re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=4222020-03-27T09:14:45.836177+00:00Das Virus der sozialen Ungleichheit2020-03-27T09:12:11.402539+00:002020-03-27T09:14:45.836177+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/das-virus-der-sozialen-ungleichheit/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Das Virus der sozialen Ungleichheit</h1>
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<span class="content-copyright">Asaad Niazi</span>
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<div class="rich-text"><p>Das Coronavirus hat inzwischen den Nahen Osten und Nordafrika erreicht, die Auswirkungen auf das alltägliche tägliche Leben der Menschen sind schwerwiegend. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, dass die Ausbreitung des Coronavirus eine neue <a href="https://www.middleeasteye.net/news/coronavirus-lebanon-financial-crisis-turmoil-protests">Krise innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Krisen</a> auslöst, die die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas seit Jahrzehnten durchleben. Die strukturellen Probleme der nationalen und regionalen Ökonomien und der Mangel an sozialer Sicherheit in Form von öffentlichen Diensten – in diesem Fall die Gesundheitsdienste – für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung werden durch die Blockade des alltäglichen Lebens noch verschärft.</p><p>Auch hinsichtlich der sozialen Proteste, die im vergangenen Jahr praktisch die ganze Region erfasst haben, produziert das Virus wichtige Veränderungen: In Algerien beschlossen die Studierenden, die seit über einem Jahr jeden Dienstag auf die Straße gehen, ihre <a href="https://maghrebemergent.info/hirak-coronavirus-les-etudiants-decident-de-suspendre-les-marches/">Demonstrationen vorübergehend auszusetzen</a>. Der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune, der von der sozialen Bewegung (dem <a href="https://revoltmag.org/articles/jahr-eins-des-algerischen-hirak/">Hirak</a>) weiterhin abgelehnt wird, verhängte zudem ein generelles <a href="https://www.france24.com/en/20200318-anti-government-protests-thwarted-as-algeria-bans-street-marches-over-coronavirus">Versammlungs- und Demonstrationsverbot</a>. Nach anfänglicher <a href="https://www.aljazeera.com/news/2020/03/coronavirus-tests-algeria-protest-movement-200314102839379.html">Unentschlossenheit und Diskussionen innerhalb des Hiraks</a> wurden nun auch die Freitagsdemonstrationen bis auf weiteres abgesagt. Auch im <a href="https://ilmanifesto.it/beirut-spegne-le-luci-dopo-il-virus-il-libano-aspetta-il-crollo-economico/">Libanon</a> bremste die zunehmende Verbreitung des Virus die Proteste. Wie greifen im Irak die Verschärfung der Prekarität und der sozialen Unsicherheit und die Frage nach demokratischer Organisierung ineinander?</p><h2><b>Die Last der Informalität</b></h2><p>Die irakische Regierung hat eine vorübergehende Ausgangssperre und die Schließung von Schulen, Universitäten und Einkaufszentren beschlossen. Auch Kinos, Restaurants und Bars bleiben geschlossen. Religiöse Einrichtungen haben religiöse Aktivitäten und Versammlungen ausgesetzt. Nach Angaben des <a href="https://moh.gov.iq/index.php?name=News&file=article&sid=14140">Gesundheitsministeriums</a> gibt es derzeit 382 Fälle von Covid19, davon 36 Tote (Stand 27.03.2020). Angesichts des Mangels an durchgeführten Tests dürfte die Zahl jedoch weit höher liegen.</p><p>Eine erste Lektion, die wir aus diesen ersten Wochen der Corona-Krise ziehen können, ist, dass die Auswirkungen des Virus sozial ungleich verteilt sind (im re:volt magazine wurde dies etwa mit Blick auf <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">Deutschland</a>, <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">Italien</a> oder den <a href="https://revoltmag.org/articles/die-corona-krise-als-care-krise/">Care-Bereich</a> angerissen). In den meisten Ländern wurde auf der einen Seite zwar das gesellschaftliche Leben zur Eindämmung des Virus fast vollständig blockiert, auf der anderen Seite wurde die <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">Warenproduktion</a> (materielle Güter und Dienstleistungen) allerdings weitergeführt – oft ohne oder nur unzureichenden gesundheitlichen und sozialen Schutzmaßnahmen.</p><p>Die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas unterscheiden sich nun aber wesentlich von denen der westlichen Länder. Wie eine <a href="https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000371374">Unesco-Studie zum irakischen Arbeitsmarkt</a> zeigt, arbeiten zwei Drittel der irakischen Arbeit*innen im informellen Sektor, dieser macht 99 Prozent der Privatwirtschaft aus. Die Informalität bietet keine sicheren Löhne und sozialen Sicherheitsnetze im Falle von Lohnausfall. „Die Arbeiter*innen erleben eine Tragödie, denn die große Mehrheit lebt von der Hand in den Mund. Arbeitslose und informelle Arbeiter*innen haben kein regelmäßiges Einkommen und daher keine Ersparnisse und keinen Sozialversicherungsschutz im Falle von Lohnausfall. Heute befinden sie sich in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten: Es fehlt ihnen schlicht an Geld, um Lebensmittel zu kaufen“, berichtet Sami Adnan, ein 28-jähriger Arbeitsloser und Aktivist aus Bagdad. Adnan ist bei <a href="https://www.facebook.com/WOAGSE/">Workers Against Sectarianism</a> aktiv, einer politischen Gruppe, die sich zu Beginn der <a href="https://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/">sozialen Proteste</a> gegen das sektiererische System und gegen die sozialen Ungleichheiten gebildet hat.</p><h2><b>Soziale Sicherheit – wie lange noch?</b></h2><p>Laut der oben genannten Unesco Studie bietet die Beschäftigung im öffentlichen Sektor die stabilste Arbeit. Dieser deckt im Irak 40 Prozent aller Arbeitsplätze. Die Staatsfinanzierung erfolgt in erster Linie über den <a href="https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/CR/2019/1IRQEA2019002.ashx">Erdölsektor</a>, der 99,6 Prozent der Exporteinnahmen, 92 Prozent des Staatshaushalts und 61 Prozent des nationalen BIP ausmacht. Doch nur jede*r hundertste irakische Arbeiter*in ist in diesem Sektor beschäftigt. Die öffentlichen Ausgaben für den direkten Lohn (Arbeitseinkommen und Renten) und für den indirekten Lohn (Waren und Sozialleistungen) belaufen sich auf etwa 60 Prozent der totalen Staatsausgaben.</p><p>Diese Ungleichheit zwischen dem öffentlichen Sektor, der (zumindest im Moment) noch Löhne und sozialen Mindestschutz garantiert, und einem privaten Sektor, der fast ausschließlich von Informalität und Prekarität geprägt ist, schlägt sich im täglichen privaten Konsum nieder. Adnan erklärt: „Öffentlich Angestellte mit regulären Löhnen leeren die Supermärkte und sammeln zu Hause Vorräte an. Diejenigen, die gezwungen waren, von der Hand in den Mund zu leben und nicht sparen konnten, hungern jetzt.“</p><p>Mit der aktuellen Ölkrise (der <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/petrolio-minimi-18-anni-il-wti-vale-meno-23-dollari-ADXdPDE">Preis für das Barrel Brent</a> ist unter 25 Dollar gefallen) schrumpfen die Einnahmen des Staates jedoch erheblich. Kurzfristig wird der Staat daher Schwierigkeiten haben, den Lebensstandard seiner Beschäftigten zu garantieren.</p><p>Die Situation wird durch die Nahrungsmittelknappheit und die steigenden Preise noch verschärft. Adnan fährt fort: „In diesem Kontext der Knappheit erhöhen die Händler*innen die Preise für Güter des Grundbedarfs, um sich zu bereichern. So kostet beispielsweise ein Kilo Tomaten normalerweise 50 Cent, heute sind es nicht weniger als 1,50 Dollar. Der Staat ist nicht in der Lage und will nicht eingreifen, um dieses für die Mehrheit der Bevölkerung lebenswichtige Problem zu regeln.“</p><p>Die wenigen Menschen, die eine reguläre Arbeit in der Privatwirtschaft gefunden haben, treffe, so Adnan, die Krise aufgrund der fehlenden Arbeiter*innenrechte – vor allem der Kündigungsschutz – ebenso stark: „Ein Freund von mir arbeitete für Caterpillar in einem Einkaufszentrum in Bagdad für 700 Dollar im Monat. Wegen des Virus sind die Einkaufszentren geschlossen worden, so dass die Arbeiter*innen zu Hause bleiben müssen. Aber das Unternehmen weigert sich, die Löhne weiter zu bezahlen.“</p><h2><b>Ein ruiniertes Gesundheitssystem</b></h2><p>Wenn an der Arbeitsfront Informalität, Prekarität und Rechtlosigkeit die sozialen Ungleichheiten verstärken, so gelingt es dem Gesundheitssystem nicht, sie auszugleichen. Bis in die 1970er Jahre hatte der Irak eines der am weitesten entwickelten Gesundheitssysteme im Nahen Osten. Es war ein öffentliches System, universell und frei für alle. Sowohl die Krankenhauseinrichtungen als auch der Kauf von Medikamenten waren in den Händen des Gesundheitsministeriums. Mit dem Regime von Saddam Hussein zuerst und den Kriegen und Embargos der 1990er und frühen 2000er Jahre danach verschlechterte sich das Gesundheitssystem jedoch erheblich. „In jeder größeren Stadt des Landes gibt es jeweils nur ein Krankenhaus. Sie sind klein, alt, schmutzig und schlecht ausgestattet“, erklärt Adnan.</p><p>Das öffentliche System hat eine klassische neoliberale Umstrukturierung durchlaufen, die Klientelismus und Korruption hervorgebracht hat: „Die Sanktionen, die in den 1990er Jahren und nach 2003 verhängt wurden, lasten immer noch auf unserem Gesundheitssystem. Die Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens hat sich in den letzten 15 Jahren dramatisch beschleunigt. Heute müssen wir für jeden einzelnen Ärzt*innenbesuch bezahlen, und oft sind wir gezwungen, den wenigen im Land verbliebenen Ärzt*innen zusätzlich 'unter dem Tisch' zu bezahlen, um eine Behandlung zu erhalten.“</p><p>Bevor dieser strukturelle Umbau des öffentlichen Gesundheitswesens in Gang gesetzt wurde, verwaltete und kontrollierte die irakische Regierung über das Staatsunternehmen Kimadia den <a href="https://www.reuters.com/article/us-iraq-health-drugs/iraqs-healthcare-has-fallen-far-idUSKBN20P1RP">Medikamentenimport</a>. Heute kontrolliert es nur noch 25 Prozent der Importe. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums werden heute 40 Prozent der Medikamente über den Schwarzmarkt mit den Nachbarländern abgehandelt, viele Medikamente kommen gar nicht erst ins Land. „Der Medikamentenmarkt und die Apotheken sind ebenfalls privatisiert worden, und die Kosten sind explodiert“, berichtet Adnan. Und das schaffe schwerwiegende weitere Probleme: „Oftmals geben uns die Ärzt*innen einfach Paracetamol, auch bei ernsteren Symptomen. Außerdem werfen die Händler*innen, die die Verteilung kontrollieren, selbstgemachte und qualitativ schlechte Medikamente auf den Markt. Wir haben viele Fälle von Menschen mit Leber- und Nierenproblemen, die mit der Einnahme selbst hergestellter Medikamente zusammenhängen."</p><p>Diese Gesundheitsmängel spiegeln sich heute auch im Umgang der Regierung und des Gesundheitsministeriums mit dem Coronavirus wider: „Die Politiker*innen sind in keiner Weise um unsere soziale und gesundheitliche Situation besorgt. Es mangelt an Information und Prävention. Hinzu kommt, dass religiöse Führer die Nachricht verbreiten, dass wir als praktizierende Muslim*innen vor einer Ansteckung geschützt sind. Das ist haarsträubend.“</p><h2><b>Solidarität in Zeiten des Virus</b></h2><p>Die Proteste, die im Oktober 2019 ausbrachen, müssen daher mit diesen gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten einen Umgang finden. Die <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/03/iraq-protests-coronavirus.html">Proteste gehen grundsätzlich weiter</a>, insbesondere, weil die Corona-Krise ihren Kern getroffen hat. „Die Gründe, warum wir in den letzten Monaten auf die Straße gingen, waren genau diese: Das Sozial- und Gesundheitssystem ist völlig unzureichend, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen“, sagt Adnan, der über die Proteste auch in den <a href="https://t.me/iraqnewwss">sozialen Medien</a> schreibt.</p><p>Seit bekannt ist, dass das Virus auch den Mittleren Osten allgemein und den Irak im Besonderen erfasst hat, ist die Beteiligung natürlich zurückgegangen, Demonstrationen wurden verschoben, Events abgesagt. Doch der Tahrir-Platz bleibt – auch wenn von weniger Menschen – weiterhin besetzt. Das Virus ist selbst zu einem Vehikel des Protests geworden: „In unserem Zeltdorf auf dem Tahrir-Platz bewegen wir uns nur in kleinen Gruppen und desinfizieren alles: Kleidung, Zelte, Matratzen, Decken, Werkzeuge und Utensilien. Wir verteilen persönliche Schutzausrüstung wie Masken und Handschuhe.“ Mit den getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid19-Verbreitung bietet die Besetzung somit einen Schutzraum und Schutzmöglichkeiten, die sonst im Lebensalltag nicht bestehen.</p><p>Die im Zuge der Proteste entstandenen Organisationsstrukturen ersetzen weitestgehend die Aufgaben, die der Staat übernehmen sollte, erklärt Adnan: „Wir haben eine Sensibilisierungskampagne nicht nur in der Besetzung selbst gestartet. Wir gehen durch die Straßen und in die popularen Nachbarschaften und erklären, wie wir uns vor der Ansteckung schützen können: zu Hause bleiben, religiöse Versammlungen vermeiden und so weiter, immer in Respekt der Anweisungen, die von der Weltgesundheitsorganisation gemacht werden.“</p><p>Neben der Präventionskampagne entwickeln die Aktivist*innen auch Praktiken der gegenseitigen Hilfe. „Um das Problem der Nahrungsmittelknappheit und der steigenden Preise anzugehen, organisieren wir in den Arbeiter*innenvierteln die solidarische Verteilung von Nahrungsmitteln: Reis, Gemüse, Zucker und andere Grundgüter.“ Und Solidarität hört nicht an den Grenzen auf. Angesichts der Gewalt, mit der das Virus den Nachbarn <a href="https://www.alaraby.co.uk/english/news/2020/3/13/iran-imposes-lockdown-to-check-all-citizens-for-coronavirus">Iran</a> getroffen hat, beschränkt sich das Sammeln von Medikamenten und Grundgüter nicht auf den Irak. „Wir sammeln Masken, Desinfektionsmittel und Medikamente, um sie unseren iranischen Genoss*innen zu schicken."</p><p>Das Coronavirus ist vor allem ein Kampf gegen den korrupten Staat und die von ihm verursachten sozialen Ungleichheiten. Bei unserem Gespräch bleibt Adnan deshalb kämpferisch: "Die Protestierenden wiederholen ständig: Wir haben uns nicht zurückgezogen, nachdem ihr uns mit Tränengas angegriffen habt, nachdem ihre unsere Genoss*innen entführt habt, nachdem ihr auf unsere Schwestern und Brüder geschossen habt. Wir bleiben hier. <a href="https://jacobinmag.com/2020/02/iraq-protests-sadr-sectarianism">Vaterland oder Tod</a>, ist unsere Losung."</p><hr/><p><i>Hier die</i> <a href="https://www.facebook.com/WOAGSE/posts/827843664381131$"><i>Erklärung der Workers Against Sectarianism</i></a><i> für den Aufbau von Solidarität und gegenseitiger Hilfe in Zeiten des Coronavirus.</i></p></div>
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Die Eskalation des USA-Iran-Konflikts2020-01-06T16:57:35.434657+00:002020-01-07T11:37:21.466622+00:00Evrim Muştu und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-eskalation-des-usa-iran-konflikts/
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<h1>Die Eskalation des USA-Iran-Konflikts</h1>
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<div class="rich-text"><p>Die Ermordung des Generalmajors und Kommandeurs der al-Quds Eliteeinheiten des iranischen Regimes, Qasem Soleimani, ist nach US-Präsident Donald Trump eine Reaktion auf die Angriffe der pro-iranischen Milizen auf die US-amerikanische Botschaft Ende Dezember in Bagdad. In seiner <a href="https://twitter.com/WhiteHouse/status/1213201192647614475">Stellungnahme</a> ließ Trump zudem verlauten, dass es sich bei dem Drohnenangriff – wie damals bei der Ermordung Bin Ladens unter Obama – um einen defensiven Akt seiner Regierung gehandelt hätte. Wie immer besteht die Möglichkeit, dass es sich einmal mehr um reinen Zynismus Trump‘scher Art handelt, mit dem er der Weltöffentlichkeit einmal mehr ins Gesicht lügt – oder aber, diese Erklärung ist ernst gemeint und der Angriff als Teil einer erweiterten Defensivstrategie zu interpretieren. Zweiteres bedarf unserer Meinung nach einer genaueren Erläuterung: Als solcher wäre der Angriff nämlich ein Fall „aktiver Verteidigung“, der es den USA in der gegenwärtigen Phase des Konflikts mit dem Iran erlauben würde, bestimmend zu bleiben. Aus der Defensive kann dem Feind schmerzhafter Schaden zugefügt werden, ohne die moralischen Nachteile eines direkten Angriffs tragen zu müssen – klarer Vorteil gegenüber einem Frontalangriff. Es ist damit zu rechnen, dass entweder die Strategie aktiver Verteidigung mit stärkerem Nachdruck verfolgt wird, oder aber die Bedingungen für einen Übergang zu einer direkten, unverhüllten Offensive erwirkt werden; beides Wege, um die Position der USA im Konflikt mit dem Iran massiv zu stärken. Dass Präsident Trump für diese Strategie nicht einmal mehr parlamentarisch legitimiert werden muss, wurde schon Ende Juni 2019 entschieden: In der damaligen Phase der Eskalation bestätigte der US-Senat den Vorschlag Trumps, auch <a href="https://www.nytimes.com/2019/06/28/us/politics/trump-iran-senate.html">ohne Erlaubnis des Kongresses</a> den Iran angreifen zu können.</p><h2><b>Der Konflikt zwischen den USA und dem Iran im Irak</b></h2><p>Dass die iranische Führung nach der Ermordung Soleimanis zum Gegenschlag ausholen wird, steht außer Frage. Es geht darum zu verstehen, wo und wie sie dazu ansetzen wird. Der Iran ist in jeder Hinsicht die militärisch schwächere Partei und muss strategisch mit seinen Kapazitäten umgehen. Wenn er zuschlagen will, muss er das dort tun, wo er stärker aufgestellt ist als die USA. Und das ist im Irak.</p><p>Dass der Iran seinen Einfluss im Irak im Zuge der US-Invasion und der damit einhergehenden Zerschlagung des irakischen Staates kontinuierlich ausweiten konnte, ist zutiefst paradox. Denn es waren schiitisch-politische Oppositionsgruppen mit guten Beziehungen zum iranischen Regime, die aufgrund der Unfähigkeit der westlichen Besatzungsmächte, das Land zu stabilisieren, direkt vom Exil ins Zentrum der politischen Macht in Bagdad katapultiert wurden. Ihre Loyalität zur Islamischen Republik haben sie dabei nie vergessen. Aufgrund der latent instabilen Lage des Iraks war klar, dass die USA und der Iran sich irgendwann hier begegnen werden. Der Zusammenstoß war also nur eine Frage der Zeit.</p><p>Dass es jedoch genau jetzt passiert hat verschiedene Gründe. Die Position des Irans im Irak – vertreten bis dato durch Soleimani – ist, aufgrund der seit nun schon über <a href="https://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/">drei Monate anhaltenden Massenproteste</a> gegen alle herrschenden politischen Kräfte und das allgemeine Elend großer Bevölkerungsteile, so schwach wie nie zuvor. Die <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-protesters-leaks-confirm-iran-191119160040623.html">Protestierenden machten keinen Hehl daraus</a>, dass sie sich über den schwerwiegenden Einfluss des Irans im Klaren sind, weshalb die Proteste nicht selten stark anti-iranischen Charakter annahmen. Soleimani bestätigte die Stärke der Proteste seinerseits durch sein Agieren in der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/11/iraq-protests-karbala-baghdad-iran.html">Vermittlerrolle im krisengerüttelten irakischen Machtblock</a> und durch seine abschätzigen Kommentare zum Aufstand der Massen, denen gegenüber „man kein Zeichen der Schwäche zeigen“ dürfe.</p><p>Trotz aller vordergründigen Sesselwechsel und Reformen, die seitens des herrschenden Blockes im Irak als Konzessionen in Gang gesetzt wurden, war kurz- und mittelfristig kein Abebben der Proteste zu erwarten. Inbesondere, weil sich vor dem Hintergrund des gemeinsamen Kampfes auch hier solidarische Strukturen und neue informelle Netzwerke zu formieren begonnen haben, die die Proteste unterstützen. Zudem haben die Protestierenden die defensive Reaktion, die Konzessionen und leeren Versprechen der Regierung als Teilsieg interpretiert, was ihren Kampfgeist eher stärkt als schwächt. Schließlich handelt es sich bei den Protestierenden noch immer um Menschen, deren Hoffnung sich aus einer Ohnmacht und Perspektivlosigkeit speist, deren Standpunkt also „alles oder nichts“ ist. Folglich glauben sie nicht mehr daran, dass die Sackgasse, in der der herrschende Block im Irak steckt, mit Reformen zu überwinden ist.</p><p>Offensichtlich wollten Trump und seine Regierung die Gunst der Stunde nutzen, um dem Iran und seinen militärischen und politischen Verbündeten im Irak einen harten Schlag zuzufügen. Dabei spekulierten sie wohl auf das alte Mantra, dass der „Feind meines Feindes mein Freund“ sei: So <a href="https://twitter.com/secpompeo/status/1212955403077767168">twitterte Außenminister Mike Pompeo</a> ein Video, auf dem Protestierende zu sehen sind, die kurz nach der Ermordung Soleimanis und seiner rechten Hand im Irak, dem langjährigen Milizenführer der Kata’ib Hezbollah Abu Mahdi al-Muhandis (aber auch vieler <a href="https://www.vox.com/2020/1/3/21048986/airstrike-us-iran-iraq-day-after-soleimani">weiterer Kader</a>), freudig durch die Straßen zogen.</p><p>Auch wenn dieses Ereignis aus Sicht der Protestierenden sehr wohl ein Grund zur Freunde darstellt, erklärten lokale Quellen dem re:volt magazine gegenüber, dass dieser ersten Freudenanfall über den Tod Soleimanis schnell eingedämmt wurde: Vor allem aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der „Wohltäterin“ um die USA handelte. Vielen Aktivist*innen ist klar, dass diese gewiss viele Interessen verfolgen, aber sicher nicht diejenigen, für die die Protestbewegung einsteht. Diese allgemeine und nicht überraschende Skepsis der Protestierenden gegenüber den USA wird die Bewegung in eine Position der doppelten Opposition gegen die USA und gegen den Iran drängen und die Position der USA – angesichts ihrer geographisch-militärischen Isoliertheit – schwächen.</p><h2><b>Gegenschlag des Iran und seiner Verbündeten irakischen Kräfte</b></h2><p>Ist die Islamische Republik aber tatsächlich in der Lage, in eine kriegerische Auseinandersetzung mit den USA zu treten? Zunächst einmal sind die ökonomischen Grundlagen dafür äußerst knapp: Aufgrund der von Saudi-Arabien diktierten gemäßigten Erdölpreispolitik und der westlichen Sanktionspolitik tendiert der Iran zurzeit dazu, sein Erdöl den ostasiatischen Ländern zu Tiefstpreisen zu verkaufen. Die sinkenden Öleinnahmen werden zudem von einer hohen Inflationsrate begleitet. Gleichzeitig wurde während den <a href="http://nena-news.it/what-is-happening-in-iran/">iranischen Protesten</a> im November 2019 die Kritik laut, das iranische Regime verschwende die sinkenden Öleinnahmen in der Finanzierung seiner Auslandsinterventionen in Syrien, im Libanon, in Palästina und im Irak. Dahinter stand weniger eine anti-arabische Haltung der iranischen Protestierenden, als vielmehr eine fundamentale Skepsis gegenüber dem Nutzen der iranischen Außenpolitik für die Interessen der iranischen popularen Klassen. Ob sich das iranische Regime nun also in diesem gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext ein weiteres teures militärische Abenteuer leisten kann, ist zweifelhaft – oder zumindest wäre es eine extreme Gratwanderung für die iranische Führung.</p><p>Nichtsdestotrotz muss die iranische Führung ihrer Logik nach auf „angemessene Weise“ reagieren, will sie – angesichts des hochrangigen Verlustes – den USA und seinen regionalen Verbündeten gegenüber nicht das Gesicht verlieren. Die iranische Militärführung ließ bereits verlauten, dass alle Positionen der US-amerikanischen Militärkräfte in der Region erneut registriert worden seien. Wie ein Krieg aussehen könnte, darüber wurde im Zuge der Verschärfung der Sanktionen im Mai des vergangenen Jahres <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/iran/2019-06-04/what-war-iran-would-look">bereits nachgedacht</a>. In jedem Fall wird der Iran das Feld nicht kampflos räumen. Das Ausmaß des Verlusts an politischem und militärischem Einfluss, den sich das Regime in den vergangenen Jahren trotz des Sanktionskrieges und der internationalen Isolierung erarbeitet hat, bestimmt das Schicksal der iranischen Führung.</p><h2><b>Perspektiven eines</b> <b><i>inter-imperialistischen</i></b><b> Konfliktes</b></h2><p>Trump und seine Regierung plant nun, <a href="http://nena-news.it/su-ordine-di-trump-ucciso-soleimani-in-arrivo-3mila-soldati-2/">weitere 3.000 Soldaten in die Region</a> zu entsenden. Aufgrund der herrschenden politischen Krise im Irak ist aber auch eine weitere Schwächung des Iran durchaus zweifelhaft, da die kriegerische Austragung des inter-imperialistischen Konflikts zwischen den USA und dem Iran auf irakischem Boden die Restabilisierung des heute gespaltenen irakischen Blockes aufgrund eines allgemeinen Antiamerikanismus im Irak noch einmal beschleunigen wird. Aufgrund der Ereignisse und dem Druck aus Teheran hat das irakische Parlament in einer dringlichen Sitzung zusammengefunden, um Maßnahmen zu treffen, <a href="https://twitter.com/farhad965/status/1213820240435527681?s=09">der Präsenz der USA im Irak ein Ende zu setzten</a>. Das ist politisch gesehen oberstes Ziel der iranisch-irakischen Front. Ganz in dieser Absicht hat der bekannte <a href="https://www.aljazeera.com/news/2020/01/iran-tensions-latest-updates-200103022407743.html">schiitische Leader Muqtada al-Sadr</a> derweil dem Iran sein Beileid ausgesprochen und verlauten lassen, dass er den Irak militärisch verteidigen werde.</p><p>Auf Seiten der USA spielen die, in rund zehn Monaten stattfindenden, 46. Präsidentschaftswahlen ebenfalls eine zentrale Rolle. Es ist bekannt, dass die Ablenkung von innenpolitischen Widersprüchen oft über die Akzentuierung außenpolitischer Konflikte geschieht. Wenn es allerdings die Absicht Trumps ist, der internen Opposition auf diese Weise den Wind aus den Segeln zu nehmen, könnte sich sein Plan sogar ins Gegenteil verkehren und seiner Wiederwahl schaden: Es fanden schon in über 80 US-Städten erste <a href="https://www.nytimes.com/2020/01/04/us/iran-anti-war-protests.html">Demonstrationen gegen Trumps Kriegspolitik</a> im Nahen Osten statt. Ironischerweise war es vor acht Jahren gerade Trump, der <a href="https://edition.cnn.com/2020/01/03/politics/kfile-trump-obama-2012-iran-war-reelection/index.html">Obama vorgeworfen</a> hatte, den Iran angreifen zu wollen, um wiedergewählt zu werden.</p><h2><b>Auswirkungen auf die irakische Protestbewegung</b></h2><p>Die Belagerung der amerikanischen Botschaft und die Tötung Soleimanis hat die soziale Protestbewegung komplett in den Schatten gestellt. Wurde in den irakischen Zeitungen noch vor einer Woche täglich über die Besetzung des Tahrir-Platzes und über die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und dem Ende des sektiererischen politischen Systems berichtet, geht es heute nur noch um den Konflikt zwischen den USA und den iranischen und pro-iranischen Milizen im Land selbst. Eine Austragung dieses Konfliktes auf irakischem Boden wird die dominanten Konfliktlinien im Irak und in der gesamten Region verschieben und die emanzipatorischen Proteste im Nahen Osten und in Nordafrika überschatten.</p><p>Auch besteht das Risiko, dass sich die Proteste in einer solchen Situation demobilisieren. Die Protestierenden könnten sich dazu verleiten lassen, die Lösung des politischen Konflikts in der Positionierung auf der einen oder anderen Seite der imperialistischen Barrikade zu sehen. Zudem zahlen soziale Bewegungen nur zu oft den Preis einer Militarisierung des inter-imperialistischen Konflikts; denn kriegerische Auseinandersetzungen zerstören emanzipatorische Prozesse, zivile Infrastruktur und Menschenleben. In der Region gibt es mit Syrien, dem Jemen und Libyen mehrere einschlägige Beispiele dafür. Sowohl im Irak wie auch im Iran passiert dies über eine mögliche Einführung respektive Verschärfungen der Sanktionen – und im Kriegsfall zur Implementierung einer harschen Rationierungspolitik.</p><p>Angesichts der Gefahr einer beschleunigten Eskalation und einer Intensivierung des Konflikts besteht die einzige Möglichkeit darin, den emanzipativen Kampf der protestierenden Massen in der Region aufrechtzuerhalten. Das ist allerdings nur möglich, wenn die Mobilisierung gesteigert und internationalisiert und die Position der doppelten Opposition – gegen die herrschenden Regime und gegen einen inter-imperialistischen Krieg – aufrechterhalten wird.</p><p></p><hr/><p>Das Titelbild zeigt die Auswirkungen der Ermordung auf die Protestbewegung. Darauf ist eine Erinnerungsstätte an Gefallene der Revolution zu sehen. Auf Twitter schreibt Zahra Ali زهراء علي (@ZahraSociology) dazu: „Saw the spot where #Sulaimani and #AlMuhandes convoy was hit today on my way to #BaghdadAirport, and thought: just when the most heroic and inclusive uprising seeking to reverse the post-2003 process (and more) started, this happens. #keep_your_conflicts_away_from_iraq“ (2020-01-06)</p><p></p></div>
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„Die Stimme der Frauen ist in dieser Revolution deutlich präsent“2019-12-16T16:37:19.097868+00:002019-12-16T16:37:19.097868+00:00Ansar Jasimredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-stimme-der-frauen-ist-in-dieser-revolution-deutlich-pr%C3%A4sent/
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<h1>„Die Stimme der Frauen ist in dieser Revolution deutlich präsent“</h1>
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<div class="rich-text"><p><i>Die am 1. Oktober 2019 ausgebrochenen </i><a href="https://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/"><i>Proteste im Irak</i></a><i> haben die sozialen, politischen und ökonomischen Widersprüche ans Tageslicht gebracht und die gesellschaftlichen Konfliktlinien verschoben. Das sektiererische politische System ist radikal in Frage gestellt und vermehrt entwickelt sich die Einheit der Protestierenden auf der Basis der Klassenzugehörigkeit. Die irakische Revolution hat einen weiteren und in der Berichterstattung oft vernachlässigten gesellschaftlichen Widerspruch sichtbar gemacht, nämlich die Unterdrückung der Frauen in einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft. Frauen spielen jedoch vermehrt eine zentrale Rolle in den irakischen Protesten, die trotz </i><a href="https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/8/defiant-iraqi-protesters-pour-onto-streets-despite-deadly-attacks"><i>massiver Repression</i></a><i> nicht abebben. Um diese Rolle genauer zu verstehen, hat Autorin Ansar Jasim mit Iqbal gesprochen, einer feministischen Aktivistin aus dem Umland von Bagdad, die von Anfang an an den Protesten teilnimmt.</i></p><p></p><p><b>Wir hören hier in den Medien wenig zur aktuellen Lage im Irak, und noch weniger über die Zusammensetzung der Proteste. Wie nehmen die Frauen an und in dieser Revolution teil?</b></p><p>Meinen Beobachtungen zu Folge unterscheidet sich die Partizipation von Frauen in der derzeitigen Revolution kaum von der der Männer. Das war in den Protesten der letzten Jahre nicht so. Bisher hatten Frauen eine sehr eingeschränkte Rolle, sie waren total „überwacht“ von den männlichen und patriarchalen Elementen in den Protesten. Dieses Mal ist das anders. Frauen werden angespornt, an den Protesten teilzunehmen. Sie beteiligen sich auf allen Ebenen: im von den Protestierenden besetzten Türkischen Restaurant – oder „Schloss der Freien“, wie es nun benannt wurde –, auf der Straße, bei der Organisierung der Proteste, bei der Säuberung der Straßen, im medizinischen Bereich. Und auch andersherum findet eine Veränderung statt: Männer und nicht nur Frauen bereiten Nahrung für die Protestierenden zu – es geht also weg von der Vorstellung, dass die Frauen eben nur Brot machen und kochen. Das tun sie auch. Aber dieses Mal nehmen sie eben nicht nur in diesen Bereichen teil, sondern in allen Bereichen, wo auch Männer vertreten sind. Von den aller ersten Nächten an haben sie auch bei Kälte in den Zelten auf den Plätzen geschlafen.</p><p></p><p><b>Wie würdest du die gesellschaftliche Akzeptanz dafür beschreiben?</b></p><p>Es ist überhaupt nicht normal! Aber die Frauen haben es der Gesellschaft aufgedrückt. Das geht nun so weit, dass Personen, die dieses Verhalten kritisieren, dies gar nicht mehr so einfach machen könnten: Sie würden Gegenwind von tausenden anderen Menschen bekommen, die diese Veränderungen verteidigen.</p><p></p><p><b>Welchen sozialen Hintergrund haben diese Frauen?</b></p><p>Die Frauen gehören insgesamt zu allen sozialen Schichten. Aber jene Frauen, die eine besonders hohe Bildung und gesellschaftliche Position haben und wirtschaftlich unabhängig sind, sind kaum vertreten. Vor allem sind es Schülerinnen, Studentinnen, Mädchen aus einfachen Verhältnissen, Lehrerinnen, selbst Staatsangestellte. Sie nehmen alle daran teil, da es um ihre nicht verwirklichten Rechte geht. Die Stimmen der Frauen sind in dieser Revolution deutlich präsent. Einige der Demonstrant*innen sind der Meinung, dass es darum geht, dass unsere Forderungen erfüllt werden. Ich denke, dass es für uns Frauen darum geht, dass uns unsere Rechte gestohlen wurden. Wir Frauen reden also von Rechten, nicht von Forderungen. Wir haben Rechte, die wir uns erkämpfen müssen von der politischen Klasse, vom regierenden politischen System. Das ist der Grund, warum ich seit dem ersten Oktober auf der Straße bin.</p><p></p><p><b>Es gibt einige Mädchen auf dem Tahrir-Platz (Zentrum des Protests, Anm. Red.), die aus gewalttätigen Haushalten stammen und nun in den besetzten Orten der Revolution Schutz finden. Ist das auch dein Eindruck?</b></p><p>Tatsächlich ist es die Revolution selbst, die einen Schutz kreiert hat für die Frauen, die keinen sicheren Zufluchts- und Rückzugsort haben. Der Tahrir-Platz wurde zu einem Ort, an dem Belästigungen nicht geduldet werden – ganz anders als bei den vorherigen Protesten. Es ist ein Ort, an dem die Frauen in den Zelten schlafen können und sich sicher fühlen. Insbesondere Islamistische Kräfte hatten die Absicht, das immer wieder auszunutzen, um die Bewegung schlecht zu machen und ihren Ruf zu zerstören. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass der öffentliche Raum heute noch oft nicht geschlechtlich durchmischt ist und Teile der konservativen Kräfte eine Durchmischung als „morallos“ verurteilen. Aber bis heute gelingt es ihnen nicht. </p></div>
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<p>Schriftzug: "Die Hälfte der Gesellschaft ist die Revolution"</p>
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<div class="rich-text"><p>Stattdessen werden wir jungen Frauen von allen Protestierenden geschützt. Die Protestorte sind sicher, und somit haben wir ganz stark das Gefühl, dass diese Revolution der Ausgangspunkt für die Befreiung der Frauen hier sein wird. Die Revolution richtet sich gegen Traditionen und Konventionen in der Gesellschaft. Es ist eine Revolution gegen eine politische Klasse, die diese Konventionen und die Religion der Gesellschaft, insbesondere den Frauen, aufgedrückt hat. Sie ist gegen das politische System gerichtet, welches es zum Beispiel auch nicht zulässt, dass Frauen an der Wirtschaft des Landes teilnehmen und wirtschaftlich unabhängig sind. Die Frauen haben nun wirklich das Gefühl, dass es ihre Revolution ist und ihre Rechte realisiert werden können. Dies trifft insbesondere auf diskriminierende Gesetze zu, die die politische Klasse gegen Frauen eingeführt hat. Dazu gehören die Erlaubnis zur Vielehe und die Verheiratung von minderjährigen Mädchen sowie ein benachteiligendes Erbrecht. Diese Revolution richtet sich gegen diese Konventionen. Es ist eine Revolution, die alles zum Sturz führen will, nicht nur einen bestimmten Teil davon.</p><p></p><p><b>Ist es also eine feministische Revolution?</b></p><p>Wann ist diese Revolution ausgebrochen? Wann haben die Massen beschlossen, gegen die politische Klasse auf die Straße zu gehen und der Regierung eine Frist von wenigen Tagen zu geben? Das war, nachdem die Ingenieursstudentinnen für Arbeitsplätze protestiert und die Sicherheitsbehörden sie mit heißem Wasser beworfen hatten. Danach wurde auf Facebook dagegen mobilisiert und dadurch wurde es zu einem Massenprotest. Man kann sagen, dass die feministischen Kämpfe ein zentraler Motor der Proteste sind. Es stimmt schon, dass es eine irakische Revolution ist, aber eigentlich ist es eine feministische Revolution.</p><p></p><p><b>Im Irak gibt es sowieso eine sehr hohe Arbeitslosenquote und ein großer Teil der Massen haben kein regelmäßiges Einkommen. Wirkt sich die Arbeitslosigkeit auf Frauen anders aus als auf Männer?</b></p><p>Es gibt einen sehr großen Unterschied. Als ich studiert habe, da waren wir 66 Frauen und 33 Männer. Die Zahl der graduierenden Frauen ist also wesentlich höher. Für Frauen ist Bildung oft der einzige erlaubte Horizont. Jedes Jahr siehst du hunderte Frauen graduieren, ohne dass sie Chancen auf einen Arbeitsplatz hätten. Als die Ingenieursstudentinnen auf den Straßen waren, da war es geradezu so, als würde der Staat sich an sie richten: Warum gehst du als Frau überhaupt auf die Straße und warum hören wir deine Stimme? So hat der Staat also mit Konvention und Religion auf die Frauen reagiert. Erst nachdem die Frauen auf der Straße waren, folgten auch die Stimmen der Männer.</p><p></p><p><b>Du hast vor allem von Bagdad gesprochen. Wie sieht es in anderen Teilen des Landes aus?</b></p><p>Als für die Demonstrationen mobilisiert wurde, da wurde in allen Gouvernements (19 Provinzen im Irak, Anm. Red.) mobilisiert. Bagdad spielte da eine wichtige Rolle. Aber es folgten Frauen aus allen Gouvernements, seien es Studierende, Graduierte, Bäuerinnen, Gemüseverkäuferinnen, die alleinerziehende Bäckerin und so weiter. Alle Frauen waren auf den Straßen. </p></div>
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<p>Graffiti, welches die Rolle von Frauen in medzinischen Bereich zur Rettung der Protestierenden darstellt</p>
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<div class="rich-text"><p><b>Wie war die Situation der Frauen vor der Revolution?</b></p><p>Vor der Revolution war die Situation der Frauen sehr schlecht. Die Diskriminierung von Frauen war überall sichtbar. Zum Beispiel wurden bei den Anstellungen im Staatsdienst – welche bei uns einige der wenigen Arbeitsplätze sind – ständig Männer bevorzugt, trotz schlechterer Noten. Ausschlaggebend war immer das Argument, Männer seien für eine Familie verantwortlich. Das ignoriert total, dass ich als Frau auch eine Familie zu versorgen habe, selbst, wenn ich nicht verheiratet bin und eben somit nicht dem konventionellen Familienmodel entspreche. Wir sind gegen dieses System. Das politische System benutzt Frauen als Instrument, um mit den Konzepten von „Sünde“ und „Schande“ Druck auf die ganze Gesellschaft auszuüben. Und auch gerade die religiösen Würdenträger haben sich in den letzten Jahren sehr auf die Frauen konzentriert. Bei den Freitagspredigten haben sie die Kleidung von Frauen diskutiert – selbst Frauen, die die Abaya (traditionelle islamische Robe, Anm. Red.) tragen, wurden nicht in Ruhe gelassen. Ständig wurden die Frauen kommentiert: Die eine trägt die Robe zu eng, die andere zu offen und das dürfte nicht sein.</p><p></p><p><b>Warum die Konzentration auf den weiblichen Körper?</b></p><p>Das liegt eben gerade an der wirtschaftlichen und politischen Lage, von der sie immer wieder ablenken wollen. Nur so können sie an der Macht bleiben: Wenn sie die Frauen in den Fokus stellen, und alles dahinter zurückfällt. Frauen sind die große Ausrede, durch welche die politische Klasse reproduziert. Gleichzeitig repräsentiert mich keine jener Frauen, die aufgrund der 25 Prozent-Quote am politischen Prozess im Parlament teilnehmen (Art. 49 Abs. 4 der Irakischen Verfassung von 2005 legt fest, dass der Anteil der weiblichen Abgeordneten im Parlament bei mindestens 25 Prozent liegen muss, Anm. Red.). Es sind Frauen, die diskriminierende Politiken gegen Frauen mitunterstützt haben. Es sind Frauen, die tief patriarchale Politiken und Gesetze wie das der Vielehe unterstützt haben.</p><p></p><p><b>Revolution ist ein Prozess, bei dem es immer wieder Errungenschaften geben kann. Welche siehst du bisher?</b></p><p>Die wichtigste Errungenschaft ist die Präsenz von Frauen auf den Plätzen. Dieser Punkt ist nicht mehr zurückzudrehen und er ist ein Ausgangspunkt für weitere Prozesse. Der 25. Oktober war der Auftakt für die Befreiung der Frau im Irak, denn zu diesem Tag wurde zu Massenprotesten aufgerufen und seit diesem Datum wird der Tahrir-Platz besetzt und die öffentlichen Regeln durcheinandergebracht. Vor diesem Datum wurden Frauen dafür kritisiert, wenn sie nach 20 Uhr auf der Straße waren. Heute schlafen sie auf dem Platz und machen alles, was Männer auch tun.</p><p></p><p><b>Mein Gefühl ist auch, dass jene, die dort neben den Frauen stehen, und gemeinsam mit den Frauen für die Sicherheit sorgen, nicht die Intellektuellen sind, denen ja gerne unterstellt wird, dass sie ein fortschrittliches Denken haben. Aber es sind jene Jungs, die teilweise nicht mal einen Schulabschluss haben, die aus armen und oft auch sehr konservativen Familien kommen, die nun mit den Frauen in den ersten Reihen stehen und ihre Präsenz ohne Wenn und Aber akzeptieren.</b></p><p>Das stimmt. Ich gebe noch ein Beispiel: In meinem Dorf in der Umgebung von Bagdad gibt es einen sehr konservativen, sehr traditionellen Bauern. Er hat seinen Töchtern nie irgend etwas erlaubt. Nachdem er die Nachrichten gesehen hatte, hat er sie zum Tahrir-Platz mitgenommen und sie sind ganze zwei Tage dort geblieben. Das hat ihn auch verändert. </p></div>
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<p>Sichtbarkeit von Frauen* auf den Straßen und Plätzen</p>
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<div class="rich-text"><p>Die Jungs, denen es um die Revolution geht, betonen, dass ihnen die Anwesenheit der Frauen Vertrauen und Sicherheit gibt. Das wird mir immer wieder von allen möglichen Leuten gesagt. Das zeigt sich auch darin, dass von vielen jungen Männern die Schwestern, ihre Cousinen, ihre Schwägerinnen und so weiter auf dem Platz dabei sind. Viele Familien haben den Mädchen zuvor überhaupt keine Freiräume gelassen: Von der Schule nach Hause und das war‘s. Nun sind sie auf dem Platz und bleiben dort. Und es gibt kein Zurück!</p><p></p><p><b>Wie hat der Staat auf die Präsenz der Frauen reagiert?</b></p><p>Es wurden Aktivistinnen und insbesondere Medizinerinnen gezielt entführt. Nach ihrer Freilassung wurden sie weiterhin bedroht, sie sollen nie wieder auf den Protestplatz gehen. Dieses Mal funktioniert diese Einschüchterung aber nicht. Und es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt: Es wird immer gesagt, dass Frauen aufgrund körperlicher Schwäche bestimmte Dinge nicht tun könnten. Auch das wird in dieser Revolution widerlegt. Es gibt dieses <a href="https://www.youtube.com/watch?v=e6iPirI59zA">epische Video</a> von einer der Medizinerinnen vom Tahrir-Platz. Ich habe das damals selbst gesehen. Einer der Protestierenden wurde verletzt und er hing unter einer der Brücken, die vom Platz zur verbotenen „Green-Zone“ (hochmilitarisierter Distrikt in Badgad, Anm. Red.) führen. Sie ist unter die Brücke gegangen, kletterte zu dem Verletzten hinauf und leistete an Ort und Stelle Erste Hilfe. Sie blieb so lange bei ihm, bis er gerettet werden konnte. Es geht also nicht um Muskelstärke. Aber das Aufstülpen der gesellschaftlich konstruierten Rolle hat Tradition. Es hat Frauen oft glauben gemacht, dass sie bestimmte Dinge wirklich nicht können und sie schwächer wären. Nun ändert sich das: Frauen klettern, Frauen werden zu Tuktuk-Fahrerinnen, Frauen schützen die anderen Protestierenden vor Tränengas indem sie die Tränengaskanister fangen und wegwerfen. Dafür muss man kein Mann sein. Somit hat diese Revolution diese ganzen rückschrittlichen Ideen ins Wanken gebracht.</p><p></p><p><b>Glaubst du, dass durch diese Revolution eine linke und feministische Bewegung im Irak entstehen wird? Bisher gab es zwar viele Feminist*innen, aber keine Massenbewegung.</b></p><p>Für mich ist klar, dass linke Ideen sehr präsent sind auf den Protestplätzen – selbst, wenn sie sie so nicht benennen. Man muss dazu vielleicht wissen, dass es eine klare Empfindlichkeit demgegenüber hier gibt, da sie allen politischen Parteien gegenüber eine Abneigung hegen, auch gegenüber der kommunistischen Partei. Aber worauf die Leute abzielen und wie sie miteinander umgehen, das ist ganz klar links. Der beste Beweis dafür ist, dass wir als marxistische Feminist*innen das größte Plakat auf dem Tahrir-Gelände aufhängen konnten. Darauf steht „Alle Macht gehört den rebellierenden Massen“. Wir sind sehr präsent auf dem Platz, arbeiten dort und reden mit den Leuten. Damit erreichen wir täglich mehr und mehr und können noch mehr Ideen unter die Massen bringen; etwa, wie wichtig es ist, dass die Massen sich selbst organisieren und eine Alternative zum jetzigen politischen System schaffen. Selbst wenn man der Ansicht wäre, dass diese Revolution nicht den Umsturz des politischen Systems schaffen wird, so hat sie es aber bisher geschafft, Frauen einen Horizont zu geben. Sie hat der Gesellschaft verständlich gemacht, dass Frauen der essentielle Part der Revolution sind und dass der Platz der Frau in der gesamten Gesellschaft ist. Alle vorherigen Prinzipien, dass Frauen nur halbe Lebewesen seien, wurden zerstört. Wenn der politische Umsturz scheitert, dann werden Frauen, die auf den Protestplätzen präsent sind, dennoch nie wieder einfach den Mund halten. Sie werden nicht einfach herumsitzen, sondern sich neu organisieren für einen weiteren Aufstand. Und jeder kommende Aufstand wird noch größer werden. </p></div>
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Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung2019-12-02T09:43:08.626397+00:002019-12-02T09:45:25.982228+00:00Evrim Muştu und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/
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<span class="content-copyright">Alex MacDonald</span>
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<div class="rich-text"><p>Die Massenproteste im Irak, die seit Oktober nicht abebben und bislang über 400 Todesopfer und zehntausende Verletzte forderten, stellen in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes dar. Im Hinblick auf ihre Ursachen tun sie dies allerdings nicht: Korruption auf allen Ebenen der Politik, hohe Arbeitslosigkeit und miserable Lebensbedingungen des Großteils der Bevölkerung sind die übergreifenden Quellen der sozialen Spannungen, die sich nun entladen. Die <a href="https://www.rosalux.de/news/id/41085/der-aufstand-der-arbeitslosen/">Proteste</a> läuten eine tiefe soziale und politische Krise ein, deren Folgen weit über den Irak hinausreichen. In den <a href="https://www.rosalux.de/news/id/40919/die-bewegung-braucht-fuehrung-organisation-und-klare-perspektiven/">vergangenen Jahren</a> kam es immer wieder zu Protesten, die auf diese oder jene Weise niedergeschlagen und beschwichtigt wurden. Diesmal jedoch scheint beides nicht mehr möglich zu sein.</p><p>Am 1. Oktober 2019 explodierten die ersten Demonstrationen gegen die irakische Regierung und insbesondere gegen den 77-jährigen Premierminister Adel Abdel Mahdi, der 2018 sein Amt angetreten hatte. Die Demonstrationen nahmen in der irakischen Hauptstadt Baghdad ihren Anfang und weiteten sich von dort in weitere Provinzen, hauptsächlich in den mehrheitlich schiitischen Süden, aus. Konkret wurde der Rücktritt Abdel Mahdis gefordert, der für die Protestierenden jedoch nicht nur die Regierung repräsentiert. Von Anfang an wurde deutlich, dass er als Teil eines über ihn hinausgehenden politischen Gleichgewichts zwischen staatlichen und nicht-staatlichen politischen Akteuren die „herrschende Ordnung“ als Ganzes symbolisiert. Das passiert nicht zuletzt deshalb, weil dieses Akteure in der „außerirdischen“ <i>Green Zone</i> (einem hochmilitarisierten Stadtteil Baghdads, Anm. Red) lokalisiert werden, in der die wesentlichen Institutionen der Macht ihr Dasein hermetisch abgeschottet und vermeintlich unabhängig vom Rest der Stadt und des Landes fristen.</p><p>Die tiefen Risse, die durch die Proteste einerseits sichtbar gemacht wurden und die diese andererseits in die Herrschaftsstruktur geschlagen haben – und das politische System damit in eine umfassende Krise stürzten –, erklären sich zum Großteil aus den verschobenen gesellschaftlichen Konfliktlinien: Die konfessionellen und ethnischen Feindseligkeiten, die insbesondere mit der US-Besatzung im Jahr 2003 institutionalisiert wurden, lösen sich mit den Protesten nach und nach auf und sind nicht durch bislang gewohntes Vorgehen zu übertünchen. Letzteres lässt sich beispielsweise an den Reaktionen der Sicherheitskräfte erkennen. Innerhalb der ersten drei Tage der Proteste zählte man bereits 38 Tote und hunderte Verletzte. Streitkräfte der irakischen Regierung (Polizei und Armee) und Paramilitärs, die auf Befehl der iranischen Milizen intervenieren, schossen mit Tränengaskanistern und scharfer Munition auf die protestierenden Menschenmengen. Ihre gnadenlose Antwort auf die Proteste stellt den unmittelbaren Grund für die Eskalation des Konfliktes dar und ebnete den Weg für einen massenhaften Aufstand gegen die herrschende politische und soziale Lage im Allgemeinen.</p><p>Die Gewalt der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden eskalierte noch einmal <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraq-security-forces-kill-protesters-nasiriyah-army-deploys-191128084334582.html">Ende November</a>. In Nasiriya, im Süden des Landes, wurden 29 Menschen bei der Blockade einer Brücke getötet; in Najaf wurden 45 Menschen getötet, als die Protestierenden das iranische Konsulat stürmten; in Bagdad verloren schließlich vier Menschen das Leben. Die Sicherheitskräfte hatten mit scharfer Munition geschossen.</p><h2><b>Verelendung der Massen und Korruption</b></h2><p>Die protestierenden Massen befinden sich offensichtlich zwischen dem Hammer der brutalen Unterdrückung und dem Amboss der nicht zu ertragenden Lebensverhältnisse. Wie ist es dazu gekommen?</p><p>Große Teile der irakischen Gesellschaft leiden unter akutem Mangel der Befriedigung von Grundbedürfnissen: zumutbarer Wohnraum, Nahrungs-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und so weiter. Ein Blick auf die <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/irak-une-economie-ravagee-par-pres-de-quatre-decennies-de-conflits">ökonomische Struktur und Entwicklung des Irak</a> lässt schnell erkennen, weshalb das der Fall ist. In Folge von Krisen, Kriegen und Sanktionen über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg sind die Kapazitäten der allgemeinen Waren- und Dienstleistungsproduktion im Irak im Grunde komplett zerstört worden. Durch die neoliberale Öffnung der Wirtschaft im Zuge der Besatzung und Teil des Plans seitens der USA, den Irak zu einem neuen Modell des Regime-Changes umzuformen – inklusive Integration in den Weltmarkt, wurden die verbleibenden Reste der Produktion einer globalen Konkurrenz ausgesetzt. Dies beschleunigte den <a href="http://nena-news.it/iraq-the-revolution-against-sectarian-system-and-for-social-justice/">Zerfallsprozess</a> weiter.</p><p>Die <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/l-irak-fusionne-enfin-dans-un-souffle-revolutionnaire">Kriege und Krisen</a>, wie zuletzt der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) 2014 bis 2017, sorgten auch dafür, dass derzeit die Entwicklung eines produktiven Sektors unmöglich scheint. Zu den Folgen zählen zum einen fünf Millionen Binnengeflüchtete, die zum großen Teil noch immer unter extrem prekären Verhältnissen in Lagern leben müssen. Andererseits verstärken derartige Konflikte auch die Zerstörung der Produktivkräfte, indem ihre Grundlagen wie elektrische Versorgung, Möglichkeiten des Warentransports und so weiter unterbunden werden.</p><p>Mit dem Zerfallsprozess ging auch ein <a href="https://tradingeconomics.com/iraq/imports">starker Anstieg des Imports</a> von Produkten des alltäglichen Konsums einher. Schien der Wert der importierten Waren vor dem Hintergrund der Sanktionen vor dem Krieg 2003 mit etwa zehn Milliarden US-Dollar bereits beträchtlich, beträgt er mittlerweile knapp 60 Milliarden US-Dollar. Das von Zeit zu Zeit feststellbare Wirtschaftswachstum geht dabei direkt auf den Output der <a href="https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/CR/2019/1IRQEA2019002.ashx">Erdölproduktion</a> zurück. 2018 machte der Erdölsektor 61 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil der Erdölproduktion am gesamten Export belief sich indes auf ungeheure 99.6 Prozent. Zwischen 2003 und 2018 wurden durch den Verkauf von Erdöl 850 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2018 deckten die Einnahmen durch Erdölexporte 92 Prozent des budgetierten Haushaltes, während im Hinblick auf die <a href="https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b6d747440f0b640b095e76f/Inclusive_and_sustained_growth_in_Iraq.pdf%20">Beschäftigungsverhältnisse</a> nur ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung in diesem Sektor ihr Einkommen generierten.</p><p>Die ökonomische Struktur des Iraks wird im Wesentlichen durch eine doppelte Abhängigkeit – genauer gesagt von Warenimporten und Erdölexporten – und durch Kriege bestimmt. Die sozialen Folgen sind Vertreibung, Massenarbeitslosigkeit, Armut. Letztere nahm innerhalb von vier Jahren rasant zu, sie stieg von 18 Prozent im Jahr 2014 auf 22 Prozent im Jahr 2017, wobei zu vermuten ist, dass die realen Verhältnisse diese offiziell erhobenen Zahlen weit übersteigen. Innerhalb eines Jahres (2014) gingen zudem die Einkommen der Lohnabhängigen um 14.9 Prozent zurück. Doch die Armut drückt sich nicht nur monetär aus. Sie berührt auch die „qualitativen“ Elemente in Form der Grundbedürfnisse, obwohl die Regierung die <a href="http://www.bayancenter.org/en/2018/03/1461/">Investitionen in derlei Infrastruktur</a> stark ausgeweitet hat. Auch weite Teile der Mittelschicht sind davon betroffen.</p><p><a href="https://www.cnbc.com/2019/01/30/iraqs-massive-2019-budget-still-fails-to-address-reform-needs.html">Das Regierungsbudget</a> stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 45 Prozent, während 90 Prozent davon durch Erdölexporte finanziert wird. Über die Hälfte des erhöhten Budgets fließt in Form von Löhnen an verschiedenste zivile und militärische Organe des Staates. Ein großer Teil geht an die Milizen und die restlichen Sicherheitskräfte, die nun auch an der Niederschlagung der Proteste beteiligt sind. Ein weiterer fließt in die staatlichen Unternehmen, die eigens für die Bereitstellung der Infrastrukturdienstleistungen gegründet wurde. 2017 arbeiteten ca. eine <a href="https://www.mediapart.fr/journal/international/101119/irak-une-economie-ravagee-par-pres-de-quatre-decennies-de-conflits">halbe Million Angestellte</a> in diesen Unternehmen. Es wird geschätzt, dass insgesamt etwa fünf Millionen Menschen direkt und indirekt abhängig von diesen Löhnen sind. Insofern verspricht die Kontrolle eines Ministeriums für politische Akteure den lukrativen Zugriff auf Finanzquellen, um Strukturen und Positionen zu festigen und Einfluss geltend zu machen. Schätzungen zufolge sind seit 2003 etwa 450 Milliarden US-Dollar in den Korridoren dieses Apparates versickert. Angesichts dieser Dimensionen und der Verelendung im Lichte dieses enormen Reichtums war es also nur eine Frage der Zeit, bis „die Straße“ Rechenschaft fordern sollte.</p><h2><b>Brüche im Machtapparat und globale Einbindungsversuche</b></h2><p>Der durch die Proteste entstandene Druck hat die internen Brüche des Machtapparates zutage gefördert und den Konsens über die Verteilung der Macht vor allem innerhalb des Staates durcheinandergebracht. Alle relevanten politischen Akteure wurden dazu gezwungen, sich zu bewegen und Stellung zu beziehen.</p><p>Als klar wurde, dass der anfangs kleine Aufstand sich aufgrund der exorbitanten Gewalt und ihr zum Trotz rasch in Massenaufstände verwandelte, war es <a href="https://www.unz.com/pcockburn/who-is-muqtada-al-sadr/">Muqtada as-Sadr</a> (ein nationalistischer shiitischer Geistlicher, Anm. Red.) der sich als erster öffentlich gegen die Reaktion der Regierung und des Sicherheitsapparates äußerte. Das überrascht nicht, da Sadrs Bewegung die revoltierenden und mehrheitlich schiitischen und verelendeten Massen bis dato vermeintlich repräsentierte und unter Kontrolle zu haben schien. Im Grunde war es seine Basis, die auf die Barrikaden ging.</p><p>Für die Regierung, an der seine Bewegung als größte parlamentarische Fraktion beteiligt und mit fünf Ministerien vertreten ist, zeichnete sich eine tiefe Krise ab. Sie wurde Ende Oktober dann auch öffentlich verhandelt, als Sadr den amtierenden Premierminister Mahdi zum <a href="https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests-sadr-idUSKBN1X71JU">Rücktritt aufforderte</a>. Dieser erinnerte Sadr daran, dass man ihm offensichtlich nicht die <a href="https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests-sadr/iraqs-sadr-calls-on-rival-to-join-him-in-ousting-pm-idUSKBN1X825R">alleinige Verantwortung</a> für das harsche Vorgehen gegen die Aufstände geben könne – er sprach letztlich ganz im Sinne der Protestierenden, die sich gegen den Machtapparat als Ganzes erhoben haben.</p><p><a href="https://www.nasnews.com/%D8%A7%D9%84%D8%B5%D8%AF%D8%B1-%D9%8A%D8%B1%D8%AF-%D8%B9%D9%84%D9%89-%D8%B9%D8%A8%D8%AF-%D8%A7%D9%84%D9%85%D9%87%D8%AF%D9%8A-%D9%83%D9%86%D8%AA-%D8%A3%D8%AD%D8%A7%D9%88%D9%84-%D8%AD%D9%81%D8%B8/">Sadrs Antwort</a>, dass Mahdi das Angebot hätte annehmen und würdevoll abtreten sollen, schien den Bruch innerhalb der Regierung zu besiegeln. Er brachte zudem seine Beziehung zur zweitgrößten parlamentarischen Fraktion, der Haschd al-Shaabi und dessen Anführer Hadi Amiri in Anschlag, der sich bereit erklärte, Folge zu leisten. Am selben Tag nahm Sadr an <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/iraq-protests-iran-abdul-mahdi-muqtada-sadr-hadi-amiri.html">Protesten in Najaf</a> teil, um sich weiter von der Regierung zu distanzieren und den Verdacht der Mitschuld seiner Bewegung zu verklären. Sadr ist seit jeher dafür bekannt, in der Lage zu sein, seine Positionen prompt zu verändern, ohne größere Konflikte mit Verbündeten oder seiner eigenen Organisation aufkommen zu lassen. Diesmal jedoch erhoben sich auf Seiten der Protestierenden und innerhalb seiner Bewegung viele Stimmen, die Sadrs Glaubwürdigkeit öffentlich anzweifelten. Sie sind wohl der Grund dafür, dass er sich seither nicht mehr wirklich zu den Entwicklungen geäußert hat.</p><p>Ein weiterer Grund dafür ist die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2019/11/22/irak-silbastan-kurtler-sifirlanir-mi/">Reaktion</a> des Iran, die Krise durch die Festigung der Machtverhältnisse mittels Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu lösen. Der Iran macht seinen Einfluss meist auf diese Weise geltend. Der Minimalkonsens, der bei Hintergrundverhandlungen augenscheinlich erreicht wurde und auch Sadr einschließt, ist die erneute Sammlung aller relevanter Kräfte inklusive der Haschd hinter Premierminister Mahdi. Am 9. November wurde ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, den Premierminister Mahdi in seinem Amt zu bestätigen. Die Treffen wurden vom Kommandeur der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarde Qasem Soleimani geführt. Neben Sadr und Amiri nahm auch Mohammed Ridha Sistani teil, der Sohn des höchsten schiitischen Würdeträgers, Grossayatollah Ali as-Sistani.</p><p>Der Irak stellt gleichzeitig den wichtigsten konkreten Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und den USA dar. Abgesehen von Drohnenangriffen seitens Israel auf iranisch-militärische Kräfte im Irak spielt dieser in der <a href="https://elyazmalari.com/2019/08/15/savasa-10-dakika-var-1/">Verteidigungsstrategie</a> des Irans eine zentrale Rolle. Im November 2018 erklärten die USA unter Trump das – von der Vorgängerregierung Obama mit dem Iran und weiteren internationalen Akteuren ausgehandelte – „Atomabkommen“ für nichtig und erhöhte die Angriffe auf den Iran, sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Als Teil ihrer Strategie der „<a href="https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8060/">Sanktionskriege</a>“, die unter anderem auch in Venezuela, Kuba und Syrien geführt werden, verhängten sie die bis dato härtesten und umfassendsten kollektiven <a href="https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7774/">Sanktionen gegen den Iran</a>. Im Falle eines militärischen Angriffs seitens der USA und dessen Hauptverbündeten Israel und Saudi Arabien muss der Iran in der Lage sein, zurückzuschlagen. Das bedeutet, die Front möglichst weit in die Breite zu ziehen: von Afghanistan und Pakistan im Osten bis ans Mittelmeer im Westen und den Persischen Golf und das Arabische Meer im Süden. So ist es möglich, den Feind zu beschäftigen, seine Kräfte zu binden und ein Minimum an Kontrolle und Zeit zu gewinnen, um diplomatische Lösungen zu finden, da sich die iranische Führung keine Illusionen über einen militärischen Sieg macht.</p><p>Die USA betrachten den <a href="https://www.middleeasteye.net/opinion/there-hidden-agenda-behind-protests-iraq-and-lebanon">Auflösungsprozess der Regierung</a> als Chance, die Karten neu zu mischen und den Iran angesichts seiner Vermittlungsinitiative im Irak zurückzudrängen. Sie unterstützen die Initiative der Vereinten Nationen, Neuwahlen unter ihrer Aufsicht abzuhalten und Reformen innerhalb des Staates zu begleiten. In Anbetracht des großen Legitimitätsverlustes der politischen Eliten als Ganzes scheint der Spielraum, der sich den USA vor dem Hintergrund von Neuwahlen bietet, eine Gelegenheit zu sein, die sie nicht verpassen dürfen.</p><p>Die Initiative wird im Irak seitens des obersten Klerikers Ali al-Sistani getragen – während der Sohn des Großayatollahs den Auflösungsprozess unterstützt. Daran ist die Tiefe der politischen Krise zu erkennen, die weit über das Parlament hinausreicht, zumal al-Sistani große moralische Autorität innerhalb der schiitischen Massen genießt und sich nur selten politisch äußert. Die Verurteilung der Gewaltakte der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden drängten Premierminister Mahdi am 30. November dazu, dem Parlament seine <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-pm-abdul-mahdi-submits-resignation-parliament-191130194657666.html">Rücktrittbereitschaft</a> vorzulegen welche vom <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/12/iraq-pm-offer-quit-country-191201092331173.html">Parlament</a> dann am 1. Dezember auch tatsächlich angenommen wurde. Es handelt sich sicherlich um einen ersten Erfolg für die Bewegung; ein Sieg jedoch, der die Proteste kaum eindämmen wird.</p><p>Was in den öffentlichen Institutionen seither diskutiert wird, sind mehr oder weniger umfassende Reformen im Hinblick auf das Wahlrecht, <a href="https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2019-11-19/corruption-is-not-the-root-of-the-arab-world-s-problems">Korruptionsbekämpfung</a> und weitere Verfassungsänderungen. Sie stellen in den Augen der Protestierenden jedoch nichts weiter als Beschwichtigung dar. Aus diesem Grund halten sie ihren Aufstand bis heute am Leben und wissen, dass alle etablierten Akteure Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind.</p><h2><b>Eine „Baghdader Kommune“?</b></h2><p>Die aktuellen Proteste werden von einigen Kommentator*innen als die <a href="https://www.independent.co.uk/voices/iraq-protests-baghdad-adil-abdul-mahdi-revolution-a9142826.html">größten Proteste</a> seit der Ära Saddam Husseins bezeichnet. Hervorzuheben sind diejenigen Aspekte der Proteste, die Hinweise auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel liefern. Sicherlich stellt diesbezüglich der 25. Oktober 2019 eine Zäsur dar: Nach dem Beginn der neuen Protestwelle fanden regelmäßige, fast <a href="https://www.rosalux.de/news/id/41228/vom-libanon-bis-zum-irak-von-bagdad-nach-beirut/">tägliche Demonstrationen und Straßenblockaden</a> statt. Seit dem 25. Oktober jedoch ist der Tahrir-Platz in Baghdad permanent besetzt und mittlerweile hat er sich zu einem selbstorganisierten Zeltplatz verwandelt. Die gewalttätige Reaktion der Regierung gegenüber den Protesten hat seither zwar erneut hunderte Tote und tausende Verletzte gefordert, doch dies schwächt die Proteste nicht ab; im Gegenteil, sie betreffen einen immer größer werdenden Anteil der Bevölkerung und entwickeln sich selbstorganisiert. Es handelt sich dabei um eine qualitative Veränderung, um einen Ausdruck von Kreativität und von kollektiv entwickelten, neuen sozialen Normen. Es ist eine Organisierung von unten, welche in nur wenigen Wochen an Kraft gewonnen hat.</p><p>Für viele Demonstrierende stellt der <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/protesters-tahrir-square-iraq-191111195848776.html?fbclid=IwAR0r94G07bgw2GqOxmIApcqYKcThcPGwmoiAOnPUk7x60-TY0ZyjftwCpPM">Tahrir-Platz</a> heute tatsächlich all das zur Verfügung, was der irakische Staat Jahrzehnte lang nicht tat: Gesundheitsversorgung, Verteilung von Essen, Aufnahme von Armen, Bildung und Anerkennung aller gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten – all diejenigen sozialen Dienste also, für welche die Menschen auf die Straße gehen. Von Beginn an nehmen <a href="https://www.aljazeera.com/news/2019/11/iraqi-women-protesting-future-191121104303697.html">Frauen</a> massenhaft an den Protesten teil. Die wachsende Vorreiter*innenrolle der Frauen ist beeindruckend: In den Protesten der letzten Jahren kamen frauenspezifische Forderungen kaum zum Ausdruck, Frauen wurden schlicht als Anhängsel der Familie betrachtet und sie beteiligten sich auch in dieser Position an den Protesten. Heute agieren sie hingegen also autonome, politische Subjekte, die eine tragende Rollen in der Tahrir-Platz-Besetzung innehaben und konkrete Forderungen äußern, in erster Linie in Bezug auf Rechtsgleichheit und gleiche gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten.</p><p>Unter den Zelten, die das Bild des Tahrir-Platzes zurzeit prägen, bieten Ärzt*innen und Pfleger*innen ihre Dienste an und behandeln sowohl verletzte Demonstrant*innen, als auch diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, sich im Gesundheitssystem behandeln zu lassen. Das dafür notwendige medizinische Material wird durch Spenden von Apotheken zur Verfügung gestellt.</p><p>Auch die <a href="https://ilmanifesto.it/un-nuovo-iraq-librerie-scioperi-e-pozzi-di-petrolio-occupati/">Student*innen</a> beteiligen sich an den Protesten. Sie haben zusammen mit den Lehrer*innen in den Städten des Südens gestreikt. Ihre Präsenz auf dem Tahrir-Platz trägt zur Entwicklung einer Bildung von unten bei. In einem leerstehenden Gebäude am Platz, dem <i>Turkish Restaurant</i>, wurde eine Bibliothek mit Büchern in arabischer und englischer Sprache eröffnet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Antwort auf die realen Probleme des öffentlichen Bildungssystems, denn der Analphabetismus unter den Jugendlichen ist weit verbreitet und die Schulklassen zählen bis zu 50 Schüler*innen; die jungen Aktivist*innen der Bibliothek sind auch von größter Bedeutung für die <a href="https://www.opendemocracy.net/en/north-africa-west-asia/a-country-is-in-the-making-report-from-baghdads-occupied-tahrir-square/">Logistik der Proteste</a>: Sie kümmern sich um die Sauberkeit auf dem Tahrir-Platz, stellen Duschmöglichkeiten zur Verfügung und garantieren die Sicherheit der Besetzung.</p><p>Darüber hinaus wird unter den Zelten kollektiv gekocht und das Essen kostenlos allen Anwesenden verteilt. Aus der Nachbarschaft beteiligen sich zahlreiche Familien an der Verteilung von Lebensmitteln. In den leerstehenden Gebäuden rund um den Tahrir-Platz haben sich Obdachlose einquartiert und somit eine sichere Unterkunft gefunden. Allgemein besteht ein hohes Sicherheitsgefühl in der Platzbesetzung, worauf die Protestierenden besonders bedacht sind. Und mittlerweile gibt es auch schon gedruckte Zeitungen, die als Sprachrohr für die Stimmen des Platzes fungieren.</p><p>Für die Proteste von zentraler Bedeutung bleiben weiterhin die Tuk-Tuk Fahrer*innen, die weit verbreiteten Dreirad-Taxis für ärmere Leute, die sich kein Auto-Taxi leisten können. Es handelt sich dabei meist um unter 18-Jährige, die aus den untersten Gesellschaftsschichten kommen, kaum berufliche und soziale Zukunftsperspektiven haben und von der Hand in den Mund leben. Durch die Solidarität mit den Ambulanzen, die während der Proteste nicht in der Lage waren, all die verletzten Demonstrierenden in die Krankenhäuser zu bringen, erlangten sie – wie viele andere marginalisierten Gruppen – eine soziale Anerkennung. Dieser Punkt ist insofern von großer Bedeutung, als sich dadurch Perspektiven und Möglichkeiten auf eine alternative Zukunft beziehungsweise auf eine neue Gesellschaft auftun.</p><p>Bei den <a href="https://www.rosalux.de/news/id/40919/die-bewegung-braucht-fuehrung-organisation-und-klare-perspektiven/">im August stattgefundenen Protesten</a> im Irak fehlte es noch an Führung, Organisation und klaren Perspektiven. Heute scheinen diese Mängel Dank der Besetzung des Tahrir-Platzes und den sich darin entwickelten Instrumenten der Selbstorganisation zumindest teilweise überwunden zu sein.</p><h2><b>Perspektiven der Demokratisierung</b></h2><p>Bei den irakischen Protesten handelt es sich also um weitaus mehr als nur um einen neuen <a href="https://roarmag.org/essays/arab-spring-achcar-interview/">„Frühling“</a>; die Protestierenden charakterisieren ihre Bewegung vielmehr als „(Oktober-)Revolution“. Die desillusionierten Menschen im Irak haben durch den sowohl radikalen wie auch offenen Charakter der Proteste an politischer Kraft und Zukunftshoffnung gewinnen können. Wie grundlegend und weitreichend der Wandel des Bewusstseins der Protestierenden ist, erkennt man an der Verschiebung der Konfliktlinien und der Art der Opposition, samt ihren Folgen: Die politischen Akteure als Ganzes stellen für die Protestierenden das Problem dar. Dieser Aspekt ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, den unglaublich tiefen konfessionellen Charakter der Konflikte zu überwinden, der die Protestdynamiken der vergangenen Jahrzehnte bestimmte. Er wird bereits von den Protestierenden praktisch und täglich überwunden und stellt die Unmöglichkeit der Weiterführung konfessioneller Politik unter Beweis. Kaum jemand hatte eine solche Entwicklung erwartet. Doch plötzlich ist sie Realität und hat insofern den Namen „Revolution“ verdient; denn gestern noch war es ohne größeres Unglück möglich, das Leben zu verlieren, weil man zur falschen Zeit und am falschen Ort der falschen Konfession angehörte. Allerdings: der irakische Machtapparat wird diesbezüglich das „Unmögliche“ versuchen. Um am Leben zu bleiben wird er weiterhin mit gewaltsamer Unterdrückung reagieren – und auch darauf müssen sich die Protestierenden einstellen.</p><p>Die aktuelle <a href="https://revoltmag.org/articles/es-ist-notwendig-den-willen-der-menschen-von-unten-zu-erkennen/">Protestwelle im Mittleren Osten und in Nordafrika</a> kann Hinweise auf mögliche politische Ausgänge des irakischen Protests geben. Im Sudan und in Algerien haben die sozialen Bewegungen die Proteste und Mobilisierung lange aufrechterhalten, um so zu vermeiden, von Teilen der Regimes instrumentalisiert zu werden. Im Sudan konnte schließlich die <i>Sudanese Professionals Association</i> (SPA), eine Dachorganisation von 17 sudanesischen Gewerkschaften, die Stimmen der Plätze vereinen und so als von den Protesten legitimierter politischer Akteur mit dem Militär Verhandlungen für den demokratischen Übergang führen. In Algerien hingegen wurde bewusst darauf verzichtet, eine breit abgestützte politische Kraft zu gründen, um mit dem Regime einen demokratischen Übergang zu organisieren. Hier werden weiterhin Neuwahlen abgelehnt und die radikale Erneuerung des politischen Systems gefordert, welches mittels einer konstituierende Versammlung organisiert werden soll. In Ägypten schließlich unterdrückte das Regime von al-Sisi die aufkommende Bewegung von Beginn an gewaltsam. Die Festnahme von Tausenden von politischen Aktivist*innen schränkte die Wiederbelebung der sozialen Bewegung noch einmal massiv ein und erstickte sie letztlich relativ schnell im Keim.</p><p>Der Ausgang der Proteste im Irak wird ebenfalls im Wesentlichen von einem machtinternen und von einem bewegungsinternen Faktor abhängig sein. Was den ersten betrifft, so haben mit Blick auf den Irak die Parlamentswahlen im Jahr 2018 die Karten neu gemischt: Die populistischen Kräfte um al-Sadr wurden in den institutionellen Machtapparat integriert und diese spielen nun eine zentrale Rolle für die Machtbalance innerhalb des irakischen Schiitentums. Es ist schwer vorstellbar, dass offene Konflikte ausgetragen werden, die zur Stärkung der sozialen Proteste beitragen und so die Möglichkeiten eines radikalen Bruches erhöhen würden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie ein neues Machtgleichgewicht zwischen den sich teilweise konkurrierenden, teilweise zusammenarbeitenden Strömungen des politischen Schiitentums gefunden werden kann. Zudem wird sich zeigen müssen, wie groß die ökonomischen Möglichkeiten und der politische Wille der herrschenden Parteien für soziale Zugeständnisse sind.</p><p>In Bezug auf die inneren Dynamiken der Bewegung, handelt es sich bei der Tahrir-Platz-Besetzung um einen fundamentalen qualitativen Sprung nach vorn. Einen eigenen, selbst-repräsentativen und organisierten Ausdruck der Plätze gibt es jedoch noch nicht. Es geht hier nicht darum, einen charismatischen Leader oder schlicht die avantgardistische Partei zu finden, welche die Bewegung führen wird. Es wird darum gehen, ein Netzwerk von popularen Organisationen – unabhängige Gewerkschaften, Kollektive von Arbeitslosen, Nachbarschafts-Räte, Student*innenorganisationen, feministische Kollektive und so weiter – von unten aufzubauen, das gleichzeitig radikale und unmittelbar umsetzbare politische Forderungen über die herrschenden Koordinaten hinaus entwickeln und verteidigen kann. Der Aufbau einer solchen organisierten Struktur stellt die größte Herausforderung aufseiten des Aufstands dar.</p></div>
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Faschismus im Trikont: Ist der IS faschistisch?2018-04-09T04:41:21.465367+00:002018-04-26T11:56:24.172667+00:00Alp Kayserilioğlu und Geronimo Marulandaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/faschismus-im-trikont-ist-der-faschistisch/
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<div class="rich-text"><p>In
einem Punkt scheinen sich weite Teile der radikalen Linken in puncto
Syrien einig zu sein: Der Islamische Staat (IS), die
Djihadistenmiliz, deren Wurzeln im Al-Qaida Netzwerk des Irak liegen
und die bis vor ein, zwei Jahren weite Teile des Irak und Syriens
kontrollierte, muss weg. Die Motivation dahinter ist sicherlich
unterschiedlich. Ein Motiv taucht jedoch schon seit längerer Zeit
immer wieder auf, ohne dass es in der Regel hinreichend begründet
wird: Der Islamische Staat müsse bekämpft werden, denn er sei eine
faschistische Bewegung. Die kurdische Befreiungsbewegung spricht vom
Faschismus, weite Teile der türkischen Linken sprechen vom
Faschismus und auch in Deutschland ist das Argument von einem
<i>islamischen Faschismus</i> in
Bezug zur Türkei Erdoğans oder eben den zahlreichen
Djihadistenmilizen weltweit zunehmend populär – nicht nur in der
Linken, sondern gerade auch in der <i>Neuen Rechten</i>.
Warum ist die Frage also relevant? Weil an der Frage, ob etwas
faschistisch ist oder nicht, die Frage dranhängt, wie ein Gegner zu
bekämpfen ist, auf welche historische Strategien zurückgegriffen
werden kann oder eben nicht: ,,Know your Enemy“ ist eben auch für
eine Linke zentral, die den Kampf aufnehmen will.</p>
<h3>
<b>Was ist Faschismus?</b></h3>
<p>
Doch rekapitulieren wir nochmal: Was ist klassischerweise Faschismus?
Der Faschismus ist erstmal eine politische Bewegung und eine
autoritäre und staatsterroristische Variante bürgerlicher
Herrschaft, das heißt ein modernes Phänomen, das sich auf den
Kapitalismus als ökonomische Basis und den bürgerlichen Staat als
politischer Form bezieht. Er beinhaltet ein jeweils verschiedenes
Ideologiekonglomerat, das im Groben aus Versatzstücken eines
völkischen Nationalismus, verschiedenen Spielarten des Rassismus,
Militarismus, Autoritarismus, Antifeminismus und Antikommunismus
besteht. Einer seiner Hauptfunktionen – unabhängig von, aber
meistens deckungsgleich mit seinem eigenen Selbstverständnis – war
und ist die Eliminierung jeder fortschrittlichen Bewegung und
Organisation. Zur Macht gekommen war sein Regime stets in einem
Herrschaftsbündnis der rückständigsten und autoritärsten Teile
der Gesellschaft: Kirche, Krone, Militär, Geheimdienste, völkische
Konservative und Anhang, zusammen mit dem großen Kapital und dem
Großgrundbesitz. In seinem Klassenhintergrund und Standpunkt als
Bewegung ist er im Prinzip großbürgerlich mit kleinbürgerlicher
Massenbasis, versucht aber durch seine vermeintlich
antikapitalistische, faktisch völkische Rhetorik auch die unteren
Klassen unter sich zu vereinen. Ein zentrales Moment seiner
Herrschaftsmethode ist die Massenmobilisierung. Wenn wir diesen
Zusammenhang betrachten, müssen wir zunächst eines festhalten: Die
Mehrheit der Bewegungen und Regime, die klassischerweise als
faschistisch bezeichnet werden, waren europäisch. Das Konzept
Faschismus selbst kommt aus Italien.</p>
<h3>
<b>Die Ähnlichkeiten</b></h3>
<p>Kann
also auf diesem Hintergrund davon gesprochen werden, dass der IS
faschistisch ist? Zweifellos hat der IS ein reaktionäres Programm
mit entsprechender autoritärer Ideologie. Wie der historische
Faschismus, ist auch der IS die Nemesis jeder progressiven Bewegung.
Mit einer vermeintlich antiimperialistischen Rhetorik und sozialer
Demagogie versucht der IS eine klassenübergreifende
Unterstützungsbasis herzustellen. Der IS tastet
Eigentumsverhältnisse nicht an, sondern verbündet sich mit dem
jeweils lokal ansässigen Kapital und dem internationalen Kapital
seiner Unterstützer in der Türkei, Saudi-Arabien und so weiter.
Darüber hinaus verfolgt er ein strikt genozidales Programm der
Liquidierung von Minderheiten beziehungsweise deren Gleichschaltung
in ein totales theokratisches System. Ähnlichkeiten liegen also auf
der Hand.</p>
<h3>
<b>Die Unterschiede</b></h3>
<p>Kommen
wir zu den Unterschieden. Der IS baut seine Herrschaft in
nicht-europäischen Gesellschaften auf, die von Mischformen
bürgerlicher, feudaler und semi-feudaler Produktionsweisen und
Gesellschaftsformen oder zumindest transformierten Überresten
hiervon geprägt sind. Zumeist auch in solchen Ländern, in denen das
bürgerliche Staatsverständnis durch den westlichen Kolonialismus
erst importiert wurde und mehr auf Aushandlungen und Machtteilung mit
lokalen Eliten basierte als auf einer zentralstaatlichen Autorität.
Das sind ganz grundlegend andere Voraussetzungen, die andere Folgen
zeitigt: Der IS bezieht sich weder auf das moderne Konzept <i>Nation,
</i>noch auf das Konzept<i>
Volk, </i>noch auf das Konzept
<i>bürgerlicher Staat. </i>Stattdessen
begründet er seine Herrschaft religiös und verfolgt ein
Staatskonzept, in dem es keine Grenzen, nur Fronten gibt. Das Kalifat
ist im Prinzip ein weltumfassendes Konzept – etwas, das dem
Faschismus, der ja gerade eine Identität von (National-)Staat und
Volk herstellen möchte, schon im Prinzip widerspricht.</p>
<p>
Der größte Unterschied zum IS
zeigt sich jedoch in seiner ökonomischen Basis und damit seiner
politischen Perspektive: Der IS stellt keine durch Terror
stabilisierte Herrschaft des expansiven Großkapitals in einem
imperialistischen Land dar, sondern ist eine instabile
kapitalistische Kriegsökonomie, in der unterschiedliche
großkapitalistische Gruppen und politische Interessen der Welt (z.B.
Russland, USA, Saudi-Arabien, Türkei usw.) mitmischen. Dem IS fehlt
es somit an eigenständiger Perspektive, weil an eigenständiger
entwickelter ökonomischer Basis. Insofern ist und wird der IS
niemals derart von Bedeutung und Umfang sein, wie klassische
faschistische Herrschaften und Regime in Europa es waren, die durch
faschistische Stabilität und ihre ökonomische Potenz in die Lage
versetzt wurden, Weltkriege im Interesse ihrer Großkapitalisten zu
führen. Der IS ist demgegenüber rein ökonomisch ein
Übergangsregime, das bei aller zur Schau gestellter Brutalität ein
im Vergleich und strukturell betrachtet harmloses Ventil darstellt
für Möchtegernkalifen aber auch Unzufriedene, sowie der Neuordnung
der Kräfteverhältnisse im Nahost-Raum dient – unabhängig davon,
dass er selbst aktiv „das Kalifat“ anstrebt. Und deshalb ist er
zwar auch in der Lage, eines der brutalsten Schreckensregime der
letzten Jahre zu installieren – aber innerhalb von wenigen Jahren
auch wieder erst mal von der Bildfläche zu verschwinden.
</p><h3>
<b>Offene Fragen</b></h3>
<p>
Also alles Unsinn mit dem Faschismusbegriff? Nach der engeren
Definition sicher ja. Denn wir reden offensichtlich von einem System,
das sich in wesentlichen Punkten grundlegend vom historischen,
europäischen Faschismus unterscheidet. Wenn Begriffe nicht das
bezeichnen, was sie meinen, dann verlieren sie aber jeden Sinn. Der
wichtigste Punkt ist aber die Frage, ob die Konzepte
Faschismus/Antifaschismus für die linken Kräfte vor Ort eine Hilfe
darstellen: Ob sie helfen, den Gegner zu verstehen, ob die
historischen Strategien gegen den Faschismus helfen, ihn zu besiegen.
Das mag bezweifelt werden. Wie der Faschismus im Westen stets im
Zusammenhang mit Kapitalinteressen und Staatsinteressen begriffen
werden musste, da die führenden Eliten aller Länder stets in sein
Regime integriert und an vorderster Front an seiner Exekution
beteiligt waren, so muss die Herrschaft des IS in seinem historischen
und gesellschaftlichen Kontext gelesen und interpretiert werden.
</p>
<p>
Was
bedeutet es etwa für die Region und für eine progressive
Perspektive, dass Stammesverbände zunächst dem IS und nun wieder
der<i> Syrisch Arabischen Armee</i>
(SAA) von Präsident Assad die Treue schwören? Was sagen uns die
lokalen Herrschaftsbündnisse des IS über den syrischen und
irakischen Staat? Was sagen uns die Netzwerke mit Mäzenen in
Saudi-Arabien und Katar über die regionale Interessenlage? Wie
lässt sich die Wirkmächtigkeit von Religion im derzeitigen Konflikt
abseits kulturrassistischer Erklärungsmuster aufklären? Und:
Stellen wir dabei eine Hilfe für fortschrittliche Kräfte vor Ort
wie hierzulande dar, wenn wir den Faschismusbegriff in diesem Kontext
und in unserem Diskursraum nutzen? Man sollte zumindest zur Zeit
hierzulande zur Kenntnis nehmen, dass sich insbesondere solche
Strömungen auf den Begriff<i> islamischer Faschismus</i>
stützen, die damit vor allem eine antimuslimisch-rassistische,
kulturkriegerische und offen neo-koloniale Politik befördern wollen
und sich um Fragen von Kapitalismus und Imperialismus nicht oder nur
wenig kümmern.
</p></div>
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