re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=4302020-11-12T00:32:33.587933+00:00Elefant im Raum2020-11-11T18:17:15.592808+00:002020-11-12T00:32:33.587933+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/elefant-im-raum/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Elefant im Raum</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="trumphant in the room.jpg" height="400" src="/media/images/Design_ohne_Titel-5.2f8b8cd4.fill-840x420-c100.jpg" width="801">
<span class="content-copyright">werewolf.co.nz</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>In der letzten Woche habe ich in jeder freien Minute die Präsidentschaftswahlen in den USA verfolgt – und zwar bewusst über <i>CNN Live</i>. Ich wollte genauer wissen, wie eines der liberalen Leitmedien des Landes die Vorgänge interpretiert. Um es vorwegzunehmen: Es war episch, es war theatral – es war ganz viel heiße Luft und Ideologie.</p><p>Van Jones, ehemaliger Berater von Barack Obama, der Trumps Wahlsieg von 2016 als „<a href="https://www.theguardian.com/us-news/video/2016/nov/09/trump-victory-a-whitelash-against-a-black-president-says-cnns-van-jones-video">whitelash</a>“ bezeichnet hatte, <a href="https://www.youtube.com/watch?v=c2ScxGsB-ks">brach live in Tränen aus</a>, als CNN am Samstagabend europäischer Uhrzeit Joe Biden zum Sieger kürte. Sidenote: Vor wenigen Wochen hatte er Donald Trump noch in den höchsten Tönen für dessen Einsatz für Schwarze <a href="https://www.focus.de/politik/ausland/us-wahl/gutes-fuer-die-schwarze-community-getan-cnn-kommentator-bricht-nach-biden-sieg-in-traenen-aus-kurz-zuvor-lobte-er-noch-trump_id_12636039.html">gelobt</a>. Endlich sei Frieden eingekehrt im Land und es gäbe Sicherheit für Schwarze, endlich wieder Respekt für Normen und Institutionen! Das war die Message, rauf- und runtergebetet auf CNN in Dauerschleife. Und schon bevor CNN Biden zum Sieger kürte, berauschten sich die Moderator*innen: Man habe es Biden nicht zugetraut, aber er sei der Präsidentschaftskandidat, der die meisten Stimmen in der Geschichte der USA bekommen habe; er sei es, der wegen seiner demütigen Arbeiterklassenvergangenheit mit den „folks“ in den<i> swing states</i> „connecten“ kann; seine moderate Stimme habe Zutrauen geschaffen und einen historischen Sieg über Unvernunft, Hass, Willkür, Rassismus und Polizeigewalt möglich gemacht. Inmitten des ganzen liberalen Theaters steht der berühmte Elefant im Raum, den jeder sieht, von dem jeder weiß, über den niemand reden möchte: Das Zentrum hält nicht und davon profitiert der falsche Prophet immer noch.</p><h2>„<b>things fall apart; the centre cannot hold“</b></h2><p>Der berühmte Vers aus William Butler Yeats<i> The Second Coming</i> aus dem Jahre 1919 wurde in den ersten sieben Monaten des Jahres 2016 <a href="https://www.wsj.com/articles/terror-brexit-and-u-s-election-have-made-2016-the-year-of-yeats-1471970174">so oft zitiert</a> wie in den 30 Jahren zuvor nicht. Es war das Jahr des Brexits und von der Wahl Trumps zum 45. Präsidenten der USA. Yeats schrieb das Gedicht direkt nach dem Ersten Weltkrieg, inmitten der Spanischen Grippe und des Irischen Bürgerkrieges. Ein apokalyptischer Grundton wird begleitet von der religiösen Hoffnung auf die Wiederkunft Christi als Erlösung vom Leid. So ausgelutscht der Vers mittlerweile scheint: Sleater Kinneys neuestes Album <a href="https://www.youtube.com/watch?v=_xfPoLEJpgY"><i>The Center Won’t Hold</i></a> (2019), offensichtlich in Anspielung auf Yeats’ Gedicht, hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. 2020 bescherte uns mit Corona die schwerste ökonomische und gesundheitspolitische Krise des Kapitalismus seit 1929 – und 2020 zeigt uns, dass das neoliberal-technokratische Zentrum in den USA weiterhin nicht hält, trotz eines angesichts von Corona und auch sonst abgrundtief miserabel agierenden Wannabe-Fascho als Präsidenten. 50,8 Prozent aller abgegeben Stimmen gegen 47,8 Prozent – das bisherige Ergebnis – sind kaum ein Erdrutschsieg. Warum aber hält das Zentrum nicht?</p><p>Das ist schnell erklärt: Joe Biden ist einer der miesesten und menschenverachtendsten Präsidentschaftskandidaten der us-amerikanischen Geschichte, der als Senator und Vizepräsident über 40 Jahre dazu genutzt hat, eine Brücke zwischen Republikanern und Demokraten herzustellen und die Demokraten stramm rechts zu polen. Und zwar durchgehend. Er, der Ronald Reagan um seinen Erfolg im Rechtsruck (!) beneidete und ihn betreffs Kürzungen von staatlichen Sozialausgaben von rechts zu überholen suchte, war und ist einer der heftigsten Verteidiger und Praktiker von Sozialstaatsabbau, von Kriegstreiberei und von Polizeistaatlichkeit, die die politische Landschaft der USA hervorgebracht hat. <a href="https://taz.de/Kuenftige-Vizepraesidentin-Kamala-Harris/!5724101/">Kamala Harris</a>, seine angehende Vizepräsidenten, gibt sich da nicht viel. Im deutschsprachigen Raum mag Bidens Geschichte nicht so sehr bekannt sein; nicht zuletzt flossen aberwitzige Summen in Medien und Kampagnen, um ihn als den<i> good ol’ descent moderate man</i>, den Nachbarn von nebenan mit bescheidenem Arbeiterklassenhintergrund zu porträtieren. US-amerikanische Linke haben ihn allerdings schon längst entlarvt als das, was er ist: ein korrupter und willfähriger Erfüllungsgehilfe großkapitalistischer Interessen in den USA im Deckmantel einer „Mittelklassen-Ideologie“, ein Erzfeind der Arbeiter*innenklasse, einer der Hauptarchitekten des Rechtsrucks der Demokraten in den USA – und somit recht eigentlich ein perfekter Vertreter des Establishments der Demokratischen Partei.<b> [1]</b> Wenn us-amerikanische Linke von<i> corporate Democrats</i> reden, dann ist das nicht billige Polemik; es ist schlicht Realität: Das <a href="https://ballotpedia.org/Net_worth_of_United_States_Senators_and_Representatives">durchschnittliche Vermögen</a> eines Demokratischen Kongressabgeordneten betrug 2012 sagenhafte 5,7 Millionen US-Dollar, das eines Demokratischen Senators gar über 13,5 Millionen US-Dollar.</p><p>Mit seiner Geschichte und Haltung steht Biden in perfekter Kontinuität von Hillary Clinton und dem Mainstream des Establishments der Demokratischen Partei. Clinton wurde Kandidatin der Demokratischen Partei nach der Enttäuschung der Obama-Jahre: Barack Obama konnte 2008 tatsächlich Millionen für sich begeistern und mobilisieren. Aber innerhalb von kurzer Zeit <a href="https://newrepublic.com/article/140245/obamas-lost-army-inside-fall-grassroots-machine">demobilisierte</a> er selber die<i> grassroots</i>-Bewegung, die ihn ins Weiße Haus brachte, da er und das Demokratische Establishment befürchteten, die Leute nicht mehr unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Stimmung kippte, als sich herausstellte, dass auch Obama Politik für die Reichen machte; Polizei und Kriegseinsätze (diesmal mit Drohnen) gingen so weiter wie zuvor auch, während die Republikaner mit der<i> Tea Party</i> eine erfolgreiche Gegenbewegung organisierten, die Obama weitgehend blockieren konnte. <a href="https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/296843.staat-und-evolution.html">Während</a> Großbanken und General Motors mit aberwitzigen Milliardensummen gerettet wurden, <a href="https://www.wsws.org/en/articles/2016/11/10/pers-n10.html">fielen</a> durchschnittliche Stundenlöhne und Haushaltseinkommen insbesondere in der Industrie und in Haushalten mit niedrigen Einkommen; <a href="https://www.investing.com/news/economy-news/nearly-95-of-all-job-growth-during-obama-era-part-time,-contract-work-449057">fast</a><a href="https://www.investing.com/news/economy-news/nearly-95-of-all-job-growth-during-obama-era-part-time,-contract-work-449057"><i> alle</i></a> der unter Obama während und nach der großen Weltwirtschaftskrise geschaffenen Jobs waren Teilzeitarbeitsplätze beziehungsweise vorübergehende Beschäftigungsverhältnisse und ein Großteil davon (75 Prozent) im Niedriglohnsektor angesiedelt. 38 Prozent aller Schwarzen Kinder litten während der Obama-Ära <a href="https://www.jacobinmag.com/2017/01/trump-black-lives-racism-sexism-anti-inauguration/">unter Hunger</a>, während <a href="https://www.ers.usda.gov/topics/food-nutrition-assistance/food-security-in-the-us/key-statistics-graphics.aspx">mittlerweile fast</a> 14 Millionen Haushalte in den USA Schwierigkeiten dabei haben, ausreichend Nahrungsmittel für alle Familienmitglieder zu organisieren und <a href="https://www.federalreserve.gov/publications/2020-economic-well-being-of-us-households-in-2019-dealing-with-unexpected-expenses.htm">immer noch</a> fast 40 Prozent der gesamten US-Bevölkerung nicht ohne weiteres eine unerwartete Rechnung von 400 US-Dollar begleichen könnte. Clinton, die <a href="https://www.sevenstories.com/books/3919-my-turn">ebenfalls</a> eine ziemlich miese Geschichte der Zusammenarbeit mit den Republikanern und eines <a href="https://www.imi-online.de/download/KF-Clinton-AusdruckOktober2016.pdf">glühenden Militarismus</a> aufweist, hatte nur ein „Weiter so!“ anzubieten. Sie schaute verächtlich auf das „normale Fußvolk“ herab. Wir erinnern uns an den „<a href="https://www.nytimes.com/2016/09/11/us/politics/hillary-clinton-basket-of-deplorables.html">basket of deplorables</a>“ – ein Haufen erbärmlicher Typen, so bezeichnete sie Trump-Wähler*innen –, an die „children of the Great Recession, [...] living in their <a href="https://theintercept.com/2016/09/30/hillary-clinton-center-right/">parents’ basement</a>“ – als Kellerkinder sah sie die Anhänger*innen von Sanders an – und an den <a href="https://www.nytimes.com/2016/02/08/us/politics/gloria-steinem-madeleine-albright-hillary-clinton-bernie-sanders.html">besonderen Platz in der Hölle für Frauen</a>, die nicht Clinton wählten. Wir wissen auch, dass der Hauptgrund für das Wahlergebnis von 2016 nicht ein Erdrutsch-Sieg Trumps war – dessen Wahlergebnis war nur mäßig besser als dasjenige von Mitt Romney 2012. Sondern der Grund für Trumps Sieg waren hauptsächlich <a href="https://slate.com/news-and-politics/2016/12/the-myth-of-the-rust-belt-revolt.html">enttäuschte Wähler*innen</a> der Demokratischen Partei, die nach der Obama-Enttäuschung und einer Clinton-Perspektive nicht an die Urnen gingen oder, partiell, zu Trump überliefen: 33 Prozent aller Wahlbezirke, die einmal oder zweimal Obama wählten, gingen 2016 über zu Trump; Clinton verlor zudem viele <a href="https://www.onlabor.org/the-union-household-vote-revisited/">gewerkschaftlich organisierte</a> Haushalte an Trump und vermutlich noch mehr an unabhängige Kandidat*innen.<b> [2]</b></p><p>Biden erging es nicht viel anders: Er überzeugte mit seiner Vorgeschichte und einer eigenen Agenda so mäßig, dass <i>exit polls</i> zufolge <a href="https://www.foxnews.com/elections/2020/general-results/voter-analysis">fast die Hälfte </a>der Biden-Wähler*innen diesen hauptsächlich wählten, um gegen seinen Kontrahenten (also Trump) zu stimmen und nicht wegen Biden selbst. Trotzdem und angesichts eines so unendlich miserablen Faschoclowns wie Trump fiel das Ergebnis für Biden durchwachsen aus. Das liberale Establishment sieht die fast zwölf Millionen mehr an Stimmen, die Biden (nach bisherigen Ergebnissen) über Clinton hinaus gewinnen konnte, aber nicht den Elefanten im Raum: die knapp zehn Millionen mehr Stimmen, die Trump zusätzlich gegenüber 2016 mobilisieren konnte. Biden konnte zwar die ganz große Mehrheit an Nicht-Weißen Stimmen auf sich vereinigen – dennoch setzte sich unter Biden die seit 2008 existierende <a href="https://www.nbcnews.com/think/opinion/trump-vote-rising-among-blacks-hispanics-despite-conventional-wisdom-ncna1245787">Tendenz</a> fort, nach der die Demokraten in kleinen Schritten ihre Zustimmung unter Nicht-Weißen, insbesondere den Hispanos und Schwarzen communities verlieren. Ganz entgegen der verballhornten These der <a href="https://www.theatlantic.com/politics/archive/2012/11/the-emerging-democratic-majority-turns-10/265005/"><i>emerging democratic majority</i></a>, die da besagt, dass sich die demographischen Entwicklungen des Landes – kurz: mehr nicht-Weiße, Verstädterung, unabhängige Professionelle, non-Heteronormativität – quasi automatisch in Mehrheiten für die Demokraten niederschlagen werden. Und das mitten in einer Pandemie, in der Schwarze und Hispanos wegen ihrer Vulnerabilitäten und eines Präsidenten, der klassisch sozialdarwinistisch einen Scheiß auf Pandemiebekämpfung gibt, die <a href="https://www.washingtonpost.com/graphics/2020/business/coronavirus-recession-equality/?itid=hp-banner-low">meisten</a> <a href="https://www.wsj.com/articles/the-covid-economy-carves-deep-divide-between-haves-and-have-nots-11601910595">Jobverluste</a> und die höchsten Raten von <a href="https://www.nytimes.com/live/2020/10/20/world/covid-19-coronavirus-updates?action=click&module=Top%20Stories&pgtype=Homepage">Exzessmortalität</a> erleiden mussten. Dagegen wieder der Elefant im Raum: Trump, der die <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/waehlergruppen-usa-minderheiten-schwarze-lationos-donald-trump-erfolg/komplettansicht">höchsten Zustimmungswerte</a> eines republikanischen Präsidentschaftskandidaten seit 1960 unter nicht-weißen Communities erlangen konnte, nämlich 25 Prozent. Da half es auch nicht Schwarzen <a href="https://www.theguardian.com/us-news/video/2020/may/22/joe-biden-charlamagne-you-aint-black-trump-video">ihre Identität abzusprechen</a>, falls sie nicht Biden wählten.</p><h2><b>Der falsche Prophet</b></h2><p>Die hegemoniale neoliberale Ordnung in den USA ist offensichtlich in einer tiefen Krise, wie auch in so vielen anderen Staaten der westlichen Hemisphäre. Das zeigt sich bei den Präsidentschaftswahlen in den USA nicht nur im schlechten Abschneiden von Biden.<i> Exit polls</i> – die zwar mit Vorsicht zu genießen, aber die einzigen umfassenderen Daten sind, die wir bisher haben – zeigen eine große Vertrauenskrise in Bezug auf das politische System auf: Eine große Mehrheit der Befragten stimmt <a href="https://www.foxnews.com/elections/2020/general-results/voter-analysis">nicht</a> oder nur manchmal mit den Positionen der jeweiligen Kandidaten überein (bei Biden 61 Prozent der Befragten, bei Trump 60 Prozent); eine noch größere Mehrheit ist der Meinung, dass sich das Land in eine <a href="https://www.wsj.com/articles/election-day-2020-what-voters-are-saying-as-they-head-to-the-polls-11604406023">schlechte Richtung</a> entwickele (63 Prozent bzw. 60 Prozent) und dass sich die Wirtschaft in einem schlechten Zustand befinde (60 Prozent bzw. 57 Prozent). Noch mehr Stimmen gehen bei beiden Kandidaten davon aus, dass Korruption weiterhin ein Problem in den USA bleiben wird, falls der jeweilige Kandidat Präsident werde (Biden: 73 Prozent, Trump: 70 Prozent). Die Befragten sind weder mit dem Kongress, noch mit der Regierung zufrieden (jeweils 76 Prozent und 72 Prozent). Ganz zu schweigen davon, dass trotz angeblich „historisch“ hoher Wähler*innenbeteiligung die Nicht-Wähler*innen mit fast 40 Prozent immer noch die <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/11/08/us-election-women-the-young-the-working-class-the-cities-and-ethnic-minorities-get-rid-of-trump/">größte Partei</a> blieben.</p><p>Trump profitierte, wie schon 2016, von der Krise der Ordnung. In Krisenzeiten, bei realer oder imaginierter Deklassierung und Existenzsorgen suchen Menschen nach etwas, an dem sie sich festhalten können, nach etwas, das ihnen Handlungsfähigkeit oder Sicherheit verspricht und das nicht vollständig diskreditiert ist. Autoritärer Populismus macht genau das: Er verspricht den Menschen durch exkludierende Formen von Solidarität und Gemeinschaft Handlungsfähigkeit und Sicherheit – auf Kosten anderer und auf Kosten von humaneren und empathischeren Formen des Miteinanders. Wie sehr dieses Angebot Früchte trägt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem auch davon, ob die Menschen eine echte Alternative wahrnehmen können oder nicht.</p><p>Jetzt kommen die wirklich schlechten Nachrichten: Vermutlich <a href="https://www.foxnews.com/elections/2020/general-results/voter-analysis">fast 80 Prozent alle</a>r Trump-Wähler*innen gaben bei<i> exit polls</i> an, dass sie der Meinung sind, dass Corona (so gut wie) vorbei ist; fast alle (etwa 90 Prozent), dass Trump die Coronakrise gut oder sehr gut gemeistert hat; und immerhin etwa 70 Prozent, dass die Wirtschaft zu priorisieren ist, auch wenn das bedeuten würde, dass sich die Pandemie beschleunigt entwickeln würde. Diese scheinbare Irrationalität ist gar nicht so irrational beziehungsweise nur die Irrationalität einer bestimmten Form von Rationalität: In einem Land wie den USA, in dem man von einem Tag auf den anderen ohne irgendwelche sozialen Sicherheiten gefeuert werden kann – über 20 Millionen Jobs gingen während der Pandemie in den USA verloren – und zahlreiche Menschen keinerlei Rücklagen haben, hängen viele Arbeiter*innen und Familien ganz existenziell an ihren Jobs. Wenn dann noch die Arbeiter*innenklasse demobilisiert und von ihren traditionellen Repräsentant*innen zurecht entfremdet und frustriert ist, bedarf es oft nur eines charismatischen falschen Propheten wie Trump, der sich habituell scheinbar auf Augenhöhe bewegt und ihnen Sicherheit und Jobs verspricht. Dies, gekoppelt mit einer reaktionären sozialdarwinistischen Ideologie und Trumps sonstigen sexistischen, antifeministischen und rassistischen Auswucherungen kann dann vergleichsweise erfolgreich darin sein, den berechtigten Unmut und die berechtigte Wut vieler Menschen herrschaftsfunktional und autoritär zu kanalisieren und organisieren. Und das ist genau deshalb auch ein sehr großes Problem: Umso mehr Trump oder einem neuen falschen Propheten dies gelingt, umso mehr setzen sich tatsächlich reaktionäre, sexistische, rassistische und, verschärft im Fall von Corona, sozialdarwinistische Vorstellungen und Handlungsweisen in immer weiteren Teilen auch der Arbeiter*innenklasse fest und erschaffen zunehmend eine autoritäre Basis für eine potenzielle Zeit nach Trump, die immer schwieriger zu erreichen sein wird für linke Positionen.</p><p>Auch die steigende Zustimmung für Trump in Nicht-Weißen Communities könnte sich so erklären lassen. Dass Trump explizit versuchte, Schwarze Wähler*innen mit <a href="https://www.vox.com/2020/11/4/21537966/trump-black-voters-exit-polls">phantastischen</a> <a href="https://www.vox.com/2020/11/4/21537966/trump-black-voters-exit-polls">Investitionsversprechen</a> zu umgarnen, die drei Millionen Jobs für Schwarze kreieren sollten, will der Liberalismus so wenig wahrhaben wie den Umstand, dass es <a href="https://www.nbcnews.com/news/nbcblk/black-men-drifted-democrats-toward-trump-record-numbers-polls-show-n1246447">vor allem</a> konservative, junge Schwarze Männer im Mittleren Westen waren, die die Zustimmungswerte von Trump unter Schwarzen steigerten. Es ist nicht unwahrscheinlich und auch eine ungemütliche Erkenntnis, dass die etwas höheren Zustimmungswerte unter nicht-weißen Communities zu Polizeipräsenz in Vierteln sowie zu Gesetz und Ordnung <a href="https://www.nbcnews.com/think/opinion/trump-vote-rising-among-blacks-hispanics-despite-conventional-wisdom-ncna1245787">unter Umständen</a> einer zunehmenden Entfremdung von den Demokraten – verbunden mit einer allgemeinen Unsicherheit – <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/waehlergruppen-usa-minderheiten-schwarze-lationos-donald-trump-erfolg/komplettansicht">ebenfalls</a> zu einem Einfallstor für Trump wurden. Gleichwohl muss man sehen, dass weiterhin eine sehr große Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung (80 Prozent) den Befund teilt, dass Trump ein Rassist ist.</p><h2><b>Jetzt auf keinen Fall versumpfen!</b></h2><p>Das Theater auf CNN und auch die bisherigen Wortmeldungen und siegestrunkenen Analysen aus dem liberalen Lager lassen darauf vermuten, dass die Elefanten souverän weiter ignoriert werden. Ins Biden-Lager übergelaufene ex-Republikaner wie John Kasich, ex-Gouverneur von Ohio, <a href="https://twitter.com/thehill/status/1325275600693592065">feiern schon</a> den Sieg Bidens als Sieg der Mitte über die „extreme Linke und extreme Rechte“ und als eine Rückkehr zur Normalität. Auch CNN reichte die ganze Woche über die Hand aus in die „vernünftigen“ Teile des republikanische Lager – ganz im Sinne der jahrzehntelangen Biden-Linie. Innerhalb der Demokratischen Partei hat indes schon das <a href="https://www.washingtonpost.com/politics/house-democrats-pelosi-election/2020/11/05/1ddae5ca-1f6e-11eb-90dd-abd0f7086a91_story.html">Hauen und Stechen</a> auf die paar Hand voll Linken angefangen: Sie werden – wegen ihres angeblich „extremen Sozialismus“ – dafür verantwortlich gemacht, dass die Wahl Bidens letztlich so knapp ausfiel! Der Sozialismus, so die Logik hinter den Vorwürfen, habe die Leute abgeschreckt, sonst wäre alles viel besser gelaufen. Linksliberale wie <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/nov/05/donald-trump-is-the-show-over-election-presidency">Judith Butler</a> machen ungewollt mit beim Theater: Sie sind glücklich darüber, dass die schon <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/11/08/us-election-women-the-young-the-working-class-the-cities-and-ethnic-minorities-get-rid-of-trump/">längst dysfunktional</a> gewordene amerikanische elektorale Demokratie gerettet wurde. Sie sehen in Trump jemanden, der das Reaktionärste des Landes verkörperte und diesem eine Bühne gab – und der deshalb zum Glück besiegt wurde; diesmal, <a href="https://conversations.e-flux.com/t/a-statement-from-judith-butler/5215">im Gegensatz zu 2016</a>, ohne auch nur zu fragen, warum und wie eigentlich Trump so viele Wähler*innen mobilisieren konnte.</p><p>Der Liberalismus arbeitet somit mit aller Macht daran, jede auch nur ansatzweise linke Perspektive zu zerschlagen, um den Status quo zu erhalten. Wer über die verständliche Erleichterung der Niederlage von Trump hinaus Freude über den Sieg Bidens empfindet, der arbeitet willentlich oder unwillentlich daran mit. Und damit bereitet das Biden-Lager auch den <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/biden-sieger-als-verlierer/">potenziellen Comeback des autoritären Populismus 2024</a> vor. Ein <a href="https://www.nytimes.com/2020/11/07/opinion/sunday/is-there-a-trumpism-after-trump.html">Trumpismus nach Trump</a>, also eine rabiate rechtspopulistische Partei, die Teile der Arbeiter*innen- und insbesondere Mittelklassen zunehmend über ethnische Grenzen hinweg organisieren kann, ist, wenn man die Erfolge Trumps bedenkt, keine unwahrscheinliche Perspektive für die Republikaner. Mal davon abgesehen, dass noch gar nicht klar, ob sich Trump verabschiedet: Bisher hat er seine Niederlage nicht anerkannt, kämpft in letzter Sekunde noch um <a href="https://www.washingtonpost.com/national-security/defense-department-election-transition/2020/11/10/5a173e60-2371-11eb-8599-406466ad1b8e_story.html">Kontrolle über das Militär</a>, überzieht die Bundesstaaten mit Klagen wegen angeblichen Wahlfälschungen und hat <a href="https://www.wsj.com/articles/many-republicans-back-trump-on-challenges-to-election-result-11604925680">immer noch</a> – entgegen den Wünschen von CNN – die explizite Unterstützung wichtiger Republiker wie den Mehrheitsführer des Senats McConnell und den Minderheitsführer des Repräsentantenhauses McCarthy.</p><p>Es gibt aber auch gute Nachrichten: Entgegen der Thesen des Demokratischen Establishments haben nämlich vor allem linke Kandidat*innen der Demokraten für den Kongress <a href="https://www.currentaffairs.org/2020/11/the-2020-election-result-completely-discredits-the-democratic-leadership/">sehr gut</a> abgeschnitten. 26 der 30 von den linkssozialistischen<i> Democratic Socialists of America</i> (DSA) unterstützten Kandidat*innen wurden wiedergewählt; etwa die bekannte Alexandria Ocasio-Cortez aus New York, die zur de facto Sprecherin des linken Flügels innerhalb der Demokraten avanciert ist, oder Cori Bush aus Missouri, eine<i> Black Lives Matter</i>-Aktivistin, die für einen Mindestlohn von 15 US-Dollar, für eine gesetzliche Krankenversicherung für alle (<i>Medicare for all</i>) und gegen die Aufrüstung der Polizei (<i>defund the police</i>) streitet. Eine erste <a href="https://badnews.substack.com/p/why-the-networks-cant-bear-to-call">Querschnittsanalyse</a> zeigt, dass Abgeordnetenkandidat*innen mit fortschrittlicherem oder liberalem Programm besser abschnitten als solche mit konservativem Programm. <a href="https://www.commondreams.org/news/2020/11/07/every-single-one-ocasio-cortez-notes-every-democrat-who-backed-medicare-all-won">Alle</a> Demokratischen Kongresskanditat*innen, die die angeblich extrem sozialistische – realiter sozialdemokratische – Forderung nach <i>Medicare for all</i> teilten, wurden erfolgreich (wieder)gewählt. Gerade diejenigen<i> swing states</i> des berühmten<i> Midwest</i> mit <a href="https://www.thenation.com/article/politics/biden-win-aoc-kasich/">linken Abgeordnetenkandidat*innen</a> wie Ilhan Omar in Minnesota oder Rashida Tlaib in Michigan konnten die Demokraten wieder gewinnen, eben weil sie im Zuge einer<i> grassroots</i>-Bewegung die Wahlbeteiligung und die Stimmen für die Demokraten in die Höhe trieben, während Kasichs Ohio bei Trump blieb.</p><p>Sogar die von <i>Fox News</i> zusammengestellten<i> exit polls</i> zeigen eine <a href="https://www.foxnews.com/elections/2020/general-results/voter-analysis">breite Zustimmung</a> in der Bevölkerung für progressive Forderungen: Eine übergroße Mehrheit der Befragten möchte ein gesetzliches Gesundheitssystem (70 Prozent), sieht die Legalisierung von Papierlosen als einen machbaren Weg an (71 Prozent), ist für staatliche Investitionen in grüne Energien (68 Prozent), sorgt sich um den Klimawandel (70 Prozent) und stimmt zu, dass es ein Rassismusproblem in den USA (76 Prozent) beziehungsweise in der Polizei (72 Prozent) gibt. Die Mehrheiten für diese fortschrittlichen Positionen sind so breit, dass sie bis in die Trump-Basis reichen. Wie sich das mit den oben erwähnten reaktionären und sozialdarwinistischen Überzeugungen vieler Trump-Wähler*innen verträgt? Schon Gramsci sprach von der Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins, in der sich fortschrittliche und reaktionäre Elemente zugleich artikulieren. Dies kann man am deutlichsten im Bundesstaat Florida sehen: Am selben Tag stimmten ein Großteil der dortigen Bevölkerung für die Einführung eines Mindestlohns von 15 US-Dollar – eine linke Forderung – wie für Trump als Präsidenten. In mehreren republikanischen wie demokratischen Bundesstaaten wurden <a href="https://jacobinmag.com/2020/11/downballot-socialist-elected-election-day-dsa">viele kleinere progressive Reformen</a> umgesetzt wie die Legalisierung von Drogen, die Erhöhung von Steuern zur Finanzierung von Schulen und sozialen Programmen, stärkere Rechte von Mieter*innen und so weiter.</p><p>Die Aufgabe von Linken ist es, die fortschrittlichen Mehrheiten im Rahmen einer Politik, die die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten des jeweiligen Landes ermächtigt, zur Geltung zu bringen und die reaktionären Elemente und ihre Wortführer*innen zu bekämpfen. Insofern sind die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahlen in den USA als bestmöglichste und zugleich zweitschlechteste zu sehen. Sie sind die bestmöglichsten Ergebnisse, weil Trump verloren hat, das technokratisch-neoliberale Zentrum aber nicht durchregieren konnte, was den Linken viel Raum eröffnet; die zweitschlechtesten, weil sich zeigt, dass der autoritäre Populismus weiterhin Massen mobilisieren kann. Vier Jahre haben die Linken in den USA jetzt Zeit, Politik für die Mehrheit der Bevölkerung zu machen; beziehungsweise, genügend Druck und Massenmobilisierung für eine solche Politik aufzubauen, gegen den Widerstand der Republikaner wie den des Demokratischen Establishments. Wir sollten sie dabei unterstützen und uns nicht in den liberalen Sumpf begeben. Es wird keine Wiederkunft Christi geben. Es gibt kein höh’res Wesen; uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun. Dafür braucht man das Rückgrat, nicht vor dem Bestehenden einzuknicken. Nur wenn wir uns das nicht auf die Fahnen schreiben, bleibt’s so duster wie in der Yeats’schen Apokalypse.</p><hr/><p><b><i>Korrekturnotiz:</i></b><i> Unserem Autor sind bei der Interpretation einiger Zahlen aus den Fox News exit polls Fehler unterlaufen. Wir dokumentieren sie hier: So hieß es in der ursprünglichen Version, dass 70 Prozent aller Biden-Wähler*innen Biden hauptsächlich wählten, um gegen seinen Kontrahenten zu stimmen. Das stimmt nicht. 70 Prozent all derer, die sagten, sie hätten für ihren Kandidaten hauptsächlich deshalb gestimmt, um gegen seinen Kontrahenten zu stimmen – und das waren 37 all derer, die auf die Frage auf „gestimmt FÜR den Kandidaten, oder GEGEN seinen Kontrahenten?“ geantwortet haben –, waren Biden-Wähler*innen. 70 Prozent von 37 Prozent sind etwa 25 Prozent, Biden wurde von etwas über 50 Prozent der Wählenden gewählt, daher haben, wenn man die exit polls als Richtschnur nimmt, etwas weniger als die Hälfte seiner Wähler*innen ihn hauptsächlich gewählt, um gegen Trump zu stimmen. Dasselbe mit folgenden Zahlen: Nicht 91 Prozent aller Trump-Wähler*innen, sondern vermutlich etwas weniger als 80 Prozent aller Trump-Wähler*innen fanden, dass das Coronavirus in den USA gut oder sehr gut unter Kontrolle ist. Nicht 86, sondern vermutlich etwa 70 Prozent aller Trump-Wähler*innen priorisierten die Wirtschaft über die Bekämpfung des Coronavirus. Nicht 96, sondern etwa 90 Prozent der Trump-Wähler*innen waren der Meinung, dass Trump die Coronakrise gut gemeistert hat.</i></p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Zum Einstieg seien hier nur der <a href="https://www.currentaffairs.org/2020/03/democrats-you-really-do-not-want-to-nominate-joe-biden">längere Artikel</a> von Nathan J. Robinson, Redakteur von<i> Current Affairs</i>, vom 7. März dieses Jahres empfohlen („Democrats, You Really Do Not Want To Nominate Joe Biden“) sowie Marcetics’ <a href="https://www.versobooks.com/books/3225-yesterday-s-man"><i>Yesterday’s Man.</i></a> <a href="https://www.versobooks.com/books/3225-yesterday-s-man"><i>The Case Against Joe Biden</i></a>.</p><p><b>[2]</b> Max Zirngast und ich haben beizeiten das Wahlergebnis 2016 detailliert interpretiert, siehe: „Der Sieg Trumps, der Tod des Liberalismus und die Widerstandsfront“, in: Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hrsg.),<i> Die Türkei am Scheideweg. Und weitere Schriften von Max Zirngast</i>, Münster, 2019, S. 261-297, insbesondere S. 261-83.</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Wirtschaftskrise? #NichtaufunseremRücken2020-06-06T14:20:53.851186+00:002020-06-18T17:04:22.010286+00:00Bündnis #NichtaufunseremRückenredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wirtschaftskrise-nichtaufunseremr%C3%BCcken/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Wirtschaftskrise? #NichtaufunseremRücken</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Aktionstag-Freiheitsrechte-25.-April-2020-09.jpg" height="420" src="/media/images/Aktionstag-Freiheitsrechte-25.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Perspektive Kommunismus</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><br/>Wir befinden uns am Anfang einer Weltwirtschaftskrise, die uns ArbeiterInnen hart treffen wird – und die schon vor Corona begonnen hat. Doch wie ist sie entstanden? Was für Folgen kommen auf uns zu und wie können wir unseren Widerstand organisieren? Ein Positionspapier zur Wirtschaftskrise vom Bündnis #NichtaufunseremRücken.</p><p>Wir stehen am Beginn einer der schärfsten Wirtschaftskrisen aller Zeiten. In Deutschland ist die Zahl der KurzarbeiterInnen in wenigen Wochen auf 10 Millionen geklettert – und damit fast zehnmal so hoch wie in der Krise ab 2007. Hinzu kommen unzählige LeiharbeiterInnen, befristet Beschäftigte und MinijobberInnen, die ihre Jobs bereits verloren haben. In den USA sind im April offiziell 20,5 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. In zahlreichen Ländern Europas sieht es nicht anders aus. Der Internationale Währungsfonds erwartet die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression 1929, die Bank von England prophezeit für das eigene Land die schwerste Rezession seit 325 Jahren. Quer über den Globus schnüren die Regierungen Wirtschaftspakete wie sonst nur zu Kriegszeiten. Die Rechnung hierfür werden sie am Ende den ArbeiterInnen präsentieren. Es stehen Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen bevor, die wir teilweise noch gar nicht absehen können. Umso notwendiger ist es, dass wir uns jetzt auf entschiedene Gegenwehr vorbereiten!</p><h3><b>Woher kommt die Wirtschaftskrise?</b></h3><p>Auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag – die Ursache der Krise ist nicht die Covid-19-Pandemie! Die Pandemie verschärft vielmehr die Wirtschaftskrise, die sich bereits seit dem Winter 2018/19 entwickelt hat. Dabei handelt es sich um eine Überproduktionskrise, wie sie der Kapitalismus gesetzmäßig und regelmäßig hervorbringt. Überproduktionskrisen entstehen, weil die Unternehmen ihre Produktion immer weiter ausdehnen, mit dem Ziel sich in der Konkurrenz durchzusetzen und ihre Profite zu steigern; während sie zugleich jedoch die Einkommen ihrer ArbeiterInnen, die einen Teil der Produktion kaufen müssen, möglichst gering halten.</p><p>Die aktuelle Überproduktionskrise ist besonders, weil sich jetzt jahrzehntelang aufgestaute Widersprüche und Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft zu entladen drohen:</p><ul><li>Die führenden kapitalistischen Konzerne haben eine solche Größe und Macht erreicht, dass sie die Krisenfolgen der letzten Jahrzehnte auf alle anderen Teile der Gesellschaft, allen voran die ArbeiterInnen, abwälzen konnten. Stagnierende Löhne, gekürzte Sozialleistungen und steigende Steuern haben das Problem der Überproduktion weiter verschärft.</li><li>Die Konzerne und die Staaten haben die Krisen der letzten Jahrzehnte gleichzeitig mit immer mehr Krediten und Notenbankgeld behelfsmäßig abgemildert und ihre schlimmsten Auswirkungen damit hinausgezögert. Im Ergebnis ist die Verschuldung von Unternehmen, Privatpersonen und Staaten heute etwa dreimal so hoch wie die jährliche weltweite Wirtschaftsleistung. Viele Unternehmen sind bisher nur durch enorm niedrige Zinsen vor der Insolvenz bewahrt worden, sie gelten als Zombieunternehmen. In einer Studie aus dem Jahr 2017 kommt die Bank of America (BoA) zu dem Ergebnis, dass rund neun Prozent der 600 größten börsennotierten Unternehmen in Europa in diese Kategorie fallen. Dies wird nicht ewig so weitergehen können. In dieser Krise drohen daher massenweise Unternehemenspleiten. Wirtschaftsexperten sprechen schon seit Jahren von „tickenden Zeitbomben“ in den Bilanzen der Banken.</li><li>Nach einer jahrzehntelangen Phase einer zunehmenden weltweiten Verflechtung von Produktion und Handel haben Kapital und Staaten in den letzten Jahren auf teilweise Entkoppelung und wirtschaftliche Konfrontation umgestellt. Ein erbitterter Konkurrenzkampf um Wirtschaftsräume entwickelt sich – allen voran zwischen den USA und China. Eine gemeinsame Krisenbewältigungspolitik wie 2007 ist damit unwahrscheinlicher geworden, der Wirtschaftskrieg droht zum neuen Normalzustand zu werden. Dies äußert sich beispielsweise im Kampf um den Ölpreis zwischen den OPEC-Staaten, den USA und Russland, aber auch in den in den vergangenen zehn Jahren massiv gestiegenen Zöllen.</li></ul><p>Die Covid-19-Pandemie hat durch die weltweiten Shutdowns des öffentlichen Lebens und damit einhergehenden einbrechenden Einkommen die Überproduktionskrise massiv verschärft. Zeitweise waren die weltweiten Lieferketten der Industrie unterbrochen. Die Pandemie beschleunigt und verstärkt damit die beschriebenen Entwicklungen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Krise uns einen noch viel aggressiveren Kapitalismus bescheren wird.</p><p></p><h3><b>Folgen der Wirtschaftskrise</b></h3><p>In der aktuellen Krise zeigt der Kapitalismus sein hässliches Gesicht besonders deutlich: Millionen ArbeiterInnen in Deutschland sind bereits jetzt von Jobverlusten und Kurzarbeit betroffen. Daneben stehen hunderttausende ArbeiterInnen, die ihre Gesundheit in der Pandemie aufs Spiel setzen müssen, um zu schlechten Löhnen und miesen Bedingungen in Krankenhäusern, Altersheimen und Supermärkten die öffentliche Versorgung am Laufen zu halten. Weitere hunderttausende ArbeiterInnen, viele davon aus Osteuropa, schuften teils unter sklavereimäßigen Verhältnissen in Schlachthöfen, in der Landwirtschaft, in Logistikzentren oder im Transportgewerbe. Dort wird ihre Infektion mit Covid-19 von den Unternehmen und dem Staat billigend in Kauf genommen.<br/><br/>Die genannten ArbeiterInnen in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs sind heute von Corona und der Krise am meisten betroffen. Doch sie werden nicht die einzigen bleiben. Die Krise wird eine Welle schwerer Angriffe auf alle Teile der ArbeiterInnen, auf Arbeitslose, Studierende, Selbstständige und RentnerInnen nach sich ziehen. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Angriffe zeitversetzt und in Schüben geschehen werden:<br/></p><ul><li>Die Bundesregierung hat historische 1,2 Billionen Euro für die Stabilisierung der Wirtschaft bereitgestellt. 156 Milliarden Euro Neuverschuldung sind bereits aufgenommen. Am Ende wird jemand für diese Summen zur Kasse gebeten werden – nämlich diejenigen, die durch ihre Lohnsteuern den Staatshaushalt tragen: Das sind die Arbeiterinnen und Arbeiter. In bisherigen Krisen war dafür ein gängiges Instrument der Staaten, vor allem Massensteuern, wie die Mehrwertsteuer, zu erhöhen.</li><li>Absehbar ist auch, dass der Staat seine Ausgaben zusammenstreichen wird, und damit Kürzungen im Gesundheits- und Sozialwesen, bei der Bildung, im Öffentlichen Dienst und anderen Bereichen auf uns zukommen.</li><li>Zur Kasse gebeten werden außerdem all diejenigen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. So fordert die CDU bereits jetzt, die vereinbarte Grundrente gar nicht erst zu beschließen. Der nächste Schritt ist dann die Kürzung bestehender Leistungen.</li><li>Parallel zu den staatlichen Maßnahmen steigen auch die Notenbanken direkt in die Krisenrettung ein und kaufen Unternehmensanleihen auf. Zu erwarten ist, dass die Kosten hierfür ebenfalls an die ArbeiterInnen weiter gereicht werden, nämlich in Form der Geldentwertung (Inflation). Das bedeutet vor allem: Preissteigerungen im Alltag.</li><li>Schließlich ist das Überleben vieler Firmen nur noch eine Frage der Zeit, auch wenn der Shutdown in Deutschland auf Druck von Unternehmerkreisen wieder etwas gelockert wird. Die Auto-Zulieferindustrie etwa stand schon vor der Pandemie mit dem Rücken zur Wand. Es spricht Bände, dass die Bundesregierung jetzt die Pflicht für Firmen ausgesetzt hat, im Falle ihrer Zahlungsunfähigkeit Insolvenz anzumelden. Hierdurch können sich bankrotte Firmen mit Staatshilfen durch die Krise hangeln und die Insolvenz auf Kosten der ArbeiterInnen noch einige Monate hinausschieben. Das bedeutet, dass auch die zu erwartenden Entlassungen zeitversetzt geschehen werden. Am Ende werden auch viele ArbeiterInnen betroffen sein, die heute noch bei vollem Lohn im Homeoffice arbeiten.</li><li>Traditionell betrachten Faschisten Krisen als Gelegenheiten, die Gesellschaft noch stärker als sonst mit Rassismus und anderen reaktionären Gedanken zu vergiften. Auch in dieser Krise müssen wir damit rechnen, dass die ohnehin schon alltägliche rassistische Gewalt noch zunehmen wird.</li></ul><p>Dies ist nur eine Auswahl naheliegender Angriffe, die uns in den nächsten Monaten und Jahren bevorstehen. Wir gehen davon aus, dass Kapital und Staaten in der Krise einen völlig neuen Standard in der Ausbeutung von Lohnarbeit durchsetzen wollen, und dass wir deshalb mit vielen weiteren Maßnahmen rechnen müssen, die heute teilweise noch über unsere Vorstellungskraft hinaus gehen.</p><h3><b>Was tun?</b></h3><p></p><p>Welche Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen tatsächlich durchgezogen werden, wird vor allem davon abhängen, welchen Widerstand wir dem entgegensetzen. Hier kommt es entscheidend auf uns selbst an. Wir dürfen nicht passiv auf die nächsten Angriffe warten, sondern müssen schon jetzt beginnen, die Gegenwehr zu organisieren und sie auf die Straße und in die Betriebe zu tragen.</p><p>Aber auch hierbei dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern müssen das kapitalistische System als Ursache dieser Krise ins Visier nehmen. Es ist die anarchische Natur des Kapitalismus, die die Krisen hervorbringt. Nur eine geplante und demokratisch geleitete Wirtschaft kann ihnen ein Ende machen. Das setzt die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel voraus. Unser Ziel muss eine Gesellschaft sein, die sich mit dem Ziel organisiert, die Bedürfnisse der Menschen bestmöglich zu befriedigen, statt größtmögliche Profite für eine kleine Minderheit zu erwirtschaften. Eine Gesellschaft, in der Solidarität die Grundlage darstellt anstatt leerer Floskeln.</p><p>Die Krise kann also viel mehr bedeuten als eine Reihe scharfer Angriffe auf unseren Lebensstandard, sie kann auch der Ausgangspunkt für eine klassenkämpferische Bewegung sein, die den bisherigen Rahmen des kapitalistischen Wahnsinns in Frage stellt. Der Staat hat Vorkehrungen getroffen, unseren Widerstand kleinzuhalten und im Zuge des Corona-Shutdowns massive Eingriffe in unsere Freiheitsrechte vorgenommen. Es kommt jetzt darauf an, dass wir uns nicht weiter in die Enge treiben lassen, dass wir uns unsere Rechte nicht nehmen lassen und uns den Raum für Widerstand zurückholen. Die Demonstrationen am 1. Mai waren ein sehr wichtiger Schritt in diese Richtung, und wir müssen entschlossen und ohne Zögern auf diesem Weg weitergehen. Verschiedene Aktionen haben bereits gezeigt, dass es kein Gegensatz ist, das Virus und den Infektionsschutz ernst zu nehmen und Widerstand auf die Straße zu tragen.</p><p>Wir erwarten, dass die Angriffe in dieser historischen Krise von Versuchen begleitet sein werden, die betroffenen ArbeiterInnen zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen – etwa in Junge gegen Alte, LeiharbeiterInnen gegen Festangestellte, Deutsche gegen MigrantInnen u.v.m. Diesen Spaltungsversuchen müssen wir entschieden entgegentreten und eine solidarische Bewegung von ArbeiterInnen aus allen Berufen, Schichten und Herkunftsländern, ob jung oder alt, aufbauen. Da alle bedeutenden Konzerne nicht nur in einem Land agieren, gilt es den Widerstand auch auf internationaler Ebene aufzubauen.</p><p>Wenn wir nicht wollen, dass diese Krise auf unserem Rücken ausgetragen wird, müssen wir uns organisieren und wehren. Es ist an der Zeit, Kontakt zu den eigenen KollegInnen und NachbarInnen aufzunehmen, um festzustellen, dass wir alle unter dieser Krise zu leiden haben. Es ist auch an der Zeit, Angriffe, die auf Betriebsebene oft schon jetzt beginnen (wie höhere Arbeitsintensität, ausgesetzte Lohnerhöhungen oder Entlassungen) und von der Bundesregierung gerade vorbereitet werden, nicht einfach hinzunehmen. Wie sehr diese Krise auf unserem Rücken ausgetragen wird, liegt an uns!</p><p></p><hr/><h3><br/>Anmerkungen</h3><p>Das hier erstveröffentlichte Positionspapier des Bündnisses <a href="https://nichtaufunseremruecken.noblogs.org/">#NichtaufunseremRücken</a> zur kommenden Wirtschaftskrise, ist von zahlreichen lokalen politischen Gruppen und Initiativen unterzeichnet worden. Das Bündnis vereint verschiedene Aktionen unter dem gemeinsamen Hashtag und macht solidarische sowie antikapitalistische Antworten auf die Coronakrise und ihre Folgen sichtbar. In den sozialen Netzwerken sowie im öffentlichen Raum schafft der Hashtag überregionale Bezugnahmen linker Perspektiven und gibt den Aktionen einen gemeinsamen Rahmen.<br/><br/><br/></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Die Eskalation des USA-Iran-Konflikts2020-01-06T16:57:35.434657+00:002020-01-07T11:37:21.466622+00:00Evrim Muştu und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-eskalation-des-usa-iran-konflikts/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Die Eskalation des USA-Iran-Konflikts</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Soleimani-Killspot.jpeg" height="420" src="/media/images/ENmzi53UYAE7EyA.jpg_large.9b1fdb07.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">ZahraSociology | Twitter</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Die Ermordung des Generalmajors und Kommandeurs der al-Quds Eliteeinheiten des iranischen Regimes, Qasem Soleimani, ist nach US-Präsident Donald Trump eine Reaktion auf die Angriffe der pro-iranischen Milizen auf die US-amerikanische Botschaft Ende Dezember in Bagdad. In seiner <a href="https://twitter.com/WhiteHouse/status/1213201192647614475">Stellungnahme</a> ließ Trump zudem verlauten, dass es sich bei dem Drohnenangriff – wie damals bei der Ermordung Bin Ladens unter Obama – um einen defensiven Akt seiner Regierung gehandelt hätte. Wie immer besteht die Möglichkeit, dass es sich einmal mehr um reinen Zynismus Trump‘scher Art handelt, mit dem er der Weltöffentlichkeit einmal mehr ins Gesicht lügt – oder aber, diese Erklärung ist ernst gemeint und der Angriff als Teil einer erweiterten Defensivstrategie zu interpretieren. Zweiteres bedarf unserer Meinung nach einer genaueren Erläuterung: Als solcher wäre der Angriff nämlich ein Fall „aktiver Verteidigung“, der es den USA in der gegenwärtigen Phase des Konflikts mit dem Iran erlauben würde, bestimmend zu bleiben. Aus der Defensive kann dem Feind schmerzhafter Schaden zugefügt werden, ohne die moralischen Nachteile eines direkten Angriffs tragen zu müssen – klarer Vorteil gegenüber einem Frontalangriff. Es ist damit zu rechnen, dass entweder die Strategie aktiver Verteidigung mit stärkerem Nachdruck verfolgt wird, oder aber die Bedingungen für einen Übergang zu einer direkten, unverhüllten Offensive erwirkt werden; beides Wege, um die Position der USA im Konflikt mit dem Iran massiv zu stärken. Dass Präsident Trump für diese Strategie nicht einmal mehr parlamentarisch legitimiert werden muss, wurde schon Ende Juni 2019 entschieden: In der damaligen Phase der Eskalation bestätigte der US-Senat den Vorschlag Trumps, auch <a href="https://www.nytimes.com/2019/06/28/us/politics/trump-iran-senate.html">ohne Erlaubnis des Kongresses</a> den Iran angreifen zu können.</p><h2><b>Der Konflikt zwischen den USA und dem Iran im Irak</b></h2><p>Dass die iranische Führung nach der Ermordung Soleimanis zum Gegenschlag ausholen wird, steht außer Frage. Es geht darum zu verstehen, wo und wie sie dazu ansetzen wird. Der Iran ist in jeder Hinsicht die militärisch schwächere Partei und muss strategisch mit seinen Kapazitäten umgehen. Wenn er zuschlagen will, muss er das dort tun, wo er stärker aufgestellt ist als die USA. Und das ist im Irak.</p><p>Dass der Iran seinen Einfluss im Irak im Zuge der US-Invasion und der damit einhergehenden Zerschlagung des irakischen Staates kontinuierlich ausweiten konnte, ist zutiefst paradox. Denn es waren schiitisch-politische Oppositionsgruppen mit guten Beziehungen zum iranischen Regime, die aufgrund der Unfähigkeit der westlichen Besatzungsmächte, das Land zu stabilisieren, direkt vom Exil ins Zentrum der politischen Macht in Bagdad katapultiert wurden. Ihre Loyalität zur Islamischen Republik haben sie dabei nie vergessen. Aufgrund der latent instabilen Lage des Iraks war klar, dass die USA und der Iran sich irgendwann hier begegnen werden. Der Zusammenstoß war also nur eine Frage der Zeit.</p><p>Dass es jedoch genau jetzt passiert hat verschiedene Gründe. Die Position des Irans im Irak – vertreten bis dato durch Soleimani – ist, aufgrund der seit nun schon über <a href="https://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/">drei Monate anhaltenden Massenproteste</a> gegen alle herrschenden politischen Kräfte und das allgemeine Elend großer Bevölkerungsteile, so schwach wie nie zuvor. Die <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-protesters-leaks-confirm-iran-191119160040623.html">Protestierenden machten keinen Hehl daraus</a>, dass sie sich über den schwerwiegenden Einfluss des Irans im Klaren sind, weshalb die Proteste nicht selten stark anti-iranischen Charakter annahmen. Soleimani bestätigte die Stärke der Proteste seinerseits durch sein Agieren in der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/iraq-protests-karbala-baghdad-iran.html">Vermittlerrolle im krisengerüttelten irakischen Machtblock</a> und durch seine abschätzigen Kommentare zum Aufstand der Massen, denen gegenüber „man kein Zeichen der Schwäche zeigen“ dürfe.</p><p>Trotz aller vordergründigen Sesselwechsel und Reformen, die seitens des herrschenden Blockes im Irak als Konzessionen in Gang gesetzt wurden, war kurz- und mittelfristig kein Abebben der Proteste zu erwarten. Inbesondere, weil sich vor dem Hintergrund des gemeinsamen Kampfes auch hier solidarische Strukturen und neue informelle Netzwerke zu formieren begonnen haben, die die Proteste unterstützen. Zudem haben die Protestierenden die defensive Reaktion, die Konzessionen und leeren Versprechen der Regierung als Teilsieg interpretiert, was ihren Kampfgeist eher stärkt als schwächt. Schließlich handelt es sich bei den Protestierenden noch immer um Menschen, deren Hoffnung sich aus einer Ohnmacht und Perspektivlosigkeit speist, deren Standpunkt also „alles oder nichts“ ist. Folglich glauben sie nicht mehr daran, dass die Sackgasse, in der der herrschende Block im Irak steckt, mit Reformen zu überwinden ist.</p><p>Offensichtlich wollten Trump und seine Regierung die Gunst der Stunde nutzen, um dem Iran und seinen militärischen und politischen Verbündeten im Irak einen harten Schlag zuzufügen. Dabei spekulierten sie wohl auf das alte Mantra, dass der „Feind meines Feindes mein Freund“ sei: So <a href="https://twitter.com/secpompeo/status/1212955403077767168">twitterte Außenminister Mike Pompeo</a> ein Video, auf dem Protestierende zu sehen sind, die kurz nach der Ermordung Soleimanis und seiner rechten Hand im Irak, dem langjährigen Milizenführer der Kata’ib Hezbollah Abu Mahdi al-Muhandis (aber auch vieler <a href="https://www.vox.com/2020/1/3/21048986/airstrike-us-iran-iraq-day-after-soleimani">weiterer Kader</a>), freudig durch die Straßen zogen.</p><p>Auch wenn dieses Ereignis aus Sicht der Protestierenden sehr wohl ein Grund zur Freunde darstellt, erklärten lokale Quellen dem re:volt magazine gegenüber, dass dieser ersten Freudenanfall über den Tod Soleimanis schnell eingedämmt wurde: Vor allem aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der „Wohltäterin“ um die USA handelte. Vielen Aktivist*innen ist klar, dass diese gewiss viele Interessen verfolgen, aber sicher nicht diejenigen, für die die Protestbewegung einsteht. Diese allgemeine und nicht überraschende Skepsis der Protestierenden gegenüber den USA wird die Bewegung in eine Position der doppelten Opposition gegen die USA und gegen den Iran drängen und die Position der USA – angesichts ihrer geographisch-militärischen Isoliertheit – schwächen.</p><h2><b>Gegenschlag des Iran und seiner Verbündeten irakischen Kräfte</b></h2><p>Ist die Islamische Republik aber tatsächlich in der Lage, in eine kriegerische Auseinandersetzung mit den USA zu treten? Zunächst einmal sind die ökonomischen Grundlagen dafür äußerst knapp: Aufgrund der von Saudi-Arabien diktierten gemäßigten Erdölpreispolitik und der westlichen Sanktionspolitik tendiert der Iran zurzeit dazu, sein Erdöl den ostasiatischen Ländern zu Tiefstpreisen zu verkaufen. Die sinkenden Öleinnahmen werden zudem von einer hohen Inflationsrate begleitet. Gleichzeitig wurde während den <a href="http://nena-news.it/what-is-happening-in-iran/">iranischen Protesten</a> im November 2019 die Kritik laut, das iranische Regime verschwende die sinkenden Öleinnahmen in der Finanzierung seiner Auslandsinterventionen in Syrien, im Libanon, in Palästina und im Irak. Dahinter stand weniger eine anti-arabische Haltung der iranischen Protestierenden, als vielmehr eine fundamentale Skepsis gegenüber dem Nutzen der iranischen Außenpolitik für die Interessen der iranischen popularen Klassen. Ob sich das iranische Regime nun also in diesem gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext ein weiteres teures militärische Abenteuer leisten kann, ist zweifelhaft – oder zumindest wäre es eine extreme Gratwanderung für die iranische Führung.</p><p>Nichtsdestotrotz muss die iranische Führung ihrer Logik nach auf „angemessene Weise“ reagieren, will sie – angesichts des hochrangigen Verlustes – den USA und seinen regionalen Verbündeten gegenüber nicht das Gesicht verlieren. Die iranische Militärführung ließ bereits verlauten, dass alle Positionen der US-amerikanischen Militärkräfte in der Region erneut registriert worden seien. Wie ein Krieg aussehen könnte, darüber wurde im Zuge der Verschärfung der Sanktionen im Mai des vergangenen Jahres <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/iran/2019-06-04/what-war-iran-would-look">bereits nachgedacht</a>. In jedem Fall wird der Iran das Feld nicht kampflos räumen. Das Ausmaß des Verlusts an politischem und militärischem Einfluss, den sich das Regime in den vergangenen Jahren trotz des Sanktionskrieges und der internationalen Isolierung erarbeitet hat, bestimmt das Schicksal der iranischen Führung.</p><h2><b>Perspektiven eines</b> <b><i>inter-imperialistischen</i></b><b> Konfliktes</b></h2><p>Trump und seine Regierung plant nun, <a href="http://nena-news.it/su-ordine-di-trump-ucciso-soleimani-in-arrivo-3mila-soldati-2/">weitere 3.000 Soldaten in die Region</a> zu entsenden. Aufgrund der herrschenden politischen Krise im Irak ist aber auch eine weitere Schwächung des Iran durchaus zweifelhaft, da die kriegerische Austragung des inter-imperialistischen Konflikts zwischen den USA und dem Iran auf irakischem Boden die Restabilisierung des heute gespaltenen irakischen Blockes aufgrund eines allgemeinen Antiamerikanismus im Irak noch einmal beschleunigen wird. Aufgrund der Ereignisse und dem Druck aus Teheran hat das irakische Parlament in einer dringlichen Sitzung zusammengefunden, um Maßnahmen zu treffen, <a href="https://twitter.com/farhad965/status/1213820240435527681?s=09">der Präsenz der USA im Irak ein Ende zu setzten</a>. Das ist politisch gesehen oberstes Ziel der iranisch-irakischen Front. Ganz in dieser Absicht hat der bekannte <a href="https://www.aljazeera.com/news/2020/01/iran-tensions-latest-updates-200103022407743.html">schiitische Leader Muqtada al-Sadr</a> derweil dem Iran sein Beileid ausgesprochen und verlauten lassen, dass er den Irak militärisch verteidigen werde.</p><p>Auf Seiten der USA spielen die, in rund zehn Monaten stattfindenden, 46. Präsidentschaftswahlen ebenfalls eine zentrale Rolle. Es ist bekannt, dass die Ablenkung von innenpolitischen Widersprüchen oft über die Akzentuierung außenpolitischer Konflikte geschieht. Wenn es allerdings die Absicht Trumps ist, der internen Opposition auf diese Weise den Wind aus den Segeln zu nehmen, könnte sich sein Plan sogar ins Gegenteil verkehren und seiner Wiederwahl schaden: Es fanden schon in über 80 US-Städten erste <a href="https://www.nytimes.com/2020/01/04/us/iran-anti-war-protests.html">Demonstrationen gegen Trumps Kriegspolitik</a> im Nahen Osten statt. Ironischerweise war es vor acht Jahren gerade Trump, der <a href="https://edition.cnn.com/2020/01/03/politics/kfile-trump-obama-2012-iran-war-reelection/index.html">Obama vorgeworfen</a> hatte, den Iran angreifen zu wollen, um wiedergewählt zu werden.</p><h2><b>Auswirkungen auf die irakische Protestbewegung</b></h2><p>Die Belagerung der amerikanischen Botschaft und die Tötung Soleimanis hat die soziale Protestbewegung komplett in den Schatten gestellt. Wurde in den irakischen Zeitungen noch vor einer Woche täglich über die Besetzung des Tahrir-Platzes und über die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und dem Ende des sektiererischen politischen Systems berichtet, geht es heute nur noch um den Konflikt zwischen den USA und den iranischen und pro-iranischen Milizen im Land selbst. Eine Austragung dieses Konfliktes auf irakischem Boden wird die dominanten Konfliktlinien im Irak und in der gesamten Region verschieben und die emanzipatorischen Proteste im Nahen Osten und in Nordafrika überschatten.</p><p>Auch besteht das Risiko, dass sich die Proteste in einer solchen Situation demobilisieren. Die Protestierenden könnten sich dazu verleiten lassen, die Lösung des politischen Konflikts in der Positionierung auf der einen oder anderen Seite der imperialistischen Barrikade zu sehen. Zudem zahlen soziale Bewegungen nur zu oft den Preis einer Militarisierung des inter-imperialistischen Konflikts; denn kriegerische Auseinandersetzungen zerstören emanzipatorische Prozesse, zivile Infrastruktur und Menschenleben. In der Region gibt es mit Syrien, dem Jemen und Libyen mehrere einschlägige Beispiele dafür. Sowohl im Irak wie auch im Iran passiert dies über eine mögliche Einführung respektive Verschärfungen der Sanktionen – und im Kriegsfall zur Implementierung einer harschen Rationierungspolitik.</p><p>Angesichts der Gefahr einer beschleunigten Eskalation und einer Intensivierung des Konflikts besteht die einzige Möglichkeit darin, den emanzipativen Kampf der protestierenden Massen in der Region aufrechtzuerhalten. Das ist allerdings nur möglich, wenn die Mobilisierung gesteigert und internationalisiert und die Position der doppelten Opposition – gegen die herrschenden Regime und gegen einen inter-imperialistischen Krieg – aufrechterhalten wird.</p><p></p><hr/><p>Das Titelbild zeigt die Auswirkungen der Ermordung auf die Protestbewegung. Darauf ist eine Erinnerungsstätte an Gefallene der Revolution zu sehen. Auf Twitter schreibt Zahra Ali زهراء علي (@ZahraSociology) dazu: „Saw the spot where #Sulaimani and #AlMuhandes convoy was hit today on my way to #BaghdadAirport, and thought: just when the most heroic and inclusive uprising seeking to reverse the post-2003 process (and more) started, this happens. #keep_your_conflicts_away_from_iraq“ (2020-01-06)</p><p></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung2019-12-02T09:43:08.626397+00:002019-12-02T09:45:25.982228+00:00Evrim Muştu und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="tahrirplatz irak.jpg" height="420" src="/media/images/tahrirplatz_irak.d1bb075a.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Alex MacDonald</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Die Massenproteste im Irak, die seit Oktober nicht abebben und bislang über 400 Todesopfer und zehntausende Verletzte forderten, stellen in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes dar. Im Hinblick auf ihre Ursachen tun sie dies allerdings nicht: Korruption auf allen Ebenen der Politik, hohe Arbeitslosigkeit und miserable Lebensbedingungen des Großteils der Bevölkerung sind die übergreifenden Quellen der sozialen Spannungen, die sich nun entladen. Die <a href="https://www.rosalux.de/news/id/41085/der-aufstand-der-arbeitslosen/">Proteste</a> läuten eine tiefe soziale und politische Krise ein, deren Folgen weit über den Irak hinausreichen. In den <a href="https://www.rosalux.de/news/id/40919/die-bewegung-braucht-fuehrung-organisation-und-klare-perspektiven/">vergangenen Jahren</a> kam es immer wieder zu Protesten, die auf diese oder jene Weise niedergeschlagen und beschwichtigt wurden. Diesmal jedoch scheint beides nicht mehr möglich zu sein.</p><p>Am 1. Oktober 2019 explodierten die ersten Demonstrationen gegen die irakische Regierung und insbesondere gegen den 77-jährigen Premierminister Adel Abdel Mahdi, der 2018 sein Amt angetreten hatte. Die Demonstrationen nahmen in der irakischen Hauptstadt Baghdad ihren Anfang und weiteten sich von dort in weitere Provinzen, hauptsächlich in den mehrheitlich schiitischen Süden, aus. Konkret wurde der Rücktritt Abdel Mahdis gefordert, der für die Protestierenden jedoch nicht nur die Regierung repräsentiert. Von Anfang an wurde deutlich, dass er als Teil eines über ihn hinausgehenden politischen Gleichgewichts zwischen staatlichen und nicht-staatlichen politischen Akteuren die „herrschende Ordnung“ als Ganzes symbolisiert. Das passiert nicht zuletzt deshalb, weil dieses Akteure in der „außerirdischen“ <i>Green Zone</i> (einem hochmilitarisierten Stadtteil Baghdads, Anm. Red) lokalisiert werden, in der die wesentlichen Institutionen der Macht ihr Dasein hermetisch abgeschottet und vermeintlich unabhängig vom Rest der Stadt und des Landes fristen.</p><p>Die tiefen Risse, die durch die Proteste einerseits sichtbar gemacht wurden und die diese andererseits in die Herrschaftsstruktur geschlagen haben – und das politische System damit in eine umfassende Krise stürzten –, erklären sich zum Großteil aus den verschobenen gesellschaftlichen Konfliktlinien: Die konfessionellen und ethnischen Feindseligkeiten, die insbesondere mit der US-Besatzung im Jahr 2003 institutionalisiert wurden, lösen sich mit den Protesten nach und nach auf und sind nicht durch bislang gewohntes Vorgehen zu übertünchen. Letzteres lässt sich beispielsweise an den Reaktionen der Sicherheitskräfte erkennen. Innerhalb der ersten drei Tage der Proteste zählte man bereits 38 Tote und hunderte Verletzte. Streitkräfte der irakischen Regierung (Polizei und Armee) und Paramilitärs, die auf Befehl der iranischen Milizen intervenieren, schossen mit Tränengaskanistern und scharfer Munition auf die protestierenden Menschenmengen. Ihre gnadenlose Antwort auf die Proteste stellt den unmittelbaren Grund für die Eskalation des Konfliktes dar und ebnete den Weg für einen massenhaften Aufstand gegen die herrschende politische und soziale Lage im Allgemeinen.</p><p>Die Gewalt der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden eskalierte noch einmal <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraq-security-forces-kill-protesters-nasiriyah-army-deploys-191128084334582.html">Ende November</a>. In Nasiriya, im Süden des Landes, wurden 29 Menschen bei der Blockade einer Brücke getötet; in Najaf wurden 45 Menschen getötet, als die Protestierenden das iranische Konsulat stürmten; in Bagdad verloren schließlich vier Menschen das Leben. Die Sicherheitskräfte hatten mit scharfer Munition geschossen.</p><h2><b>Verelendung der Massen und Korruption</b></h2><p>Die protestierenden Massen befinden sich offensichtlich zwischen dem Hammer der brutalen Unterdrückung und dem Amboss der nicht zu ertragenden Lebensverhältnisse. Wie ist es dazu gekommen?</p><p>Große Teile der irakischen Gesellschaft leiden unter akutem Mangel der Befriedigung von Grundbedürfnissen: zumutbarer Wohnraum, Nahrungs-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und so weiter. Ein Blick auf die <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/irak-une-economie-ravagee-par-pres-de-quatre-decennies-de-conflits">ökonomische Struktur und Entwicklung des Irak</a> lässt schnell erkennen, weshalb das der Fall ist. In Folge von Krisen, Kriegen und Sanktionen über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg sind die Kapazitäten der allgemeinen Waren- und Dienstleistungsproduktion im Irak im Grunde komplett zerstört worden. Durch die neoliberale Öffnung der Wirtschaft im Zuge der Besatzung und Teil des Plans seitens der USA, den Irak zu einem neuen Modell des Regime-Changes umzuformen – inklusive Integration in den Weltmarkt, wurden die verbleibenden Reste der Produktion einer globalen Konkurrenz ausgesetzt. Dies beschleunigte den <a href="http://nena-news.it/iraq-the-revolution-against-sectarian-system-and-for-social-justice/">Zerfallsprozess</a> weiter.</p><p>Die <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/l-irak-fusionne-enfin-dans-un-souffle-revolutionnaire">Kriege und Krisen</a>, wie zuletzt der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) 2014 bis 2017, sorgten auch dafür, dass derzeit die Entwicklung eines produktiven Sektors unmöglich scheint. Zu den Folgen zählen zum einen fünf Millionen Binnengeflüchtete, die zum großen Teil noch immer unter extrem prekären Verhältnissen in Lagern leben müssen. Andererseits verstärken derartige Konflikte auch die Zerstörung der Produktivkräfte, indem ihre Grundlagen wie elektrische Versorgung, Möglichkeiten des Warentransports und so weiter unterbunden werden.</p><p>Mit dem Zerfallsprozess ging auch ein <a href="https://tradingeconomics.com/iraq/imports">starker Anstieg des Imports</a> von Produkten des alltäglichen Konsums einher. Schien der Wert der importierten Waren vor dem Hintergrund der Sanktionen vor dem Krieg 2003 mit etwa zehn Milliarden US-Dollar bereits beträchtlich, beträgt er mittlerweile knapp 60 Milliarden US-Dollar. Das von Zeit zu Zeit feststellbare Wirtschaftswachstum geht dabei direkt auf den Output der <a href="https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/CR/2019/1IRQEA2019002.ashx">Erdölproduktion</a> zurück. 2018 machte der Erdölsektor 61 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil der Erdölproduktion am gesamten Export belief sich indes auf ungeheure 99.6 Prozent. Zwischen 2003 und 2018 wurden durch den Verkauf von Erdöl 850 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2018 deckten die Einnahmen durch Erdölexporte 92 Prozent des budgetierten Haushaltes, während im Hinblick auf die <a href="https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b6d747440f0b640b095e76f/Inclusive_and_sustained_growth_in_Iraq.pdf%20">Beschäftigungsverhältnisse</a> nur ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung in diesem Sektor ihr Einkommen generierten.</p><p>Die ökonomische Struktur des Iraks wird im Wesentlichen durch eine doppelte Abhängigkeit – genauer gesagt von Warenimporten und Erdölexporten – und durch Kriege bestimmt. Die sozialen Folgen sind Vertreibung, Massenarbeitslosigkeit, Armut. Letztere nahm innerhalb von vier Jahren rasant zu, sie stieg von 18 Prozent im Jahr 2014 auf 22 Prozent im Jahr 2017, wobei zu vermuten ist, dass die realen Verhältnisse diese offiziell erhobenen Zahlen weit übersteigen. Innerhalb eines Jahres (2014) gingen zudem die Einkommen der Lohnabhängigen um 14.9 Prozent zurück. Doch die Armut drückt sich nicht nur monetär aus. Sie berührt auch die „qualitativen“ Elemente in Form der Grundbedürfnisse, obwohl die Regierung die <a href="http://www.bayancenter.org/en/2018/03/1461/">Investitionen in derlei Infrastruktur</a> stark ausgeweitet hat. Auch weite Teile der Mittelschicht sind davon betroffen.</p><p><a href="https://www.cnbc.com/2019/01/30/iraqs-massive-2019-budget-still-fails-to-address-reform-needs.html">Das Regierungsbudget</a> stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 45 Prozent, während 90 Prozent davon durch Erdölexporte finanziert wird. Über die Hälfte des erhöhten Budgets fließt in Form von Löhnen an verschiedenste zivile und militärische Organe des Staates. Ein großer Teil geht an die Milizen und die restlichen Sicherheitskräfte, die nun auch an der Niederschlagung der Proteste beteiligt sind. Ein weiterer fließt in die staatlichen Unternehmen, die eigens für die Bereitstellung der Infrastrukturdienstleistungen gegründet wurde. 2017 arbeiteten ca. eine <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/irak-une-economie-ravagee-par-pres-de-quatre-decennies-de-conflits">halbe Million Angestellte</a> in diesen Unternehmen. Es wird geschätzt, dass insgesamt etwa fünf Millionen Menschen direkt und indirekt abhängig von diesen Löhnen sind. Insofern verspricht die Kontrolle eines Ministeriums für politische Akteure den lukrativen Zugriff auf Finanzquellen, um Strukturen und Positionen zu festigen und Einfluss geltend zu machen. Schätzungen zufolge sind seit 2003 etwa 450 Milliarden US-Dollar in den Korridoren dieses Apparates versickert. Angesichts dieser Dimensionen und der Verelendung im Lichte dieses enormen Reichtums war es also nur eine Frage der Zeit, bis „die Straße“ Rechenschaft fordern sollte.</p><h2><b>Brüche im Machtapparat und globale Einbindungsversuche</b></h2><p>Der durch die Proteste entstandene Druck hat die internen Brüche des Machtapparates zutage gefördert und den Konsens über die Verteilung der Macht vor allem innerhalb des Staates durcheinandergebracht. Alle relevanten politischen Akteure wurden dazu gezwungen, sich zu bewegen und Stellung zu beziehen.</p><p>Als klar wurde, dass der anfangs kleine Aufstand sich aufgrund der exorbitanten Gewalt und ihr zum Trotz rasch in Massenaufstände verwandelte, war es <a href="https://www.unz.com/pcockburn/who-is-muqtada-al-sadr/">Muqtada as-Sadr</a> (ein nationalistischer shiitischer Geistlicher, Anm. Red.) der sich als erster öffentlich gegen die Reaktion der Regierung und des Sicherheitsapparates äußerte. Das überrascht nicht, da Sadrs Bewegung die revoltierenden und mehrheitlich schiitischen und verelendeten Massen bis dato vermeintlich repräsentierte und unter Kontrolle zu haben schien. Im Grunde war es seine Basis, die auf die Barrikaden ging.</p><p>Für die Regierung, an der seine Bewegung als größte parlamentarische Fraktion beteiligt und mit fünf Ministerien vertreten ist, zeichnete sich eine tiefe Krise ab. Sie wurde Ende Oktober dann auch öffentlich verhandelt, als Sadr den amtierenden Premierminister Mahdi zum <a href="https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests-sadr-idUSKBN1X71JU">Rücktritt aufforderte</a>. Dieser erinnerte Sadr daran, dass man ihm offensichtlich nicht die <a href="https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests-sadr/iraqs-sadr-calls-on-rival-to-join-him-in-ousting-pm-idUSKBN1X825R">alleinige Verantwortung</a> für das harsche Vorgehen gegen die Aufstände geben könne – er sprach letztlich ganz im Sinne der Protestierenden, die sich gegen den Machtapparat als Ganzes erhoben haben.</p><p><a href="https://www.nasnews.com/%D8%A7%D9%84%D8%B5%D8%AF%D8%B1-%D9%8A%D8%B1%D8%AF-%D8%B9%D9%84%D9%89-%D8%B9%D8%A8%D8%AF-%D8%A7%D9%84%D9%85%D9%87%D8%AF%D9%8A-%D9%83%D9%86%D8%AA-%D8%A3%D8%AD%D8%A7%D9%88%D9%84-%D8%AD%D9%81%D8%B8/">Sadrs Antwort</a>, dass Mahdi das Angebot hätte annehmen und würdevoll abtreten sollen, schien den Bruch innerhalb der Regierung zu besiegeln. Er brachte zudem seine Beziehung zur zweitgrößten parlamentarischen Fraktion, der Haschd al-Shaabi und dessen Anführer Hadi Amiri in Anschlag, der sich bereit erklärte, Folge zu leisten. Am selben Tag nahm Sadr an <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/iraq-protests-iran-abdul-mahdi-muqtada-sadr-hadi-amiri.html">Protesten in Najaf</a> teil, um sich weiter von der Regierung zu distanzieren und den Verdacht der Mitschuld seiner Bewegung zu verklären. Sadr ist seit jeher dafür bekannt, in der Lage zu sein, seine Positionen prompt zu verändern, ohne größere Konflikte mit Verbündeten oder seiner eigenen Organisation aufkommen zu lassen. Diesmal jedoch erhoben sich auf Seiten der Protestierenden und innerhalb seiner Bewegung viele Stimmen, die Sadrs Glaubwürdigkeit öffentlich anzweifelten. Sie sind wohl der Grund dafür, dass er sich seither nicht mehr wirklich zu den Entwicklungen geäußert hat.</p><p>Ein weiterer Grund dafür ist die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2019/11/22/irak-silbastan-kurtler-sifirlanir-mi/">Reaktion</a> des Iran, die Krise durch die Festigung der Machtverhältnisse mittels Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu lösen. Der Iran macht seinen Einfluss meist auf diese Weise geltend. Der Minimalkonsens, der bei Hintergrundverhandlungen augenscheinlich erreicht wurde und auch Sadr einschließt, ist die erneute Sammlung aller relevanter Kräfte inklusive der Haschd hinter Premierminister Mahdi. Am 9. November wurde ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, den Premierminister Mahdi in seinem Amt zu bestätigen. Die Treffen wurden vom Kommandeur der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarde Qasem Soleimani geführt. Neben Sadr und Amiri nahm auch Mohammed Ridha Sistani teil, der Sohn des höchsten schiitischen Würdeträgers, Grossayatollah Ali as-Sistani.</p><p>Der Irak stellt gleichzeitig den wichtigsten konkreten Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und den USA dar. Abgesehen von Drohnenangriffen seitens Israel auf iranisch-militärische Kräfte im Irak spielt dieser in der <a href="https://elyazmalari.com/2019/08/15/savasa-10-dakika-var-1/">Verteidigungsstrategie</a> des Irans eine zentrale Rolle. Im November 2018 erklärten die USA unter Trump das – von der Vorgängerregierung Obama mit dem Iran und weiteren internationalen Akteuren ausgehandelte – „Atomabkommen“ für nichtig und erhöhte die Angriffe auf den Iran, sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Als Teil ihrer Strategie der „<a href="https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8060/">Sanktionskriege</a>“, die unter anderem auch in Venezuela, Kuba und Syrien geführt werden, verhängten sie die bis dato härtesten und umfassendsten kollektiven <a href="https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7774/">Sanktionen gegen den Iran</a>. Im Falle eines militärischen Angriffs seitens der USA und dessen Hauptverbündeten Israel und Saudi Arabien muss der Iran in der Lage sein, zurückzuschlagen. Das bedeutet, die Front möglichst weit in die Breite zu ziehen: von Afghanistan und Pakistan im Osten bis ans Mittelmeer im Westen und den Persischen Golf und das Arabische Meer im Süden. So ist es möglich, den Feind zu beschäftigen, seine Kräfte zu binden und ein Minimum an Kontrolle und Zeit zu gewinnen, um diplomatische Lösungen zu finden, da sich die iranische Führung keine Illusionen über einen militärischen Sieg macht.</p><p>Die USA betrachten den <a href="https://www.middleeasteye.net/opinion/there-hidden-agenda-behind-protests-iraq-and-lebanon">Auflösungsprozess der Regierung</a> als Chance, die Karten neu zu mischen und den Iran angesichts seiner Vermittlungsinitiative im Irak zurückzudrängen. Sie unterstützen die Initiative der Vereinten Nationen, Neuwahlen unter ihrer Aufsicht abzuhalten und Reformen innerhalb des Staates zu begleiten. In Anbetracht des großen Legitimitätsverlustes der politischen Eliten als Ganzes scheint der Spielraum, der sich den USA vor dem Hintergrund von Neuwahlen bietet, eine Gelegenheit zu sein, die sie nicht verpassen dürfen.</p><p>Die Initiative wird im Irak seitens des obersten Klerikers Ali al-Sistani getragen – während der Sohn des Großayatollahs den Auflösungsprozess unterstützt. Daran ist die Tiefe der politischen Krise zu erkennen, die weit über das Parlament hinausreicht, zumal al-Sistani große moralische Autorität innerhalb der schiitischen Massen genießt und sich nur selten politisch äußert. Die Verurteilung der Gewaltakte der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden drängten Premierminister Mahdi am 30. November dazu, dem Parlament seine <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-pm-abdul-mahdi-submits-resignation-parliament-191130194657666.html">Rücktrittbereitschaft</a> vorzulegen welche vom <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/12/iraq-pm-offer-quit-country-191201092331173.html">Parlament</a> dann am 1. Dezember auch tatsächlich angenommen wurde. Es handelt sich sicherlich um einen ersten Erfolg für die Bewegung; ein Sieg jedoch, der die Proteste kaum eindämmen wird.</p><p>Was in den öffentlichen Institutionen seither diskutiert wird, sind mehr oder weniger umfassende Reformen im Hinblick auf das Wahlrecht, <a href="https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2019-11-19/corruption-is-not-the-root-of-the-arab-world-s-problems">Korruptionsbekämpfung</a> und weitere Verfassungsänderungen. Sie stellen in den Augen der Protestierenden jedoch nichts weiter als Beschwichtigung dar. Aus diesem Grund halten sie ihren Aufstand bis heute am Leben und wissen, dass alle etablierten Akteure Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind.</p><h2><b>Eine „Baghdader Kommune“?</b></h2><p>Die aktuellen Proteste werden von einigen Kommentator*innen als die <a href="https://www.independent.co.uk/voices/iraq-protests-baghdad-adil-abdul-mahdi-revolution-a9142826.html">größten Proteste</a> seit der Ära Saddam Husseins bezeichnet. Hervorzuheben sind diejenigen Aspekte der Proteste, die Hinweise auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel liefern. Sicherlich stellt diesbezüglich der 25. Oktober 2019 eine Zäsur dar: Nach dem Beginn der neuen Protestwelle fanden regelmäßige, fast <a href="https://www.rosalux.de/news/id/41228/vom-libanon-bis-zum-irak-von-bagdad-nach-beirut/">tägliche Demonstrationen und Straßenblockaden</a> statt. Seit dem 25. Oktober jedoch ist der Tahrir-Platz in Baghdad permanent besetzt und mittlerweile hat er sich zu einem selbstorganisierten Zeltplatz verwandelt. Die gewalttätige Reaktion der Regierung gegenüber den Protesten hat seither zwar erneut hunderte Tote und tausende Verletzte gefordert, doch dies schwächt die Proteste nicht ab; im Gegenteil, sie betreffen einen immer größer werdenden Anteil der Bevölkerung und entwickeln sich selbstorganisiert. Es handelt sich dabei um eine qualitative Veränderung, um einen Ausdruck von Kreativität und von kollektiv entwickelten, neuen sozialen Normen. Es ist eine Organisierung von unten, welche in nur wenigen Wochen an Kraft gewonnen hat.</p><p>Für viele Demonstrierende stellt der <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/protesters-tahrir-square-iraq-191111195848776.html?fbclid=IwAR0r94G07bgw2GqOxmIApcqYKcThcPGwmoiAOnPUk7x60-TY0ZyjftwCpPM">Tahrir-Platz</a> heute tatsächlich all das zur Verfügung, was der irakische Staat Jahrzehnte lang nicht tat: Gesundheitsversorgung, Verteilung von Essen, Aufnahme von Armen, Bildung und Anerkennung aller gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten – all diejenigen sozialen Dienste also, für welche die Menschen auf die Straße gehen. Von Beginn an nehmen <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-women-protesting-future-191121104303697.html">Frauen</a> massenhaft an den Protesten teil. Die wachsende Vorreiter*innenrolle der Frauen ist beeindruckend: In den Protesten der letzten Jahren kamen frauenspezifische Forderungen kaum zum Ausdruck, Frauen wurden schlicht als Anhängsel der Familie betrachtet und sie beteiligten sich auch in dieser Position an den Protesten. Heute agieren sie hingegen also autonome, politische Subjekte, die eine tragende Rollen in der Tahrir-Platz-Besetzung innehaben und konkrete Forderungen äußern, in erster Linie in Bezug auf Rechtsgleichheit und gleiche gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten.</p><p>Unter den Zelten, die das Bild des Tahrir-Platzes zurzeit prägen, bieten Ärzt*innen und Pfleger*innen ihre Dienste an und behandeln sowohl verletzte Demonstrant*innen, als auch diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, sich im Gesundheitssystem behandeln zu lassen. Das dafür notwendige medizinische Material wird durch Spenden von Apotheken zur Verfügung gestellt.</p><p>Auch die <a href="https://ilmanifesto.it/un-nuovo-iraq-librerie-scioperi-e-pozzi-di-petrolio-occupati/">Student*innen</a> beteiligen sich an den Protesten. Sie haben zusammen mit den Lehrer*innen in den Städten des Südens gestreikt. Ihre Präsenz auf dem Tahrir-Platz trägt zur Entwicklung einer Bildung von unten bei. In einem leerstehenden Gebäude am Platz, dem <i>Turkish Restaurant</i>, wurde eine Bibliothek mit Büchern in arabischer und englischer Sprache eröffnet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Antwort auf die realen Probleme des öffentlichen Bildungssystems, denn der Analphabetismus unter den Jugendlichen ist weit verbreitet und die Schulklassen zählen bis zu 50 Schüler*innen; die jungen Aktivist*innen der Bibliothek sind auch von größter Bedeutung für die <a href="https://www.opendemocracy.net/en/north-africa-west-asia/a-country-is-in-the-making-report-from-baghdads-occupied-tahrir-square/">Logistik der Proteste</a>: Sie kümmern sich um die Sauberkeit auf dem Tahrir-Platz, stellen Duschmöglichkeiten zur Verfügung und garantieren die Sicherheit der Besetzung.</p><p>Darüber hinaus wird unter den Zelten kollektiv gekocht und das Essen kostenlos allen Anwesenden verteilt. Aus der Nachbarschaft beteiligen sich zahlreiche Familien an der Verteilung von Lebensmitteln. In den leerstehenden Gebäuden rund um den Tahrir-Platz haben sich Obdachlose einquartiert und somit eine sichere Unterkunft gefunden. Allgemein besteht ein hohes Sicherheitsgefühl in der Platzbesetzung, worauf die Protestierenden besonders bedacht sind. Und mittlerweile gibt es auch schon gedruckte Zeitungen, die als Sprachrohr für die Stimmen des Platzes fungieren.</p><p>Für die Proteste von zentraler Bedeutung bleiben weiterhin die Tuk-Tuk Fahrer*innen, die weit verbreiteten Dreirad-Taxis für ärmere Leute, die sich kein Auto-Taxi leisten können. Es handelt sich dabei meist um unter 18-Jährige, die aus den untersten Gesellschaftsschichten kommen, kaum berufliche und soziale Zukunftsperspektiven haben und von der Hand in den Mund leben. Durch die Solidarität mit den Ambulanzen, die während der Proteste nicht in der Lage waren, all die verletzten Demonstrierenden in die Krankenhäuser zu bringen, erlangten sie – wie viele andere marginalisierten Gruppen – eine soziale Anerkennung. Dieser Punkt ist insofern von großer Bedeutung, als sich dadurch Perspektiven und Möglichkeiten auf eine alternative Zukunft beziehungsweise auf eine neue Gesellschaft auftun.</p><p>Bei den <a href="https://www.rosalux.de/news/id/40919/die-bewegung-braucht-fuehrung-organisation-und-klare-perspektiven/">im August stattgefundenen Protesten</a> im Irak fehlte es noch an Führung, Organisation und klaren Perspektiven. Heute scheinen diese Mängel Dank der Besetzung des Tahrir-Platzes und den sich darin entwickelten Instrumenten der Selbstorganisation zumindest teilweise überwunden zu sein.</p><h2><b>Perspektiven der Demokratisierung</b></h2><p>Bei den irakischen Protesten handelt es sich also um weitaus mehr als nur um einen neuen <a href="https://roarmag.org/essays/arab-spring-achcar-interview/">„Frühling“</a>; die Protestierenden charakterisieren ihre Bewegung vielmehr als „(Oktober-)Revolution“. Die desillusionierten Menschen im Irak haben durch den sowohl radikalen wie auch offenen Charakter der Proteste an politischer Kraft und Zukunftshoffnung gewinnen können. Wie grundlegend und weitreichend der Wandel des Bewusstseins der Protestierenden ist, erkennt man an der Verschiebung der Konfliktlinien und der Art der Opposition, samt ihren Folgen: Die politischen Akteure als Ganzes stellen für die Protestierenden das Problem dar. Dieser Aspekt ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, den unglaublich tiefen konfessionellen Charakter der Konflikte zu überwinden, der die Protestdynamiken der vergangenen Jahrzehnte bestimmte. Er wird bereits von den Protestierenden praktisch und täglich überwunden und stellt die Unmöglichkeit der Weiterführung konfessioneller Politik unter Beweis. Kaum jemand hatte eine solche Entwicklung erwartet. Doch plötzlich ist sie Realität und hat insofern den Namen „Revolution“ verdient; denn gestern noch war es ohne größeres Unglück möglich, das Leben zu verlieren, weil man zur falschen Zeit und am falschen Ort der falschen Konfession angehörte. Allerdings: der irakische Machtapparat wird diesbezüglich das „Unmögliche“ versuchen. Um am Leben zu bleiben wird er weiterhin mit gewaltsamer Unterdrückung reagieren – und auch darauf müssen sich die Protestierenden einstellen.</p><p>Die aktuelle <a href="https://revoltmag.org/articles/es-ist-notwendig-den-willen-der-menschen-von-unten-zu-erkennen/">Protestwelle im Mittleren Osten und in Nordafrika</a> kann Hinweise auf mögliche politische Ausgänge des irakischen Protests geben. Im Sudan und in Algerien haben die sozialen Bewegungen die Proteste und Mobilisierung lange aufrechterhalten, um so zu vermeiden, von Teilen der Regimes instrumentalisiert zu werden. Im Sudan konnte schließlich die <i>Sudanese Professionals Association</i> (SPA), eine Dachorganisation von 17 sudanesischen Gewerkschaften, die Stimmen der Plätze vereinen und so als von den Protesten legitimierter politischer Akteur mit dem Militär Verhandlungen für den demokratischen Übergang führen. In Algerien hingegen wurde bewusst darauf verzichtet, eine breit abgestützte politische Kraft zu gründen, um mit dem Regime einen demokratischen Übergang zu organisieren. Hier werden weiterhin Neuwahlen abgelehnt und die radikale Erneuerung des politischen Systems gefordert, welches mittels einer konstituierende Versammlung organisiert werden soll. In Ägypten schließlich unterdrückte das Regime von al-Sisi die aufkommende Bewegung von Beginn an gewaltsam. Die Festnahme von Tausenden von politischen Aktivist*innen schränkte die Wiederbelebung der sozialen Bewegung noch einmal massiv ein und erstickte sie letztlich relativ schnell im Keim.</p><p>Der Ausgang der Proteste im Irak wird ebenfalls im Wesentlichen von einem machtinternen und von einem bewegungsinternen Faktor abhängig sein. Was den ersten betrifft, so haben mit Blick auf den Irak die Parlamentswahlen im Jahr 2018 die Karten neu gemischt: Die populistischen Kräfte um al-Sadr wurden in den institutionellen Machtapparat integriert und diese spielen nun eine zentrale Rolle für die Machtbalance innerhalb des irakischen Schiitentums. Es ist schwer vorstellbar, dass offene Konflikte ausgetragen werden, die zur Stärkung der sozialen Proteste beitragen und so die Möglichkeiten eines radikalen Bruches erhöhen würden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie ein neues Machtgleichgewicht zwischen den sich teilweise konkurrierenden, teilweise zusammenarbeitenden Strömungen des politischen Schiitentums gefunden werden kann. Zudem wird sich zeigen müssen, wie groß die ökonomischen Möglichkeiten und der politische Wille der herrschenden Parteien für soziale Zugeständnisse sind.</p><p>In Bezug auf die inneren Dynamiken der Bewegung, handelt es sich bei der Tahrir-Platz-Besetzung um einen fundamentalen qualitativen Sprung nach vorn. Einen eigenen, selbst-repräsentativen und organisierten Ausdruck der Plätze gibt es jedoch noch nicht. Es geht hier nicht darum, einen charismatischen Leader oder schlicht die avantgardistische Partei zu finden, welche die Bewegung führen wird. Es wird darum gehen, ein Netzwerk von popularen Organisationen – unabhängige Gewerkschaften, Kollektive von Arbeitslosen, Nachbarschafts-Räte, Student*innenorganisationen, feministische Kollektive und so weiter – von unten aufzubauen, das gleichzeitig radikale und unmittelbar umsetzbare politische Forderungen über die herrschenden Koordinaten hinaus entwickeln und verteidigen kann. Der Aufbau einer solchen organisierten Struktur stellt die größte Herausforderung aufseiten des Aufstands dar.</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
„Kein Hindernis wird die Hoffnung auf einen volksnahen und kommunalen Feminismus zerstören“2019-08-28T13:09:29.484314+00:002019-08-28T13:10:51.579297+00:00Aquarella Padillaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kein-hindernis-wird-die-hoffnung-auf-einen-volksnahen-und-kommunalen-feminismus-zerst%C3%B6ren/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>„Kein Hindernis wird die Hoffnung auf einen volksnahen und kommunalen Feminismus zerstören“</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="67549543_356194485300372_4958098877723967488_n.jpg" height="420" src="/media/images/67549543_356194485300372_4958.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Mujeres por la Vida</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Das Interview enstand als Teil der</i> <a href="https://www.facebook.com/events/460243271480297/"><i>Solidaritätskampagne</i></a><i> des</i> <a href="https://www.facebook.com/BloqueLAberlin/"><i>Bloque Latinoamericano Berlin</i></a><i> mit venezolanischen sozialen Bewegungen, die weiter Widerstand leisten gegen die Folgen der Wirtschaftsblockade, die politische Krise und die wiederholten Interventionsversuche imperialistischer Kräfte.</i></p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Hallo liebe Genossinnen von</b> <b><i>Frauen für das Leben (Mujeres por la Vida)</i></b><b>. Erzählt uns doch erstmal etwas über euer Projekt. Wer sind</b> <b><i>Mujeres por la Vida</i></b><b>?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Wir sind eine autonome und selbstverwaltete feministische Organisation. Durch die Förderung der aktiven Partizipation von Frauen aus den Armenvierteln, durch das Bereitstellen von Bildungsräumen auf den Prinzipien der Volksbildung beziehungsweise Bildung von unten und durch die Schaffung von Räumen gegenseitiger Unterstützung, Fürsorge und Selbsthilfe unter Frauen, tragen wir zum Aufbau von lokalen, selbstverwalteten Gruppen bei. Dort werden feministische Strukturen, Beziehungen und Lebensformen entwickelt, die sich den kapitalistischen und patriarchalen Werten entgegenstellen.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Seit wann gibt es euch denn schon und wo lagen und liegen eure Arbeitsschwerpunkte?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> <i>Mujeres por La Vida</i> entstand ursprünglich im Jahr 1992 als Kollektiv städtischer, armer Frauen in La Carucieña, Barquisimeto, der Hauptstadt des Staates Lara. Die Stadt befindet sich 450 Kilometer östlich von Caracas. Wir schlossen uns zusammen, um gegen die Armut und die schlechten Lebensumstände unserer Gemeinschaft zu kämpfen, die die Konsequenz der Implementierung des neoliberalen Systems in unserem Land waren. Besonders hart traf er aber die Frauen. Wir reden deshalb von einer <i>Feminisierung der Armut</i>. Gleichzeitig kämpften wir gegen die Diskriminierung und Gewalt, die Frauen erfahren – allem voran gegen häusliche Gewalt. Wir hatten damals keine legalen Instrumente, um uns zu schützen. In den 90er Jahren bestand unsere Arbeit in der Organisation von Vorträgen und Diskussionen, Film-Clubs, Demonstrationen und Radioprogrammen, um die Diskriminierung und Unterdrückung zu verurteilen, der wir als Frauen und und als Arme ausgesetzt waren. Wir waren auch an den damaligen gesellschaftlichen und politischen Prozessen beteiligt, die zum Ausbruch der bolivarianischen Revolution führten. Sie nahm ihren Anfang mit dem Wahlsieg des Comandante Hugo Chávez und dem verfassungsgebenden Prozess im ganzen Land. Seit dem Jahr 2000 arbeiten wir bewusst feministisch und mit einem Verständnis von Patriarchat, zu dem uns ein Kollektiv von öko-feministischen Genossinnen inspiriert hatte. In dieser Zeit sammelten wir unsere ersten Erfahrungen in der Organisation feministischer Bildung. Wir nannten das <i>Schule der freien Frauen</i>.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Und mit dem Aufkommen der Bolivarianischen Revolution hat sich eure Arbeit dann verändert?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> In den Jahren zwischen 2000 und 2005 kam es in Venezuela zu einer Vielzahl von politischen Ereignissen; darunter der gescheiterte Putschversuch, der Unternehmerstreik, das <i>Widerrufsreferendum</i> [1] und andere. All diese Geschehnisse erforderten die Mobilisierung der sozialen Bewegungen und der Bevölkerung im Allgemeinen für Aktionen zur Verteidigung des revolutionären Prozesses. In diesen Jahren fokussierte sich ein Großteil unserer Bemühungen auf die Unterstützung entsprechender Aktionen. Ab dem Jahr 2006 nahmen wir dann schließlich die Arbeit innerhalb der Gemeinschaft wieder auf. Dieses Mal mit Frauen, die sich in Nachbarschaftsinitiativen und Arbeiter*innenorganisationen engagierten. Dies ermöglichte es uns, den Kontakt zu jungen Frauen aufzubauen. Sie schufen zwei neue Kollektive innerhalb von <i>Mujeres por la Vida</i>: das Kollektiv der <i>Lunáticas</i> und die<i> Mariposas Libertarias (Libertäre Schmetterlinge)</i>, womit wir uns als Bewegung etablierten. Das<i> Lunáticas</i> Kollektiv hat in den vergangenen Jahren verschiedene Erfahrungen in der Entwicklung von Medienformaten gesammelt, darunter die Videoproduktion <i>Abolir el Patriarcado es la Revolución (Das Patriarchat abzuschaffen ist die Revolution)</i>, oder auch die Gemeinschaftsradio- und Fernsehprogramme <i>Juntas y También Revueltas (Zusammen und rebellisch).</i></p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Wie hat sich eure Arbeit seitdem weiter entwickelt? Habt ihr neue Arbeitsfelder erschließen können?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Unsere Arbeit konzentriert sich inzwischen auf folgende Arbeitsfelder: Erstens auf die Stärkung der Teilhabe von und Führung durch Frauen in lokalen Organisationen und sozialen Bewegungen. Erreicht wird das durch feministische Bildung und Begleitung persönlicher und kollektiver Prozesse, die das Wachstum und Empowerment erleichtern. Zweitens die so genannte <i>Feministische Pädagogik</i>. Hier entwickeln wir Bildungsprozesse, die auf den Konzepten und Methoden der befreienden <i>Volksbildung</i> [2] basieren, und im Rahmen derer Frauen ihre eigenen Prozesse steuern. Wir arbeiten auch daran, die großen Themen des Kapitalismus und des Patriarchats mit dem persönlichen Leben jeder Einzelnen und den Beziehungen zwischen uns allen in Verbindung zu bringen. So entdecken wir das Gemeinsame unserer Probleme und die Notwendigkeit des kollektiven Handelns. Drittens schaffen wir durch Präventions- und Verurteilungskampagnen Aufmerksamkeit für Gewaltsituationen, in denen wir als Frauen leben. Ein weiterer Teil der Arbeit besteht in der Begleitung von Frauen in Gewaltsituationen und in ihren persönlichen Prozessen, sowie rechtliche und psychologische Beratung. Viertens liegt unsere Arbeit in der Verteidigung und Förderung sexueller und reproduktiver Rechte. Fünftens schaffen wir Räume zur Unterstützung von Frauen untereinander, durch Räume für Begegnung und gemeinsames Leben, in denen jede das Gefühl hat, dass ihre Worte und ihre Teilnahme geschätzt wird. Räume, in denen sie gegenseitige Akzeptanz und Respekt für alle leben, in denen die Freundschaft zwischen Frauen aufgebaut wird. Lernorte, an denen wir uns ruhig, behaglich und auf Augenhöhe fühlen. So können wir uns für die Teilnahme in anderen Räumen stärken und Veränderungen hin zu den Werten führen, an die wir glauben. Es ist nicht nur ein weiteres Treffen, sondern ein Moment, nach dem wir uns sehnen, weil er uns nährt, es uns ermöglicht, tief durchzuatmen und stärker herauszukommen. Sechstens unsere feministischen Volksmedien: eine neue Form der Medien, die es uns erlaubt, kritische Analysen und neue Inhalte zu produzieren, und uns dabei gegen die patriarchalen Rollenbilder und Stereotypen, Diskriminierung, Ungleichheit und geschlechtsspezifischer Gewalt zu positionieren. Genau diese Aspekte liegen dem patriarchalen System zugrunde und werden vor allem durch die großen Medien vermittelt. Mit <i>Juntas y También Revueltas (Zusammen und rebellisch)</i> als unserem zentralen Radio-Sender und Ausdruck unserer Kämpfe, zeigen wir auch unsere Essenz, unsere Werte und Symbole, und multiplizieren die Stimmen derer, die das würdevolle Leben verteidigen.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Wie schätzt ihr heute den Ausgangspunkt feministischer Kämpfe in Venezuela ein?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Die führende Beteiligung von Frauen an feministischen, sektoralen oder lokalen Organisationen ist in unserem Land von großer Bedeutung. Wir haben in vielen Bereichen Führungsaufgaben übernommen. Dies ging jedoch nicht mit einer Veränderung der Verantwortlichkeit in den Betreuungs- und Pflegetätigkeiten einher, die hauptsächlich auf Frauen zurückfallen und meistens eine Doppel- und Dreifachbelastung bedeuten. Patriarchale Vorstellungen setzen darüber hinaus die Unterordnung und Wertlosigkeit der Frauen im öffentlichen Leben fort. Daraus ergibt sich eine Reihe von Schwierigkeiten für Frauen, ihre gesellschaftliche Teilhabe und Führungsaufgaben in der Gemeinde aufrecht zu erhalten.</p><p>Erschwert wird das Ganze auch durch die Folgen der sozioökonomisch schlechten Lage der letzten Jahre. Sie ist das Ergebnis einer Wirtschafts- und Finanzwirtschaftsblockade ausländischer Mächte. Dazu kommen Diebstähle von Vermögenswerten der Nation, und interne Probleme, wie Korruption und Bürokratie. Im Umkehrschluss bedeutet das für Frauen eine Doppelbelastung: einerseits die grundlegenden wirtschaftlichen Probleme zu Hause lösen zu müssen und andererseits die Grundbedürfnisse der Gemeinschaft zu erfüllen. Das erschwert den Frauen, an sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu denken. Immer mehr schlägt sich diese Doppelbelastung in physischer und psychischer Verausgabung nieder. Es gibt nur wenig Räume für Rückhalt und Begleitung, wo es möglich wäre, über kollektive Strategien nachzudenken, oder kreative Alternativen zu dieser Realität zu entwickeln.</p><p>Es ist notwendig von der Basis der Frauen aus eine Agenda des Kampfes für die Schaffung von öffentlichen Politiken zu entwickeln, die nicht auf Almosen basieren und das Konzept der vermeintlich schutzbedürftigen, passiven Frauen noch verstärken. Wir als Volksbewegung haben in Abstimmung mit anderen Organisationen, Gemeinden und gesellschaftlichen Sektoren eine Reihe von Aktivitäten, Seminaren und Treffen durchgeführt, um genau eine solche Agenda zu entwickeln. Sie soll es uns erlauben, Respekt für unsere Rechte auf politische Beteiligung und Führungspositionen einzufordern. Darüber hinaus werden auf diese Weise Prozesse der Autonomie und der Selbstbestimmung über unsere Körper gestärkt, sowie Gemeinschaftsmechanismen für ein Leben frei von Gewalt an Frauen geschaffen. Wir erarbeiten Strategien, um die Hausarbeit gerechter zu verteilen, schaffen Zugang zu Informationen und Kampagnen über sexuelle und reproduktive Rechte und ermöglichen damit die Konsolidierung unserer politischen Führung innerhalb der Bewegung für Volks- und Frauenmacht.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Welche Vorschläge hat</b> <b><i>Mujeres por la Vida</i></b><b> konkret? Worauf gründet ihr Euer politisches Handeln und welche Pläne habt ihr für heute und für die Zukunft?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Seit mehr als 27 Jahren betonen wir die Notwendigkeit, neue emotionale Bindungen zwischen Frauen zu schaffen. Es geht aber nicht nur um Freundschaften, wir wollen Räume für Reflektion und die Stärkung von feministischer Führung schaffen. Erst das erlaubt uns, gemeinsam zu kämpfen und größere Hebel gegen das patriarchale, kapitalistische, imperialistische und koloniale System in Anschlag zu bringen.</p><p>Projekte, an denen wir arbeiten, sind unter anderem: 1) Die Einrichtung einer Bürgerbeauftragten für Frauen <i>(Defensoría de la Mujer Hermana Juanita)</i> im Südwesten der Stadt Barquisimeto, die auch für die Gemeinden Ataroa und Loma de León ansprechbar ist. 2) Die Gründung des feministischen Ausbildungszentrums <i>María Jota Berrio Rodríguez</i> in der kommunal-feministischen Volksschule <i>Ana Torres.</i> 3) Unser Anstoß zur Bildung der Ausschüsse für Frauen und Geschlechtergleichstellung in 40 Gemeinden des Bundesstaates Lara. 4) Seit 2017 die Teilnahme an der feministischen Plattform <i>Ni Una menos (Keine mehr!)</i> zur Organisation von Veranstaltungen zum 8. März. 5) Die Teilnahme an internationalen und nationalen Frauentreffen, darunter das <i>Plurinationale Treffen</i> in Argentinien, das Lateinamerikanische Frauentreffen<i> ELLA</i> und die Bewegung <i>Mujeres de Alba</i>. 6) Sechstens die Produktion und Ausstrahlung des Radiosenders <i>Juntas y También Revueltas</i>. 7) Medienerfahrungen wie die Ausstrahlung des Dokumentarfilms <i>Abolir el Patriarcado es la Revolución (Die Abschaffung des Patriarchats ist die Revolution)</i> oder der Fernsehsendung <i>Juntas y También Revueltas (Zusammen und rebellisch)</i>. 8) Die Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus La Carucieña in Sachen sexueller und reproduktiver Rechte. 9) Die weiterbildende Begleitung für anderer Organisationen, wie zum Beispiel der Genossenschaft <i>8 de Marzo (8. März)</i>, dem<i> Casa Vera (besetzten Gebäude)</i>, sowie von 12 Kommunen des Bundesstaates Lara zu Themen wie Patriarchat, feministische Volksmedien, ein Leben ohne Gewalt für Frauen, feministische Kommunen und vieles mehr. 10) Die gezielte Förderung und Moderation der vorbereitenden Frauenversammlungen des <i>Ersten Venezolanischen Frauenkongresses</i>. Und 11) das sozio-produktive Training für Frauen in Lebensmittelverteilungsprozessen in ihren territorialen Organisationen (Gebiete der Gemeinden Ataroa, Loma de León und Pavia), hauptsächlich in der Entwicklung von Reinigungs- und Körperpflegeprodukten.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Venezuela erlebt derzeit eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise. Eine der Folgen ist die wachsende venezolanische Diaspora in aller Welt. Wie gestalten sich die Folgen für die venezolanischen Frauen? Wie wird mit dieser Situation umgegangen?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Wie bei jedem Massenmigrationsprozess sind es vor allem Frauen und Kinder, die sich in gefährlichen und verletzlichen Situationen wiederfinden. Sie sind auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, getrieben durch die aktuelle Situation im Land, die den ärmsten Menschen keine andere Wahl mehr lässt. Darüber hinaus glauben sie, dass in den Ländern, in die sie flüchten, eine bessere Zukunft möglich sei. Dabei ist den meisten nicht bekannt, dass die Migrations- und Wirtschaftspolitik dieser Länder jenen, die als Migrant*innen gelten, kaum Rechte garantiert.</p><p>Die Zahl venezolanischer Frauen, die unter häuslicher Gewalt oder Arbeitsgewalt leiden, oder im Ausland ermordet werden und ihre Söhne und Töchter oft schutzlos zurück lassen, ist beunruhigend hoch. Oft enden die Frauen in Netzwerken des Menschenhandels, werden als Sexsklavinnen ausgebeutet und verkauft, oder leiden unter prekären Arbeitsbedingungen, die weder ihren Lebensunterhalt, noch die Möglichkeit von Geldüberweisungen an die Familie garantieren.</p><p>In diesem Kontext ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es Situationen gibt, in denen Mütter, ob alleinerziehend oder mit ihren Ehemännern, migrieren und die Söhne und Töchter in der Obhut eines anderen Familienmitglieds zurücklassen, das körperliche, psychische und sexuelle Gewalt gegen Kinder ausübt.</p><p>Deshalb ist es notwendig, Netzwerke der Fürsorge und Solidarität mit sozialen Organisationen in den Nachbarländern aufzubauen, die diese Frauen, die sich ohne jegliche Unterstützung für die Emigration entscheiden, begleiten oder unterstützen können. Diese Netzwerke können einerseits Informationen über die Möglichkeiten vor Ort weitergeben, sollten andererseits aber auch für die Hinterbliebenen, soziale und produktive Projekte als Vorschlag alternativer, selbstverwalteter und solidarischer Wirtschaft vorantreiben. So werden wir der kapitalistischen Logik mit ihrer Spekulation und Hyperinflation die Stirn bieten. Zu unseren Initiativen gehört zum Beispiel die Wiederaufnahme einer Produktionsstätte zur Herstellung von Reinigungsprodukten und Tomatensauce, um einen Beitrag zur Finanzierung des Familieneinkommens zu leisten.</p><p>Kein Hindernis wird unsere Hoffnung und unsere Träume eines volksnahen und kommunalen Feminismus zerstören. Davon sind wir überzeugt nach all dem, was wir bereits erreicht haben. Jenseits der starren, bürokratischen Logik, die nicht erlaubt, interne Fehler und Mängel zu korrigieren, werden wir die Schwierigkeiten überwinden, indem wir Allianzen schmieden und unsere Strategien zur Verteidigung der Revolution der Frauen fortführen. Wir werden trotz aller Probleme weiterhin die Protagonistinnen unserer eigenen Prozesse sein.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Von welchen Schwierigkeiten sprecht ihr da genau, die ihr derzeit als Bewegung durchlebt?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Es sind Probleme, die mit der gegenwärtigen politischen Konjunktur zu tun haben. Zum Beispiel gingen 2018 drei unserer Genossinnen aus persönlichen Gründen außer Landes. Andere haben sich aus ökonomischen Gründen der institutionellen Arbeit im Staat angeschlossen. Wieder andere Genossinnen aus den Gemeinden tun ihr Bestes, können dabei aber dem Gefühl der physischen und psychischen Belastung für die vielfältigen Aufgaben, die sie ausführen müssen, nicht entgehen. Darunter fallen die Nahrungsmittelsuche, Kochen mit Brennholz, die Verwaltung der häuslichen Finanzen und fehlender Zugang zu Medizin und Verhütungsmitteln. Für das dritte Quartal 2019 hoffen wir jedoch wieder einige Aktivitäten mit mehr Kraft und Hoffnung neu aufnehmen zu können. Dank der internationalistischen Solidarität konnten wir bislang 30 dauerhafte Empfängnisverhütungsmittel erwerben, die an Frauen in den prekärsten Vierteln weitergegeben werden. Durch den Erlös des Verkaufs unserer Broschüren konnten wir den Posten der Bürgerbeauftragten für Frauen <i>Hermana Juanita</i> wieder aufleben lassen.</p><p></p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]:</b> <b>Wie können wir uns von hier aus mit eurer Bewegung solidarisieren?</b></p><p></p><p><b>[MplV:]</b> Um Beziehungen der Solidarität zu schaffen, müssen wir unsere verschiedenen Realitäten verstehen lernen. Deshalb beteiligen wir uns an der Initiative, Online-Video-Foren vorzubereiten, die dazu beitragen, das Geschehen in Venezuela aus der Perspektive organisierter Frauen, die in armen Gegenden leben, medial zu verbreiten. Wir glauben, dass es wichtig ist, mit Hilfe von Internetplattformen den Zugang zu Informationen zu erleichtern. Wir informieren dabei nicht nur über unsere Projekte, sondern auch über Neuigkeiten im Zusammenhang mit dem Kampf der Frauen zur Verteidigung unseres Lebens und dem politischen Befreiungsprojekt in den Kommunen.</p><p>Das alles tun wir zur Schaffung einer öffentlichen Politik der Gerechtigkeit, insbesondere der sozialen Gerechtigkeit. Wir haben unseren Beitrag immer auf eine selbstverwaltete Art und Weise geleistet, müssen jedoch ehrlich anerkennen, dass die Situation des Landes uns beeinflusst hat, unsere eigenen Ressourcen unzureichend sind und die hohen Lebenshaltungskosten uns belasten. Obwohl wir uns nicht unterkriegen lassen, ist es doch schwieriger geworden, unsere Arbeit auf andere hilfsbedürftige Sektoren auszudehnen und bereits konsolidierte Projekte aufrecht zu erhalten. Aus diesem Grund können jegliche finanziellen Beiträge, die geleistet werden, dazu beitragen, unsere hart erkämpften Erfolge aufrechtzuerhalten.</p><p></p><p><b>Aquarella [Bloque]: Vielen Dank, liebe Genossinnen, für Eure Zeit.</b></p><p></p><hr/><p></p><p><i>Interview: Aquarella Padilla, Bloque Latinoamericano Berlin</i></p><p><i>Übersetzung: Orsolya Zilahy, Julia Walendzik</i></p><p></p><hr/><p></p><p><b>Anmerkungen:</b></p><p></p><p><b>[1]</b> <i>Widerrufsreferendum:</i> Mit dem erfolgreichen Widerrufsrerendum im Jahr 2004 wurde über die Dauerhaftigkeit von Hugo Chávez im Präsidialamt des Staates gestimmt. In Folge des offiziellen Ergebnisses war er fortan nicht mehr zu widerrufen. Hintergrund ist Artikel 72 der venezolanischen Verfassung: <i>„Für alle diejenigen, die durch allgemeine Wahlen in Ämter in Verwaltung und Rechtsprechung berufen worden sind, kann das Mandat widerrufen werden. Nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit, für die der Amtsträger oder die Amtsträgerin gewählt wurde, können mindestens zwanzig Prozent der in der entsprechenden Verwaltungseinheit eingetragenen Wahlberechtigten die Durchführung einer Volksabstimmung beantragen, um dessen oder deren Mandat zu widerrufen.“</i></p><p></p><p><b>[2]</b> Gemeint ist die Tradition der<i> Pädagogik der Unterdrückten</i> nach Paulo Freire in ihren zahlreichen Varianten gesellschaftlicher Organisation in Lateinamerika.</p><p></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
„Die wahre Kritik steckt im Herzen eines Volks, das nicht aufgibt“2019-05-27T13:38:27.355753+00:002019-05-27T13:42:45.917304+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-wahre-kritik-steckt-im-herzen-eines-volks-das-nicht-aufgibt/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>„Die wahre Kritik steckt im Herzen eines Volks, das nicht aufgibt“</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="51400212_281475642529704_1477159589488099328_o.jpg" height="420" src="/media/images/51400212_281475642529704_1477.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">bloquelatinoamericano</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Am 28. Mai veranstaltet die marxistische Tageszeitung junge Welt eine Konferenz mit dem Titel „Hände Weg von Venezuela – Solidarität mit den progressiven Kräften Lateinamerikas“. Neben deutschen linken Gruppen und Parteien beteiligen sich auch migrantische Solidaritätsgruppen an der Konferenz. re:volt-Redakteur Jan Schwab sprach mit dem lateinamerikanischen Bündnis Bloque Latinoamericano, das die Konferenz unterstützt.</i></p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: Hallo liebe Genoss*innen von</b> <a href="https://www.facebook.com/BloqueLAberlin/"><b><i>Bloque Latinoamericano</i></b></a><b><i>.</i></b> <b>Könntet ihr uns etwas zu eurer Arbeit erzählen? Wer seid ihr und was macht ihr schwerpunktmäßig?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Wir sind ein Zusammenschluss von linken lateinamerikanischen Kollektiven und Einzelpersonen in Berlin und bundesweit. Der <i>Bloque Latinoamericano</i> entstand vor einem halben Jahr als Antwort auf den Vormarsch der Faschist*innen in Lateinamerika und die Geschehnisse in Chemnitz. Auf keinen Fall konnten wir danach weiter unorganisiert bleiben. Weder als Latinos/as in der Diaspora, noch als Migrant*innen in Deutschland. Eines unserer Ziele ist, die lateinamerikanischen Kämpfe in Berlin zu vereinen, um die Kämpfe unserer Völker auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu unterstützen. Ein anderes ist die Stärkung linker migrantischer Politik in Deutschland. Dahinter stehen für uns die Kämpfe um Würde und Demokratie, antikoloniale, feministische und antikapitalistische Kämpfe. Wir beteiligten uns in den letzten Monaten an zahlreichen Demonstrationen und Protesten gegen den Neo-Faschismus in Deutschland, die Regierung Bolsonaro in Brasilien und Moreno in Ecuador, gegen die imperialistische Intervention in Venezuela, oder für die Befreiung politischer Gefangener auf unserem Kontinent. Im April unterstützten wir eine Initiative kolumbianischer Organisationen in Europa und zogen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, um eine Anklage gegen die systematische Ermordung von Aktivist*innen in Kolumbien anzustrengen. Wir unterstützen darüber hinaus Gedenkveranstaltungen an unsere Genoss*innen, die ihr Leben im Kampf verloren haben, wie z.B. Marielle Franco in Brasilien und Berta Cáceres in Honduras. Am 8. März beteiligten sich die Frauen* des <i>Bloque Latinoamericano</i> an einem internationalistischen Protestmarsch in Berlin-Lichtenberg zusammen mit anderen migrantischen Frauen*kollektiven. Wir machen auch Solidaritätsarbeit mit dem kurdischen Befreiungskampf und unseren palästinensischen Genoss*innen, da wir verstanden haben, dass es sich in beiden Fällen um eine fundamental wichtige Arbeit in Deutschland handelt. Intern schaffen wir Räume für gemeinsame Diskussionen und Analysen und entwickeln unsere regionale Arbeit mit der lateinamerikanischen Community in Berlin.</p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: Seit Ende der 90er Jahre kamen in Lateinamerika immer mehr linke Regierungen an die Macht. Parallel dazu gab es immer wieder starke soziale Bewegungsproteste – von</b> <b><i>Ni una menos (Nicht eine weniger)</i></b><b> in Argentinien, über</b> <b><i>No+AFP</i></b><b> in Chile oder die Proteste für den Frieden in Kolumbien. Wo liegen eure Bezüge in der lateinamerikanischen Linken?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Die Kämpfe der Lateinamerikaner*innen sind so vielfältig wie die aus einem historisch kolonisierten, ausgeplünderten und sich in permanentem Widerstand befindenden Kontinent hervorgegangenen Identitäten. Wir sprechen von Geschichten der Kämpfe im Plural, weil die Wege der Lateinamerikaner*innen im Ringen um ihre Befreiung schon immer vielfältig waren und unter unseren „Völkern“ ebenfalls eine Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Weltanschauungen existieren. Die daraus entstehenden politischen Perspektiven gehen weit über den westlichen Bezugsrahmen hinaus. Und es ist genau diese Vielfalt und kollektive Erinnerung, die es uns verbietet, unsere Geschichte der Kämpfe auf die sogenannten „Linksregierungen“ der vergangenen Jahrzehnte zu reduzieren. Vor allem dann, wenn wir bedenken, dass jede einzelne Errungenschaft, alle Fortschritte in puncto sozialer Gerechtigkeit, Siege unserer Kämpfe waren – Kämpfe die uns Leben gekostet haben. Wir begleiten also als <i>Bloque Latinoamericano</i> die emanzipatorischen Ausdrücke unseres Kontinents. Wenn die Linksregierungen zu ihrer Zeit mit der Idee der Emanzipation, die eben nicht nur die letzten 10 oder 20 Jahre, sondern 500 Jahre zurückreicht, in Einklang standen oder stehen, dann werden wir ihre Politiken hier sichtbar machen. Wenn aber die Regierungen, auch die Linksregierungen, nach der Pfeife neoliberaler Interessen tanzen und Politiken gegen die Arbeiter*innenklasse lancieren, wenn sie unsere Ländereien und natürlichen Ressourcen an die multinationalen Konzerne verschachern, dann werden wir da sein und Widerstand leisten.</p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: In der deutschsprachigen Diskussion finden sich ja häufig sehr kritische Haltungen zu den lateinamerikanischen Linksregierungen. Wo seht ihr die Erfolge und die Fehler der lateinamerikanischen Linksregierungen und sozialen Bewegungen?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Wir glauben, dass es in der europäischen Linken eine sehr paternalistische Haltung gegenüber Lateinamerika gibt. Dieser Stempel der „alten und neuen Welt“ haftet auch den Analysen der Linken hierzulande an. Die Kritik aus der Ferne läuft immer Gefahr in der Analyse Leerstellen zu hinterlassen und zu verflachen. Die Geschichten unserer Völker, in der auch die Regierungen eine Rolle spielen, sind komplex und widersprüchlich. Wir im <i>Bloque Latinoamericano</i> haben verschiedene Positionen in Hinblick auf die sogenannten Linksregierungen unseres Kontinents. Allerdings stellt dieser Aspekt auch nicht den Hauptpunkt unserer Debatte, oder unserer Praxis dar. Im Gegenteil. Die gegebene Komplexität zwingt und verpflichtet uns, mit Bescheidenheit den Berichten von mobilisierten Völkern zuzuhören. Was häufig passiert ist, dass die Linke, auch die lateinamerikanische, den Fehler begeht, nur das zu „unterstützen“, was aus ihrer Position heraus am „genehmsten“ erscheint: dogmatisch abgeleitet aus ihrem theoretischen Verständnis, was sie bereits „kennt“. Im Umkehrschluss verfällt sie in eine „Kritik“, die mit der Zurückweisung von allem einhergeht, was sie selbst nicht zu verstehen vermag. Nehmen wir als Beispiel die internationalistische Unterstützung der Zapatistas in Mexiko von Europa aus, im Gegensatz zu den „vorsichtigen“ linken Positionierungen zu Venezuela. Wir müssen auch darauf hinweisen, dass eine sogenannte Linksregierung nicht notwendigerweise sozialistisch bzw. links ist. Die Linksregierungen Lateinamerikas bauen auf einer Entwicklungsökonomie auf, die das Leben der Völker bedroht und die Natur als unendliche Ressource zur Akkumulation von Kapital begreift. Eine Perspektive, die nicht mit dem Kapitalismus als System bricht. Andererseits waren und sind diese Regierungen weder homogen noch statisch. Sie wandelten sich mit der Zeit und das aufgrund der linken Bewegungen in der Region. Das ist etwa der Fall, wenn wir uns Hugo Chávez' ansehen. Hier konnte man beobachten, wie sein Diskurs sich wandelte, wie er sich radikalisierte und als Führer einer popularen Bewegung konsolidierte, die historisch, wie heute eine sozialistische Revolution fordert. Chávez machte sich auf Forderung des venezolanischen Volks und des Kontinents hin zum Anführer der bolivarischen Revolution. Aber in vielen Kapiteln unserer Geschichte wissen die Führungen nicht, wie sie auf den Pfad, den die Volksbewegung einschlägt, antworten sollen - auf eine Bewegung, die mit einer Machtstruktur kollidiert, die nicht bereit ist, ihre Privilegien zu verlieren. Fehler gibt es viele. Aber wichtiger als diese Fehler zu sehen, ist es, die Hoffnungen zu hinterfragen, die wir als soziale Bewegungen in diese Regierungen gesteckt haben und wie wir in vielen Fällen in Klientelpolitik gefangen geraten sind, die uns letztendlich demobilisiert hat. Es ist wichtig, klar zu haben, was wir aus dieser Erfahrung gelernt haben, und unseren Kampf fortzusetzen.</p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: Venezuela war ja nun eines der am weitesten links stehenden Modelle, z.B. was Verstaatlichungen und Partizipation anbelangt. Seht ihr da einen grundlegenden Unterschied in der Politik von Hugo Chávez zu Nicolás</b> <b>Maduro, oder hat letzterer schlicht Pech gehabt, dass die Krise des Wirtschaftsmodells in seine Amtszeit fiel?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Wir können uns erinnern, dass Chávez als ein Kandidat der Massen antrat, der eine Alternative zum neoliberalen Ausverkauf bot und mit dem sogenannten <i>Punto Fijo</i>-Abkommen brechen wollte. Dieser Pakt war unter zwei rechten Parteien geschlossen worden, die Venezuela für mehr als 40 Jahre regierten. Regierungen, die die reiche und ausbeuterische Klasse und ihren Erdölschatz schützten. Sie bildeten Streitkräfte und Städte nach Vorbild des begehrten US-amerikanischen und europäischen Lebensstils. Es genügt, sich eine Stadt wie Caracas anzusehen, um zu verstehen, wie bis heute eine immense Spaltung zwischen dem Venezuela des Reichtums und der Verschwendung und dem Venezuela der Armut und des Hungers das Land durchzieht. Die Rechtsregierungen, die eine Politik des antikommunistischen Terrors betrieben, verursachten Massaker und ließen Menschen verschwinden, in sogenannten „demokratischen Zeiten“. Es sind die gleichen Parteien, die sich heute als „neue Parteien“ und als „Alternative für ein neues Venezuela“ verkaufen wollen. Die Machtübernahme durch Chávez bedeutete einen Aufbruch, wie er niemals zuvor vom venezolanischen Volk erlebt wurde. Und sie stellt etwas dar, was schwierig durch politische Theorien zu erklären ist, weil es viel mit Würde und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu tun hat, mit einem individuellen wie kollektiven Prozess, der es ab den Sozialpolitiken der chavistischen Regierung schaffte, tiefgreifende Veränderungen in dieser so ungleichen Gesellschaft Venezuelas Ende der 90er zu bewirken. Millionen von Venezolaner*innen erhielten Zugang zu einer Gesundheitsversorgung und kostenloser sekundärer, wie universitärer Bildung. Darüber hinaus schuf man Orte der demokratischen Partizipation, wie die riesigen <i>Asambleas (Versammlungen)</i> im gesamten Land, vor allem in den historisch marginalisierten Regionen, auf dem Land und in den Kommunen der Indigenen, um eine neue Verfassung zu diskutieren und zu schaffen. Genauso wie die Etablierung der Kommunalräte als Orte der direkten Partizipation durch das Volk oder die Arbeiter*innen-Räte der Fabriken und Firmen, die verstaatlicht wurden, die in den ersten Momenten tatsächlich aber von den Arbeiter*innen selbst verwaltet wurden. Der Aufbau „einer neuen Gesellschaft“ stellte und stellt immer noch die Hoffnung nicht nur für das venezolanische Volk dar, sondern für die ganze Region.</p><p>Dennoch gibt es im Zuge dieses Aufbaus zwei entscheidende Faktoren, die zur Abkehr vom Weg führen, der im Aufbau des Sozialismus gerade erst eingeschlagen wurde. Zunächst der Verlust von Einflussräumen für die heimatlose und entfremdete bürgerliche Klasse, die immer versuchte, wieder zurück in die politische Machtposition zu gelangen, es mittels Wahlen aber nicht schaffte. Weil sie keine populare Unterstützung genoss, griff sie zurück auf die Zusammenarbeit mit dem US-Imperialismus, auf die Gründung gewalttätiger, destabilisierender Gruppen, auf Maßnahmen des ökonomischen Drucks, politische Verfolgung von kommunalen Anführer*innen und Bäuer*innen und die Prägung des internationalen Mediendiskurses von einem vermeintlichen <i>Failed State</i>. Auf gewaltvollen Protesten dieser „demokratischen Opposition“ wurden in den letzten Jahren Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, weil sie „wie Chavez-Anhänger aussahen“- Es ist mehr als offensichtlich, dass die so genannte venezolanische Opposition keinen demokratischen Weg zur Lösung des Konflikts sucht, für den sie selbst mit verantwortlich ist.</p><p>Auf der anderen Seite begann der bolivarische, durch Chavez angestoßene Prozess, der durch Kräfte des organisierten Volkes begleitet wurde, unter den Massen jedoch an Rückhalt zu verlieren. Die Gründe dafür waren, dass er nie den Staat beseitigte, der „das Volk vertreten“ wollte, sich immer weiter von den Interessen der Mehrheit entfernte und dafür partikularen Interessen annäherte. Mit den Regierungen Chávez und Maduro entstand eine neue politische Klasse, die sich in der politischen Macht einnistete und begann, die Räume der popularen Partizipation einzuschränken, sie sogar kriminalisierte, ebenso wie die Kritik aus den Reihen des Chavismus selbst. Womöglich trat der Prozess des Zerfalls erst nach dem Tod von Chávez deutlicher hervor. Tatsächlich bedient sowohl die rechte Opposition, wie auch die Regierung, missbräuchlich eines manichäischen und verkürzten Diskurses des „Bist du nicht mit mir, bist du gegen mich“. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass dieses Spiel seine Grenzen hat. Früher oder später wird das Volk anfangen sich zurück zu holen, was ihm genommen wurde. Es wird die Notwendigkeit sehen, sich in einer politischen Identität zusammen zu finden, die es ihm erlaubt, einen bislang noch unklaren Weg zu beschreiten. Ein weiteres Element ist, dass es sich bei der venezolanischen Gesellschaft um eine patriarchale, katholische Gesellschaft handelt, deren Geschichtserzählung voll mit großen Helden und Schurken ist, die in Maduro aber keinen empathischen Führer finden konnte - anders als in Chávez, der den Archetypen des schützenden Vaters und Erlösers repräsentierte. Die venezolanische Krise ist nicht nur eine ökonomische, sondern eine tiefgehende moralische Krise. Eine Krise, von der wir glauben, dass sie die Perspektive der kontinentalen Befreiung schwer getroffen hat.</p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: In der deutschsprachigen Linken wird sich in Bezug zu Venezuela ja sehr ambivalent positioniert. Die Mehrheit spricht sich gegen den Putsch aus, entsolidarisiert sich aber zugleich mit der Regierung Maduro. Ein Teil der Linken hierzulande spricht, wie die westlichen Medien von einem „autoritären Regime“. Was haltet ihr von solchen Positionen?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Venezuela, wie früher auch Kuba, ist eines der bevorzugten Ziele der Diffamierung durch die transnationalen Medien. Es handelt sich dabei um ein Kriegswerkzeug, das eine militärische Intervention, den Raubzug auf die Ressourcen des Landes und die Einmischung anderer Regierung in die souveränen Entscheidungen des venezolanischen Volks rechtfertigen soll. Diese Medien sagen uns, über welche Länder „wir besorgt sein sollten“ und über welche nicht, wann wir ein im Fernsehen übertragenes Massaker akzeptieren sollen, wer die Terrorist*innen sind und wer nicht, welches Regime autoritär ist und welches nicht. Deshalb bekümmert Venezuela derzeit die gesamte Welt, da es dort angeblich ein sehr schlimmes autoritäres „Regime“ gäbe, welches die Menschenrechte attackiere. Und kann es dann nicht sein, dass vereinzelte, verfälschte Informationen sich am Ende in „Analysen“ verwandeln, inklusive jene der globalen Linken? Das ist unserer Ansicht nach etwas wirklich Besorgniserregendes, weil jene, die am lautesten die Fahne der „Menschenrechte“ in Venezuela schwenken, die gleichen Parteien sind, die 40 Jahre lang das Gesetz zur Ausrottung des Kommunismus angewandt haben. Und das, während jene, die am meisten betroffen waren von den Widersprüchen der Macht, die Anführer*innen der Bauernverbände, die Arbeiter*innen und die chavistischen Kommunen sind, die sich mutig gegen die Korruption, die Nachlässigkeit und den Klientelismus eingesetzt haben. So wie die Krise alle unterschiedlich hart getroffen hat, trifft auch nicht jede „Kritik“ ins Schwarze. Bei Staatsstreichen, dem Aufbau und der Finanzierung bewaffneter Gruppen mit faschistischen Praktiken, der Einforderung einer Militärintervention, einer Politik der Bestrafung und des Aushungerns eines Volks durch ein Embargo, kann man nicht von „Kritik“ sprechen. Wirkliche „Kritik“ ist die interessante Debatte, die die venezolanische Gesellschaft führt, die von ihr entwickelten Mechanismen des Überlebens und der Solidarität, die mit einem tiefen antiimperialistischen Gefühl einhergeht. Aber das ist etwas, was die Medien nicht bringen und was die große Mehrheit der deutschen, wie internationalen Linken, deren Informationsquellen die gleichen Meiden sind, nicht hört. Das soll nicht heißen, dass wir verneinen, dass Venezuela eine schwere Krise durchläuft. Das Land bleibt weiterhin und auf lange Sicht abhängig von der Ausbeutung des Rohöls und dem Verkauf seiner natürlichen Ressourcen. Ein Problem, das eine schwere Umweltkrise hervorgebracht hat. Es handelt sich um ein Land, das es weder geschafft hat, seine Ländereien produktiv zu machen, noch die Politik der Landzurückgewinnung weiterzuführen oder wirkliche Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion zu erwirken. Die wahre Kritik steckt im Herzen eines Volks, das nicht aufgibt, das glaubte, der Moment der Gerechtigkeit und des Aufbaus des Sozialismus sei gekommen und trotzdem weiter in einer äußerst prekären Situation für das Leben, die Autonomie und die Befreiung kämpft.</p><p>Die Mehrheit der deutschen Linken positioniert sich leider überhaupt nicht, noch äußert sie sich zur Situation in Venezuela. Hierzulande tappen wir wieder in die Polarisierungs-Falle, d.h. die Realität nur in zwei Polen zu sehen. Wir glauben, dass die deutsche Linke, ebenso wie jede andere Linke, sich häufig nicht traut, zuzuhören und über den eigenen Tellerrand zu schauen, die ihr theoretischer Bezugsrahmen darstellt. Es ist kein Widerspruch gegen den Staatsstreich der USA mit Guaidó zu sein und die Regierung von Maduro nicht zu unterstützen. Maduro nicht zu unterstützen, heißt auch nicht automatisch, den wachsenden Faschismus auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu unterstützen. Das Problem fängt da an, wo man die lebendigen Kräfte nicht kennt, die sich vor Ort organisieren und mobilisieren, sondern eine Position beansprucht, die auf verzerrten Informationen beruht.</p><p>Wir erwarten von einer deutschen Linken, dass sie eine klare Position gegen die freche Einmischung der deutschen Regierung in Venezuela und dem gesamten Kontinent einnimmt, d.h. ihr neokoloniales Machtspiel, ihre Unterstützung der Aushungerungspolitik gegen Venezuela oder ihre Unterstützung für Guaidó und die Lima-Gruppe. Darin unterscheidet sie sich nicht von den anderen imperialistischen Mächten, die sich die Kuchenstücke auf Kosten der Souveränität eines Volkes untereinander aufteilen. Wir würden hier gerne mehr wirkliche Kritiken an den kolonialen Politiken der „Europäischen Demokratie“ sehen. Für uns ist der Kampf kein abstraktes Konzept von Stellungnahmen aus der Distanz, über Dinge die uns nicht berühren oder weh tun. Wir reden hier über das Leben von Millionen von Menschen, wir reden von der Enthauptung einer ganzen Gesellschaft. Die Debatte ist notwendig, aber nur unter der Bedingung der internationalen Solidarität, der internationalistischen und revolutionären Verpflichtung, die einen Krieg, der vor den Toren unseres Kontinents steht, sichtbar machen und hoffentlich auch verhindern kann.</p><p></p><p></p><p><b>Jan [re:volt]: Ihr mobilisiert auch zu dem Kongress „Hände Weg von Venezuela – Solidarität mit den progressiven Kräften Lateinamerikas“. Warum unterstützt ihr die Initiative der Tageszeitung junge Welt?</b></p><p><b>Bloque Latinoamericano:</b> Zwischen dem 28. und 29. Mai hat der deutsche Außenminister Heiko Maas zur Konferenz der „Lateinamerika-Karibik Initiative“ ins Auswärtige Amt geladen. Es kommen zahlreiche Außenminister*innen aus Lateinamerika und der Karibik, um sich unter die geopolitische Strategie des deutschen Imperialismus unterzuordnen. Das Verhalten der Merkel-Regierung hat bereits hinreichend ihre Unterstützung für die Intervention in Venezuela gezeigt. Sie war eine der Ersten, die Guaidó die Unterstützung zusagte, als dieser sich selbst Ende Januar zum Interims-Präsidenten Venezuelas ernannte. Während seines Besuchs vor einigen Wochen, kokettierte Maas mit den faschistischen Regierungen Kolumbiens und Brasiliens und traf sich mit den Vertreter*innen des versuchten Putsches in Bogotá. Als Thema ist Venezuela in der deutschen Gesellschaft und Linken derart marginalisiert, dass es wichtig ist, die existierenden Initiativen zu unterstützen und eine vereinte Front gegen Krieg und deutschen, wie US-Imperialismus zu bilden, die gleichermaßen unseren Kontinent bedrohen. Wir hoffen, dass die Konferenz „Hände weg von Venezuela - Solidarität mit den progressiven Kräften Lateinamerikas“ die progressiven Kräfte in Berlin zusammenschweißt und unseren Widerstand hier im Herzen der Bestie stärkt. Wir hoffen euch dort zu sehen!</p><p></p><p></p><img alt="59952418_2143864252316149_4465420477665378304_n.jpg" class="richtext-image full-width" height="417" src="/media/images/59952418_2143864252316149_4465420477665378304_.width-800.jpg" width="800"><p></p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Neoliberaler Aufstand in Nicaragua2018-04-23T14:10:13.673607+00:002018-04-23T14:14:29.121992+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/neoliberaler-aufstand-nicaragua/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Neoliberaler Aufstand in Nicaragua</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="AufstandNicaragua2" height="420" src="/media/images/Nicaragua_Bild_Kopie.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Opensource</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Seit
Mitte April brennen Nicaraguas Straßen. Anlass der anhaltenden
gewaltsamen Proteste im ganzen Land ist eine jüngst von der
sandinistischen Ortega-Regierung dekretierte <a href="http://100noticias.com.ni/publican-en-la-gaceta-las-reformas-inss/">Renten-
und Sozialreform</a>.
In Nicaragua ist das Sozialversicherungs- und Rentensystem so
organisiert, dass ArbeiterInnen, UnternehmerInnen und der Staat
jeweils Teile des allgemeinen Sozialhaushalts finanzieren. Das
Dekret, das das Gesetz 975 betrifft, in dem unter anderem der
Sozialhaushalt und das Rentensystem gesetzlich gefasst sind, sieht
nun eine Steigerung der Sozialabgaben aller drei Partien sowie eine
Kürzung der Renten vor. So sollen in Zukunft RentnerInnen 5 Prozent
ihrer Rente an den Staat abgeben, dafür jedoch leichter Zugang zur
Gesundheitsversorgung erhalten. ArbeiterInnen müssen 0,75 Prozent,
UnternehmerInnen ab Juli 2018 5 Prozent, und dann in Staffelung bis
2020 weitere 1,5 Prozent mehr für Invalidenrente, Arbeitsschutz,
Mutterschaftszuschuss, Arbeitsunfähigkeitsfälle und Rente zahlen.
Die Anpassung erfolgt, da das Sozialsystem Nicaraguas mit <a href="https://www.telesurtv.net/news/nicaragua-condena-muerte-personas-protestas-20180420-0041.html">75
Millionen US-Dollar</a>
in der Kreide steht und droht, in den kommenden Jahren Bankrott zu
gehen. Berichte in zahlreichen Zeitungen über eine allgemeine Abgabe
mit signifikanten Erhöhungen für alle Bevölkerungsteile,
entsprechen nicht der gesetzlichen Realität, die ein progressives
Beitragssystem vorsieht.</p>
<p>Das
Gesetz 975 wird faktisch alle zwei Jahre neu aufgelegt. Dieses Mal
verhandelte die sozialdemokratische Ortega-Regierung mit dem Consejo
Superior de la Empresa Privada (Rat der UnternehmerInnen, COSEP) das
gesamte Jahr 2017 über eine mögliche Reform der
Sozialleistungs-Institution Instituto Nicaragüense de Seguridad
Social (INSS). Die UnternehmerInnen, inklusive der neoliberalen
Opposition um die größte Oppositionspartei Partido Liberal
Constitucionalista (PLC) und die Frente Amplio por la Democracia
(FAD), waren dabei ganz auf Linie mit dem <a href="https://www.imf.org/es/News/Articles/2018/02/06/ms020618-nicaragua-staff-concluding-statement-of-an-imf-staff-visit">Internationalen
Währungsfond
(IMF)</a>,
welcher der Ortega-Regierung nach einer Inspektion im Januar diesen
Jahres eine Anhebung des Rentenalters oder der Mindestarbeitsjahre
zum Erhalt von Rente empfahl. Alternativ könne auch die Rente
gekürzt werden. Es scheint so, als habe sich die Ortega-Regierung
für letztere Option entschieden, bei Beibehaltung von Rentenalter
und Mindestarbeitszeit, und zwar ohne Einverständnis mit dem
nicaraguanischen UnternehmerInnenverband COSEP zu suchen. Dieser
hatte sich nach dem Dekret durch Daniel Ortega am vergangenen Montag
beklagt, dass die Ortega-Regierung mit ihrer einseitigen Maßnahme
die Kultur des <a href="https://confidencial.com.ni/cosep-se-rompio-dialogo-y-consenso/">,,Dialogs
und Konsenses“ aufgekündigt</a>
habe und zu Demonstrationen aufgerufen. Die im COSEP organisierte
Industriekammer Nicaraguas (CADIN) und die Handels und
Dienstleistungskammer (CCSN) <a href="http://cawtv.net/la-camara-de-industrias-de-nicaragua-cadin-pide-suspension-de-las-medidas-administrativas-del-inss/">beschwerten</a>
sich ebenfalls über die Maßnahme: Sie koste Arbeitsplätze und
werde den informellen Arbeitssektor ausweiten, da die
Wettbewerbsfähigkeit nicaraguanischer UnternehmerInnen sinke.</p>
<p>Führend
in den von Anbeginn an gewaltsam verlaufenden Protesten sind jedoch
weniger die RentnerInnen, deren Vertretung, die Unión del Adulto
Mayor, sich trotz vorangegangenen Protesten im Februar 2018 an <a href="http://www.lajornadanet.com/index.php/2018/04/19/los-jubilados-puno-en-alto-con-el-inss-porfirio-garcia/">die
Seite der Regierung</a>
stellte, sondern die Studierenden und Gewerbetreibenden. Am
vergangenen Mittwoch nahmen die Ausschreitungen an der Universität
in der Hauptstadt Managua ihren Ausgang, weiteten sich jedoch in den
vergangenen Tagen auf das ganze Land aus. Während die StudentInnen
etwa in <a href="https://www.youtube.com/watch?v=6QHhLSCMalo">Leon</a>,
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=0nn8X_LayF0">Managua</a>
und Granada öffentliche Gebäude brandschatzten und Straßenzüge
zerstörten, landesweit Barrikaden errichteten und sich
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Vr1NzRlqOkQ">Straßenschlachten</a>
mit den Antimotiles-Einheiten der Polizei lieferten, gingen letztere
mit <a href="https://www.youtube.com/watch?v=1ee9QwFzEs8">voller
Härte</a>
gegen die Aufständischen vor. Gesichert ist hier, dass es immer
wieder zu schweren Übergriffen und Verschleppungen durch die
Sicherheitskräfte kam. Auch kam es, wie in Videoaufnahmen rechter
Medien zu sehen ist, zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der
regierungstreuen Jugendorganisation<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Dv7YDRiQjCY">
Juventud Sandinista und militanten Protestierenden</a>.
Die bestätigte Bilanz seit vergangenem Mittwoch (je nach Medium):
Zwischen vier (regierungsnah) und 30 Toten (rechte Opposition), sowie
zwischen 40 und 80 schweren Verletzten, darunter Protestierende sowie
PolizistInnen. Der Journalist <a href="https://www.youtube.com/watch?v=2003W8J0B-Q">Ángel
Gahona</a>
des <i>Canal
6</i>,
der die Ausschreitungen an der Karibikküste live aufzeichnen wollte,
wurde entweder von bewaffneten Protestierenden oder durch Schüsse
der Aufstandsbekämpfung mit einem Kopfschuss getötet. Die
Opposition spricht außerdem von 40 Verschwundenen. Zur Stunde gibt
es hierzu allerdings noch keine unparteiische Bestätigung.
Angesichts der Todeszahlen äußerte die UNO unterdessen Besorgnis
und forderte Präsident Ortega auf, die Meinungsfreiheit zu
garantieren und die Antimotiles-Einheiten zurückzurufen. Ortega
schickte zum Freitag das Militär auf die Straße. Die USA und Costa
Rica sprachen angesichts des Gewaltszenarios <a href="https://ni.usembassy.gov/u-s-citizen-services/security-and-travel-information/">Reisewarnungen</a>
aus.</p>
<p>Die
vorgeblich selbstorganisierten Studierenden erhielten recht schnell
Rückendeckung durch die neoliberale Opposition im Land, die nun auch
mit Kundgebungen landesweit Präsenz zeigt und eine angebliche
„Diktatur“ im Land anprangert. So sprach das Oppositionsbündnis
<a href="https://www.facebook.com/FADNicaragua/">FAD</a>
seine Solidarität mit den UnternehmerInnen aus: ,,Unsere Solidarität
mit den Händlern, kleinen, mittleren und großen Unternehmern, denen
Geschäfte für ihr Überleben gehören. In diesem Moment müssen wir
vereint sein, um das Ende der Tyrannei in Nicaragua zu erreichen“.
Die größte Oppositionspartei <a href="https://www.facebook.com/PartidoPLCOficial/">Partido Liberal Constitucional</a>
teilt auf ihrem Facebook-Account sämtliche Videos, auf denen
jugendliche Militante ganze Straßenzüge kaputtschlagen –
kommentarlos. Auch die neue Rechtspartei <a href="https://www.facebook.com/CxLNIC/">Ciudadanos
por la libertad</a>
ruft zu Protesten auf. Während all diese Gruppen mehr oder weniger
Distanz zu den jugendlichen Militanten zeigen – so werden diese
durchgängig als ,,selbstorganisiert‘‘ und ,,parteiunabhängig‘‘
bezeichnet – ist angesichts des Organisationsgrads der Proteste
relativ klar, dass es sich zumindest bei den InitiatorInnen um
Organisierte, bzw. AnhängerInnen der Oppositionsparteien handelt.
Derweil kursiert in den sozialen Medien die Behauptung, die
Ortega-Regierung würde Fernsehkanäle und Medien <a href="http://elperiodicocr.com/gobierno-de-ortega-cierra-canales-de-television-y-censura-periodistas-por-denunciar-represion/">zensieren</a>,
was nicht der Fall ist. Zur Stunde sind sämtliche <a href="https://confidencial.com.ni/">rechten
Zeitungen</a>
und TV Kanäle im Internet erreichbar und die Oppositionskanäle
geöffnet. Die Opposition ruft für jeden einsehbar am Montag
landesweit zu neuen Protesten auf. Ortega kündigte zum Sonntagabend
an, er werde die Gesetzesnovelle neu verhandeln lassen.</p>
<p>Die
Novelle der Sozialgesetzgebung ist ihrem Charakter nach ein ganz
pragmatisches Kompromissgesetz zwischen den Klasseninteressen, mit
stärkerer Inanspruchnahme der UnternehmerInnenseite, und als solches
typisch für die FSLN-Regierung. Die ehemalige Guerilla und heute
regierende Partei Frente Sandinista de Liberación Nacional
(Sandinistische
Nationale Befreiungsfront)
verfolgt seit ihrer Wiederwahl an die Macht 2006 ein
sozialdemokratisches, auf Klassenausgleich ausgerichtetes Projekt
nach Innen, sowie eine Unterstützung des venezuelanischen,
<a href="http://www.resumenlatinoamericano.org/2017/09/22/paises-del-alba-ratifican-desde-naciones-unidas-su-apoyo-a-la-revolucion-bolivariana/">antiimperialistischen ALBA-Projekts</a>
und eine Anlehnung an die russische Außenpolitik nach Außen. Es
handelt sich also mitnichten um ein Anknüpfen an die historische
revolutionäre Junta der 1970er und 1980er Jahre. Es ist kein genuin
sozialistisches Gesellschaftsprojekt, auch wenn die Regierung eine
solche Rhetorik an den Tag legt und sich mit der Tradition der
sandinistischen Revolution schmückt. Die Anlehnung an den
russischen, anti-US-amerikanischen Block der Weltpolitik äußerte
sich in der Vergangenheit unter anderem in Vereinbarungen zur
Militärkooperation sowie der <a href="https://www.infobae.com/america/america-latina/2017/07/01/la-base-secreta-de-espionaje-de-rusia-en-nicaragua-que-preocupa-a-la-region/">Installation</a>
einer russischen Militärbasis nahe Managua. Auch sprach sich die
Ortega-Regierung immer wieder für die, ihrem Charakter stark
ähnelnde, Regierung von <a href="https://www.youtube.com/watch?v=NaREPrTksWA">Nicolas
Maduro</a>
in Venezuela aus. Es ist also klar, dass die Außenpolitik Nicaraguas
in scharfem Gegensatz zu US-Interessen im Land steht. Eine
Unterstützung der neoliberalen Opposition ist daher ebenso wie ein
mögliches <a href="http://tortillaconsal.com/tortilla/node/2538">Regime-Change-Szenario</a>,
wie es die FSLN-Regierung in ihren Statements zu den Protesten
andeutet, nicht unwahrscheinlich, kann zur Stunde jedoch nicht
abschließend belegt werden.</p>
<p>Nach
Innen hin kann konstatiert werden, dass Nicaragua trotz seiner
relativen Armut nicht über vergleichbare soziale Probleme verfügt
wie etwa die Nachbarländer Honduras oder Guatemala. Die FSLN sorgte
in ihrer Regierungsperiode mit <a href="https://www.telesurtv.net/bloggers/Nicaragua--sus-exitos-y-la-ofensiva-imperialista-20170108-0004.html">Sozialprogrammen</a>
(etwa ,,Hambre Cero“, ,,Casas para el Pueblo“ oder ,,Plan Techo“)
für eine gewisse soziale Sicherheit der Mehrheit der
nicaraguanischen BürgerInnen. In dieser Zeit nahm die Armut immerhin
von 42 Prozent auf 29 Prozent ab. Die extreme Armut reduzierte sich
von 14,6 auf 8,3 Prozent. Weiterhin baute die Regierung den Tourismus
und die Infrastruktur aus. Gleichzeitig ist sie berühmt-berüchtigt
und umstritten für ihre Korruptionsskandale, Wahlirregularitäten
und für die <a href="https://www.poderjudicial.gob.ni/pjupload/noticia_reciente/CP_641.pdf">Illegalisierung</a>
von Abtreibungen. Für internationalen Spott sorgte z.B. auch die
umstrittene Maßnahme Ortegas, seine Frau Rosario Morillo ins
Vizepräsidentenamt zu hieven – ganz zu schweigen von den
Missbrauchsvorwürfen seiner, inzwischen in Costa Rica lebenden,
Stieftochter Zoilamérica Narváez Murillo. Die FSLN nutzt gerne den
Slogan ,,Cristiano, Socialista y Solidario“, konkrete Schritte in
Richtung sozialistischer Wirtschaft oder Ausweitung der Demokratie
wurden hingegen nie unternommen. Die Vokabel Sozialismus wird eben
eher für ein sozialdemokratisches Umverteilungsprogramm, den
Klassenkompromiss und die Sozialprogramme genutzt, bei gleichzeitiger
Refinanzierung nicht nur via Russland und China, sondern eben auch
durch den IMF <a href="https://www.laprensa.com.ni/2017/05/24/politica/2234766-donald-trump-propone-recortar-en-98-ayuda-a-nicaragua">und in
der Vergangenheit
die USA</a>.
Statt dem Anknüpfen an das historische sozialistische Projekt, an
dem Ortega und Morillo direkt beteiligt waren, wurde sich in der
zweiten Regierungsperiode der FSLN mit der nationalen Bourgeoisie auf
ein fragiles nationales Bündnis geeinigt, das nun offenbar in die
Krise geraten ist. In den Protesten drücken sich so einerseits das
Interesse der an einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm orientierten
Klassen, andererseits eine generelle Unzufriedenheit mit der zuweilen
<a href="https://www.cenidh.org/">repressiven</a>
FSLN-Politik unter liberalen Intellektuellen aus.</p>
<p>Regierung
und Opposition in Nicaragua sind so gesehen die Wahl zwischen
sozialpartnerschaftlichem, regulierten Kapitalismus mit
Demokratiedefizit einerseits und enthemmter neoliberaler Doktrin mit
Demokratiedefizit andererseits; Orientierung an einer vergleichsweise
souveränen nationalen Entwicklung mit Anlehnung an die russische
Außenpolitik einerseits oder US-amerikanischer Neo-Kolonialismus
andererseits. Die Situation ähnelt so in vielerlei Hinsicht jener in
Venezuela, in der das einstmals hoffnungsvolle Projekt Chavez‘ für
den Kapitalismus offensichtlich zu weit, und für den Sozialismus
<a href="https://amerika21.de/analyse/178561/venezuela-unerledigte-dinge">nicht
weit genug</a>
ging. Die sozialpartnerschaftliche und korrupte Ortega-Regierung muss
in vielerlei Hinsicht von links kritisiert werden und ist sicher
keine Regierung, die auf Teufel komm raus zu verteidigen ist. Ganz im
Gegenteil ist zu hoffen, dass sich die Kräfte links von Ortega in
Zukunft eigenständig organisieren und in der Lage sein werden, den
Sandinismus wieder nach links zu drücken. Die derzeitige
nicaraguanische Opposition ist demgegenüber jedoch, bei allem zur
Schau gestellten demonstrativen Rebellentum, in etwa so progressiv zu
bewerten wie eine FDP, deren ,,Yellow Block“ auf der Straße
randaliert und öffentliche Gebäude anzündet.</p>
<p>Für
uns als Linke ist in diesem Moment die Frage entscheidend: Welche
Kraft unterstützt vergleichsweise das Anliegen der ArbeiterInnen und der Armen in Nicaragua? Und so lässt
sich trotz legitimer Bauchschmerzen derzeit sicher nur eine Antwort
geben. Eine sozialdemokratische Ortega-Regierung ist für die
arbeitende Klasse in Nicaragua zu jedem Zeitpunkt einem neoliberalen,
zumeist erfahrungsgemäß nicht minder autoritären, Verarmungsregime
unter Führung der USA vorzuziehen. Nur weil die neoliberale Rechte
sich, wie in Venezuela, Ausdrucksformen des militanten sozialen
Protests zu eigen macht, ändert das nichts an ihrer grundsätzlich
arbeiterInnenfeindlichen politischen Ausrichtung. Wenn es nach ihr
ginge, würden die Renten nicht um 5 Prozent gekürzt, sondern das
INSS privatisiert. Die gesellschaftliche Alternative eines solchen
Modells von Nicaragua zeigt sich in <a href="http://www.laprensa.hn/honduras/861439-410/honduras-promedia-tasa-de-pobreza-extrema-m%C3%A1s-alta-de-centroam%C3%A9rica">Honduras
</a>und
Guatemala, in denen jeweils aufgrund der jahrelangen neoliberalen
Verarmungspolitik der Herrschenden die Mehrheit der Menschen in Armut
und abseits von Zugang zu Gesundheits- und Sozialhilfe leben muss.
Ortegas Regierung garantiert demgegenüber, bei all ihren politischen
und ökonomischen Defiziten, zumindest ein Mindestmaß an Stabilität
und sozialer Sicherheit für die weniger wohlhabenden Teile der
nicaraguanischen Gesellschaft.
</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Angriff auf den Friedensprozess in Kolumbien2018-04-10T19:29:25.464337+00:002018-04-10T20:09:58.622260+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/angriff-auf-den-friedensprozess-kolumbien/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Angriff auf den Friedensprozess in Kolumbien</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Santrichlibre" height="420" src="/media/images/636431824811382608-1200x600.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">https://www.publimetro.co</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p><p>Am
vergangenen Montag, den 9. April 2018, verhaftete der exekutive Arm
der kolumbianischen Staatsanwaltschaft<i> CTI (Cuerpo Técnico de
Investigación)</i> Jesús Santrich, führendes Mitglied der legalen
Linkspartei <i>FARC (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común)</i>
in seinem Haus im Bogotaner Stadtteil Modelia. Der Vorwurf lautet auf
Produktion, Transport und Verkauf von Drogen, insbesondere mittels
Charterflügen in die USA. Die Vorwürfe werden von einem New Yorker
Gericht erhoben, das via Interpol die Auslieferung des ehemaligen
Kommandanten der inzwischen demobilisierten Guerilla <i>FARC-EP</i>
beantragt hat. Laut kolumbianischen <a href="http://www.semana.com/nacion/articulo/cti-de-la-fiscalia-captura-a-jesus-santrich/563060">Tageszeitungen</a>
sollen die US-amerikanische Botschaft in Kolumbien und die
international geheimdienstlich operierende US-amerikanische
Anti-Drogen-Behörde <i>DEA</i> (<i>Drug Enforcement Administration</i>)
ebenfalls <a href="https://canal1.com.co/noticias/cti-de-la-fiscalia-captura-a-jesus-santrich-tras-un-allanamiento-a-su-casa/">eine
Rolle</a> bei den Ermittlungen <a href="http://www.semana.com/nacion/articulo/cti-de-la-fiscalia-captura-a-jesus-santrich/563060">gespielt
haben</a>. Laut den Ermittlungsbehörden liegen
stichhaltige Beweise in Form von internationalen Transaktionen,
Buchführungen zum Handel, Computerdaten und einem angeblich
mitgeschnittenen Treffen mit kolumbianischen Narcos im November 2017
gegen Santrich vor. Dem Ex-Guerillero, der mit bürgerlichem Namen
Seuxis Hernández Solarte heißt, droht nun die Auslieferung,
Verurteilung und Inhaftierung in den USA, basierend auf der
Auslieferungsgesetzgebung für die Verfolgung des Drogenhandels aus
dem Jahr 1980. Aktualisiert wurde das Gesetz nochmals <a href="http://www.suin-juriscol.gov.co/viewDocument.asp?id=1698775">als
Vertrag</a> zwischen <a href="http://www.suin-juriscol.gov.co/viewDocument.asp?id=1698781">den
USA und Kolumbien</a> 1986.</p>
<h3><b>Sondergerichtsbarkeit
bricht Auslieferungsjustiz </b>
</h3>
<p>Ganz
unabhängig davon, ob Santrich nun tatsächlich Verbindungen zum
Drogenhandel hat oder nicht handelt es sich bei ihm um einen
Präzedenzfall. Die Friedensverträge von Havanna zwischen der
kolumbianischen Regierung des scheidenden Präsidenten Juan Manuel
Santos, die im Winter 2016 gezeichnet wurden, sehen eine sogenannte
<i>Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP)</i> vor. Unter diese
Gerichtsbarkeit fallen laut Friedensverträgen sämtliche
Menschenrechtsverletzungen durch Guerilla und Staat innerhalb der
Periode des bewaffneten Konflikts bis zur Unterzeichnung der
Friedensverträge 2016. Angemerkt werden muss hier, dass jede/r
gefangene KämpferIn der ehemaligen Guerilla in der Vergangenheit
grundsätzlich auf Basis der Straftatbestände <i>Rebellion</i> und
<i>Drogenhandel</i> zu hohen Haftstrafen verurteilt wurde. Das
Strafmaß für sämtliche Straftaten, inklusive des vermeintlichen
Drogenhandels, ist demnach in dieser Sondergerichtsbarkeit erheblich
reduziert – aus Gründen der Wiedereingliederung der Guerilla ins
gesellschaftliche Leben und der politischen Partizipation als legale
Organisation. Darüber hinaus wird die Auslieferung an die USA
grundsätzlich untersagt:
</p><p><i>,,Es
kann keine Auslieferung genehmigt werden, noch können Maßnahmen,
die zu einer Auslieferung führen unternommen werden in Hinblick auf
Taten oder Verhalten, die Gegenstand der Spezialjustiz für den
Frieden (JEP) sind und während dem Konflikt begangen wurden'' </i>[1]
</p><h3><b>Die
erste Revision der Verträge</b></h3>
<p>Unter
anderem die Garantien auf sichere politische Betätigung, politische
Partizipation und Wiedereingliederung in das politische Leben stehen
allerdings bereits seit dem explizit von Regierungsseite gewollten
Plebiszit im Oktober 2016 zur Disposition. [2] Zunächst konnte die
politische Elite um Santos aufgrund der knappen Ablehnung des
Plebiszits bei niedriger Wahlbeteiligung, den Friedensvertrag in die
Revision durch die Rechtsradikalen um Álvaro Uribe Vélez geben.
Unter anderem ist in der Revision der Verträge die für die
ehemalige Guerilla so wichtige Landreform faktisch verunmöglicht
worden, da das Privateigentum, das sich die
GroßgrundbesitzerInnenfamilien historisch illegal mit Hilfe von
Paramilitärs und Vertreibungen angeeignet haben, als unantastbar
festgeschrieben wurde. [3] Zudem wurden die Haftstrafen der Sonderjustiz verschärft und, besonders
wichtig, der Verfassungsrang der Verträge gestrichen, womit diese als
gewöhnliche Verträge gelten. Wer weiß, wie fahrlässig z.B. Tarifverträge
mit der Regierung in Kolumbien gehandhabt werden, hat eine Vorstellung
davon, wie bitter diese Pille für die FARC gewesen sein muss.
</p><h3><b>Liberale
und rechtsradikale Elite im Konflikt</b></h3>
<p>Die
nicht minder neoliberale und konservative Regierung um Juan Manuel
Santos und ihr Projekt des Friedensprozesses befand sich bis heute
faktisch durchweg unter politischem Angriff der Rechtsradikalen.
Dahinter verbirgt sich ein politischer Dissens zweier kolumbianischer
Kapitalfraktionen mit gegenläufigen politischen Interessen. Santos
vertritt mit US-Unterstützung das multinationale Kapital, sowie die
Sektoren der kolumbianischen Wirtschaft, die sich von einem Frieden
einen wirtschaftlichen Boom versprechen (etwa der Tourismus-Sektor).
Uribe und seine Rechtsradikalen hingegen stehen für die Agenda der
GroßgrundbesitzerInnen im ländlichen Teil Kolumbiens, die <a href="http://lowerclassmag.com/2016/08/freiheit-frieden-und-soziale-gleichheit-sind-die-parolen-unserer-sache/">kein
Interesse</a> an einer, wie in den Friedensverträgen
vereinbarten, Landreform haben und eine militärische Zerschlagung
der Opposition bevorzugen. Da es sich bei den GroßgrundbesitzerInnen
um keinen vernachlässigbaren Teil der kolumbianischen Eliten,
sondern um eine wichtige Wirtschaftskraft handelt, befand sich Santos
faktisch seit 2012 unter konstantem Druck, nicht zu viele
Zugeständnisse an die Guerilla zu machen. Er ging dazu über,
Vereinbarungen zu sabotieren und sich als starken Mann in den
Verhandlungen zu präsentieren.
</p><h3><b>Systematische
Blockade und: ,,Die FARC sind an allem Schuld!‘‘</b></h3>
<p>Vor
diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass die Regierung seit
Zeichnung der Friedensverträge faktisch immer wieder vertragsbrüchig
wurde, vereinbarte Maßnahmen nicht oder nur langsam umsetzte oder
genau gegenläufig zu den Friedensverträgen handelt. Man kuscht
dabei allerdings nicht nur vor den Rechtsradikalen und ihrer
Medienmacht, sondern Teile der Friedensverträge sind auch schlicht
nicht im Interesse der Eliten des Landes. So ist das sogenannte
<i>Fast-Track-Verfahre</i>n, das den Friedensverträgen entsprechende
Gesetzpakete im Eilverfahren durch die parlamentarischen
Institutionen jagen sollte, inzwischen ausgesetzt [4]. Reformen
kommen kaum noch ohne Neudiskussion durch, was faktisch einer
Neuverhandlung der Friedensverträge gleichkommt – nur mit einer
entwaffneten, entmachteten, in <i>Entwaffnungsszonen (ZVTN)</i>
eingepferchten ex-Guerilla. Und diesmal mit der gesamten Rechten des
Landes, statt mit dem liberalsten Teil der Oligarchie. Die soziale
Opposition wird nach wie vor auf Demonstrationen durch die
Anti-Riot-Polizei <i>ESMAD</i> brutal attackiert, nicht selten mit
Todesfolgen. Die Koka-Anbaugebiete werden nicht, wie in den Verträgen
mit staatlichen Substitutionsprogrammen vorgesehen umgewandelt,
sondern nach wie vor mit Vernichtungsfeldzügen der Armee übersät.
Dabei kommt es auch zu Massakern der Armee. Dazu kommen nicht
eingehaltene menschenrechtliche Standards in den Übergangszonen der
Guerilla, mangelhafte Schutzgarantien gegenüber der neuen Partei
<i>FARC</i> im Wahlkampf, eine nach wie vor zunehmende Ermordung von
sozialen AktivistInnen, insbesondere im ländlichen Raum. Alles bei
gleichzeitiger Untätigkeit des Staates gegenüber dem
Paramilitarismus und der Beförderung eines öffentlichen Diskurses,
der eine blanke Weste des Staates im bewaffneten Konflikt und die
alleinige Schuld der Guerilla, entgegen aller anerkannten
Statistiken, <a href="https://www.elespectador.com/noticias/politica/acuerdo-de-paz-hace-metastasis-articulo-749182">historisch
festschreiben möchte</a>.
</p><h3><b>Der
Rechtsruck manifestiert sich</b></h3>
<p>Wenn
wir nun noch die kürzlichen Wahlergebnisse zu Regional- und
Landesparlamenten, die den FriedensgegnerInnen um das <i>Centro
Democrático</i> <a href="https://revoltmag.org/articles/eine-niederlage-f%C3%BCr-die-gesamte-kolumbianische-linke/">satte
Zugewinne</a>, wenn auch keine Mehrheit bescherten,
betrachten, wird die Gefährlichkeit der derzeitigen Situation klar.
Der derzeit in Umfragen führende Kandidat des <i>Centro Democrático,</i>
Iván Duque Márquez, ließ in den <a href="https://www.youtube.com/watch?v=XK9uMwrCJIc">Fernsehdebatten</a>
keinen Zweifel daran, dass er insbesondere die Sonderjustiz und die
Beteiligung der ehemaligen Guerilla nicht respektieren wird. ,,Die
<i>FARC</i> kamen in den Kongress ohne zu entschädigen, ohne Strafen
abzusitzen, ohne die Wahrheit zu sagen (…) was wir machen müssen,
ist das Mandat des 2. Oktobers (des Plebiszits – Anm. d. Verf.) zu
verteidigen, um die Friedensverträge zu reformieren‘‘. Diese
Aussagen sind, wie der liberale Präsidentschaftskandidat und
ehemalige Unterhändler im Friedensprozess Humberto de la Calle im
vorangegangenen Moment der Debatte richtig feststellte,
gleichbedeutend mit der Neutralisierung der Friedensverträge.
</p><h3><b>Schwenkt
Santos auf die Rechtsradikalen ein?</b></h3>
<p>Der
Friedensprozess steht somit mit der Verhaftung und möglichen
Auslieferung Santrichs auf Messers Schneide. In einer <a href="http://www.eltiempo.com/politica/proceso-de-paz/por-que-capturaron-a-jesus-santrich-segun-santos-y-el-fiscal-martinez-203168">gestrigen
Pressekonferenz</a> äußerte der scheidende Präsident
Juan Manuel Santos, dass er nicht zögern werde, Santrich
auszuliefern, da die ihm vorgeworfenen Taten nach der Unterzeichnung
des Friedensvertrags datiert und stichhaltig seien. Viel
wahrscheinlicher ist allerdings, dass Santos vier Wochen vor den
Präsidentschaftswahlen und vier Tage vor dem Besuch des
amerikanischen Vize-Präsidenten Mike Pence in Kolumbien vor der
radikalen Rechten, den USA und seinen Anhängern Stärke
demonstrieren und mit einem konstruierten Fall ein Exempel statuieren
will, um auf eine mögliche Verschärfung der Gangart gegenüber der
ex-Guerilla unter – einer derzeit sehr wahrscheinlichen –
ultrarechten Folgeregierung vorzubereiten. Denn: Eine Auslieferung
des <i>FARC</i>-Offiziellen bedeutet nicht nur eine faktische
Unterminierung aller Sicherheitsgarantien und der Sonderjustiz als
Präzedenzfall, sondern sägt auch noch an der Vereinbarung zur
politischen Partizipation, da Santrich einer von fünf Abgeordneten
der neuen Partei im Kongress ist. Also genau an jenen zwei
Vertragspunkten, die insbesondere die Rechtsradikalen und ihr
aussichtsreicher Kandidat Iván Duque angreifen.
</p><h3><b>Die
Zersplitterung der Linken</b></h3>
<p>Die Oligarchie und ihr liberaler, wie konservativer Flügel rechnen
also damit, dass die neue Linkspartei und ihr demobilisierter Anhang
in den <i>ZVTN</i> das einfach mit sich machen lassen, oder zumindest
testen sie aus, wie weit sie bei der Revision der Verträge gehen
können. Die Guerilla und die sozialen Bewegungen hatten in diesem
Punkt die Haltung der Oligarchie gegenüber dem Friedensprozess genau
so eingeschätzt. Gehörig verkalkuliert haben sie sich aber in der
Einschätzung der Stärke der sozialen Bewegungen des Landes, der
eigenen Mobilisierungsfähigkeit und der Unterstützung für den
Frieden in der Mehrheitsgesellschaft. Man rechnete seitens der
FARC-Führung fest damit, es mit der Stärke der Straße im Rücken
mit der Oligarchie aufnehmen zu können. Insbesondere das
außerparlamentarische Segment der linken Gegenöffentlichkeit ist
seit Abschluss des Friedensvertrags aber erstaunlich passiv geworden,
während weite Teile der organisierten legalen Linken sich von den
FARC distanzieren, sich mit verschiedenen Kandidaturen und Kampagnen
untereinander separieren und damit der Marginalisierung der Linken
und einer Wahlniederlage bei der Präsidentschaftswahl zuarbeiten.
Während die Rechte mit Iván Duque einen einzigen Kandidaten stellt,
ist die Mitte und linke Mitte mit Germán Vargas Lleras, Humberto de
la Calle, Sergio Fajardo, Gustavo Petro, sowie ursprünglich sogar
noch Piedad Córdoba und ex-FARC-Kommandant Timoleón Jiménez, aka
Rodrigo Londoño (in dieser Reihenfolge von rechts nach links in den
politischen Positionen) heillos zersplittert.
</p><h3><b>Revision
der Friedensverträge bedeutet Revival der bewaffneten Gruppen</b></h3>
<p>Die
Oligarchie nutzt also die Schwäche und Zersplitterung der Linken zur
Revision der Verträge. Soweit so bedauerlicherweise absehbar. Wenn
dieser Friedensprozess aber wieder einmal aufgrund der Unwilligkeit
der kolumbianischen Oligarchie für soziale und demokratische
Veränderung scheitern sollte, wird es aber eben auch zu einem
Wiederaufleben des bewaffneten Konflikts kommen. Noch hat die Führung
der legalen Linkspartei die Kontrolle über die Mehrheit der
demobilisierten Guerillerxs in den <i>ZVTN</i>. In einer
<a href="http://www.farc-ep.co/comunicado/comunicado-sobre-captura-de-nuestro-companero-jesus-santrich.html">Pressekonferenz</a>
zum Morgen des 10. April verurteilten die <i>FARC</i> scharf den
Vertragsbruch der Regierung, riefen aber zugleich ihre
AnhängerInnenschaft zur Ruhe auf. Mit zunehmendem Vertragsbruch
durch die Regierung und vor allem mit möglichen Massakern unter
einer rechtsradikalen Regierung, könnte es jedoch zu
Massendesertionen aus den <i>ZVTN</i> zur weiterkämpfenden
<i>FARC-Dissidenz</i> oder zur aktuell mächtigsten Guerilla <i>ELN</i>
kommen. Und das nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern auch,
weil den demobilisierten Guerillerxs bei einer Demontage der
<i>Sonderjustiz für den Frieden</i> schwere Haftstrafen und
politische Verfolgung drohen.
</p>
<p>
<br/>
</p><b>Anmerkungen:</b>
<p><b>[1]
</b><a href="http://www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/Documents/informes-especiales/abc-del-proceso-de-paz/abc-jurisdiccion-especial-paz.html">Artikel
IX</a> :,No
se podrá conceder la extradición ni tomar medidas de aseguramiento
con fines de extradición respecto de hechos o conductas objeto de la
JEP, cometidos durante el conflicto armado y con anterioridad a la
firma del Acuerdo Final. Por otra parte, cualquier delito cometido
con posterioridad a la firma del Acuerdo Final podrá ser objeto de
extradición“
</p><p>
<b>[2]</b>
Die Regierung setzte das Plebiszit <a href="https://amerika21.de/2013/04/82298/volksabstimmung-farc">ohne
Rücksprache mit der FARC-EP-Delegation</a> in den
Friedensverhandlungen durch.
</p><p><b>[3]</b>
<a href="http://www.altocomisionadoparalapaz.gov.co/procesos-y-conversaciones/Documentos%20compartidos/24-11-2016NuevoAcuerdoFinal.pdf">Vertrag
1: S. 13</a> ,,Nichts, was in den Verträgen vereinbart
wurde darf das verfassungsgemäße Recht auf Privateigentum
antasten''
</p><p><b>[4]
</b>Das Verfassungsgericht erklärte das Fast Track Verfahren 2017
<a href="http://www.elcolombiano.com/colombia/acuerdos-de-gobierno-y-farc/fallo-de-fast-track-el-desafio-de-la-implementacion-del-acuerdo-de-paz-con-farc-NE6565609">für
verfassungswidrig</a>. Die Rechtsradikalen jubelten.
</p><p><br/>
</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>