezüge zwischen den Kampushexen und irgendwelchen
längst nicht mehr aktiven illegalen Organisationen hergestellt. Das
eigentliche Ziel ist völlig klar: Der Staat hat furchtbare Angst vor
starken Demonstrationen am 8. März und überhaupt vor einer starken
Frauenbewegung. Mit Einschüchterung der jungen Aktivist*innen und vor
allem ihrer Familien will die Polizei die Teilnehmer*innenzahl an den
Protesten möglichst gering halten und damit auch andere junge Frauen davon abhalten,
sich feministischen Organisationen anzuschließen. Der derzeitige
Angriff richtet sich zwar, soweit bisher bekannt, nur gegen eine
spezifische Organisation, ist aber natürlich als Angriff auf die
Frauenbewegung als Ganze zu bewerten.
</p><p>
</p><p>
</p><p>
Die
Kampushexen ließen sich nicht einschüchtern und machten diese
haltlosen Vorwürfe und hinterhältigen Attacken mit einer
Presseerklärung öffentlich. Weiters veröffentlichten sie <a href="https://www.facebook.com/KampusCadilari">viele Videos von Frauen</a>, die ihre Solidarität mit den Kampushexen
ausdrückten und damit öffentlich erklärten, dass sich die Frauen
in der Türkei nicht einschüchtern lassen. Im Pressetext wird
deutlich gemacht, dass diese Repressionsversuche die
Frauenbewegung nicht einschüchtern können; dass Frauen weiter
ihre Stimme erheben werden gegen Gewalt an Frauen* und Mädchen* und dass
sie weiter an den Universitäten und allen Bereichen des Lebens gegen
das Patriarchat kämpfen werden.
</p><p>
</p><p>
</p><p>
Über
die öffentliche Skandalisierung dieser Polizeibelästigungen hinaus
wird eine Vertreterin der Kampushexen, die auch persönlich im
Zentrum von Polizeiattacken stand und jüngst auf dem offensichtlich
von der Polizei gehackten Facebookaccount der Hexen als „Terroristin“
gebrandmarkt wurde, Anzeige erstatten. Das wird natürlich keine
rechtlichen Konsequenzen haben, da es in der Türkei de facto kein
Rechtssystem mehr gibt. Aber es demonstriert, dass die Aktivist*innen keine Angst davor haben, sich öffentlich zu ihrer politischen
Tätigkeit zu bekennen und deren Legitimität hervorzuheben.</p><p>
</p><p>
</p><p>
Die
Frauen in der Türkei, die seit Jahren vor allem gegen die täglichen
Frauenmorde ankämpfen, sind mit dem Slogan „Wir werden keine
einzige weitere Frau mehr verlieren“ gestartet. Und sie werden
weitermachen, bis diese Parole endlich überflüssig ist. Die
Reaktion der Frauenbewegung auf die jüngsten staatlichen Attacken
zeigen, dass die gesellschaftliche Opposition in der Türkei –
trotz aller Repression – nicht zum Schweigen gebracht wurde und so
leicht auch nicht zum Schweigen gebracht werden kann.
</p><p>
</p><p>
</p><p>Am
8. März werden auch in der Türkei wieder zehntausende, ja wohl
hunderttausende Frauen auf die Straße gehen und dem Regime damit
deutlich machen: „Was immer ihr macht, uns kriegt ihr nicht von der
Bildfläche.“</p><hr/>Meral Çınar ist Aktivistin der Kampushexen im Exil.<br/>Aus dem Türkischen übersetzt von Max Zirngast.<br/></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="campushexen1.jpg" height="640" src="/media/images/campushexen1.original.jpg" width="960">
</div>
<figcaption>
<p>Die Kampüs Cadıları in Aktion</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
„Wenn die Frauen frei wären, würde die Welt aus den Angeln fallen“*2017-11-09T18:14:22.509222+00:002017-11-09T18:14:22.509222+00:00Meral Çınarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wenn-die-frauen-frei-w%C3%A4ren-w%C3%BCrde-die-welt-aus-den-angeln-fallen/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>„Wenn die Frauen frei wären, würde die Welt aus den Angeln fallen“*</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Antipatriarchale Demonstration in Istanbul" height="420" src="/media/images/_56e00f8451294.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p>Im letzten Jahr konnte man beobachten, dass
die vielfältigen Proteste von Frauen [1] weltweit in Lautstärke und Dynamik
zunahmen. Überall auf der Welt gingen Frauen auf die Straße, um für das Recht
auf Selbstbestimmung ihres Lebens in allen gesellschaftlichen Bereichen zu
kämpfen. Ein Jahr später halten diese Kämpfe immer noch an: Von „Ni Una Meños“
über „Mi Primer Acoso“ bis hin zum „czarny poniedziałek“ und den
Frauenstrukturen in Rojava. Die unmittelbaren Gründe hierfür sind klar: Es ist
einerseits der in Krise geratene Kapitalismus, der mittels neoliberaler
Politiken und der Kraft patriarchaler Verhältnisse in einen Totalangriff auf
die Körper und die Arbeit der Frauen übergeht. Andererseits ist es die
Eigendynamik des Patriarchats, die sich ausweitet und repressiv auf die Körper
und die Arbeit der Frauen wirkt. Für Frauen bedeutet das konkret: Unerträgliche
Arbeitsbeziehungen (Prekarität, Niedriglohn, flexible Arbeitszeiten, usw.) und
die Verdichtung von unbezahlter und unsichtbarer Arbeit, also die
Intensivierung der Reproduktionsprozesse der Arbeit – und dies in einer Welt, in der sie als Frauen
tagtäglich ermordet, vergewaltigt und physisch angegriffen werden. Ihnen wird
die Luft zum Atmen genommen. Wir müssen handeln, um diese unerträglichen
Verhältnisse, die sich auf den gesamten öffentlichen und privaten Raum
ausgedehnt haben, zu zerschlagen. Dafür ist es notwendig, eine Weltkarte der
sich weltweit ausbreitenden Frauenkämpfe zu zeichnen. Es ist wichtig, die
Ursachen dieser Kämpfe und ihre Konsequenzen zu diskutieren, weil allein eine
Zunahme und Ausweitung der Frauenwiderstände nicht auch automatisch einen
Erfolg verspricht. Die Welt, wie sie heute ist, ist für Frauen nicht mehr
erträglich. Die richtige Ausrichtung der Kämpfe hingegen bedeutet nichts mehr
und nichts weniger, als die Welt aus den Angeln zu heben und die Tür zur
Befreiung der Frauen aufzustoßen.
<h2>Eine Weltkarte erstarkender Frauenkämpfe</h2>
<p>Internationale Aufmerksamkeit erhielten 2016
die Proteste in Argentinien. Unter dem Slogan „Ni Una Meños“ („Nicht eine
weniger“) organisierten tausende Frauen tagelange Proteste gegen die stetige
Zunahme von Vergewaltigungen und Femiziden, also Morde an Frauen, weil sie
Frauen sind. In diesem Land, in dem statistisch betrachtet alle 18 Stunden eine
Frau ermordet wird [2], beschränkten sich die Forderungen der kämpfenden Frauen
jedoch nicht nur auf das Thema des Femizids. Die kämpfende Frauenbewegung in
Argentinien wendet sich gegen alle Verhältnisse, die den Lebensstandard der Frauen
erniedrigen, und führt ihren Kampf fort mit Forderungen wie gleichen Lohn für
gleiche Arbeit, sichere Arbeit, Aufteilung der Care-Arbeit und dergleichen.</p>
<p>Diese Kämpfe breiteten sich sofort in ganz
Lateinamerika aus: Frauen in Mexiko organisierten sich um den Hashtag „Mi
Primer Acoso“ („Mein erster Übergriff“), tauschten sich über soziale Medien
über ihre ersten Belästigungserfahrungen aus und trugen ihren Kampf gegen
Vergewaltigungen auf die Straße. <a href="https://elpais.com/internacional/2016/04/24/mexico/1461457343_029902.html">Jährlich</a>
gehen 15.000 Strafanzeigen aufgrund von Vergewaltigung bei der mexikanischen
Staatsanwaltschaft ein, täglich werden fünf Frauen ermordet. Hinzu kommt, dass
die Arbeitsbedingungen miserabel sind. Diese Verhältnisse sind es, gegen die
sich die Frauen bis heute mit Massenprotesten wehren. Zeitgleich fanden in
Chile, der Dominikanischen Republik und Honduras bis heute anhaltende Proteste
gegen die Illegalisierung der Abtreibung statt. In diesen Ländern sterben jährlich
hunderte Frauen, weil sie aufgrund des hohen Strafmaßes zu extrem gefährlichen
Formen der Abtreibung gezwungen werden. Zwar wurde aufgrund des massenhaften
Widerstandes der Frauen <a href="http://catlakzemin.com/silide-kurtaj-kazanimi/">das
Abtreibungsgesetz</a> <a href="http://www.reuters.com/article/us-chile-abortion/chile-court-ruling-ends-abortion-ban-new-law-allows-in-limited-cases-idUSKCN1B1234">in
Chile</a> - wenn auch bei weitem noch nicht zureichend - reformiert, in den
beiden anderen Ländern sieht die Situation hingegen immer noch sehr schlecht
aus. Was alle diese Frauenkämpfe in Lateinamerika eint, ist, dass sie vom Kampf
um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ausgehen, um diesen mit
Forderungen bezüglich der Arbeitswelt zu ergänzen, woraufhin sich die Kämpfe
ausweiteten.</p>
<p>Selbstverständlich beschränken sich die
Frauenkämpfe nicht allein auf den lateinamerikanischen Kontinent:</p>
<p>In Polen riefen Frauen im Jahr 2016 den
„czarny poniedziałek“ (Schwarzer Montag) für ihr Recht auf Abtreibung ins
Leben. Anfangs kleideten sich jeden Montag massenhaft Frauen in schwarzen
Kleidern, später beteiligten sich über sechs Millionen Frauen in 60 Städten an
einem eintägigen Streik, an dem sie jede Arbeit zu Hause, wie auch auf der
Arbeitsstelle verweigerten. Ähnliches passierte in Irland und Südkorea, wo man
sich an den polnischen Protesten orientierte. Die Kämpfe in Polen und Irland
haben der Weltgemeinschaft und ihren Staaten gezeigt, was ein Frauenstreik so
alles anrichten kann. Genau aus diesem Grund sind sie enorm wichtig. Sie haben
gezeigt, dass Frauen den alltäglichen Lauf der Dinge fast vollständig zum
Stillstand bringen können.</p><hr/></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Proteste von Frauen in Polen | 2016" height="2784" src="/media/images/polonya_2.original.jpg" width="3735">
<span class="content-copyright">Sol | Twitter</span>
</div>
<figcaption>
<p>Demonstration gegen die Abtreibungsgesetzgebung in Polen, 2016</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>In Island gingen Tausende Frauen mit der
Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ auf die Straßen, da Männer in
Island noch immer bis zu 18 Prozent mehr Lohn bekommen. Ihr Kampf erschuf einen
Präzedenzfall: Sie erzwangen ein Gesetz, das alle Arbeitgeber*innen des
privaten und öffentlichen Sektors dazu verpflichtet, das Prinzip des „gleichen
Lohns für gleiche Arbeit“, unabhängig von “Geschlecht, ethnischer
Zugehörigkeit, sexueller Präferenzen oder Nationalität” einzuhalten und darüber
Nachweise zu erbringen. </p>
<p>Inspiriert von diesem Kampf gingen auch in
Frankreich die Frauen für gleichen Lohn für gleiche Arbeit auf die Straßen. Im
krisengebeutelten Italien mobilisierten die Frauen Proteste gegen die
Austeritätspolitiken, welche unter anderem eine Reduzierung der
Gesundheitsversorgung und Kostenerhöhung für Abtreibungen vorsahen.</p>
<p>Im Mittleren Osten sticht der Widerstand
iranischer Frauen sowie der Kampf der syrischen Frauen gegen den sogenannten
„Islamischen Staat“ (IS) hervor. Frauen, die in Syrien Gewalt durch den IS
erfuhren, bewaffneten sich und organisierten sich in Frauenbataillonen, um für
sich und ihre Schwestern, die vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft oder
getötet wurden, zu kämpfen. Im Iran haben Frauen zum ersten Mal nach Jahren
eine Social Media-Kampagne gegen das Kopftuchgebot lanciert. Unter dem Hashtag
„آزادی یواشکی زنان
در ایران“ („Meine
heimliche Freiheit“) teilten Frauen Fotos von sich, die sie ohne Kopftuch
zeigten. Hunderten von Drohmails und staatlichen Strafverfahren zum Trotz
setzen sie ihren Kampf entschieden fort.</p>
<p>Ich beende diese Kartographie des
Frauenkampfes vorläufig mit der Frauenbewegung in der Türkei, die, ungeachtet
der steigenden Repression, entschlossen und mutig kämpft. Nicht nur konnten die
Frauen das von der AKP geplante Abtreibungsverbot mittels Massenprotesten
stoppen; sie führen insgesamt den Kampf gegen den Despotismus an. Trotz aller
Bomben, Polizeigewalt und Verhaftungswellen befanden sich die Frauen stets an
vorderster Front der Barrikaden und Demos und erteilten der gesamten Linken
eine Lektion.</p>
<p>Allein diese Skizze zeigt uns, dass mit dem
Jahr 2016 der „Befreiungskampfes der Frau“ erneut aufgeflammt ist.: Nach Jahren
vernetzen sich die Frauenkämpfe wieder weltweit und kommunizierten über Grenzen
hinweg. Wir haben alle ähnliche Forderungen. Wir lernen miteinander
Aktionsformen und tauschen Kampferfahrungen aus. Frauenkämpfe auf einem Teil
der Erde werden unterstützt von Solidaritätsdemonstrationen in anderen Teilen
der Welt. Es formiert sich langsam eine neue internationalistische,
feministische Bewegung.</p>
<h2>Der patriarchale Kapitalismus intensiviert
seine Angriffe</h2>
<p>Was also sind die Ausgangslagen und Gründe der
Frauen, die seit 2016 auf den Straßen kämpfen? Wie verteilen sie sich auf der
Weltkarte der Frauenkämpfe und was sind wo die einigenden Momente? Und: Wie
lassen sich die Frauenorganisationen entlang dieser einigenden Momente
zusammenbringen zu einem neuen und gemeinsamen internationalistischen Kampf?
Ich möchte hierzu wenigstens einige grundlegende Überlegungen skizzieren.</p>
<p>Die Hegemoniekrise des Imperialismus, die sich
vertiefende Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft, die ökologische Krise
und die vielen aus diesen Krisen hervorgehenden untergeordneteren Dynamiken
versetzen der derzeitigen Welt gewaltige Schläge. Der Kapitalismus brachte seit
ehedem solche gewaltigen Krisen hervor, die ihn erschütterten; und die
„schöpferische Zerstörung“, mit der sich der Kapitalismus aus solchen Krisen
stets herauswand, kommt mittlerweile an die Grenze dessen, was sich zerstören
lässt. Dem Neoliberalismus in den 1970ern kam beispielsweise eine solch
rettende Funktion zu. Zur Lösung der derzeitigen Krise taugt er aber
offensichtlich nicht. Die Krisen weiten sich aus und vertiefen sich. Zur
Rettung aus der Not greift der Kapitalismus deshalb wieder verstärkt auf eine
andere Herrschaftsform zurück; auf eine Herrschaftsform, die unendlich alt ist
und sich schon in den Kommunalgesellschaften der Urzeit finden lässt. Es ist
eine Herrschaftsform, die nicht klassenförmig ist oder über die klassenförmige
Unterdrückung hinaus reicht: Das Patriarchat, die Herrschaft über den
weiblichen Körper und die weibliche Arbeit(skraft).</p>
<p>Das Patriarchat wird durch die Herabsetzung
des gesellschaftlichen Status der Frau und damit ihrer Herabsetzung in den
Produktionsverhältnissen zu einer Kraft, die den Kapitalismus stärkt. Für den
Kapitalismus heißt das dann unter anderem: billige, prekäre und flexible
Arbeitskräfte, unbezahlte Reproduktionsarbeit sowie Kommodifizierung [3] und
Ausbeutung des Frauenkörpers. Dieses System, das aufgrund seines
Doppelcharakters als „patriarchaler Kapitalismus“ bezeichnet werden kann,
bedrängt den Körper der Frau und kommodifiziert ihn, während ihre Arbeitskraft
doppelt ausgebeutet wird – zu Hause und auf der Arbeit. Das heißt nicht, dass
Kapitalismus und Patriarchat identisch sind. Das Patriarchat ist eine
eigenständige Herrschaftsform, das zum Teil auch mit dem Kapitalismus in
Konflikt gerät. Es sind jedoch gerade die Forderungen der Frauenkämpfe des
Jahres 2016, die Kapitalismus und Patriarchat als „patriarchalen Kapitalismus“
adressieren.</p>
<h2>Kampf an allen Fronten!</h2>
<p>Folgerecht müssen wir festhalten, dass die
derzeitig zunehmenden patriarchalen Angriffe auf Frauen beabsichtigen, sie noch
weiter zu erniedrigen, während sie gleichzeitig den kriselnden Kapitalismus
stärken. Das ist auch der Grund für die zunehmenden patriarchalen und
sexistischen Politiken der meisten Staaten der Erde. Worin diese Politiken
bestehen, können wir den hier analysierten Widerständen und ihren Forderungen
entnehmen:</p>
<ul><li>Da sind die <i>Widerstände gegen drohende Abtreibungsverbote</i>, die dominiert werden
von der Forderung „mein Körper, meine Entscheidung“. Es ist geradezu der
Klassiker des Patriarchats, zwecks Herrschaft über den Frauenkörper über die
Gebärfähigkeit desselben zu bestimmen. Die Stabilisierung des Patriarchats ist
ein Grund für die Androhung des Abtreibungsverbotes – hier stabilisieren sich
unter anderem auch ultrakonservative religiöse Weltbilder. Dass das Verbot vor
allem in den überalterten Gesellschaften Europas diskutiert wird, hat jedoch
auch einen anderen Grund. Im Kapitalismus, in dem tendenziell immer mehr
Arbeitskräfte benötigt werden, sollen Abtreibungen verboten oder zumindest
erschwert werden, um die Gebärfähigkeit der Frauen für seinen Zweck
funktionalisieren zu können. Unabhängig davon, ob damit die Gebärfähigkeit der
Frau tatsächlich „gesteigert“ werden kann, geht es hier allgemeiner um die
Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper. Das Abtreibungsverbot ist deshalb
nicht nur ein Problem für Frauen, die weniger oder gar keine Kinder haben wollen,
sondern eine Absage an jede Frau, die über ihren eigenen Körper selber
entscheiden will.</li></ul>
<ul><li>Die <i>Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit</i> wird vor allem in
Europa zentral gesetzt. Denn sogar in den Ländern, in denen die Frauenrechte im
Zuge Jahrhunderte langer Kämpfe einige Erfolge zeitigten und in denen viele
Frauen sogar der Meinung sind, dass sie den Männern gleichgestellt sind,
bekommen sie nicht denselben Lohn für dieselbe Arbeit. Die Zweitklassigkeit der
Frau ist auch dort nicht überwunden. Patriarchale Verhältnisse lösen sich mit
der Weiterentwicklung des Kapitalismus nicht einfach auf, sondern nehmen
subtilere Formen an. Der Gleichheitsbegriff der bürgerlichen Revolutionen
entlarvt sich als Gleichheit unter Männern und bleibt somit ein abstrakter. </li></ul>
<ul><li>Unsicherheit, schlechte
Entlohnung, Flexibilität und Prekarisierung bilden in den Ländern, die
historisch betrachtet später kapitalistische Verhältnisse entwickelten, die
„normalen“ <i>Arbeitsbedingungen für Frauen</i>
auf dem Arbeitsmarkt. Auch wenn diese eigentlich klassisch neoliberalen
Arbeitsbeziehungen das Proletariat als solches betreffen, ist die Tatsache,
dass diese Arbeitsbedingungen vor allem als „natürlich“ für Frauen gelten, ein
integraler Bestandteil des organischen Verhältnisses, welches das Patriarchat
mit dem Kapitalismus eingeht.</li></ul>
<ul><li>In den Gebieten hingegen, in denen
Widerstände gegen Femizide, sexuelle Belästigungen sowie Vergewaltigungen die
Agenda der Frauenkämpfe bestimmen, geht es den Frauen um den <i>Überlebenskampf</i>. Wo täglich Dutzende
Frauen umgebracht werden, wird zuerst um das
Ende der tödlichen Gewalt an Frauen gekämpft. Die Forderung der
Aktivistinnen nach „Leben“ ist hier wörtlich gemeint, ihr Kampf nimmt die Form
der Selbstverteidigung an. </li></ul>
<p>Diese Kämpfe, die sich je nach konkreter Dringlichkeit
und in der konkreten Situation unterschiedlich herauskristallisieren, bringen
Frauen mit unterschiedlichen Forderungen in allen Teilen der Welt zusammen. Da
die Gründe für die Unterdrückung ursächlich im patriarchalen Kapitalismus zu
finden sind, entstehen auch einigende Tendenzen in den Kämpfen dagegen. Unsere
Differenzen, was Erfahrungen und Strategien des Widerstands angeht, sind
Quellen der Vielfalt. Sie bereichern unsere Bewegung, unseren Kampf. Aus diesem
Grund kann eine Protestform, die in Argentinien entsteht, eine Vorbildfunktion
für Frauen in Deutschland haben. Oder der bewaffnete Frauenwiderstand in Rojava
kann für Frauen in der Türkei, die täglich mit der Angst auf die Straße gehen,
ermordet zu werden, eine Motivationsquelle werden und zur Ausbildung von
Selbstverteidigungstaktiken führen. Es zeigt uns, dass es
möglich und notwendig ist, auf globaler Ebene einen gemeinsamen,
internationalistischen Kampf in den Fokus zu rücken.</p>
<hr/>
<p>[1] Der Essay konzentriert sich auf
Frauenkämpfe im engeren Sinne und bezieht sich damit nicht auf originäre
L(G)BTQ-Kämpfe. Dies bedeutet keineswegs eine Abwertung derselben, vielfach
finden weltweit auch gemeinsame Kämpfe statt.</p>
<p>[2] Eliana Ibarra, „Arjantin’de yükselen kadın
direnişleri“ [Zunahme der Frauenkämpfe in Argentinien], in: FEMINERVA, Nr. 1
(Juni 2017), S. 10-11.</p>
<p>[3] Kommodifizierung ist ein Begriff, der den Prozess des
Zur-Ware-Machens beschreibt.</p>
<p>*„Wenn die Frauen frei wären, würde die Welt aus den Angeln fallen“. Populärer feministischer Demoslogan in der
Türkei. Original: „Dünya yerinden oynar, dünya yerinden oynar – kadınlar özgür
olsa, kadınlar özgür olsa!“</p>
<p>Aus dem Türkischen übersetzt von Evrim Muştu
und Alp Kayserilioğlu.</p>
<hr/><h2><a href="https://revoltmag.org/articles/protest-widerstand-revolution/">Patriarchat und Widerstand</a></h2>Die sehr unterschiedlichen Beiträgen unserer Reihe eint ein
feministischer Blick auf das Leben in patriarchalen und sexistischen
Verhältnissen und in Klassenverhältnissen; ein feministischer Blick
ebenso auf die Funktionsweise des Kapitalismus, der die Unterdrückung
der Frau seit Anbeginn als konstituierendes Element benötigt und
ausnutzt. Wir wollen eigene Erfahrungen einbringen, als Frauen* in
patriarchalen Strukturen, wollen Kämpfe und Widerstände weltweit
aufzeigen und für die Bewegung im deutschsprachigen Raum zugänglich
machen. Wir machen die Geschichte der Frauen*bewegungen lebendig und
fragen gleichzeitig nach einer Zukunft des Widerstands.
<hr/><br/></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Feminismus und Revolution" height="790" src="/media/images/feminism_-_4_all.original.jpg" width="1773">
</div>
<figcaption>
<p>Teil der Reihe "Patriarchat und Widerstand"</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Zerschlagt das Patriarchat!2017-11-06T17:13:41.801534+00:002017-11-06T17:13:41.801534+00:00Anja Kleinredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/zerschlagt-das-patriarchat/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Zerschlagt das Patriarchat!</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Frauen Solidarität Widerstand" height="420" src="/media/images/3299626045_73754720ee_o.ef8d1d0a.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Das Patriarchat ist ein Jahrtausende altes Herrschaftsverhältnis
zwischen den Geschlechtern. Es zeigt sich in verschiedenen Zeitaltern äußerst
unterschiedlich. Die durch die Inquisition angeordneten „Hexenverbrennungen“ im
Mittelalter, (besonders gegen Frauen, die nicht dem herrschenden Idealbild
entsprachen), sind ebenso ein Ausdruck des patriarchalen Machtverhältnisses wie
die rechtliche und finanzielle Ungleichstellung, die sexualisierte Gewalt und
die Vermarktung des Frauenkörpers in der heutigen, spätkapitalistischen
Konsumindustrie. Der Kapitalismus hat die patriarchalen Verhältnisse übernommen
und angepasst, um die Frau als unbezahlte Reproduktionskraft, also als Hausfrau
und Mutter, weiter nutzbar zu machen. Gleichzeitig tritt die Frau nun als
eigenständiges Subjekt auf, das ihre Arbeitskraft verkaufen kann und muss.
Indem sie dies tut, wird sie als Teil der ArbeiterInnenklasse nun auch
gesellschaftlich sichtbar. Von hier an organisierten sich die Arbeiterfrauen in
starken Frauenbewegungen, die geprägt waren zum Beispiel durch die Kommunistin
Clara Zetkin und weiterer sozialistischer und kommunistischer
Gewerkschafterinnen. Sie sahen ihre Rolle in den Klassenkämpfen <i>und</i> den Kämpfen um ihre Befreiung als
Frau, und nicht weiter nur mehr als stille Begleitung an der „Seite ihres
Mannes“. Auch gegen Widerstände des männlichen Teils der Arbeiterklasse
entwickelten sich ihre Kämpfe um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, ihre
Rechte und ihren Schutz als Arbeiterin. Durch die andauernden Kämpfe der
internationalen proletarischen Frauenbewegung wurden in Folge auch große
gesamtgesellschaftliche Entwicklungen vorangebracht (nicht zuletzt auch die
russische Revolution, die mit eingeleitet wurde durch Kämpfe von
Textilarbeiterinnen); aber immer wieder werden diese Errungenschaften revidiert
oder einverleibt, um die patriarchale Ordnung weiter aufrecht zu erhalten.</p>
<p>Alle Menschen leben heute in einer kapitalistischen, patriarchalen
Gesellschaft, und dementsprechend wird ihr Bewusstsein und ihr Verhalten
geprägt. Das Patriarchat ist gesellschaftlich stark verankert durch Gesetze,
Institutionen, Gewaltverhältnisse, und auch durch die zwischenmenschlichen
Beziehungen und das Verhalten der Menschen. Es reproduziert sich tagtäglich neu
– ein Prozess, der in den meisten Fällen unbewusst abläuft, der sich aber bewusst
gestalten lässt. Dies kann in der jeweiligen Lebensrealität sehr
unterschiedlich von statten gehen; zentral für diesen Artikel sind aber
vielmehr die gesellschaftlich sichtbaren Tendenzen und allgemeinen Strukturen,
die patriarchalen Gedanken entspringen und ihm nützen. In ihrer Zuspitzung
möchte ich zur Reflexion und zur Debatte darüber anregen. [1] </p>
<h2>Die Idee der minderwertigen weiblichen Natur </h2>
<p>Kerngedanke und grundlegende Legitimation der patriarchalen
Ausbeutung und Unterdrückung der Frau ist die Ansicht, dass die Frau ein
minderwertiges Wesen im Vergleich zum Mann ist, dass die weibliche Natur
gegenüber dem Mann schwächer ist. Der Mann tritt in der Gesellschaft als stark,
aktiv, kämpferisch, initiativ und nach Macht strebend auf. In der kapitalistischen
Gesellschaft ist Macht mit beruflichem Erfolg und beruflicher Karriere
verknüpft, der Mann wird als der verantwortliche Ernährer und Hauptverdiener
dargestellt. Die Frau muss den Gegenpart zum männlichen Hauptspieler bilden:
Sie ist gefühlsbetont, schwach, hilfsbedürftig, demütig und passiv. Beruflicher
Erfolg, Karriere und gesellschaftliche Anerkennung treten hinter ihre
familiären Pflichten zurück bzw. werden mit diesen gleichgesetzt. Die Frau ist
in der klassischen Beziehung die Zuverdienerin, am besten jedoch die
Vollzeit-Mutter. Daran hat sich zwar einiges, aber nichts allzu Grundlegendes
geändert: Auch Frauen sind mittlerweile zwar fest im Arbeitsmarkt integriert,
aber, wie alle Studien belegen, in schlechteren Positionen, mit bedeutend schlechteren
Karriereperspektiven, für weniger Geld (auch bei gleicher Arbeit) und oft in
wenig wertgeschätzter Reproduktionslohnarbeit. Zusätzlich tragen sie immer noch
die Hauptlast der unbezahlten und unsichtbaren Reproduktionsarbeit, also die
Hausarbeit. Trotz aller in Deutschland proklamierter Gleichberechtigung ist das
klassische Verhältnis von patriarchalen Beziehungen mit klassischer
Rollenverteilung in Bezug auf Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit das
Bestimmende.</p>
<p>Auch wenn die Frau durch die aktive Rolle als Arbeiterin, in die
sie im Kapitalismus gezwungen wird einzunehmen, in Widerspruch gerät mit ihrer
anerzogenen weiblichen Passivität, führt dies nicht dazu, dass die Frau im
Kapitalismus befreit wird oder befreit werden kann. Der Kapitalismus gerät in
den Widerspruch, dass er einerseits die Frau als unbezahlte Reproduktionskraft
ausnutzen will, aber auf der anderen Seite die Frau in den Produktionsprozess
eingezogen wird und auch eingezogen werden soll; nicht nur als monotone
Arbeitskraft, sondern immer mehr auch als schöpferische, kreative Arbeiterin,
Entwicklerin und Leiterin. Dies führt zum einen dazu, dass die Frau von
bestimmten patriarchalen Ketten befreit werden musste (und weiterhin muss), wie
beispielsweise von der Beschneidung ihres Rechts auf Selbstbestimmung durch
männliche Zwangsvormundschaft. So konnten etwa bis 1957 Frauen in Deutschland
ohne Zustimmung ihres Ehemannes kein eigenes Konto eröffnen. Auf der anderen
Seite führten die Entwicklungen auch zu einem größeren Selbstbewusstsein der
Frauen, zu Erkenntnissen über ihre unterdrückte Rolle: Sie begehrten auf und
leisteten Widerstand. Viele Dinge, die für Frauen heute selbstverständlich
sind, wurden durch die Bewegungen in den letzten Jahrzehnten erkämpft, wie das
Frauenwahlrecht, der gesetzliche Mutterschutz oder die Auslagerung bestimmter
Reproduktionsarbeiten in staatlich bezuschusste, professionelle Hände (z.B.
Kitas).</p>
<p>Obwohl also die absurden Gedanken von einem naturgemäß „weiblichen“
und „männlichen“ Verhalten in den letzten Jahrzehnten massenweise in der
Praxis, im Kampf und in der Theorie widerlegt wurden, werden diese Gedanken
tagtäglich reproduziert und gepredigt Noch immer gibt es massenweise Leute, die
das herrschende Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern legitimieren und zu
seiner Aufrechterhaltung beitragen. Bekannt geworden dafür ist die „Alternative
für Deutschland“ (man denke an Beatrix von Storch und ihre Netzwerke), die sich
das Mann-Frau-Verhältnis der 1950er Jahre zurück wünscht und den natürlichen
Wirkungskreis der Frau zu Hause bei ihren Kindern sieht. Man muss dafür aber
nicht in die rechte Ecke schauen. Es gibt unfassbar viel Literatur zum Thema
„Mannsein und Frausein“, die „natürliche“ Fähigkeiten und Bedürfnisse speziell
von Mann und Frau konstatieren. Ein Beispiel ist das vor einigen Jahren bekannt
und populär gewordene Buch „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht
einparken“ von Allan und Barabara Pease, die mit pseudowissenschaftlicher
Betrachtung die hierarchischen Geschlechterverhältnisse als alternativlos und
natürlich darstellen. Trotz aller Errungenschaften der Frauenbewegung gilt also
letztlich immer noch, sowohl im Alltagsdenken vieler Menschen, als auch in der
pseudowissenschaftlichen Literatur, eine Minderwertigkeit der Frau als
„bewiesen“.</p>
<h2>Der
ständige Kampf gegen das verinnerlichte Sklavendasein</h2>
<p>Aber nicht nur in der Gesamtgesellschaft sind diese Verhältnisse
so anzutreffen: Patriarchale Muster gibt es auch in der revolutionären Linken!
Es zeigt sich etwa darin, dass es allzu oft eine klare Rollenverteilung gibt,
in der die männlichen Genossen die „Kämpfer“, „Anführer“ und „Redner“ sind,
während die Genossinnen – sofern es überhaupt welche gibt – in hintergründigen
und weniger öffentlichen Arbeitsgebieten, in der Netzwerkpflege oder auch der
Organisation von Treffen usw., arbeiten. Eine Genossin erzählte mir jüngst, ein
Genosse von ihr meinte vor Jahren ganz dankbar, wie gut und wichtig es sei, dass
„die Frauen in der Orga den Boden für die revolutionäre Arbeit bereiten“ - für
die revolutionäre Arbeit der Männer, wohlgemerkt. Im Großen und Ganzen
profitieren Männer von der patriarchalen Unterdrückung der Frau, von der
gesellschaftlich-patriarchalen Arbeitsteilung und der entsprechenden
Anerkennung, die ihnen zuteil wird – Auch in der revolutionären Linken. Dies
auch als männlich sozialisierter Genosse anzuerkennen und daran zu arbeiten ist
somit eine Grundlage eines gemeinsamen Kampfes, der tatsächliche Veränderung
der Verhältnisse anstrebt. Auf diese Seite der patriarchalen Ausbeutung) wird
an anderer Stelle dieser Beitragsreihe eingegangen.</p>
<p>Worum es hier geht: Das Patriarchat wird nicht nur
aufrechterhalten und reproduziert durch den männlichen Teil der Gesellschaft,
auch wenn dieser davon profitiert. Nein, das Patriarchat funktioniert durch
viele verschiedene Mechanismen der systematischen Erniedrigung, die die gesamte
Gesellschaft durchziehen und uns in allen einzelnen Angelegenheiten des Lebens
entmächtigen. Nicht zuletzt auch durch eine Art der „weiblichen
Selbstregulierung“ in gesellschaftlichen Situationen und im Denken und Fühlen
der Frauen. Das mag hart klingen und jede politisch aktive Frau (und sicherlich
auch viele andere) wird an dieser Stelle entrüstet sagen: „Ich bin keine
Sklavin und ich fühle und benehme mich auch nicht so“. In weniger
fortschrittlichen Kreisen würde dann vielleicht noch hinzugefügt: „Und außerdem
ist die Frau doch gar nicht unterdrückt“; oder: „In den islamischen Ländern
müssen die Frauen Kopftuch tragen, und hier dürfen wir anziehen was wir
wollen“. Was so natürlich nicht stimmt: Immerhin rechtfertigen 10 Prozent der
Befragten einer europaweiten Studie sexuelle Misshandlungen und
„Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung“ der Frauen mit ihrer freizügigen
Kleidung. Unabhängig hiervon geht es bei der Frage des verinnerlichten
Skavendaseins nicht um Oberflächlichkeiten wie die vermeintlich erlaubte
Kleidung.</p>
<p>Zugespitzt möchte ich sagen, dass sehr viele Frauen, unter ihnen
auch viele Genossinnen, im Verlaufe ihres Lebens ein sehr komplexes, aber
falsches Bild von sich, von anderen Frauen und der Realität, von ihren
Fähigkeiten, ihrer Wichtigkeit, ihrer Stärke entwickeln. Sie empfinden ihre
Bedürfnisse als weniger wichtig als die von anderen Menschen. Sie kritisieren
sich häufig am stärksten – „ich bin zu fett“, „meine Meinung ist nicht
wichtig“, „hoffentlich falle ich nicht unangenehm auf“, „die Männer haben viel
überzeugendere Argumente“ und so weiter. Sie konfrontieren sich selbst mit
überhöhten Standards, die sie fälschlich als Realität wahrnehmen. Sie gehen mit
dieser höheren Kritik auch an andere Frauen heran. Sie nehmen ungern führende
Rollen an, die sie in den Mittelpunkt drängen, die von ihnen polarisierende
Entscheidungen verlangen, die sie der öffentlichen Kritik aussetzen könnten.
Ihr Selbstbewusstsein beruht in hohem Maße auch auf der Meinung anderer
Menschen (zumeist Männer), denn ihre Sozialisation hat ihnen beigebracht, sich
nicht als Existenz an sich wertzuschätzen, sondern als Unterstützerin,
Helferin, als Existenz, die einen Wert für andere hat und Leistung vollbringt.
Ausnahmen gibt es natürlich, aber sie widersprechen nicht einem allgemeinen
Trend, sondern stechen eben als genau das hervor – als Ausnahmen. </p>
<h2>Die revolutionäre Bewegung und die Frauen</h2>
<p>Die deutschsprachige revolutionäre Bewegung hat einen
Frauenmangel, das ist ziemlich offensichtlich. Sie hat insbesondere einen
Mangel an Frauen in führenden Positionen in allen Bereichen des Kampfes. Auch
linke Redakteurinnen und Autor_innen, die sich mit unterschiedlichen Themen der
Bewegung auseinandersetzen, sind rar. Uns begegnet es immer wieder, dass Frauen
sich weniger trauen, öffentlich zu schreiben, zu reden, leitend zu agieren,
strategische Vorschläge zu machen. Das ist ein Verlust für die gesamte
Bewegung. Nicht nur ein „Nebenproblem“, das quasi automatisch mit der Zeit
vergeht, sondern ein Problem, das dafür sorgt, dass das Fundament dieser
Bewegung auf wackligen Füßen steht, nämlich im Großen und Ganzen nur auf der
Hälfte der ausgebeuteten Klassen. Die
Auswirkungen der täglichen Konfrontation mit dem Patriarchat führen leider auch
dazu, dass sich Frauen auch in linken Strukturen untereinander oft als
Konkurrenz wahrnehmen statt als engste Verbündete, und anderen Frauen die
dringend nötige Solidarität verweigern. Die Sozialisation als „minderwertiger
Teil“ dieser Gesellschaft kann auch so weit gehen, dass sie sich und andere
Genossinnen schlechter bewerten und ihre Meinungen geringer schätzen. Letztlich
stehen sie sich ihrer persönlichen Entwicklung und der ihrer (potenziellen)
Genossinnen im Weg. Frauen, die sich überhaupt in revolutionären Strukturen
organisieren und dann auch noch bedeutende Rollen einnehmen, sind selten
anzutreffende Ausnahmen, und jede dieser Frauen wird den täglichen Kampf um
Anerkennung an allen Fronten – auch an der Front des eigenen Bewusstseins –
kennen und Erfahrungen dazu teilen können.</p>
<p>Mit der Erkenntnis über die schwierige Lage der Frauen in
revolutionären Strukturen soll nicht gesagt werden, dass der Kopf in den Sand
gehört und weil alles so schwierig ist, kümmern wir uns als Bewegung nicht
weiter darum. Im Gegenteil: Wir wollen dazu auffordern, aus der Gewohnheit
auszubrechen, die Komfortzone zu verlassen - ja, auch eine Situation der
patriarchalen Unterdrückung kann so etwas wie eine „Komfortzone“ sein, weil die
Situation wenigstens einschätzbar ist - und mit kleinen und großen
Veränderungen den Kampf der Frauen um ihre Befreiung in der Bewegung zu führen.
Es gibt auch bereits viele Anknüpfungspunkte, etwa kämpfende
Frauenorganisationen und gelebte Frauensolidarität.</p>
<h2>Bildet Frauenkollektive und schafft Frauensolidarität!</h2>
<p>Die eigenen internalisierten patriarchalen Gedanken und
Gewohnheiten werden nicht mit einer gedanklichen Leistung, mit einer einzigen
Erkenntnis zerschlagen. Unsere Generation an Frauen wird immer wieder im Leben
Gewohnheiten, automatische Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle hinterfragen
und aktiv daran arbeiten müssen, um selber jeden immer wieder Restgedanken an
die minderwertige weibliche Natur auszulöschen und unser volles Potential zu
entdecken. Genau das ist Aufgabe einer revolutionären Bewegung – den Kampf
gegen das Patriarchat zu organisieren, hier und heute, und ebenso in unseren
eigenen Reihen wie überall sonst.</p>
<p>Wenn die Erkenntnisse über die mehrfach unterdrückte Lage der Frau
im Kapitalismus, über die ideologische Rechtfertigung des Patriarchats (als
Minderwertigkeit der explizit weiblichen Natur) und die eigene Aufnahme dieser
Ideologie bereits existieren, müssen daraus praktische Schritte folgen. Allein
eine abstrakte Erkenntnis zu haben, ist nicht ausreichend, um sein eigenes
Denken und Handeln zu verändern. Ein wichtiger Bestandteil im antipatriarchalen
Kampf ist der Aufbau von Frauenkollektiven, die auch über einen binären Fokus
hinausgehen. Insbesondere kann und soll in einem geschützten Raum eine
ehrliche, solidarische Kritik und Selbstkritik an den eigenen verstrickten Verhaltensweisen
geleistet werden, um die eigenen Stärken zu entdecken und zu entwickeln, die
von patriarchalen Gedanken geprägte Lebensführung zu verändern und letztlich
auch eine neue Sicht auf die Realität zu entwickeln. Die Entwicklung von
Frauensolidarität ist ein wichtiger Prozess: Untereinander aufeinander
vertrauen zu können, sich in schwierigen Situationen zu unterstützen und zu
helfen und gemeinsam die unterdrückte Realität zu verändern, ist der erste und
wichtigste Schritt, den wir Frauen gehen können. Das sind bewusste Anstrengungen,
in die wir Kräfte stecken müssen: Indem wir uns zum Beispiel bewusst dafür zu
entscheiden, mit einer Genossin gemeinsam einen Text zu schreiben, uns bewusst
Zeit dafür zu nehmen, junge Frauen zu organisieren, die sich vielleicht nicht
direkt in den Vordergrund rücken oder uns bewusst zu fragen, mit welcher
konstruktiven und solidarischen Kritik wir selbst Genossinnen und zukünftige
Mitkämpfer_innen weiter bringen können.</p><p></p><hr/>[1] Im Artikel ist im Allgemeinem von „Männern“ und „Frauen“ die
Rede. Ich möchte aber deutlich machen, dass Menschen, die sich dieser binären
Geschlechterordnung nicht zuordnen können oder wollen, ebenso unter
patriarchalen Strukturen zu leiden haben. Sie werden von der
Mehrheitsgesellschaft entweder dennoch in die binäre Geschlechterordnung hinein
gezwungen, erfahren anhand dieser Zweiteilung zusätzliche Diskriminierungen und
ihnen werden ebenso vermeintlich „passende“ Rollen und Verhalten zugeordnet. <br/>
<hr/><h2><a href="https://revoltmag.org/articles/protest-widerstand-revolution/">Patriarchat und Widerstand</a></h2>Die sehr unterschiedlichen Beiträgen unserer Reihe eint ein
feministischer Blick auf das Leben in patriarchalen und sexistischen
Verhältnissen und in Klassenverhältnissen; ein feministischer Blick
ebenso auf die Funktionsweise des Kapitalismus, der die Unterdrückung
der Frau seit Anbeginn als konstituierendes Element benötigt und
ausnutzt. Wir wollen eigene Erfahrungen einbringen, als Frauen* in
patriarchalen Strukturen, wollen Kämpfe und Widerstände weltweit
aufzeigen und für die Bewegung im deutschsprachigen Raum zugänglich
machen. Wir machen die Geschichte der Frauen*bewegungen lebendig und
fragen gleichzeitig nach einer Zukunft des Widerstands. <br/></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<figure class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Feminismus und Revolution" height="790" src="/media/images/feminism_-_4_all.original.jpg" width="1773">
</div>
<figcaption>
<p>Teil der Reihe: Patriarchat und Widerstand</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Protest, Widerstand, Revolution2017-11-04T11:41:06.271068+00:002017-11-04T13:11:32.828615+00:00Joan Adalarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/protest-widerstand-revolution/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Protest, Widerstand, Revolution</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Feminismus und Revolution" height="420" src="/media/images/feminism_-_4_all.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Drei Blitzlichter.</p>
<p>Erstens. „Wird Hollywood jetzt keusch?“ jammert die <a href="http://www.bild.de/unterhaltung/leute/harvey-weinstein/wird-hollywood-jetzt-keusch-53566202.bild.html">BILD</a>
letzte Woche, als durch den Hashtag #metoo („ich auch“) immer mehr Frauen* ihre
Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Übergriffen online sichtbar machen.
Ausgangspunkt dafür waren Missbrauchsvorfälle in der
Filmindustrie. Das Blatt bagatellisiert die Übergriffe als „Sex-Attacken“ und
schreibt: „Heute kann ein Kompliment über das schöne Kleid einer Frau leider
schon missverstanden werden – als sexuelle Belästigung! Der neue Sex-Code:
Hände weg von Mitarbeiterinnen und Schauspielerinnen“. Die Mechanismen, sexualisierte
Gewalt zu verharmlosen und die patriarchalen Machtverhältnisse zu normalisieren
und aktiv zu schützen, in zwei Sätzen zusammengefasst. Mit #metoo wird aktuell
(und mal wieder!) die Allgegenwärtigkeit dessen ins Licht gerückt. Jede Person
mit Internetanschluss kann potenziell teilnehmen, jede kann gehört werden. Auch
die Stimmen, die den wichtigen Schwenk vom Erzählen einer individuellen Erfahrung
dorthin vollziehen, die Systematik hinter dem Einzelfall wahrzunehmen. Das
heißt, die patriarchalen Strukturen, die Täter* hervorbringen und schützen,
offenzulegen und verantwortlich zu machen. Denn die Unterdrückung von Frauen*
ist ein zentraler Motor des Kapitalismus. Die aktuelle Aktion kann nicht <i>nur</i> als privilegierte
Hollywoodgeschichte, Identitätspolitik oder Netzfeminismus ohne Rückgriff auf
historische Entwicklungen abgetan werden [1]: Die „Me too“-Bewegung ist keine
neue, und keine <i>weiße </i>Erfindung<i>.</i> Women of Color prägten <a href="http://www.ebony.com/news-views/black-woman-me-too-movement-tarana-burke-alyssa-milano#.WeXbX6FYxF4.twitter">schon vor Jahren</a> den Begriff. Es
ist eine radikale Bewegung, so beschreibt es die Aktivistin <a href="https://twitter.com/TaranaBurke/status/919704801214128139?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.buzzfeed.com%2Faishagani%2Fpeople-are-pointing-out-a-black-woman-started-the-me-too">Tarana
Burke</a>, die insbesondere junge Frauen (of Color) wissen lässt, dass sie
nicht alleine sind. Sexualisierte Gewalt, so Burke, kennt
keine Ethnizität, kein Geschlecht, keine Klasse („no race, no gender, no
class“). Aber die Reaktion auf sexualisierte Gewalt ist hochgradig von „race,
class, gender“ abhängig: Welche Gewalt wahrgenommen wird, welche Übergriffe als
„natürlich“ und „normal“ dargestellt werden, wessen Stimme gehört wird und so
weiter. Die aktualisierte #metoo-Bewegung ist im Übrigen kein reines
Onlinephänomen mehr, was Demonstrationen (etwa mit 1000 Aktivist_innen in
Berlin) unter demselben Namen und neu entstehende feministische Bündnisse
zeigen. Auch der Rahmen der Kulturindustrie ist in den Diskussionen längst überschritten, es geht
auch immer mehr um Übergriffe von Männern in anderen machtvollen Positionen, <a href="http://derstandard.at/2000067017397/BelaestigungsvorwuerfeBritischer-Verteidigungsminister-tritt-zurueck?ref=rec">in der Politik</a>
und in staatlichen Strukturen. </p>
<p>Zweitens. Zeitgleich in Polen. Zehntausende Frauen* (und
einige männliche Unterstützer) gehen gegen die geplanten Verschärfungen des
Abtreibungsrechts durch die Regierung, die von der rechtspopulistischen,
ultrakonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS – Prawo i
Sorawiedliwosc) gestellt wird, auf die Straße. Vorausgegangen sind jahrelange
Kämpfe um umstrittene Justizreformen, nach der Frauen, die eine Abtreibung
vornehmen, mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können.
Frauen*organisationen in Polen machen indes nicht beim Thema Abschiebung halt.
Sie üben scharfe Kritik an den rechts-nationalistischen Entwicklungen der
Regierung, an der frauen- und massenfeindlichen Politik und an der zunehmenden
Einflussnahme der katholischen Kirche auf alle Lebensbereiche. Nicht zuletzt
solidarisieren sie sich mit Arbeitskämpfen vor Ort und europaweit, sie sind
lautstarke Verbündete – in
Gewerkschaftskämpfen und Streiks, aber auch in basisorganisierten Strukturen.
Kurz gesagt: Sie sind der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/319920.vorsorglich-einschüchtern.html">Die
Behörden reagierten daher umgehend</a> und schickten acht
Frauen*organisationen, die für die diesjährigen Proteste mobilisiert hatten,
die Staatsanwaltschaft an den Kragen: Die Polizei drang in die jeweiligen Räume
ein und konfiszierte Unterlagen und Computer. </p>
<p>Drittens. Ein weiteres Hashtag: #keinemehr. Es thematisiert
Femizide, Frauenmorde: Frauen*, die getötet werden, <i>weil</i> sie Frauen* sind. Der
Hashtag und die dahinterstehende große feministische Bewegung entstanden in
Lateinamerika: „Ni una meños“ (Nicht eine Frau weniger) heißt es dort. In
Argentinien, Mexiko oder Peru kämpfen die Genossinnen seit Jahren in
zahlreichen Städten (auch militant) gegen unterdrückerische und sexistische
Strukturen an: gegen frauenfeindliche Gesetzgebungen, fehlende Schutzstrukturen
für Betroffene von Gewalt, Machismo als Staatsräson und gegen das von Männern
dominierte Justizsystem. Viele der Basisgruppen verknüpfen ihre Forderungen
nach dem Ende der Gewalt gegenüber Frauen* mit antikapitalistischen und
sozialistischen Grundsätzen. Ihre Kämpfe gegen Frauenmorde sind ein Vorbild für
verbündete Frauen* in anderen Teilen der Welt. In Polen, in Italien, in der
Türkei - und eben in Deutschland werden die Kämpfe thematisiert, derzeit laufen die letzten Planungen für ein <a href="https://keinemehr.wordpress.com/">Vernetzungstreffen
von Aktivistinnen</a>* am 11.11. in Berlin.</p><h2>Patriarchat und Widerstand - Auftakt einer neuen Reihe<br/></h2>
<p>Ein Triptychon – drei Schaubilder – zu Themen, die aktuell
debattiert werden, die Frauen*, aber eben beileibe nicht nur sie, sondern die
gesamte Gesellschaft betreffen. Wir wollen an dieser Stelle mit einer ganzen
Reihe an sehr unterschiedlichen Beiträgen einsetzen, die eines eint: Ein
feministischer Blick auf das Leben in patriarchalen und sexistischen Verhältnissen
und in Klassenverhältnissen; ein feministischer Blick ebenso auf die
Funktionsweise des Kapitalismus, der die Unterdrückung der Frau seit Anbeginn
als konstituierendes Element benötigt und ausnutzt. Wir wollen eigene
Erfahrungen einbringen, als Frauen* in patriarchalen Strukturen, wollen Kämpfe
und Widerstände weltweit aufzeigen und für die Bewegung im deutschsprachigen
Raum zugänglich machen. Wir möchten die Geschichte der Frauenbewegungen
lebendig machen und gleichzeitig nach einer Zukunft des Widerstands fragen:
Welche gesellschaftliche Relevanz hat ein materialistischer Feminismus heute?
Wie lassen sich Klassenkämpfe und Feminismus weiter zusammen denken? Wie steht
es um das Thema der Klassenunterschiede in feministischen Bewegungszusammenhängen?
Wie werden Erfahrungen von Kolonialismus und Rassismus aufgegriffen und
bearbeitet? Welche Rollenvorstellungen und patriarchale Strukturen müssen wir
in unseren eigenen linksradikalen Strukturen bekämpfen? Wie kann dem
Wiedererstarken von antifeministischen Ideologien durch
rechte Projekte begegnet werden? Und auch: Wie können wir Kämpfe gegen
Prekarisierung, Ausdehnung der Arbeit, Armut, gekürzte Sozialleistungen und
Wohnungsnot, also „Kämpfe von unten“ besser als bisher mit feministischen
Perspektiven verknüpfen? In diesen zeigt sich nämlich die Zuspitzung in der
allgemeinen Hegemoniekrise des Kapitalismus, nämlich die Zuspitzung des
Widerspruchs zwischen Kapitalakkumulation und sozialer Reproduktion: Einerseits
sind arbeitende und emanzipierte Frauen* super zwecks Ausbeutung ihrer
Arbeitskraft, andererseits werden sie erneut auf ihre patriarchal kodierten
Rollen der unbezahlten und unsichtbaren Reproduktionsarbeit heruntergedrückt.
Viele der neoliberalen, individualisierten Verhältnisse sind, das wird damit
deutlich, eben auch mit patriarchalen und sexistischen Verhältnissen organisch
verknüpft und müssen deshalb gemeinsam bekämpft werden. Als re:volt Redaktion
erhoffen wir uns im Laufe der Reihe eine fruchtbare und solidarische Debatte
und auch einen Erkenntnisgewinn für unsere eigenen Auseinandersetzungen. Wir
möchten Frauen*(kollektive) auffordern, eigene Beiträge einzubringen. Schreibt
uns! </p>
<p>[1] Eine durchaus
konstruktive Kritik an der aktuellen #metoo-Bewegung liefert etwa Charlott
Schönwetter bei der <a href="https://maedchenmannschaft.net/metoo-wichtige-aktion-zur-sichtbarmachung-oder-aktivismus-sackgasse/">Mädchenmannschaft</a>.</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Doch keine „Terrornacht der Nafris“. Ein antirassistischer Nachschlag2017-09-24T12:28:44.719339+00:002017-11-13T10:44:23.169536+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Doch keine „Terrornacht der Nafris“. Ein antirassistischer Nachschlag</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="polizei köln" height="420" src="/media/images/Polizei-am-Hauptbahnhof-in-Ko.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><a></a>In der Silvesternacht 2015/16
entdeckte Deutschland plötzlich den Sexismus und das Patriarchat. Davor gab’s
das hier wohl nämlich nicht. Obwohl bis heute nur feststeht, dass auf der
Kölner Domplatte zahllose massive Übergriffe auf Frauen seitens (zum Teil als
Flüchtling gelabelten) Männern stattfanden, war das multimedial
durchgepeitschte Erklärungsmuster parat: Gangs an Flüchtlingen aus arabischem
oder afrikanischem Raum hatten sich organisiert, um „unsere“ deutschen Frauen
zu überfallen. Eine Welle antisexistischer Empörung, gepaart mit einer
gehörigen Portion Rassismus und Kulturalisierung, schwappte über ganz
Deutschland.</p>
<h2><b>Die „Terrornacht der
Nafris“...</b></h2>
<p>Danach gab es in den Augen Vieler
(vor allem Männer) in Deutschland wieder keine patriarchalen Zustände mehr, die
Stimmen kritischer Frauen* wurden kaum mehr gehört, die Proteste gegen
sexualisierte Gewalt als unnötig abgetan. Bis zur zweiten Kölner Silvesternacht
2016/17, da drang das Patriarchat wieder von außen nach Deutschland ein. Das
Szenario, das von Polizei und Medien verbreitet wurde, muss man sich nochmal
auf der Zunge zergehen lassen, hier fehlte kein rassistischer Stereotyp: Gangs
an Ausländern aus dem gesamten Umland hatten sich per Internet koordiniert und
organisiert, um kollektiv den deutschen Frauen am selben „Tatort“ wie im Jahr
zuvor wer weiß was anzutun: Sie zu belästigen, zu bedrängen, ja vielleicht
sogar zu vergewaltigen. Täter- und Opfergruppen, wie Schablonen ausgesägt und
den wartenden Boulevard-Leser*innen vorgeführt. Warum denn notorische und doch
so gut organisierte Triebtäter so dumm sein sollten, dasselbe wie ein Jahr
davor am selben Ort zu wiederholen, dafür hatte Alice Schwarzer die Erklärung
parat: Sie wollten eben „eine Machtprobe“ demonstrieren und den Staat
vorführen. Schwarzer hielt die Täter wahlweise für „fanatisierte Anhänger des
Scharia-Islam“ oder für „entwurzelte, brutalisierte und islamisierte Männer
vorwiegend aus Algerien und Marokko“. Zum Glück war Vater Staat, wie ein guter
Patriarch, mit Hunderten Polizeibeamt*innen da, kesselte 674 Personen vor dem
Kölner Hauptbahnhof über Stunden lang präventiv ein und rettete damit angeblich
„unsere“ deutschen Frauen. In derselben Nacht plapperte die Polizei per Tweet
aus, dass das fahndungsrelevante Klientel „Nafris“, also „nordafrikanische
Intensivtäter“, waren. Es habe, so der damalige Kölner Polizeipräsident Jürgen
Mathies, eine „aggressive Grundstimmung“ gegeben, die „Anlass zur Sorge“
gegeben habe. Außerdem seien 98% der Kontrollierten ebensolche „Nafris“
gewesen. Der Verkehrsminister Dobrindt (CDU) legte ganz unverblümt nach: Die
Menschen würden eben vor Nafris geschützt werden wollen.</p>
<p>Der sowieso schon schwache
Protest gegen das offensichtlich rassistische und zudem rechtswidrige Verhalten
der Polizei (einfach mal Hunderte Menschen auf allergröbsten Verdacht hin über
Stunden festsetzen) wurde von einem riesigen Shitstorm gekontert, der diese
Demonstration der Staatsgewalt in den Himmel lobte. Was hätte die Polizei denn
anderes tun sollen? Klar, der ein oder andere habe Unrecht erlitten, das sei zu
bedauern. Dafür seien aber potenziell geradezu Millionen von deutschen Frauen
gerettet worden. Es habe doch Sinn, dass aus dem „afrikanischen“ und
„arabischen“ Raum kommende junge Personen kontrolliert werden! Die würden doch viel
eher übergriffig werden als der deutsche Rentner. Das sei doch kein Racial
Profiling, sondern genaue Polizeirecherche. Bilder, auf denen große, dünne,
weiße Frauen mit wallendem schönen blonden Haar und verzweifeltem,
hilfesuchenden Blick – aus blauen Augen, versteht sich – von einem Zombieheer
an vor Vergewaltigungslust rasenden dunkelhäutigen Männern begrabscht werden,
die Kleidung ganz zerrissen, die Brust nur halb verdeckt, und ähnliche machten
in den Sozialen Medien die Runde. Neben den „Deutsche Frauen gehören uns, nicht
den Anderen“-Brüllaffen gab es aber auch die ganz einfühlsamen, nachdenklichen,
populärsozialwissenschaftlich bewanderten kritisch-solidarischen Rassist*innen.
Ja, die Araber und die Afrikaner. Man müsse die ja auch verstehen, sie wüssten
quasi nicht was Sex und Sexualität seien. Außerdem seien sie gewohnt, Frauen
nur als Objekte zu begreifen und ihre Männlichkeit sei durch all die
Verwerfungen, denen sie ausgesetzt waren, heftig in Mitleidenschaft gezogen.
Deshalb würden sie durch übergriffiges Verhalten ihre Männlichkeit wieder
herstellen.</p>
<h2><b>… gab’s nicht</b></h2>
<p>Alles erstunken, erlogen, unwahr
oder schlicht herbeiphantasiert. Wie hätte es auch wahr sein sollen? Es hatte
in der zweiten Kölner Silvesternacht keine Übergriffe im Format des vorherigen
Jahres gegeben und wer da kontrolliert wurde und was gegen die Kontrollierten
vorlag oder nicht, das wusste noch nicht einmal die Polizei. Aber da hatte sich
der Shitstorm und der pseudowissenschaftlich gekleidete Rassismus schon
ausgebreitet und der Hass normalisiert. Als dann die „Erkenntnisse“ kamen, da
war kein Raum mehr für Massensolidaritätsbekundungen oder
kritisch-solidarischen Selbstreflexionen. Zuerst erklärte die Kölner Polizei
nach zwei Wochen, dass nur eine Minderheit der 674 kontrollierten Personen
tatsächlich aus dem nordafrikanischen Raum stammte. Der Polizei war also die
Wundertat, Menschen allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes einer
Region zuzuordnen, die ungefähr so groß ist wie ganz Europa und aus zig
Staaten, Ethnien, Nationen usw. besteht, nicht gelungen.</p>
<p>Aber <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1064515.koelner-polizei-korrigiert-sich.html">erst
jetzt</a>, vermutlich bewusst nachdem genug Zeit ins Land floss, gehen die
Bomben hoch. Am Donnerstag, 21. September 2017, stellte die sogenannte
„Arbeitsgruppe Silvester“ auf einem Symposium mit dem wohlklingenden Namen
„Silvester 2017 – Zurück schauen. Nach vorne denken“ ihre
Untersuchungsergebnisse vor. Hier wurde festgestellt: Es waren kaum „Nafris“ unter
den Kontrollierten, keiner von ihnen gehörte zu den Verdächtigen der
Silvesternacht 2015/16, überhaupt kaum einer war vorbestraft, die Männer hatten
sich nicht per Internet als Gruppen organisiert, sie waren nicht besonders
aggressiv und wollten den Staat nicht vorführen, sondern schlicht spontan
Silvester in Köln feiern. Eine Konsequenz daraus zog die Kölner Polizei nicht,
sie versuchte sich im Gegenteil damit zu rechtfertigen, dass es Probleme mit
alkoholisierten Jugendliche gegeben hätte. Aber was hat das mit der
„Nafri“-Kiste und dem offensichtlich völlig unbegründeten präventiven
Freiheitsentzug für 647 Menschen über Stunden hinweg zu tun?</p>
<h2><b>Rassistische Phantasmagorien
helfen nicht gegen Sexismus</b></h2>
<p>Die gesamten Erklärungsmuster und
Szenarien bezüglich der Silvesternacht 2016/17 entpuppten sich also als eine
Phantasmagorie und zwar eine erzrassistische. Rassistische Hirngespinste helfen
aber nicht gegen Sexismus, sondern sie fördern Autoritarismus, Hass auf die
„Anderen“, die ein nationales „Wir“ bedrohen und den Ruf nach einem starken
Staat. Gegen den Sexismus helfen sie nicht, denn sie lokalisieren das Problem,
patriarchale Herrschaftsverhältnisse und Strukturen, außerhalb von Deutschland.
Dabei zeigte doch schon die Studie des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu Gewalt an Frauen aus dem Jahre 2004 (also von
einer staatlichen, eher zögerlich forschenden Institution), dass 40 Prozent
aller Frauen in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr physische oder sexuelle
Gewalt und 42 Prozent psychische Gewalt erlitten haben. Die Studie stellte
ebenfalls fest, dass nur fünf Prozent derjenigen, die sexuelle Gewalt erlitten
hatten, überhaupt je Anzeige erstattet haben. Beratungsstellen und
Frauen*kollektive, die zu dem Themenfeld arbeiten, machen diese eklatante
Diskrepanz zu Recht an den frauenfeindlichen und täterschützenden,
patriarchalen Strukturen dieses Landes fest.</p>
<p>Die Polizeistatistik zum
Oktoberfest in München zeigt ähnliche Zahlen: Man kann, bei aller Vorsicht in
der Belastbarkeit solcher Vergleiche und Aufrechnungen, eine <a href="http://www.taz.de/!5271854/">Dunkelziffer von 200 Vergewaltigungen pro
Oktoberfest</a> ermitteln. Das ist mehr, als für beide Kölner Silvesternächte
zusammen vermutet wird. Dafür wird dieser hausgemachte, „biodeutsche“ Sexismus
aber kaum so thematisiert wie der, der womöglich von Geflüchteten ausgeht.
Thematisiert und bekämpft man aber nur den Sexismus der „anderen“ – den es, im
Übrigen, ganz fraglos gibt und gegen den genauso gekämpft werden muss – und nicht
den „eigenen“, dann kämpft man nicht wirklich gegen Patriarchat und Sexismus.
Im zutiefst Verachteten, das lehrt die Psychoanalyse, zeigt sich immer der Neid
desjenigen, der*die da Phantasien projektiert. Deshalb hat das, was man
verachtet, immer auch Züge dessen, wovon man selbst phantasiert, aber nicht
haben darf oder soll, weshalb es eben nur das Verachtete hat, das dann mit
Sanktionen belegt wird. Das uralte koloniale Phantasma vom brutalen,
barbarischen aber muskulösen und potenten „dunkelhäutigen Wilden“, der die
(eigentlich unsere!) wunderschöne weiße Frau verführt und/oder „in Besitz
nimmt“, sagt vermutlich viel mehr aus über den Triebhaushalt deutscher Männer
als über den von Männern aus nordafrikanischen Regionen.</p>
<p>Aber vor allem nutzen diese polizeilichen
Präventionsmaßnahmen nichts, sie fördern nur den Autoritarismus – und letztlich
auch den Ruf nach Überwachung, Abschottung und Aufrüstung, den die Rechten mit
Vorliebe vorantreiben. Die Verteidiger*innen des Polizeieinsatzes von der
Silvesternacht 2016/17 müssten nur mal ihre eigene Logik weiterdenken: Um
Vergewaltigungen von Frauen aufzuhalten, müsste die Polizei entsprechend dieser
Logik bei jedem Oktoberfest das ganze Fest regelrecht belagern und jeden
einzelnen männlichen Besucher einer präventiven Personenkontrolle inklusive
Freiheitsentzuges über Stunden hinweg unterziehen. Es müsste überhaupt jeder
Mann präventiv als Sexualstraftäter festgesetzt und kontrolliert werden, da
diesbezüglich eben Teil des fahndungsrelevanten Klientels. Dafür bräuchte es
eine Polizei mit unendlich vielen Beamt*innen sowie einer Normalisierung von
tatbestandsunabhängigen Präventionsmaßnahmen. Achja, und natürlich eine
staatliche Oberaufsichtsbehörde, die „Pässe“ verteilt, die den wirklich
aufgeklärten Männern bestätigen, dass sie nicht zum fahndungsrelevanten
Klientel gehören. Der Polizeistaat lässt grüßen.</p>
<p>Eine bessere Idee wären wohl
starke antirassistische und antistaatliche und vor allem feministische
Bewegungen, die überall den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Patriarchat
führen. Die Erfolgschancen wären dann bedeutend höher. Und man könnte auch
gleich noch einige andere Probleme der Gesellschaft angehen.</p></div>
</section>
<section class="content-section content-type-photo">
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Frauen schlagen zurück - antirassistische Demonstration am Kölner Dom" height="765" src="/media/images/Frauen_schlagen_zuruck-f.original.jpg" width="1200">
</div>
</div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>