re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=4522019-08-02T12:20:14.513936+00:00Gilets Jaunes - Zwischen Widerspruch und Hoffnung2019-06-28T09:26:41.827655+00:002019-08-02T12:20:14.513936+00:00Timo Brym und Tina Habermalzredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/gilets-jaunes-zwischen-widerspruch-und-hoffnung/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Gilets Jaunes - Zwischen Widerspruch und Hoffnung</h1>
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<span class="content-copyright">Christophe Becker | CC-BY-NC-ND 2.0</span>
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<div class="rich-text"><p>Die Gilets Jaunes, die sogenannten<a href="https://revoltmag.org/articles/unterwegs-mit-den-rebellinnen-die-bewegung-der-gilets-jaunes/">„Gelbwesten“</a>, und die wöchentlichen Riots auf den Straßen Frankreichs liefern jede Woche aufs Neue Bilder eines rebellischen Frankreichs von Paris bis Lyon. Doch dass Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus, dass Banlieu-Kids, die Basis der Gewerkschaften und Abgehängte, von Schüler*innen bis Rentner*innen dort in einer Revolte zusammenfließen, scheint weite Teile der deutschen radikalen Linken bislang kalt zu lassen. Dies kritisierte schon der Artikel <a href="https://revoltmag.org/articles/die-gelbe-weste-und-wir/">„Die gelbe Weste und Wir“</a>, der im Februar im re:volt magazine erschien. Darin wird nicht nur ein Umdenken eingefordert, was die Rolle der radikalen Linken in sozialen Kämpfen anbelangt, sondern einhergehend damit, Antifa-Strategien erneut zu überdenken. Als Zeichen der Solidarität mit den französischen Genoss*innen beziehen die Autor*innen Position für ein aktives Einmischen hierzulande. Es solle darum gehen, Rechte mittels der eigenen Intervention aus Strukturen zu drängen und dadurch eine linke Deutungshoheit zu gewinnen. Im Gegensatz dazu sehen sie Blockaden hiesiger Gelbwesten-Demonstrationen als eine falsche Haltung an, da diese ein falsches Bild auf die französischen Kämpfe werfe. In der Folge entstand eine Debatte, in der sich auch kritische Stimmen zur vorgestellten Position <a href="https://revoltmag.org/articles/unkenrufe-von-der-klassenfront/">zu Wort meldeten</a>.</p><p>Es ist aus unserer Sicht zu begrüßen, dass die radikale Linke sich mit den Gilets Jaunes auseinandersetzt und sich auch positiv zu diesen positioniert. Dass auch Rechte in Frankreich immer wieder bei diesen Protesten in Erscheinung treten, ist kein Grund, sich abzuwenden. Die Berichte, nach denen im Zuge der Europawahl bei <a href="https://www.huffingtonpost.fr/entry/resultats-europeennes-2019-pour-qui-ont-vote-les-gilets-jaunes_fr_5ceaf34ee4b00e0365707bc5">einer Befragung</a> der Gilets Jaunes-nahen Bevölkerung über vierzig Prozent den „Rassemblement National“ (ehemalig „Front National“) gewählt hätten, müssen kritisch eingeordnet werden: Zunächst einmal ist die Bewegung keine homogene Gruppe, über die sich so einfach generalisierende Aussagen machen lässt. Weiter bleibt unklar, wer bei einer solchen Befragung überhaupt antwortetet und wer nicht. Zudem bezieht diese nur diejenigen mit ein, die überhaupt noch Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung durch Wahlen haben. Diese Ambivalenzen bedeuten für uns vielmehr, den Genoss*innen vor Ort, die wöchentlich die antifaschistische Auseinandersetzung suchen, aktiv beizustehen. Gleichzeitig ist die Situation und Verfasstheit der Proteste in Frankreich aber dann doch nicht so einfach zu verstehen. Wir müssen uns vielmehr die Frage stellen, wie sich diese Revolte beschreiben lässt. Was können wir aus ihr lernen? Wie können wir unsere Genoss*innen vor Ort unterstützen? Und wie gehen wir mit von Rechten dominierten „Gelbwesten“-Demonstrationen in Deutschland um?</p><h2>Die Revolte aus dem Nichts</h2><p>Was sich gerade in Frankreich zuträgt, widerspricht allen Regeln der etablierten Demonstrationskultur. Die Bewegung der Gilets Jaunes zeichnet sich durch immer wiederkehrende wilde, unangemeldete, normbrechende Demos aus. Ursprünglich einem Protest gegen die Erhöhung der Benzinsteuer entsprungen, verselbstständigte sich die Bewegung rasant. Schüler*innen, Arbeiter*innen, Rentner*innen, Kids aus den Pariser Vororten und viele mehr treffen im Herzen von Paris aufeinander und widersetzen sich der etablierten Demonstrationskultur - etwa einer angemeldeten Demonstrationsroute oder einer gewerkschaftlichen Laufordnung. Eine Menge, die mit verschiedenen Aktionsformen und Parolen unkontrolliert durch die Straßen zieht, dabei Banken, Autos und Geschäfte zerstört, sich vor der Polizei verteidigt, oder diese aktiv angreift. Währenddessen wählen wieder andere friedliche Aktionsformen. Diese Widersprüchlichkeit und Spontanität der Bewegung, ihre Unkontrollierbarkeit und der Umstand, dabei keine gemeinsame Forderung zu haben außer ihrer geteilten Wut. Das zeichnet die Gilets Jaunes aus und macht sie gleichzeitig auch so schwer zu fassen.</p><p>Eine Revolte oder ein Riot ist in seinem Kern erst einmal weder gut noch schlecht, sondern lebt durch seine Spontanität. Es handelt sich um eine Gemengelage, in der sich auch revolutionäres Potenzial finden lässt. Sie (die Revolte) ist nicht ausschließlich unten gegen oben, sondern von zahlreichen Widersprüchen geprägt, da diverse Akteur*innen mit verschiedenen sozialen und politischen Hintergründen teilnehmen. Es gibt eben keine Adressat*innen, lediglich die Forderung nach Veränderung, die sich zumeist erst einmal in einer umfassenden Ablehnung gesellschaftlicher Verhältnisse ausdrückt. Es gibt zwar einen „offiziellen” Katalog an Forderungen, aber die Bewegung geht in ihren Bezugnahmen weit darüber hinaus. Dabei scheint es oft keinen anderen Weg zu geben als die Zerstörung. Die Spontanität und Widersprüchlichkeit der Revolte zeichnen aber auch die Stärke der Gilets Jaunes-Bewegung aus. Die Revolte lebt genau durch diese Widersprüchlichkeiten und durch die Missverständnisse, die sich unter den einzelnen Akteur*innen immer wieder zeigen, und die Bearbeitung erfahren. Die Aufgabe der radikalen Linken muss es demnach sein, sich einzumischen und Partei zu ergreifen. Wohin sich die Bewegung entwickeln wird, lässt sich schwer vorhersagen. Und auch deshalb stehen unsere französischen Genoss*innen jede Woche auf der Straße, um den emanzipatorischen Charakter der Bewegung zu stärken.</p><p>Welche Schrecken diese Revolte für den französischen Staat birgt, zeigt die massive Repressionswelle gegen die Gilets Jaunes. Der französische Polizei- und Justizapparat geht immer hemmungsloser und willkürlicher gegen diese vor. Emmanuel Macron und seine Regierung haben die Demonstrationsrechte massiv eingeschränkt, die Polizei setzt alles ein, was ihr an Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen zu Verfügung steht und nimmt damit wissentlich Tote in Kauf. Nach bisherigen Angaben gibt es bislang sechs Tote, hunderte Schwerverletzte – mit abgesprengten Armen, dem Verlust von Augen und schweren Kopfverletzungen. Und zwischenzeitlich Tausende, die die französischen Knäste füllen. Als am 16. März in Paris auf der Champs Elysées die Situation eskalierte, Luxusgeschäfte geplündert wurden und ein enormer Sachschaden entstand, mobilisierte der Staat für die darauf folgende Woche das Militär, um die Stadt zu besetzen. Davon ließen sich die Menschen jedoch nicht abbringen auf die Straße zu gehen. Es kam am 23. März zu einer größeren Beteiligung, als in der Woche zuvor. Auch die massiven Angriffe seitens der Polizei am 1. Mai oder bei jeder anderen Aktion in Frankreich haben nicht zu einem Einbrechen der Bewegung geführt. Der Staat zittert weiter vor dem Gespenst der Gelben Weste und versucht alles, um den Widerstand zu ersticken. Die Wut und Hoffnungslosigkeit der Menschen scheinen größer zu sein, als die Angst vor schweren Verletzungen, Knast oder Schlimmerem. Seit über einem halben Jahr, trotz all dieser Repression, findet in Frankreich eine Massenrevolte statt, die die bürgerliche Klasse und den Staat weiter in Angst und Schrecken versetzt.</p><p>Welche Stärke die Bewegung im Moment genau hat und zukünftig haben wird, ist nicht abzusehen. Nach der anhaltenden Repression und den Europawahlen finden die großen Aktionstage nicht in derselben Intensität wie vor einigen Monaten statt. Gleichzeitig kommt es jedoch regelmäßig zu kleineren Aktionen, wie Mautstellenbesetzungen und Blockaden von Fährterminalen. Hier könnte sich ein Strategiewechsel der Aktivist*innen ankündigen.</p><h2>Antifa in Frankreich und in Deutschland</h2><p>In Teilen der Antifa in der Bundesrepublik trifft man dennoch einzig auf das Argument, bei den Gilets Jaunes liefen und randalierten auch Rechte und Faschist*innen mit. Aus diesem Grund könne es sich nicht um eine emanzipatorische Bewegung handeln. Richtig ist: Nicht alle Forderungen der Gilet Jaunes sind emanzipatorisch oder progressiv. Und dabei geht es nicht nur um die Forderungen der Rechten in der Bewegung. In der laufenden Revolte steckt Wut und Ausweglosigkeit, aber auch die Hoffnung auf eine positive Veränderung der sozialen Verhältnisse. Die Bewegung der Gilets Jaunes hat eine Situation hervorgebracht, die eine gesellschaftliche Veränderung gegen die Politik des Kapitals und eine sich zuspitzende autoritäre Formierung zumindest möglich erscheinen lässt. Diesen Aspekt gilt es hervorzuheben, zu unterstützen und zu stärken. Auf der anderen Seite liefern beziehungsweise lieferten sich die Genoss*innen in Frankreich wöchentlich Auseinandersetzungen mit Faschist*innen auf der Straße und versuchten, diese aus der Bewegung zu drängen. Hier muss sich die kritische deutsche Antifa-Linke mit ihren Beißreflexen die Frage gefallen lassen, ob nicht vielmehr dort, im Kampf um Deutungshoheit in der Bewegung, der wichtigste und effektivste antifaschistische Kampf geführt wird.</p><p>Anders jedoch stellt sich die Situation in anderen Ländern dar, in denen die Gelbwesten im Moment keine massenhafte gesellschaftliche Bewegung darstellen. Hier werden die französischen Proteste unterschiedlich aufgenommen. Während in Ägypten der Verkauf von gelben Westen eingeschränkt wurde, demonstrierten in Dublin Personen damit gegen hohe Mieten. In England und Deutschland entwickelte sich der Protest hingegen bis jetzt auch verstärkt zu Mobilisierungen von rassistischen und nationalistischen Organisationen. Wie also mit diesen Bewegungen als Antifaschist*innen umgehen? In Deutschland wurden die Proteste unter anderem von der „Aufstehen-Bewegung“, die mit gelben Westen vor dem Kanzleramt demonstrierte, sowie in Stuttgart in Demonstrationen gegen das Dieselfahrverbot aufgegriffen. Dazu gesellte sich eine Demonstration in Wiesbaden, die explizite Schnittstellen zur rechten und nationalistischen Szene hat. In England, wo die Gelbwestenproteste vornehmlich von der rechtspopulistischen UKIP dominiert werden und im Zeichen des „Brexit“ stehen, hat sich die Antifa-Bewegung bereits auf den Sprachgebrauch der „Yellow Pest“ verständigt. Das soll auf der einen Seite gegen diese rechten Demonstrationen mobilisieren und auf der anderen Seite auch eine klare Abgrenzung zu dem ziehen, was sich in Frankreich als soziale Revolte vollzieht. Im Sinne von „das hier sieht nur so aus, aber ist etwas ganz anderes“. Doch ganz so einfach kann die Strategie aus unserer Sicht nicht sein. Was in den jeweiligen Ländern unter dem Stichwort der „Gelbwesten“ passiert, prägt auch, wie der Kampf unserer Genoss*innen in Frankreich wahrgenommen wird.</p><p>Wichtig für uns ist dabei zu beachten, dass wir eben „leider“ in Deutschland und nicht in Frankreich leben und aktiv sind. Gesellschaftliche Verhältnisse, oder eine bestimmte Demonstrationskultur, lassen sich nicht einfach von einem Land auf das andere übertragen. Sie können Inspiration sein, einen Stein ins Rollen bringen, Diskurse anstoßen und so weiter, lassen sich aber nicht wie eine Blaupause auf die hiesige Situation übertragen. Es bedarf für unsere Zwecke einer Analyse der Verhältnisse in Deutschland, die eben nun einmal andere sind, als die in Frankreich. Eine Massenbewegung entsteht, wie der Name schon sagt, aus einer Masse heraus und kann nicht einfach durch einen gesamtgesellschaftlich gesehen marginalen Prozentsatz einiger radikaler Linker angestoßen werden. Ein möglicher Akt der Solidarität gegenüber den französischen Genoss*innen wäre es aus unserer Sicht daher, die Rechten hierzulande daran zu hindern, die Gelbwesten-Bewegung für sich politisch zu vereinnahmen.</p><h2>Die Intervention in Wiesbaden</h2><p>Am 9. Februar 2019 versuchten einige Genoss*innen in Wiesbaden, den dortigen Protest der „Gelbwesten“ zu unterwandern und diesen mit antirassistischen, antifaschistischen und antikapitalistischen Parolen zu übernehmen. Dieser Versuch kann nicht als Erfolg gewertet werden. Hier muss viel mehr gesehen werden, dass diese Taktik gescheitert ist. Die meisten antifaschistischen Teilnehmer*innen wurden nach 15 Minuten durch die Polizei aus der Demonstration gedrängt und erhielten Platzverweise. Die Demonstration der rechten „Gelbwesten“ konnte, nach diesem Vorfall, ihren Weg ungestört fortsetzen. Was sollte mit dieser „Unterwanderungspraxis“ schlussendlich erreicht werden? Ging es um die Verhinderung der nachfolgenden Aufmärsche rechter „Gelbwesten“? War es ein symbolisches Zeichen der Solidarität mit den französischen Genoss*innen? Oder der Aufbau einer eigenen Gelbwesten-Bewegung? Letzteres muss als illusorisch abgetan werden, denn es gelingt sicher nicht aus einer rechts-dominierten Demonstration heraus, mit gerade einmal einigen hundert Teilnehmer*innen. Erschwerend hinzu kommt die in Deutschland vorherrschende Organisierungsschwäche.</p><p>Dennoch können wir auch hierzulande versuchen, in entstehende Gelbwesten-Proteste zu intervenieren. Es gilt allerdings, dabei kreativer zu werden. Das „Unterwandern“ dieser Bewegung könnte eine Möglichkeit sein, wenn es gelingt, sich zuvor ein klares politisches Ziel zu setzen, was damit in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht erreicht werden soll. Dadurch können andere Bilder in der Öffentlichkeit entstehen, die mediale Aufmerksamkeit kann sich ändern und im Optimalfall kommt es zu einem politischen Diskurs in unserem Sinne. Diese Form der Intervention wird allerdings nicht die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und noch viel weniger die Gelbwesten in Deutschland zu einer emanzipatorischen Massenbewegung machen können. Wir sollten uns als antifaschistische Linke davor hüten, uns auf eine Aktionsform zu versteifen. Antifaschismus lebt von kreativen, vielfältigen Aktionen auf unterschiedlichsten Aktionsfeldern. Es sollte sich situationsbedingt immer die Frage gestellt werden, wie wir mit rechten Mobilisierungen umgehen und hier auch immer das gesamte Aktionsfeld – von Blockaden, über Unterwanderung, bis hin zu offensiveren Formen – in Betracht gezogen werden. In jedem Fall sollte es uns in Bezug zu den Gelbwesten-Protesten darum gehen, in Solidarität mit den kämpfenden Menschen in Frankreich, Rechte daran zu hindern, sich des Symbols der Gelbwesten zu bemächtigen. Wie wir das schaffen, ist derzeit noch offen und muss weiter erprobt werden.</p><h2>Solidarität und Selbstorganisation</h2><p>Es bleibt wichtig festzuhalten, dass es nicht an unserem fehlenden Elan hängt, dass in Deutschland keine massenhafte Bewegung, wie die der Gelbwesten auftritt. Es wäre fatal, davon auszugehen, dass dieser Fakt lediglich unser Verschulden ist. Unsere Aufgabe als radikale Linke ist es aber, die Voraussetzungen für eine soziale Massenbewegung von links zu schaffen. Das bedeutet, gesellschaftlich andere Möglichkeiten des Zusammenlebens zu erschaffen und aufzuzeigen, Strukturen aufzubauen und uns mit Fragen von Herrschaft, Hegemonie, sozialen Kämpfen, Klassenkämpfen und so weiter zu beschäftigen. Damit bauen wir ein Fundament auf, das Vorstellungen eines alternativen, solidarischen und gemeinschaftlichen Zusammenlebens überhaupt erst ermöglicht.</p><p>Schon jetzt scheint ein Umdenken in der radikalen Linken in Deutschland stattzufinden. Es findet wieder eine Diskussion über Klassenpolitik und Basisarbeit statt. Es gründen sich Stadtteilzentren, Mieter*innenorganisationen und Stadteilgruppen. Viele Gruppen versuchen, sich von einem identitären Fokus zu lösen und sich aus einem Szenesumpf weg hin zu „Normalbürger*innen“ und ihren bzw. gemeinsamen Problemen zu öffnen. Inwieweit genau das ein Projekt des Erfolgs ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Der Prozess an sich ist allerdings positiv und begrüßenswert und bedarf weiterer Intensivierung.</p><p>Oft bewegt sich die radikale Linke selbst in ihrem eigenen Umfeld und mobilisiert ein akademisches, links-liberales Milieu. Dagegen ist im Grunde ja auch nichts einzuwenden. Aus der Warte vieler Beteiligter heraus muss jedoch die eigene Politik auch für einen selbst nachhaltiger gestaltet sein, um weiter aktiv zu bleiben zu können. Entscheidend ist hier, uns immer vor Augen zu halten, dass wir in den Prozessen Leute radikalisieren wollen. Es kann also nicht darum gehen, uns am Ende selbst zu befrieden und für die Schaffung von Ansprechbarkeit dann schließlich unsere Radikalität aufzugeben.</p><p>Dazu gehört zum Beispiel auch, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Wir müssen uns die Frage stellen, wer geeignete Bündnispartner*innen sein könnten, um unsere Ausgangssituation soweit zu verbessern, dass Situationen, wie sie gerade in Frankreich stattfinden, auch hier möglich werden. Die Brände in den Pariser Vororten von 2005 zeigen, dass eine (Massen-)Revolte, ausgehend von einem Stadtteil, die höchste Stufe der Basisorganisierung ist. Das ist Teil der Stärke der heute stattfindenden Revolte in Frankreich. Menschen in den Vororten von Paris und anderen ausgeschlossenen Stadteilen französischer Städte fingen an, sich zu organisieren. Es entstanden informelle Zusammenschlüsse und es wurde Kontakt zu Genoss*innen aufgebaut, welche sich dort einbringen. Es handelt es sich um Menschen, die aufgrund von Rassismus und ihrer „Überflüssigkeit“ für das Kapital komplett aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Die Klasse des Surplus-Proletariats, also jene Klasse der für das Kapital „Überflüssigen“ und Nicht-Verwertbaren, wird auch in Deutschland entscheidender und zu einer immer größeren sozialen Gruppe. Diesen Menschen wird tagtäglich vor Augen geführt, dass sie keine Möglichkeit mehr haben, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. Sie beginnen schließlich ihrer Wut Ausdruck zu verleihen und sich zu organisieren, wie dies hierzulande etwa schon beim G-20-Gipfel in Hamburg geschehen ist. Im Hamburger Schanzenviertel haben, abgesehen von organisierten militanten Autonomen und einem Party-Publikum, auch junge Migrant*innen mitrandaliert. Es handelt sich hier nicht zwangsläufig um eine gesellschaftliche Klasse mit emanzipatorischen Zielen. Radikalen Linken sollte aber klar sein, dass hier Menschen zumindest anfangen, sich zum Beispiel gegen die Polizei zu wehren und Fähigkeiten entwickelt haben, sich abseits des Staates zu organisieren, ohne wöchentlich zum linken Plenumsritual anzutreten. Hier könnte die Möglichkeit für eine radikale Linke in Deutschland sein, sich mit diesen Menschen zu organisieren und sich auch selbst diese Fähigkeiten anderer Formen der Organisierung anzueignen.</p><h2>Praktisch werden!</h2><p>Unsere Solidarität mit den französischen Genoss*innen muss lauten, Rechte daran zu hindern, die Gelbwesten in Deutschland für sich zu vereinnahmen, praktische Solidarität zu üben, über die Bewegung aufzuklären, Soliaktionen zu organisieren und sie in Frankreich auf der Straße zu unterstützen. Dabei gilt es, nicht zu vergessen, auch über politische Strategien und Ziele der Bewegung, die sich durch ihre (Weiter-)Entwicklung verändern, in Frankreich kritisch zu diskutieren. Gleichzeitig muss Solidarität auch bedeuten, Strukturen aufzubauen, die in der Zukunft auch hierzulande Situationen möglich machen, in der die gesellschaftliche Hegemonie in Frage gestellt werden kann. Wir müssen darüber hinaus diskutieren, mit wem wir uns weiter organisieren wollen. Ist eine vermeintliche Zivilgesellschaft der richtige Akteur oder müssen wir über unseren eigenen Tellerrand schauen und neue Möglichkeiten der Organisierung finden, auch wenn dies bedeutet, unsere Komfortzone zu verlassen und Widersprüche auszuhalten?</p></div>
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Kolumbien vor neuem Krieg2019-06-12T15:54:10.202132+00:002019-06-12T16:08:18.808518+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kolumbien-vor-neuem-krieg/
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<div class="rich-text"><p><i>Der Autor sammelt mit der Spenden-Kampagne „Solidarität mit linker Kulturpolitik in Kolumbien!“ Geld für die Genoss*innen der Linken Kulturgruppe </i><a href="https://www.facebook.com/RASH.BTA.SEC.OFICIAL/"><i>RASH Bogotá</i></a><i>, die unter den im Artikel genannten prekären Bedingungen linke Kulturarbeit in Kolumbien leistet und dem bolivarianischen Spektrum angehört.</i> <a href="https://www.betterplace.me/kolumbiensoli"><i>Zur Spendenseite geht es hier.</i></a></p><h3>Ein Friedensprozess am Ende</h3><p>Als der ehemalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos im Jahr 2016 die seit 2012 währenden Friedensverhandlungen mit der marxistischen Guerilla <i>Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo</i>, kurz FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) erfolgreich abschloss und diese sich schließlich 2017 demobilisierte, waren die Erwartungen groß. Die <a href="https://www.eltiempo.com/contenido/politica/proceso-de-paz/ARCHIVO/ARCHIVO-16682558-0.pdf">Friedensverträge von Havanna</a> verpflichteten die Regierung faktisch dazu, einen modernen, demokratischen Nationalstaat mit umfangreichen Sozialsystemen aufzubauen. Eine gigantische Herausforderung für eines der <a href="https://www-cdn.oxfam.org/s3fs-public/file_attachments/radiografia_de_la_desigualdad.pdf">sozial ungleichsten Länder der Erde</a>. Wirtschaftlich wäre es auf ein keynesianisches Investitionsmodell, insbesondere in den ruralen Regionen, hinausgelaufen. Die <i>Jurisdicción Especial para la Paz</i>, kurz JEP (Sonderjustiz für den Frieden), die seit 2016 eingerichtet wurde, hätte eine sukzessive Aufarbeitung paramilitärischer, mit dem Staat verbundener Morde und Massaker bedeutet. Schließlich hätte die Substitution des Koka-Anbaus durch nachhaltige Agrarwirtschaft und die Neuverteilung von Land über den eigens dafür geschaffenen Fond dem andauernden Drogenkrieg das Fundament entzogen. Kurz: Eine Umsetzung der Verträge von Havanna hätte ein Fundament für einen dauerhaften Frieden darstellen können. Ihnen lag eine Definition von Frieden zu Grunde, die diesen nicht alleine als Zustand der Abwesenheit von physischer Gewalt begriff, sondern vor allem auch die Lösung der sozialen Ursachen des bewaffneten Konflikts in der politischen und ökonomischen Machtstruktur ins Visier nahm. Das alles hätte jedoch einen Bruch mit dem neokolonialen und militaristischen Bürgerkriegsmodell bedeutet, das aus einem exklusiven Staatsapparat besteht, in dem linke und linksliberale Stimmen marginalisiert und mit paramilitärischem Terror überzogen wurden und werden. Das ist offensichtlich nicht gewollt. Spätestens seit dem Amtsantritt Iván Duques als Präsident im August 2018 wird nichts unversucht gelassen, um Bestimmung für Bestimmung zu revidieren, damit der Friedensprozess und mit ihm die politische Linke des Landes beerdigt werden kann.</p><p></p><h3>Plebiszit und erste Revision</h3><p>Der erste Schlag gegen den Frieden geschah bereits, bevor das Abkommen offiziell unterzeichnet worden war. Mit einer Volksabstimmung sollte die Bevölkerung über die Annahme der Friedensverträge von Havanna entscheiden. Diese Abstimmung durchzuführen war ein explizites <a href="https://amerika21.de/2013/04/82298/volksabstimmung-farc">Anliegen der Regierungsseite</a> und mitnichten der Guerilla, die nur zu gut weiß, dass die Kräfteverhältnisse in den bevölkerungsreichen Zentren des Landes, den Cordilleras, nicht zu ihren Gunsten stehen. <a href="https://lowerclassmag.com/2016/10/07/ein-sieg-der-apathie-und-der-gewalt/">Eine Mischung</a> aus historischem Antikommunismus und rechter Medienmacht, erfolgreichen, hetzerischen Mobilisierungen der Rechten, ebenso wie eine nicht mehr vorhandene Präsenz beziehungsweise Einfluss der Guerilla in den großen Städten des Landes, sowie eine weit verbreitete politische Apathie (Wahlbeteiligung: 37,43%) im Land, führten schließlich zu einer knappen Ablehnung der Friedensverträge im Oktober 2016. In den darauf folgenden Wochen, in denen das Vertragswerk überarbeitet wurde, wurden bereits <a href="https://lowerclassmag.com/2016/11/21/ein-frieden-fuer-wen/">zentrale Revisionen</a> vorgenommen. Dabei wurde unter anderem die Unantastbarkeit des Privateigentums an Land festgeschrieben, was die vorgesehene Umverteilung der in Großgrundbesitzerhänden befindlichen Ländereien an Opfer des bewaffneten Konflikts und/oder Kleinbäuer*innen nachhaltig unterminierte.</p><p></p><h3>Die Verhaftung Jesús Santrichs</h3><p>Zweifellos einer der ausschlaggebendsten Vorfälle und gleichzeitig exemplarisch war die noch von Juan Manuel Santos veranlasste <a href="https://revoltmag.org/articles/angriff-auf-den-friedensprozess-kolumbien/">Verhaftung</a> des FARC-Führers und Chefideologen der alten Guerilla Jesús Santrich am 9. April 2018 in dessen Haus in Bogota. Santrich wurde vom US-amerikanischen Dienst <i>Drug Enforcement Administration</i>, kurz DEA (Drogenvollzugsbehörde), vorgeworfen, mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell [1] nach der Zeichnung der Friedensverträge mit Kokain gehandelt zu haben. Da dieser Handel nach der Zeichnung der Verträge erfolgt sein soll, habe Santrich kein Recht auf eine Verhandlung des Falls vor der JEP, so seine Ankläger*innen. Die USA forderten daraufhin seine Auslieferung auf Basis der historischen Auslieferungsgesetzgebung der 1980er Jahre, die aber im Zuge der Implementierung der Körperschaft JEP ausgesetzt wurde – zumindest für solche Delikte während des bewaffneten Konflikts. Beweise gibt es, bis auf ein Telefonat und Bilder eines angeblichen Treffens, die beide von seinem ehemaligen Mitarbeiter Marlon Marín <a href="https://colombiareports.com/marlin-marin-the-dea-informant-who-put-farc-leader-back-behind-bars/">eingefädelt worden waren</a>, keine. Marín ist interessanterweise zwischenzeitlich als Kronzeuge der DEA in den USA wieder aufgetaucht. Die Rechtsregierung unter Duque hält faktisch also einen Kongressabgeordneten (!) der Republik ohne Beweise fest und arbeitete an einer Auslieferung auf Basis einer Gesetzgebung, die für Fälle wie Santrich in den Friedensverträgen explizit ausgesetzt worden war. Zwischenzeitlich attackierte Duque die JEP auch auf dem parlamentarischen Weg, mit dem Ziel, diese de facto auszuhebeln. Das hätte eine reguläre Strafverfolgung aller Guerilleros/as in den Entwaffnungszonen bedeutet. Dieses Szenario wurde nun vorläufig vom <a href="https://amerika21.de/2019/06/227039/santrich-freilassung-kolumbien">Obersten Gerichtshof verhindert</a>. Weiterhin wurde Santrich auf Weisung der JEP gegen den Willen der Staatsanwaltschaft vorläufig auf freien Fuß gesetzt.</p><p></p><h3>Die Rechtsradikalen gewinnen die Wahl</h3><p>Der <a href="https://revoltmag.org/articles/das-ende-von-frieden-und-soziale-gerechtigkeit/">Wahlsieg Iván Duques</a> gegen seinen linken Herausforderer Gustavo Petro im vergangenen Jahr machte allen klar, dass die politischen Weichen in Richtung Scheitern des Friedensprozesses gestellt werden. Duque gab sich in seinem Wahlkampf nicht einmal die Mühe, seine Absichten zu verbergen und verkündete vor Anhänger*innen dann schon mal, dass er die Friedensverträge mit den FARC „zerreißen“ werde. Nach seinem Wahlsieg ließ er zwar verlautbaren, dass er nur noch „Änderungen“ an den Verträgen plane, jedoch merkte der liberale Politiker und ehemalige Chefunterhändler der Regierung Santos, Humberto de la Calle zu Recht an, dass es sich bei diesen angepeilten Veränderungen um eine „Änderung des Wesensgehalts der Verträge“ handele. Bei diesen Wahlen wurde auch deutlich, wie gravierend die Guerillabewegung an Einfluss in den politischen Zentren des Landes eingebüßt und wie stark ihre politische Isolation geworden war. Die nunmehr im November 2017 als legale Partei <i>Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común -</i> FARC (Alternative Revolutionäre Kraft des Volks) transformierte Ex-Guerilla konnte über ihre eigene Anhänger*innenschaft hinaus <a href="https://revoltmag.org/articles/eine-niederlage-f%C3%BCr-die-gesamte-kolumbianische-linke/">kaum Stimmen gewinnen</a>. Aufgrund der Bestimmungen in den Friedensverträgen entsendete die neue Linkspartei dennoch fünf Kandidat*innen in Senat wie Abgeordnetenhaus, von denen allerdings nicht alle ihr Mandat aufnahmen.</p><p></p><h3>Das Whitewashing des Staates...</h3><p>Auch auf dem Feld der Aufarbeitung der sozialen Ursachen des bewaffneten Konflikts kam es zum umfassenden Rollback. Nahezu symbolisch für die einseitige Geschichtserzählung vom bewaffneten Konflikt steht die <a href="https://amerika21.de/2019/03/223025/ultrarecher-neuer-leiter-des-cnmh-kolumb">kürzliche Ernennung</a> des Ultra-Rechten Darío Acevedo zum Leiter des <i>Centro Nacional de Memoria Histórica</i>, CNMH (Nationales Zentrum für Historisches Gedächtnis). Acevedo gehört zu jenen „Historikern“, die entgegen dem Forschungsstand zum bewaffneten Konflikt behaupten, dass diesem keine soziale Komponente zu Grunde liege, sondern es sich um einen „Kampf gegen den Terrorismus“ handele. In dieser Erzählung steht ein vermeintlich sauberer Staat einer mit Blut besudelten Guerilla gegenüber, die vollkommen abseits jeder politischen Intention die Bevölkerung mit Drogenhandel und Terror überzogen hätte – eine derzeit bis weit hinein in linke Intellektuellenkreise reichende Annahme.</p><p></p><h3>...und die Fortsetzung des Staatsterrorismus</h3><p>Das Ansteigen der politischen Morde seit Zeichnung der Friedensverträge im Jahr 2016 ist dabei ein besonders düsteres Kapitel des gescheiterten Friedensprozesses. Ein kürzlich unter anderem durch die linke soziale Bewegung <i>Marcha Patriótica</i> und der NGO <i>Instituto de estudios para el desarollo y la paz</i>, INDEPAZ (Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien) <a href="http://www.indepaz.org.co/wp-content/uploads/2019/05/SEPARATA-DE-ACTUALIZACIO%CC%81N-mayo-Informe-Todas-las-voces-todos-los-rostros.-23-mayo-de-2019-ok.pdf">herausgegebener Bericht</a> spricht von zwischenzeitlich 702 ermordeten Aktivist*innen und 135 ermordeten Ex-Kämpfer*innen der Guerilla seit Zeichnung der Friedensverträge im Jahr 2016. Mit jährlich steigender Tendenz. Gleichzeitig ging die Regierung nach wie vor bei sämtlichen Gelegenheiten mit massiver Gewalt und unter Inkaufnahme schwerster Verletzungen mit Todesfolge mit der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD gegen soziale Proteste, etwa im Chocó, oder auch in <a href="https://revoltmag.org/articles/ein-kampf-um-frieden-und-w%C3%BCrde/">der armen Pazifikstadt Buenaventura</a> vor. Die kolumbianische Regierung ist dabei nicht nur als unfähig, sondern vor allem als unwillig zu bezeichnen, was die Bekämpfung des Problems des Paramilitarismus anbelangt. Öffentlich leugnete bereits die vergleichsweise liberale Regierung von Juan Manuel Santos die historischen wie aktuellen und <a href="https://amerika21.de/analyse/152975/paramilitarismus-kolumbien">hinreichend belegten Verbindungen</a> zwischen kolumbianischem Staat und paramilitärischen Gruppen. Mit Iván Duque ist der politische Arm des Paramilitarismus wieder zu Amt und Würden gekommen. Die Haltung der derzeitigen Regierung zu dieser Frage hat kein Politiker besser auf den Punkt bringen können als Álvaro Uribe Velez, Ziehvater des jetzigen Präsidenten Iván Duque und Gründer der ersten paramilitärischen Gruppen, selbst. So schrieb dieser Ex-Präsident Kolumbiens kürzlich über seinen <a href="https://www.eltiempo.com/politica/congreso/sigue-polemica-por-trino-de-alvaro-uribe-sobre-masacre-348022">Twitter Account</a>, dass „wenn eine ruhige Autorität, stark und mit sozialen Kriterien Massaker bedeutet, dann weil auf der Gegenseite mehr Gewalt und Terror herrscht als Protest“. Dieses, die Morde an Aktivist*innen legitimierenden Statement ging anschließend unter dem Hashtag <i>#Masacreconcriteriosocial</i> (#MassakermitsozialemKriterium) viral. Dazu passt dann auch, dass Iván Duque nichts zum Schutz der Menschen tut, aber stattdessen eine Sicherheitspolitik forciert, in der es erneut möglich wird, legale <a href="https://amerika21.de/2019/02/222140/duque-foerdert-legalen-paramilitarismus">paramilitärische Gruppen zu gründen</a>. In den 90er Jahren hatte Álvaro Uribe Velez bereits mit den CONVIVIR eine legale Form des Paramilitarismus in Form von privaten Bürgermilizen geschaffen, die Hand in Hand mit dem Staat gegen die Guerilla und andere Linke vorgingen, um dann später umstandslos in die Kontra-Guerilla der AUC überzugehen.</p><p></p><h3>Der Ausbau des Militär-Regimes</h3><p>Bei nicht wenigen Aktivist*innen für den Friedensprozess war mit den Verträgen von Havanna die Hoffnung verbunden, dass ein dauerhafter Waffenstillstand mit der letzten verbliebenen relevanten Guerilla <i>Ejército de Liberación Nacional</i>, ELN (Nationales Befreiungsheer) folgen könnte und der aufgeblähte kolumbianische Militärapparat damit eingekürzt würde. Real ist auch hier das Gegenteil eingetreten. Hatte Juan Manuel Santos noch vergleichsweise erfolgreiche Friedensverhandlungen mit der ELN geführt, blockierte die Regierung Duque die Verhandlungen zunächst, um sodann die militärische Aggression gegen die letzte verbliebene linke Guerilla zu verstärken. Diese reagierte zu Anfang des Jahres 2019 mit einem Anschlag gegen eine Polizeiakademie in Bogota, was dann endgültig zum Vorwand genommen wurde, den fragilen Friedensprozess zu begraben. Mit diesem Manöver erhielt sich die Regierung Duque einen inneren Feind, um die Aufrechterhaltung der immensen Militärausgaben (drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes) und deren Erhöhung um drei Milliarden US-Dollar (2018) zu rechtfertigen. Bereits seit Santos gilt Kolumbien als <a href="https://amerika21.de/2018/05/202241/kolumbien-globaler-partner-nato">„globaler Partner“ der NATO</a> in Südamerika. Die USA nutzen darüber hinaus nach wie vor <a href="https://www.semana.com/nacion/seguridad/articulo/estados-unidos-utilizara-total-siete-bases-militares-colombia/105908-3">sieben Militärbasen</a> auf kolumbianischem Territorium, insbesondere als Drohung gegen die Linksregierung in Venezuela. Kürzlich wurden in der New York Times fragwürdige Weisungen im kolumbianischen Militär öffentlich gemacht. Die Weisungen sehen Belohnungen von Tötungen von Guerilleros vor und Strafe bei Nicht-Erfüllung des „Solls“. Damit betreibt die Regierung Duque eine ähnliche <a href="https://amerika21.de/2019/05/226575/militaer-foerderung-morde-kolumbien">falso positivo-Militärpolitik</a> wie seinerzeit Álvaro Uribe Velez und dessen damaliger Verteidigungsminister Juan Manuel Santos.</p><p></p><h3>Ein Gezielter Bruch der Verträge</h3><p>Zu den genannten Faktoren und Entwicklungen treten dann noch mangelhafte Umsetzung <a href="https://amerika21.de/2017/03/171162/kolumbien-farc-entwaffnungszon">der Bestimmungen</a> für die <i>Zonas Veredales Transitorias de Normalización</i>, ZVTN (Transitionszonen) nun <i>Espacio Territoriales de Capacitación y Reincorporación</i>, ETCR (Territoriale Orte der Fortbildung und Wiedereingliederung) hinzu. Weiter die <a href="https://amerika21.de/2017/02/171000/farc-gefangene-hungerstreik">fortgesetzte Inhaftierung</a> von politischen Gefangenen der FARC, keine Umsetzung der sozialen Bestimmungen der Friedensverträge, geschweige denn jener zur ruralen Entwicklung, sowie die wieder aufgenommene militärische Vernichtungspolitik von Koka-Plantagen mit krebserregendem Glyphosat statt Substitution und Landentwicklung. War die Regierung unter Juan Manuel Santos noch ambivalent und hielt eine Balance zwischen erfüllten und unerfüllten Bestimmungen, kann man von der Duque-Regierung sagen, dass sie in sämtlichen Bereichen das genaue Gegenteil zu den vereinbarten Verträgen umsetzt. Es wird mehr als deutlich, dass der kolumbianische Staat und seine politische Klasse spätestens seit Iván Duques Präsidentschaft darauf hinarbeiten, die Verträge unwirksam werden zu lassen. Der Friedensprozess wurde einseitig, nämlich durch die Regierungsseite, aufgekündigt, während die ehemalige Guerilla sämtliche Bestimmungen wortgenau umsetzte. Inwieweit eine solche negative Entwicklung <a href="https://revoltmag.org/articles/angriff-auf-den-friedensprozess-kolumbien/">bereits unter Santos</a> absehbar war, ist Gegenstand heftiger Kontroversen. Fest steht jedoch, dass bereits in der Ära Santos Probleme in der Umsetzung der Bestimmungen auftraten, weil Teile des Staatsapparats sich weigerten, die Bestimmungen adäquat umzusetzen. Weiterhin fällt bereits in die Ära Santos die Verhaftung von Santrich und die Aufkündigung <a href="https://www.elcolombiano.com/opinion/editoriales/termina-el-fast-track-que-sigue-XE7776617">des so genannten Fast Track-Verfahrens</a>, d.h. einer beschleunigten, dekretartigen Beschlussfassung ohne weitere Diskussion in den politischen Kammern. Durch die Aufkündigung des Verfahrens musste Bestimmung für Bestimmung der Friedensverträge erneut durch die Kammern des kolumbianischen politischen Systems diskutiert beziehungsweise beschlossen werden. Es ist also zwar anzunehmen, dass ein liberalerer, nicht mit dem Paramilitarismus verbundener Präsident, weniger aggressiv gegen die Friedensverträge vorgegangen wäre. Allerdings muss zugleich festgehalten werden, dass keine einzige der mit der kolumbianischen Oligarchie verbundenen politischen Parteien – von den Rechten um <i>Centro Democrático</i>,<i> Cambio Radical</i>, <i>Partido Social de Unidad Nacional</i> und <i>Partido Conservador Colombiano</i> bis hin zu den Liberalen um die <i>Partido Liberal Colombiano</i> – ein <a href="https://lowerclassmag.com/2016/08/19/freiheit-frieden-und-soziale-gleichheit-sind-die-parolen-unserer-sache/">Interesse an der wortgenauen Umsetzung</a> der Friedensverträge hat. Diese lesen sich zwar aus einer westlichen Perspektive als moderate, sozialdemokratische Programmatik, bedrohen jedoch in einem System, in dem die politische Linke, inklusive Sozialdemokratie und Gewerkschaften, stets ausgeschlossen und verfolgt wurde, potentiell das traditionelle Herrschaftssystem.</p><p></p><h3>Die Folgen für die bolivarianische Bewegung in Kolumbien</h3><p>Für die bolivarianische Bewegung [2] und insbesondere die neue Linkspartei FARC ergeben sich vor dem Hintergrund dieses Szenarios gravierende Probleme. Zum einen kann festgehalten werden, dass die Stärke des politischen Gegners unterschätzt und die eigene Stärke überschätzt wurde. Die ehemalige Guerilla stellte zu Recht fest, dass eine klar sozialistische Partei im politischen Spektrum des Landes fehlte und gründete demnach eine solche Partei mit vergleichsweise moderatem Programm und eben keine Kommunistische Partei [3]. Als Erfolg kann festgehalten werden, dass diese Partei in den Städten teilweise in der Lage war, insbesondere junge Menschen politisch zu organisieren. Ein Erfolg ist wohl auch, dass es mit Gustavo Petro ein erstmals links stehender Präsidentschaftskandidat in die Stichwahl schaffte mit immerhin 41,77 Prozent der abgegebenen Stimmen. Jedoch haftete der Partei das Stigma des vermeintlichen Hauptschuldigen am bewaffneten Konflikt derart stark an, dass sie nicht nur von ihren politischen Gegnern, sondern auch innerhalb der Linken selbst politisch isoliert wurde. Das Wahlergebnis, aber auch das <a href="https://www.semana.com/nacion/articulo/entrevista-rodrigo-londono-timochenko-como-candidato-de-la-farc/554946">inhaltliche Umkippen</a> des Präsidentschaftskandidaten der FARC Rodrigo Londoño in puncto Venezuela und dann der folgende Abbruch seiner Kandidatur sind Ausdruck dieser politischen Isolation. [4] Die von ihr angestrebte Rolle eines Sammelpunkts einer breiter aufgestellten Linken und der Bewegung für den Frieden wurde ihr von der Wahlbewegung Gustavo Petros, <i>Colombia Humana</i> (Menschliches Kolumbien) abgelaufen.</p><p></p><p>Dieser ausbleibende politische Erfolg wurde begleitet von der Zunahme politischer Morde an der Anhänger*innenschaft der Partei ebenso wie an ihr nahestehenden Aktivist*innen, den zunehmenden Vertragsbrüchen und der symbolischen Verhaftung von Santrich. Gleichzeitig verließen immer mehr demobilisierte Guerillerxs die Entwaffnungszonen in die Anonymität oder zurück in den bewaffneten Kampf. Von 13.049 ursprünglich registrierten Kämpfer*innen sind heute nur noch 3.500 in den ETCR. Die Führung der FARC geriet so nicht nur unter Druck des politischen Gegners, da dieser zunehmend auf die abnehmende Zahl von in den Zonen präsenter Kämpfer*innen verweisen konnte, sondern stand einer unzufriedener werdenden Basis gegenüber, die partiell nicht mehr bereit war, den Friedensprozess unter diesen Bedingungen mitzutragen. So bildeten sich innerhalb der Partei mehrere Flügel aus, die nun zunehmend schärfer miteinander in Konflikt geraten. Zur Zeit lassen sich drei Positionen im bolivarianischen Spektrum feststellen:</p><p></p><p><b>(1)</b> Da wäre der Versuch der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs, an dem insbesondere Gentil Duarte arbeitet. Der ehemalige hochrangige Kommandeur des <i>Bloque Oriental</i> (Östliche Front der FARC-EP) der Guerilla arbeitet seit seinem Untertauchen 2016 an einer Wiedervereinigung der <a href="https://amerika21.de/blog/2019/01/220059/kolumbien-dissidentischen-gruppen-farc">versprengten Restverbände der FARC</a>, die auch die <i>Disidencia</i> genannt werden. Diese versprengten Verbände haben sich unter Führung lokaler Ex-Kommandeure warlordisiert. Partiell kämpfen sie auch weiter unter politischem Banner. Bis dato gibt es noch keinen Einblick in die politische Programmatik der Gruppen. Ein Hinweis jedoch gibt die Aktion von dissidenten Mitgliedern der FARC in der Nationaluniversität in Bogotá im August 2018. Dort hatte eine vermummte und <a href="https://www.youtube.com/watch?v=qYvzUWIrJu0">bewaffnete Miliz eine Kundgebung im traditionellen Stil</a> der Milicias Urbanas (Stadtguerilla der FARC-EP) aus den Zeiten des bewaffneten Konflikts abgehalten. In der Rede wurde der Friedensprozess als gescheitert und die Führung der legalen Partei als „Verräter“ bezeichnet. Parallel dazu zirkulierte ein <a href="http://www.rebelion.org/docs/245447.pdf">16-seitiges Pamphlet</a>, in dem die Reaktivierung der <i>Partido Comunista Clandestino Colombiano</i>, PCCC (Klandestine Kolumbianische Kommunistische Partei), dem politischen Arm der aufgelösten Guerilla, und die Rückkehr zum Marxismus-Leninismus als Leitlinie gefordert wird.</p><p></p><p><b>(2)</b> Der linke Parteiflügel um Iván Márquez und Jesús Santrich. Diese beziehen in der parteiinternen Auseinandersetzung eine Position der Selbstkritik und der scharfen Kritik am aus ihrer Sicht <a href="https://amerika21.de/2018/10/214602/kolumbien-farc-frieden-abkommen-brief">gescheiterten Friedensprozess</a>. Márquez, der gemeinsam mit anderen Kritiker*innen des Friedensabkommens im Juni 2018 wegen der Verhaftung von Santrich abgetaucht ist, veröffentlichte in regelmäßigen Abständen Schreiben der Selbstkritik an die Parteibasis. Dies trifft auf ein wachsendes Unwohlsein in der Führung der Partei, gilt Márquez als deutlich beliebter und als alter Rivale des Parteichefs Londoño. <a href="https://kolumbieninfo.noblogs.org/post/2019/05/21/an-die-guerilleros-in-den-etcr-und-an-alle-kolumbianer-ivan-marquez/">Sein letztes Schreiben</a> anlässlich des skandalösen Hin und Her um die Entlassung von Santrich bedauerte erneut die vorzeitige Entwaffnung, sprach sich aber zugleich für einen Kampf um den Frieden aus. Welchen Plan Márquez über eine kritische Begleitung des Friedensprozesses hinaus verfolgt, bleibt bislang unklar. Er steht derzeit für eine Position des „Weder-Noch“: Weder ein „Weiter so!“, noch Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs. Márquez wurde in seiner Haltung durch Jesús Santrich noch vor dessen Entlassung <a href="https://www.pulzo.com/nacion/jesus-santrich-denfendio-ivan-marquez-por-declaraciones-timochenko-PP702886">wie zu erwarten bestärkt</a>, während der Parteivorsitzende Rodrigo Londoño als Vertreter des rechten Parteiflügels sich abwesend zeigte.</p><p></p><p><b>(3)</b> Der rechte Flügel der Partei um den Parteivorsitzenden Rodrigo Londoño will unter allen Umständen am Friedensprozess festhalten und verteidigt den gescheiterten Prozess innerhalb und außerhalb der Partei bedingungslos gegen seine Kritiker*innen. Gleichzeitig wird man den Eindruck nicht los, dass dieser Flügel eine Art Anbiederungspolitik verfolgt. So entschuldigte sich Londoño kürzlich <a href="https://www.kienyke.com/politica/farc-disculpa-rodrigo-londono-espana-camiseta-eta-recibimiento-jesus-santrich">offiziell beim spanischen Staat</a>, da auf dem Video der Entlassung Santrichs ein Unterstützer der Partei mit dem Logo der baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA aufgetreten war. Die rechte Presselandschaft hatte dieses Symbol anschließend zum Anlass genommen, der Linkspartei die Friedfertigkeit abzusprechen - was angesichts von 135 Toten Parteimitgliedern einer glatten Opfer-Täter-Umkehr gleichkommt. Das Schreiben Márquez’ schließlich provozierte Parteiführer Rodrigo Londoño kürzlich so sehr, dass er im Alleingang und an sämtlichen Parteigremien vorbei dessen Position zu einer <a href="https://twitter.com/TimoFARC">Position für den Krieg</a> (Twitter, 22. Mai 2019) und damit unvereinbar mit der Partei erklärte. Die Folge war ein Aufschrei an der Basis, sowie öffentliche Richtigstellungen und Verurteilungen aus der Führungsriege der Partei. Benedicto González, einer der Kongressabgeordneten der FARC und hochrangiges Mitglied, erklärte die Stellungnahme öffentlich de facto für illegitim und <a href="https://kolumbieninfo.noblogs.org/post/2019/05/26/kritik-an-farc-chef-timochenko/">nicht repräsentativ</a>. Londoño ruderte anschließend zurück und beschwor die Einheit in der Partei.</p><p></p><p>Während Londoño angeschlagen aus der öffentlichen Auseinandersetzung hervorgeht, rumort es innerhalb der Basis der Partei weiter. Zahlreiche Anhänger*innen des linken Flügels haben die Partei bereits verlassen. Besonders opportunistische Anhänger*innen des rechten Flügels sind zur grün-liberalen <i>Partido Verde</i> (Grüne Partei) übergelaufen. Mit weiteren Angriffen der kolumbianischen Regierung um Iván Duque auf das wenige Erreichte im Friedensprozess, insbesondere die JEP, und die legale Partei, ist zu rechnen. Die Situation wird daher für die FARC eher noch prekärer werden. Sollten sich noch mehr Mitglieder der legalen Partei vom Ziel des Friedens abwenden, steht Kolumbien vor einem erneuten bewaffneten Konflikt mit altbekannten Akteur*innen. Wird dahingegen weiter an einem faktisch gescheiterten Friedensprozess festgehalten droht ein Massaker im Ausmaß <a href="https://www.youtube.com/watch?v=AMQng34vHJc">der Auslöschung</a> der FARC-Vorgängerpartei <i>Unión Patriótica (UP)</i> bzw. die Integration als liberale Systempartei. Die politische Verantwortung für dieses jeweilig desaströse Ergebnis des Friedensprozesses hat jedenfalls, wie Jesús Santrich es kürzlich in seiner Botschaft anlässlich seiner Entlassung richtig mitteilte, allein der kolumbianische Staat zu tragen.</p><p></p><h3>Anmerkungen:</h3><p><b>[1]</b> Die DEA stand erwiesenermaßen immer wieder im Bündnis mit Narco-Kartellen. Zuletzt wurde bekannt, dass sie sich mit dem Sinaloa-Kartell gegen die Zetas in Mexiko verbündet hatte. Also genau mit dem Kartell, das nun laut DEA mit Santrich Geschäfte gemacht haben soll. Die Recherche wurde von der mexikanischen Tageszeitung <a href="http://archivo.eluniversal.com.mx/nacion-mexico/2014/impreso/la-guerra-secreta-de-la-dea-en-mexico-212050.html">El Universal öffentlich gemacht</a>.</p><p></p><p><b>[2]</b> Die FARC nennen ihre ideologische Leitlinie Marxismus-Bolivarianismus, das heißt eine Symbiose von Marxismus-Leninismus und der panamerikanischen Ideen des antikolonialen Befreiungskämpfers Simón Bolívar. Auf den Bolivarianismus beziehen sich in Kolumbien viele Organisationen und Strömungen, unter anderem die soziale Bewegung <i>Marcha Patriótica</i>, die politische Partei <i>Unión Patriótica</i>, die <i>Partido Comunista Colombiano (PCC)</i>, die Jugendorganisation <i>Juventud Rebelde</i>, die Guerilla FARC-EP und nun die legale Linkspartei FARC.</p><p></p><p><b>[3]</b> Der politische Arm der FARC-EP war bis zur Gründung der Linkspartei die <i>Partido Comunista Clandestino Colombiano (PCCC)</i>.</p><p></p><p><b>[4]</b> Londoño hatte in dem Interview das Wording der radikalen Rechten in Kolumbien (Castro-Chavismus) zur Beschreibung von Venezuela übernommen und sich davon distanziert. Das hatte noch nicht einmal der gemäßigte Sozialdemokrat Gustavo Petro so geäußert.</p></div>
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,,Nicaragua steht vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt“2018-07-08T18:43:23.458912+00:002018-07-08T19:29:13.737824+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/nicaragua-steht-vor-der-gefahr-einer-versch%C3%A4rfung-der-gewalt/
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<i><br/>Die Situation in Nicaragua ist unverändert explosiv. re:volt-Redakteur
Jan Schwab spricht mit dem italienischen Journalisten und
Lateinamerikaaktivisten Giorgio Trucchi, der seit Beginn des militanten
Aufstands im Land ist und über die Auseinandersetzungen zwischen
Opposition und Ortega-Regierung berichtet, über die aktuellen
Entwicklungen im mittelamerikanischen Land.</i></p><p><b>Jan [re:volt]: Guten Tag Herr Trucchi. Sie
berichten seit Beginn der Krise am 18. April aus dem
mittelamerikanischen Land. Wie stellt sich die aktuelle
Konfliktsituation aus Ihrer Perspektive dar?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Die
Situation hier ist um einiges komplizierter, als sie in den
internationalen Medien erscheint. Diese berichten über die
politische Situation als spontanem Protest gegen die Reform des
Sozialsystems (INSS), der durch die staatliche Repression in einen
Volksaufstand umschlug. Man muss aber viel mehr Elemente des
Konflikts berücksichtigen, sowohl seitens der Regierung als auch der
Opposition. Dieser Konflikt weist zwei zentrale Dimensionen auf:
Einmal die Situation im Land, und dann die internationale
Konstellation, in der Nicaragua sich befindet. Sicherlich wiesen die
Proteste gegen die Reform des Sozialsystems zu Beginn einen spontanen
Charakter auf. Es handelte sich um Proteste, die von den
Universitäten ausgingen und die durch militante Gruppen der
Regierung, aber auch von den Polizeistreitkräften, mit Gewalt und
Repression überzogen wurden. Gegenüber dieser Repression antwortete
ein Teil der Protestierenden auf militante Art und Weise. Das war
auch der Moment, an dem die Proteste von politischen Strömungen
infiltriert wurden, die ein Interesse an der Erhöhung des
Konfliktniveaus hatten. Diese Infiltration war insbesondere aufgrund
der ungerechtfertigten Brutalität der Polizeieinheiten möglich. Zur
selben Zeit startete eine mediale Kampagne, die unter anderem
Nachrichten über angebliche Massaker der Polizeikräfte in den
sozialen Netzwerken verbreitete. Auch das diente dazu, das
Konfliktniveau zu erhöhen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese
Kampagne von zahlreichen NGOs betrieben wurde, die von den USA und
ihren Stiftungen, wie der NED, der IRI oder der NDI, finanziert
werden. Diese zwei Momente, die Infiltration der Proteste und die
mediale Kampagne erzeugte eine heftige Reaktion in der Bevölkerung
Nicaraguas. In den Straßen fanden sich so zunächst nicht nur
AnhängerInnen der Opposition oder Studierende, sondern auch Teile
der sandinistischen Basis wieder. Letztere protestierten vor allem
deshalb mit, weil die Regierung Ortega-Murillo (bezieht sich auf das
Regierungshandeln von Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin
Rosario Murillo, Anm. Redaktion) in den vergangenen Jahren immer
autoritärer und vertikaler durchregiert – bei gleichzeitiger
Machtkonzentration im Staatsapparat. Das erzeugt auch ein massives
Unbehagen in der eigenen AnhängerInnenschaft. Die Zusammensetzung
der Proteste in den ersten Tagen war also sehr vielfältig. In der
derzeitigen Situation kann man sagen, dass die ursprünglich
spontanen Proteste sich über die Einmischung militanter Sektoren in
durchweg gewalttätige Proteste gewandelt haben.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Und die internationale
Dimension….</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Die
Situation in Nicaragua weist einige Aspekte auf, die der Krise in
Venezuela gleichen und die mit der Rolle der USA im Konflikt zu tun
haben. Es ist allerdings nicht das Ziel der USA, Nicaragua an den
Rand eines Bürgerkriegs zu manövrieren, weil Nicaragua aufgrund
seiner zentralen Position einen hohen strategischen Wert hat.
Aufgrund seiner Lage in Mittelamerika ist Nicaragua eine lukrative
Basis für das organisierte Verbrechen, wie den Drogenhandel. Eine
anhaltende chaotische Situation würde zudem die Migrationswelle aus
Nicaragua in die USA intensivieren – ein Szenario, das nicht im
Interesse der aktuellen US-Administration ist. Es geht den USA also
nicht um eine konstante Destabilisierungssituation in Nicaragua. Aber
natürlich versucht die US-Administration, ihren Vorteil aus der
politischen Krise zu ziehen, um möglicherweise die FSLN-Regierung
(die FSLN ist die sandinistische Regierungspartei Ortegas, Anm.
Redaktion) loszuwerden. Was die internationale Dimension angeht,
versuchen sie natürlich auch, die sich in den vergangenen Jahren
verstärkende russische Präsenz in Nicaragua zurückzudrängen. Und
natürlich auch die chinesische Präsenz, die sich im umstrittenen
Interozeanischen Kanalprojekt widerspiegelt. Wir dürfen hierbei
zudem nicht vergessen, dass die Regierung Ortega seit Jahren alle
Linkregierungen des Kontinents unterstützt hat, in Venezuela,
Bolivien, Kuba und so weiter. Das sind allesamt Regierungen, die für
einen Widerstand gegen den US-Einfluss in Lateinamerika stehen. Also
haben die USA über Jahre hinweg den NGO-Sektor der Opposition in
Nicaragua finanziert und mit ihr den medialen Komplex, der nun die
sozialen Netzwerke mit Falschinformationen flutet. Sie ergreifen nun
lediglich eine sich bietende Chance.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Es gibt in der internationalen
Presselandschaft viele Stimmen, welche die Regierung Ortega-Morillo
als autoritär und neoliberal bezeichnen. Würden Sie dieser
Charakterisierung zustimmen?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Man
kann das derzeitige Modell in Nicaragua in jedem Fall nicht mit
anderen ökonomischen und politischen Modellen in Zentralamerika oder
Europa vergleichen. Um ein genaueres Bild zu erhalten, muss man sich
die Widersprüche anschauen. Zunächst einmal zu den offensichtlichen
Fortschritten, welche die Regierung durchsetzte: Unter Ortega kam es
zu Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen, die Umverteilung
des Reichtums wurde vorangetrieben, ebenso die makroökonomische
Kontrolle, der Ausbau der Infrastruktur, die Verringerung der Armut
und der Ausbau der öffentlichen Mindestversorgung. Das alles geschah
in einem beeindruckenden Ausmaß. Um das politische System zu
verstehen, muss man wissen, dass der historische
revolutionär-sandinistische Prozess in den 1980er Jahren von zwei
Mächten sabotiert wurde: Von der katholischen Kirche und der
Privatwirtschaft. Daher war das erste, was die neo-sandinistische
Regierung machte, als sie 2007 an die Macht kam, mit genau diesen
Sektoren ein Bündnis einzugehen. Das Abtreibungsverbot ist eines der
Resultate dieses Bündnisses. Es erzeugte einen Bruch der FSLN mit
den sozialen Bewegungen in Nicaragua, vor allem aber mit der
internationalen Solidaritätsbewegung. Das Resultat des Bündnisses
mit der Privatwirtschaft war der sogenannte ,,Nationale Konsens“,
der in den vergangenen Jahren erstaunlich gut funktionierte. Unter
diesem Konsens transformierte sich Nicaragua in eines der sichersten
Länder Zentralamerikas, was sozialen Sicherheit und
Wirtschaftswachstum anbelangte. Die Regierung war dennoch
gleichzeitig von einem steigenden Autoritarismus geprägt. Das zeigte
sich etwa dadurch, dass die Zugänge zu unabhängiger Information
immer weiter eingeschränkt wurden. Die Maßnahmen nährten die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Es gab zwar Presse- und
Meinungsfreiheit, es wurden auch keine JournalistInnen getötet, aber
es gab immer weniger Möglichkeiten, den Beruf auszuüben.
Gleichzeitig gab es auch eine Integration der Gewerkschaften, die
dadurch ihre Unabhängigkeit verloren. Aber: Für eine Regierung mit
derart starkem sozialen Profil, die den Forderungen sowohl der
Privatwirtschaft, als auch des Internationalen Währungsfonds in
Bezug auf die Reform der Sozialgesetzgebung widerstand – beide
Institutionen schlugen viel schärfere Maßnahmen vor – ist das
Etikett ,,neoliberal“ wenig zutreffend und nichtssagend.
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<b>Jan [re:volt]: Laut der parlamentarischen
Wahrheitskommission sind bislang ca. 200 Personen im Rahmen der
Proteste ums Leben gekommen. Wer ist für diese immense Todeszahl
verantwortlich?</b></p>
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<b>Giorgio Trucchi: </b>Es
gibt hier viele NGOS und auch internationale
Untersuchungsinstitutionen, wie zum Beispiel das CIDH (Die
Menschenrechtskomission der OAS – Anm. Redaktion),
die die Schuld einseitig der Regierung zuweisen. Aber das kann man so
nicht machen. Die Kalkulation von ungefähr 200 Toten umfasst neben
toten Oppositionellen alle weiteren Opfer der vergangenen Monate, das
heißt, auch tote PolizistInnen und RegierungsanhängerInnen. Meiner
Meinung nach sind beide Seiten gleichermaßen verantwortlich für das
Gewaltszenario und die Todeszahlen, weil beide Seiten bewaffnet und
in gewalttätige Auseinandersetzungen verstrickt sind. Die Regierung
befindet sich zur Zeit in einer Defensivposition und wird von
bewaffneten Gruppen der Opposition attackiert. Andererseits gibt es
auch irreguläre regierungsnahe Milizen, die die Polizei bei ihren
Streifzügen begleiten.
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<b>Jan [re:volt]: Welche dominanten Kräfte machen
Sie in der Opposition gegen die sandinistische Regierung nach zwei
Monaten Auseinandersetzungen aus?</b></p>
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<b>Giorgio Trucchi: </b>In
der Opposition lassen sich zwei unterscheidbare Fraktionen
identifizieren. Eine moderatere Fraktion, die von der
Privatwirtschaft, einigen Teilen der katholischen Kirche, einigen
Teilen der Studierenden und zu kleinem Teil von der Zivilgesellschaft
gestellt wird. Und eine radikale Fraktion, die aus den
konservativsten Teilen all dieser Institutionen zuzüglich des
NGO-Sektors besteht. Beide Fraktionen eint das Ziel, die Regierung zu
stürzen. Der moderate Teil der Opposition genießt den Rückhalt der
USA und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten, Anmerkung
Redaktion) für die Verhandlungen mit der sandinistischen Regierung.
Sie nehmen an den Verhandlungen teil, um eine Verfassungsreform sowie
eine Reform des Wahlrechts zu erreichen und Neuwahlen anberaumen zu
können. Der radikalere Teil der Opposition will die Regierung und
die FSLN auf gewalttätige Art und Weise loswerden. Man interessiert
sich nicht für Wahlen oder einen Nationalen Dialog. Das Ziel der
Fraktion ist nicht nur der Rücktritt von Ortega und Murillo, sondern
der aller derzeitigen staatlichen Autoritäten. Sie planen, eine
provisorische Junta an ihre Stelle zu setzen und eine
verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dieses Ziel ist
vollkommen abseits jeder Verfassungsmäßigkeit und speist sich aus
einem vorgeblichen politischen Szenario, dass es so nicht gibt;
nämlich, dass der Präsident mit der Verfassung und den staatlichen
Gewalten aufgeräumt habe. Glücklicherweise genießt dieser Teil der
Opposition keine internationale Unterstützung. Sämtliche
internationalen Institutionen, die in den Konflikt in Nicaragua
involviert sind, inklusive der USA, bevorzugen eine demokratische und
verfassungskonforme Lösung. Nur wenige ultrakonservative Sektoren
der US-Politik unterstützen die radikalere Lösung.
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<b>Jan [re:volt]: Und in der
Opposition finden sich keine Kräfte links der FSLN?</b></p>
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<b>Giorgio Trucchi: </b>Es
gibt keine bedeutende außerparlamentarische Linke in Nicaragua. Was
es gibt, ist eine fragmentierte soziale Bewegung, die sich eine
gewisse Radikalität gegenüber neoliberalen und spezifischen
nationalökonomischen Modellen in Nicaragua bewahrt hat. Die
AktivistInnen werfen der FSLN zum Beispiel vor, dass sie dem gängigen
neo-extraktivistischen Modell (Rohstoff-Export und Raubbau der
nationalen Ressourcen, Anm. Redaktion) folge. Sie haben damit bis zu
einem bestimmten Grad Recht, vor allem, wenn es um die Ausbeutung
natürlicher Ressourcen geht oder den Ausbau von
Monokulturanbauflächen. Zugleich kann eingewendet werden, dass diese
Entwicklungen in keinem Vergleich zu ökonomischen Modellen in den
anderen Ländern Zentralamerikas stehen. Hier in Nicaragua gibt es
massive soziale Investitionen in ländliche Regionen als Folge der
Umverteilung des Reichtums. Die Gruppen, die für sich in Anspruch
nehmen, die ,,wahre Linke“ zu sein, sind eigentlich Konservative,
wie zum Beispiel das Movimiento Renovador Sandinista (MRS), das in
den 1990er Jahren als Abspaltung aus der FSLN hervorging. Um ihre
zugrundeliegende konservative ideologische Position zu erkennen,
reicht es aus, ihre FührerInnen über ihre Meinung bezüglich der
bolivarischen Allianz ALBA, bezüglich Ländern wie Venezuela, Kuba,
Bolivien oder Parteien, die mit der FSLN verbündet sind, wie der
FMLN in El Salvador, LIBRE in Honduras oder der PT in Brasilien, zu
befragen.
Die wird nicht gut ausfallen. Exakt diese Strömungen der Opposition
sind in der derzeitigen Krise Teil der radikalsten Kräfte.
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<b>Jan [re:volt]: Sie haben
bereits zuvor die mediale Dimension des Konflikts in Nicaragua
angesprochen. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die
internationalen Medien?</b></p>
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<b>Giorgio Trucchi: </b>Wenn
wir über die sozialen Medien sprechen, sprechen wir nicht über
Informationen, sondern über Informationsmüll. Die Übereinstimmungen
zwischen Nicaragua und Venezuela sind in diesem Punkt frappierend. In
beiden Fällen geht es hier um bezahlte Oppositions-Trolle, die
falsche Berichterstattungen online platzieren und diese unter
Hashtags wie #SOSNicaragua wiederholen. Diese Oppositions-Trolle
erfinden Vorfälle, die so nicht stattgefunden haben, und erschaffen
durch stetige Wiederholung eine Art virtuelle Wahrheit, die sich im
Denken der Menschen in Realität übersetzt. Dieser Informationskrieg
wurde durch die Opposition sehr gut vorbereitet und auch durch die
starke Einschränkung von unabhängiger Berichterstattung seitens die
Ortega-Regierung befeuert. In Bezug auf die internationale
Berichterstattung merke ich, wie schnell man der einen oder der
anderen Seite zugeordnet wird, sobald man eine Analyse zur Situation
in Nicaragua verfasst. Dabei fällt unter den Tisch, dass es auf
beiden Seiten problematische Tendenzen gibt. Wenn ich zum Beispiel
veröffentliche, dass die Regierung den Aufstand durch ihr
autoritäres Durchregieren provozierte, bin ich der Verteidiger der
Opposition. Wenn ich darauf hinweise, dass es in der Opposition
extrem gewalttätige Tendenzen gibt, bin ich ein Verteidiger der
Regierung. Die Polarisierung geht ungezügelt weiter und es gibt kein
Interesse an einer ausgeglichenen Position. Die internationalen
Medien folgen damit der Tendenz, die derzeit die Gesellschaft in
Nicaragua spaltet. Sie analysieren nicht den Kontext, sondern
betreiben selbst Polarisierung. Und deshalb folgen 90 Prozent der
internationalen Medien den fabrizierten Nachrichten von angeblichen
Massakern, Genoziden, Diktaturen oder einer friedlichen und
unabhängigen StudentInnenrevolution. Aber so ist es nicht und es
bedarf mehr Analyse, um das zu verstehen.
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<b>Jan [re:volt]: Wie kann
Ihrer Meinung nach der Konflikt im Land beigelegt werden? Sind die
Gräben schon zu tief - Droht dem Land jahrelange Unruhe?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Um
die derzeitige Situation zu überwinden, müssen beide Seiten einen
Schritt zurücktreten. Sie müssen zurück an den Verhandlungstisch,
um die Krise demokratisch und verfassungsgemäß beizulegen. Sowohl
internationale Untersuchungsausschüsse der OAS, als auch die
nationale Wahrheitskommission haben die wichtige Aufgabe, zur
Aufklärung der mörderischen Taten beizutragen, Frieden und Ruhe in
die Lager zu bringen und damit die Situation im Land zu
normalisieren. Das könnte die gewalttätigen Teile auf beiden Seiten
isolieren und einen Friedensdialog befördern. Die radikalsten Teile
der Opposition tun ihr Möglichstes, um die Gewaltschraube weiter
nach oben zu drehen, um Kapital für ihre eigene politische Agenda
herauszuholen. Das
ist ein Teil der Protestierenden, dem es egal ist, ob es noch mehr
Tote und Chaos gibt. Wenn es keine Lösung am Verhandlungstisch gibt,
steht Nicaragua vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt oder
sogar einem Bürgerkrieg
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