re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=3622020-05-07T16:24:59.762092+00:00Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?2020-05-07T16:21:01.393813+00:002020-05-07T16:24:59.762092+00:00Giuliano Granatoredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/was-bedeutet-die-phase-2-in-italien-f%C3%BCr-die-arbeitswelt/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Knapp zwei Monate nach der Einführung des Lockdowns (der sogenannten „Phase 1“, wie die italienische Regierung sie bezeichnete) am 9. März 2020 befinden wir uns in Italien nun im Übergang zur sogenannten „Phase 2“, also der (schrittweisen) Wiedereröffnung der industriellen Produktion und des gesellschaftlichen Lebens. Seit dem 27. April nehmen rund drei Millionen Arbeiter*innen ihre Arbeit wieder auf. Sie ergänzen nun all jene Arbeiter*innen, die während des Lockdowns trotz gesundheitlichen Risiken nie aufgehört hatten zu arbeiten. Anfang Mai wurden die meisten industriellen Aktivitäten wieder gestartet. Für einen Teil der Dienstleistungen und des Handels ist der Zeitplan, den Premierminister Giuseppe Conte am 26. April angekündigt hatte, etwas gestreckter: Bis zum 1. Juni soll Italien zur „Normalität“ zurückkehren – falls die Zahl der Erkrankungen und der Todesopfer von Covid-19 nicht wieder zu steigen beginnt.</p><p>Während für die Lohnabhängigen vielerorts die „Phase 2“ eine zunehmende <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1257720339976671233?s=20">Gefahr für Leib und Leben</a> bedeutet, gibt es an anderen Orten dennoch Bewegung: In den letzten zwei Monate der Pandemie haben die Arbeiter*innenkämpfe bereits zwei verschiedene Phasen erlebt und in Kürze werden wir in die dritte Phase eintreten.</p><h2><b>Phase 1: Die Arbeiter*innen mobilisieren sich für das Recht auf Leben</b></h2><p>In den ersten beiden Märzwochen erlebten wir eine kurze, aber intensive Phase der Arbeiter*innenmobilisierung: wilde Streiks, Streiks, die von den konfliktorientierten Basisgewerkschaften USB, S.I. Cobas und CUB und teilweise von der FIOM (die größte Metallarbeiter*innengewerkschaft, die zum linken Gewerkschaftsbund CGIL gehört) organisiert wurden, oder auch Arbeitsniederlegungen durch Inanspruchnahme von Krankheitstagen, Urlaub und Spezialabsenzen. Für einen Teil der Klasse handelte es sich zudem um einen Kampf für die Einführung von<i> smart working</i>, also von der computergestützten Heimarbeit. Dabei ging es aber nicht darum, diese Form der Arbeit grundsätzlich als besseres Arbeitsverhältnis zu sehen, sondern darum, unmittelbar das Ansteckungsrisiko zu minimieren.</p><p>Die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL hinkten diesen Streiks oft hinterher, was auf ihre abnehmende Verankerung in den Betrieben zurückzuführen ist. Sie begannen die Belegschaften erst dann zu verteidigen, als die Streiks schon in vollem Gange waren. Ein Beispiel für dieses Versäumnis sind die Arbeiter*innenproteste bei FIAT-FCA in Pomigliano d’Arco bei Neapel. Hier hatten die Arbeiter*innen die Arbeit aufgrund der fehlenden gesundheitlichen Schutzmaßnahmen niedergelegt. Erst infolge dieser Streiks unterzeichneten die Unternehmensleitung und die Gewerkschaften ein betriebliches Abkommen zur Sicherstellung der gesundheitlichen Schutzmaßnahmen, was wiederum zur vorübergehenden Schließung der Fiat-Werke italienweit – und später gar europaweit – führte.</p><p>Durch die gewichtige <a href="https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00026914/07_Coppola_Italien.pdf">Rolle von FIAT-FCA im italienischen Kapitalismus</a> hatte dieser Protest einen starken Beispielcharakter auch für andere Sektoren. So mussten auch einige andere Unternehmen aufgrund der als Protestform gewählten hohen krankheitsbedingten Abwesenheitsquote „schließen“. Daraufhin reagierte der Staat: Das nationale Sozialversicherungsamt INPS übte Druck auf die Hausärzt*innen aus und erteilte ihnen die Weisung, die Arbeiter*innen nicht mehr so leichtfertig krankzuschreiben, um die Arbeitsabsenzen zu beschränken.</p><p>In diesen ersten Wochen des Lockdowns erlebte Italien also über das gesamte Territorium verteilt einen weitreichenden und diffusen Ungehorsam. Es handelte sich nicht um offensive Kämpfe, sondern vielmehr um einem Widerstand der Arbeiter*innen gegen den neuen Druck einer <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">Arbeit in Zeiten des Coronavirus</a>. In den Kämpfen stand der Schutz des Lebens der Arbeiter*innen vor jedem anderen (ökonomischen) Bedürfnis. Innerhalb weniger Stunden wurde den Arbeiter*innen bewusst: Die Unternehmen behandelten die Arbeiter*innen schlicht als stets zur Verfügung stehende „Waren“; für sie waren die Wirtschaftszahlen wichtiger als die Leben „ihrer“ Arbeiter*innen; und sie waren weiterhin bereit, eine Wirtschaftsentwicklung zu verteidigen, die für die Unternehmen volle Taschen, für die Menschen jedoch – letztlich – den Tod bedeutete.</p><p>Eine mögliche Wiederaufnahme dieses Widerstands der Arbeiter*innen in Form von öffentlich ausgetragenen Kämpfen oder mittels versteckter Formen des Widerstands als „weapons of the weak“, wie es die amerikanische Soziologin Beverly Silver in ihrem Werk <a href="https://libcom.org/files/Beverly_J._Silver-Forces_of_Labor__Workers'_Movements_and_Globalization_Since_1870_(Cambridge_Studies_in_Comparative_Politics)__-Cambridge_University_Press(2003).pdf"><i>Forces of Labor</i></a> (2003) beschrieben hat, prägte die politische Debatte darüber, welche Sektoren als essentiell und lebensnotwendig zu bezeichnen sind und welche nicht.</p><p>Obwohl die Regierung zunächst nicht auf die Forderungen nach einer unmittelbaren Wiedereröffnung der industriellen Produktion des Unternehmensverbandes Confindustria einging, lenkte sie jetzt in vielen Punkten dennoch ein. So bedeutet die von der Regierung angekündigte Phase 2 eine Wiederaufnahme der industriellen Tätigkeiten und gleichzeitig eine Fortsetzung des Lockdowns – auch wenn in gelockerter Form – für die Menschen im Alltag.</p><h2><b>Phase 2: Weiterführung der Produktion und Rückgriff auf soziale Sicherungsnetze</b></h2><p>Nach den ersten zwei Wochen im Lockdown änderte sich die Situation. Die Streiks nahmen rasant ab. Grund dafür war in erster Linie ein infames <a href="http://www.governo.it/it/articolo/il-presidente-conte-videoconferenza-con-le-parti-sociali/14304">„Protokoll über die Sicherheit an den Arbeitsplätzen“</a>, das Regierung, Unternehmensverband und Gewerkschaften am 14. März unterzeichneten. Mit diesem „sozialpartnerschaftlich“ unterzeichneten Protokoll gab die Regierung in dem Moment, in dem Millionen von Arbeiter*innen für die vorübergehende Schließung der Produktion kämpften, den Unternehmen die Möglichkeit, sie auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter*innen weiter laufen zu lassen. Den Arbeiter*innen blieb also nichts anderes übrig, als weiterhin den individuellen Weg der Arbeitsabwesenheit (Krankheit, Urlaub, Spezialabsenzen) zu wählen. Darauf wurde vor allem dort zurückgegriffen, wo die kollektiven und öffentlich ausgetragenen Kämpfe verloren wurden und die Produktion weiter lief, wo nicht auf<i> smart working</i> zurückgegriffen werden konnte und wo die nötigen Schutzdispositive (Schutzmasken, Handschuhe, Desinfizierung der Arbeitsplätze und so weiter) nicht eingeführt wurden. Auch wenn der Handlungsspielraum der Arbeiter*innen dadurch wesentlich eingeschränkt war, stellte diese Kampfform der Arbeitsabwesenheit weiterhin ein starkes Signal dar: Sie legte die kapitalistische Logik offen, in der die Garantie von Profit in Antithese zur Verteidigung des Lebens steht.</p><p>Viele Unternehmen wurden durch die Bedrohung der Arbeitskämpfe und den gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, gesundheitliche Schutzdispositive einzuführen; andere Unternehmen argumentierten jedoch mit der Möglichkeit des Arbeitsplatzverlusts für die Lohnabhängigen. Sie nutzten damit die Angst vor Arbeitslosigkeit aus, um die Produktion weiterzuführen; ganz so, als ob nichts wäre. Viele Arbeiter*innen berichteten über das <a href="https://poterealpopolo.org/faq-emergenza-covid-19-per-lavoratori-e-lavoratrici/">„rote Telefon“</a> von <i>Potere al Popolo</i>, dass sie gezwungen waren, gegenüber der Polizei Falschaussagen zu machen, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Dies war beispielsweise oft bei irregulär Arbeitenden der Fall, die über keinen Arbeitsvertrag verfügen und daher rechtlich betrachtet gar nicht zur Arbeit fahren durften.</p><p>Ein weiteres seit Beginn der Pandemie mögliches Instrument zur Weiterführung der Produktion seitens der Unternehmen war die Beantragung einer Spezialbewilligung bei den Präfekturen – also den Vertretungen des Innenministeriums in den Provinzen. Diese Ausnahmeregelungen wurden so offen formuliert und die Kontrollen in den Betrieben so unzureichend durchgeführt, dass es de facto für die Unternehmen einfach war, straffrei weiter zu produzieren.</p><p>Von dieser Möglichkeit der Ausnahmeregelung machten bis Ende April über 196.000 Unternehmen Gebrauch, wobei nur in sechs Prozent der Fälle die Anfrage abgelehnt wurde. Den Unternehmen wurde gestattet, in der Zeit zwischen der Einreichung und der Prüfung des Antrages wieder zu öffnen. Es handelte sich dabei um eine lange Zeitdauer wenn man bedenkt, dass die Präfekturen bisher weniger als 50 Prozent der Gesuche bearbeitet haben.</p><p>In dieser zweiten Phase versuchten diejenigen Arbeiter*innen, die tatsächlich nicht zur Arbeit fahren konnten, sozialstaatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten. Es gab einen regelrechten Ansturm auf das Kurzarbeitsgeld und auf den Bonus von 600 Euro für Selbständige. Im Wesentlichen formulierten die Arbeiter*innen zwei Forderungen: Erstens die Integration derjenigen Klassensegmente in die sozialstaatlichen Hilfsleistungen, die von den bestehenden Versicherungen ausgeschlossen sind. Zweitens die Entwicklung neuer sozialstaatlicher Instrumente für die Ausgeschlossenen; dazu gehören vor allem die Forderungen nach einem Notlage-Grundeinkommen (<i>reddito d'emergenza</i>), die kollektive Regularisierung von papierlosen Arbeitsmigrant*innen, die zeitliche Ausdehnung der Arbeitslosenentschädigung und Spezialzahlungen für Care-Arbeiter*innen.</p><p>Die Maßnahmen der italienischen Zentralregierung wurden ergänzt durch Maßnahmen der einzelnen Regionen, doch noch heute warten aufgrund der Trägheit der institutionellen Prozesse Millionen von Arbeiter*innen auf den Zugang zu ihren Rechten. Dabei geht es nicht um ein blindes Hoffen auf die Gutmütigkeit der Regierung. Es geht darum, dass die Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeiter*innen tatsächlich beschlossen wurden und also alle Arbeiter*innen ein Recht darauf haben, auch wenn die Maßnahmen letztlich ungenügend bleiben werden.</p><p>Obwohl die Regierung stets verspricht, „schnell zu handeln“, spielt sie auf Zeit. Das angekündigte April-Dekret, das die Lücken der vorherigen Dekrete schließen sollte und sowohl Liquiditätshilfen für Unternehmen als auch die Aufstockung der sozialstaatlichen Hilfeleistungen vorsah, wird nun doch erst Anfang Mai verabschiedet. Die wachsende Wartezeit schränkt aber die Möglichkeit größerer Mobilisierungen ein, die Arbeiter*innen beschränken ihre Forderungen fast ausschließlich auf ihre jeweiligen Berufskategorien.</p><h2><b>Phase 3: Die Unternehmen nehmen die Produktion wieder auf – und die Arbeiter*innen ihren Kampf?</b></h2><p>Mit der letzten April-Woche fand auch die „Generalprobe“ auf die Wiedereröffnung der Produktion statt. Der Wiederaufnahme zahlreicher bis dahin noch geschlossener Tätigkeiten gingen nationale und/oder lokale Abkommen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften über die Notwendigkeit der Umsetzung wichtiger Sicherheitsmaßnahmen voraus.</p><p>Viele dieser Abkommen wurden von den Medien hoch gelobt. So konnte der Widerspruch zwischen Profit der Unternehmen und der Gesundheit der Arbeiter*innen, welcher in den ersten Wochen des Pandemieausbruchs mit beispielloser Klarheit zutage getreten war, wieder verschleiert werden. FIAT-FCA, Electrolux, Whirlpool und viele andere Großunternehmen wurden als Vorbilder präsentiert: Die Unternehmen kümmerten sich um die Gesundheit der Arbeiter*innen! Oder gar noch zynischer: sei sei sogar eine absolute Priorität des „italienischen Geschäftsmodells“!</p><p>Viel wahrscheinlicher, als diese Heilsbotschaft suggeriert, ist jedoch eine Intensivierung des Klassenwiderspruchs in dieser dritten Phase. Sie ist ein neuer Kampfzyklus zur Verteidigung der Gesundheit, der die Logik des Lebens vor die Logik des Profits stellen wird. Es wird sich aber nicht um ein „zurück zur Phase 1“ handeln: Zum einen, weil die präventive Repression es schwierig gemacht hat, die kämpfenden Arbeiter*innen materiell zu unterstützen (ein Streik kann zwar ausgerufen und praktiziert werden, doch ihn mit einem Streikposten oder gar mit einer Demonstration zu unterstützen ist nach wie vor sehr schwierig). Andererseits auch deshalb nicht, weil die ökonomische Krise immer spürbarer wird und seit rund einem Monat die Angst um die Zukunft für viele Menschen real und immer erdrückender geworden ist.</p><p>Die im Protokoll vom 14. März vorgesehenen Organe, die sogenannten „Kontrollausschüsse“ für die Durchsetzung von Maßnahmen, haben ihre Arbeit in den einzelnen Unternehmen de facto nicht flächendeckend aufgenommen; in nur 40 Prozent aller Unternehmen wurden sie tatsächlich gegründet. Dort, wo sie existieren, bleiben sie aber nach wie vor untätig. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die gewerkschaftlichen und sicherheitstechnischen Vertretungen der Arbeiter*innen in den Betrieben – <i>rappresentanze sindacali unitarie</i> (RSU),<i> rappresentanza sindacale aziendale</i> (RSA), <i>rappresentante dei lavoratori per la sicurezza</i> (RLS) sind drei betriebliche Arbeiter*innenorgane, die mit den deutschen Betriebsräten verglichen werden können – zur Zielscheibe nicht nur der Unternehmensleitungen werden könnten, sondern auch der Arbeiter*innen selbst. Und zwar deshalb, weil viele Arbeiter*innen aufgrund der Angst vor einer schweren ökonomischen Krise und einem allfälligen Jobverlust trotz der gesundheitlichen Risiken dem Motto des Unternehmensverbandes Confindustria – „Arbeit um jeden Preis“ – Folge leisten könnten. Dies wird insbesondere in denjenigen Betrieben passieren, in denen die Arbeiter*innenvertretungen die Stimme der Unternehmensleitung repräsentieren und dort, wo die Gewerkschaften ganz abwesend sind.</p><p>Das Risiko besteht darin, dass in den Unternehmen Bedingungen stillschweigend akzeptiert werden, die schädlich sind für die Gesundheit der Arbeiter*innen. Die Repressions- und Erpressungsmöglichkeiten der Unternehmen haben sich vervielfacht: die Drohung der Betriebsschließung oder der Verringerung des Arbeitsvolumens, der Verlust von Marktanteilen, die Verwendung einer selektiven Kurzarbeit, die sogenannten „Störenfrieden“ oder den als nicht funktional definierten Arbeiter*innen auferlegt werden; die Verweigerung von<i> smart working</i> aus nicht objektiven Gründen, sondern als „Strafe“; und nicht zuletzt die Androhung von Entlassungen, sobald den Unternehmen das Recht dazu wieder eingeräumt wird (im Dekret „Cura Italia“ wurde ein Kündigungsverbot bis Mitte Mai verabschiedet, das im April-Dekret bis zum Ende der Pandemie verlängert werden soll). Es ist also von wesentlicher Bedeutung, dass im April-Dekret das Kündigungsverbot erneuert und die staatliche Unterstützung von Unternehmen an Bedingungen geknüpft wird. Ansonsten werden sie – wie schon so oft – neue finanzielle Unterstützungsleistungen dazu nutzen, um zu einem späteren Zeitpunkt Kündigungen auszusprechen oder „Restrukturierungen“ vorzunehmen.</p><h2><b>Was tun in der offiziellen „Phase 2“?</b></h2><p>Aufgrund des gezeichneten Szenarios müssen wir davon ausgehen, dass die Konflikte, die an den Arbeitsplätzen ausbrechen werden, entscheidend sein werden für die Zukunft unserer Klasse. Dabei spielt es keine Rolle, ob es diese Arbeitskämpfe an die Öffentlichkeit schaffen oder ob sie mehrheitlich eher „unterirdisch“ verlaufen – sie werden auf jeden Fall spürbar sein. Was sind nun unsere Aufgaben als linke Organisationen angesichts dieser neuen Phase? Was ist „unsere“ Phase 3, die wir ihr vorausschicken?</p></div>
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<p>"Pandemie, Arbeit und Phase 2 - Drei konkrete Vorschläge"</p>
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<div class="rich-text"><h4><i>1) Die Produktion und ihre Kämpfe sichtbar machen!</i></h4><p>Zunächst einmal geht es darum, der „Außenwelt“ mitzuteilen, was in den Betrieben geschieht. Dafür sind alle Kanäle, Strukturen und Netzwerke unentbehrlich, die uns heute zur Verfügung stehen: Einzelne Aktivist*innen, Arbeiter*innen, denen wir im Laufe der letzten Jahre begegnet sind, gewerkschaftliche Strukturen jeglicher Art. Es ist notwendig, eine gemeinsame Anstrengung auf uns zu nehmen, um das sichtbar zu machen, was in den „verborgenen Stätten der Produktion“ (Marx) vor sich geht. Denn dabei handelt es sich nicht um eine private Angelegenheit von Unternehmen, es ist das Interesse der Allgemeinheit, zu wissen, was an den Arbeitsplätzen passiert.</p><h4><i>2) Populare Komitees bilden!</i></h4><p>Wir können die Verteidigung der Gesundheit in den Betrieben dabei nicht allein den direkt betroffenen Arbeiter*innen überlassen. Aus den oben dargelegten Gründen besteht die Gefahr, dass die (ökonomische) Erpressung, der wir alle ausgesetzt sind, eine angemessene Verteidigung erschwert.</p><p>Es ist notwendig, die Schaffung von popularen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter*innen in die Wege zu leiten, die auf territorialer Basis von Aktivist*innen, aber auch von Gewerkschaften, Kollektiven, sozialen und politischen Organisationen gebildet werden. Ihre Aufgabe wäre es, als Werkzeug in den Händen jene*r Arbeiter*innen zu fungieren, die an den einzelnen Arbeitsplätzen nicht über das angemessene Kräfteverhältnis verfügen.</p><p>Gleichzeitig müssen wir fordern, dass die für die Kontrolle zuständigen Institutionen, wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest vorrangig auf die Kontrolle der Unternehmen hinarbeiten: Das nationale Arbeitsinspektorat, die Finanzpolizei, die lokale Polizei und die lokalen Gesundheitsinstitutionen müssen aufhören, alle 100 Meter Posten zu errichten, um die Menschen zu kontrollieren, ob sie individuell die Sicherheitsvorschriften einhalten; vielmehr müssen sie sich auf die Kontrolle der Arbeits- und Gesundheitsbedingungen in den Betrieben konzentrieren und sich so für das Recht auf das Leben von Millionen von Menschen in den Produktionsstätten einsetzen. Auch in diesem Fall schlagen wir die Einrichtung von popularen Komitees vor, die die Koordinierung dieser Tätigkeiten organisieren. Dies muss mit der Beteiligung der Gewerkschaften, aber unter Ausschluss der Unternehmensvertretungen geschehen, denn in einem popularen Kontrollorgan darf niemand vertreten sein, der „kontrolliert“ werden muss.</p><h4><i>3) Auf die ökologische Transformation hinarbeiten!</i></h4><p>Auf einer allgemeineren politischen Ebene besteht die Notwendigkeit, über die Einrichtung einer „Agentur für die ökologische Transition“ nachzudenken. In naher Zukunft werden zahlreiche Betriebe schließen und viele Unternehmen werden enorme staatliche finanzielle Unterstützung anfordern. Im Kontext der aktuellen Ausweitung der „staatlichen Hilfen“, des <i>common sense</i> über die Nützlichkeit staatlicher Interventionen und der ersten Verstaatlichungsprozesse bestimmter Unternehmen, muss der Staat die Rolle eines intervenierenden Akteurs der Industrie- und Wirtschaftspolitik werden und auf die Entwicklung eines Plans für die Zukunft hinarbeiten. Einige Unternehmen müssen vom Staat übernommen und mit Rücksicht auf eine gesundheitliche und ökologische Produktion weiterentwickelt werden. Während dieses Übergangs muss den Arbeiter*innen der nötige sozialstaatliche Schutz und die berufliche Weiterbildung garantiert werden.</p><p>Das sind in keinster Weise unrealistische Forderungen. Es fehlt oft einzig der politische Wille und die politische Kraft dazu, einen solchen Übergang zu organisieren. Die Regierung hat in diesen Tagen enschieden, die Einführung der <i>plastic tax</i> und der <i>sugar tax</i> hinauszuzögern. Dieses Hinauszögern steht unseren Interessen nicht aufgrund der fehlenden Staatseinnahmen entgegen – die tatsächlichen Einnahmen wären laut den Plänen der Regierung sowieso sehr niedrig –, sondern aufgrund des politischen Signals, das mit dieser Entscheidung ausgesendet wird: die ökologische Frage – und somit diejenige des Lebens der Arbeiter*innen – ist für die Regierung zweitrangig im Vergleich zu den Profitbedürfnissen der Unternehmen.</p><p>Die Welt von morgen wird nicht aus einem sowieso unmöglichen Zurück in die Vergangenheit hervorgehen. Eine Vergangenheit, die für viele von uns bereits die „Krankheit“ war. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass wir in die für uns richtige Richtung gehen.</p><hr/><p><i>Giuliano Granato ist ein Arbeiter, der aufgrund seines gewerkschaftlichen Aktivismus entlassen wurde. Er ist zudem Mitglied der nationalen Koordination der linken Organisation</i> <a href="http://www.poterealpopolo.org/"><i>Potere al Popolo</i></a><i>.</i></p><p></p><p><i>Übersetzung von Maurizio Coppola.</i></p></div>
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Arbeiten in Zeiten des Coronavirus2020-03-13T19:36:19.140165+00:002020-03-13T19:56:46.035318+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/
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<div class="rich-text"><p>Seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie hat die italienische Regierung in den letzten 20 Tagen fast <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/coronavirus-provvedimenti-pioggia-media-al-giorno-ADjpVHC">täglich eine Verordnung</a> erlassen. Diese Dekrete führen „dringliche Maßnahmen zum Schutz gegen die Ansteckung auf das ganze nationale Gebiet“ ein. In der Verordnung vom 5. März wurde zuerst einmal die Region Lombardei und weitere 14 Provinzen Norditaliens zur „roten Zone“ deklariert, in denen die über 16 Millionen wohnhaften Menschen nur noch für die Arbeit und für den Einkauf ihr Haus verlassen durften. Am 9. März wurde der Ausnahmezustand in ganz Italien ausgerufen und die Sperrzone auf alle 21 Regionen ausgeweitet. Tatsächlich sind seither alle Schulen Italiens geschlossen, in vielen Städten schließen zahlreiche Läden schon um 18 Uhr. Doch zahlreich sind die gemeldeten Verstöße gegen die Maßnahmen: Die nötige Sicherheitsdistanz von einem Meter zwischen den Personen wurde nicht respektiert, einige Bars blieben bis nach 18 Uhr geöffnet und viele Jugendlichen versammelten sich in hoher Zahl auf den Straßen.</p><p>Angesichts dieser Tatsache trat am 11. März Premierminister Giuseppe Conte erneut vor die Medien und kündigte eine weitere Verschärfung der Maßnahmen an. In der Ansprache sagte er kurz und prägnant: „Alle ökonomischen Aktivitäten und Geschäfte bleiben vorübergehend und mindestens bis zum 25. März geschlossen, mit Ausnahme von Lebensmittelläden und Apotheken. Somit garantieren wir weiterhin den Zugang zu den lebensnotwendigen Produkten.“ <a href="https://jacobinitalia.it/tutti-a-casa-tranne-gli-operai/"><i>Tutti a casa</i></a><i> –</i> alle zu Hause bleiben, heißt es also. Ist das der Weg, um der Verbreitung des Virus endlich einen Riegel vorzuschieben? Und können auch wirklich alle zu Hause bleiben?</p><h2><b>Alle zu Hause, außer die Arbeiter*innen</b></h2><p>Eine genauere Analyse des letzten <a href="http://www.governo.it/it/articolo/coronavirus-conte-firma-il-dpcm-11-marzo-2020/14299">Verordnungstextes</a> zeigt indes, dass nicht nur Lebensmittelläden und Apotheken offen bleiben, sondern praktisch der komplette Produktionsapparat des Landes weiter funktionieren soll. Ausgeschlossen bleiben nur der Detailverkauf, die Gastronomie (etwa Bars, Pubs, Restaurants, Eisstände, Konditoreien) und die personenbezogenen Dienstleistungen (darunter fallen Friseur*innen, Barbier, Kosmetiker*innen). Weitergearbeitet werden soll „mit Respekt der Hygienevorschriften“ (selbstverständlich!) in der Essenslieferung, in den Banken und Finanzinstituten, bei den Versicherungen und der Post sowie auch in der Landwirtschaft, der Viehzucht und der ganzen Produktionskette von Lebensmitteln (von der Verarbeitung von Agrarprodukten, bis zu den Waren- und Dienstleistungszulieferern des Sektors).</p><p>Was die produktiven Aktivitäten betrifft, empfiehlt die italienische Regierung die Anwendung von Hausarbeit, die Vorverlegung von Urlaub (was einem Zwang zum Urlaub und daher zur Arbeit in Urlaubszeit gleichkommt!), den Rückgriff auf die in den Tarifverträgen vorgesehenen sozialen Maßnahmen (schwammig genug!) und die Einführung von Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (fixer Arbeitsplatz, Verteilung von Atemschutzmasken und Handschuhen, regelmäßige Reinigung und Desinfektion des Arbeitsortes und so weiter). Es bleibt aber bei Empfehlungen, es sind keine Anordnungen.</p><h2><b>Die produktive Kontinuität sichern</b></h2><p>Mit dieser dringlichen Verordnung versucht die italienische Regierung einen unmöglichen Balanceakt: Auf der einen Seite geht es darum, die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv zu beschränken, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen; auf der anderen Seite hingegen darum, den Bedürfnissen der sich schon vor dem Ausbruch des Virus in eine Krise zusteuernden Unternehmen nachzukommen. Diese hatten sich in den letzten Tagen sehr oft zum Einfluss des Coronavirus auf den <a href="https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/7969896b-en.pdf?expires=1584052604&id=id&accname=guest&checksum=EF8A0B9A28FEA179B0ECEBD2438A652B">Gang der Wirtschaft</a> geäußert und stets die Weiterführung der Produktion gefordert, trotz <a href="http://www.protezionecivile.gov.it/media-comunicazione/comunicati-stampa/dettaglio/-/asset_publisher/default/content/coronavirus-sono-12-839-i-positivi">exponentiellem Anstieg</a> der vom Virus betroffenen Fälle. „Selbstregulierung und produktive Kontinuität ist die vom Unternehmensverband Confindustria empfohlene Weg“ ist in ihrer Zeitung <i>Il Sole 24 Ore</i> zu lesen. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit sei es „unerlässlich, die Betriebe offen zu halten und der produktiven Aktivität und dem freien Warenverkehr Kontinuität zu geben. Die Produktionsketten heute zu unterbrechen würde bedeuten, Marktanteile zu verlieren und exportorientierte Betriebe zu schließen.“ Dies wiederum sei, so die Kommentatorin der Zeitung, Nicoletta Picchio, „ein Signal fehlender produktiver Fähigkeit für das Ausland, die kurzfristig kaum aufzuholen ist. Der Produktionsunterbruch wäre ein schlimmer Fehler, das würde unser Tod bedeuten.“ Sie sieht die Geier schon über ihnen kreisen: „Unsere Konkurrenten greifen uns an, sie sind bereit, diese Momente der Schwäche auszunutzen.“ <b>[1]</b></p><h2><b>Arbeit statt Gesundheit?</b></h2><p>In Italien wird also weiter produziert. Wie sieht es nun aber derzeit in den „verborgenen Stätten der Produktion“ aus? Eine besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst einmal den Gesundheitsarbeiter*innen. Seit dem Ausbruch des Virus werden in TV und Presse ihre „Held*innengeschichten“ tagtäglich erzählt: Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, keine Ruhetage, konstant den Gefahren der Ansteckung ausgesetzt. Doch die Gesundheitsarbeiter*innen selbst lehnen diese Held*innengeschichten ab. Sie sagen, es gehe nicht darum, die individuelle Anstrengung der einzelnen Arbeiter*innen hervorzuheben, sondern auf die systemischen Mängel des italienischen Gesundheitssystems – <a href="https://www.gimbe.org/pagine/1229/it/report-72019-il-definanziamento-20102019-del-ssn">Unterfinanzierung und Umstrukturierung</a> – hinzuweisen, die dazu führten, dass in Zeiten des Ausnahmezustandes die Gesundheitsarbeiter*innen fast übermenschliche Anstrengungen an den Tag legen müssen. Sie berichten auch davon, dass es konstant an individuellen Schutzvorkehrungen [sogenannte „dpi“, <i>dispositivi di protezione individuale</i>] mangelt, dass die Intensivstationen total überbelegt sind und somit andere Krankenhausbereiche auf Kosten anderer Patient*innen zu Intensivstationen umgewandelt werden müssen, dass ständig Ärzt*innen und Pfleger*innen fehlen, so dass in einigen Fällen <a href="https://espresso.repubblica.it/attualita/2020/03/11/news/coronavirus-reclutati-gli-studenti-infermieri-siamo-senza-protezioni-tutele-assicurazione-1.345488?ref=HEF_RULLO">Medizinstudierende rekrutiert</a> werden, um diese Lücken zu füllen und so weiter.</p><p>Die Prekarisierung des Arbeitsalltages betrifft jedoch nicht nur Gesundheitsarbeiter*innen in den Krankenhäusern. Confindustria behauptet zwar, dass „Fabriken zurzeit die sichersten Orte sind, weil Präventivmaßnahmen getroffen wurden“, doch die Arbeiter*innen sehen das anders <b>[2]</b>: „<a href="https://www.la7.it/laria-che-tira/video/coronavirus-lo-sfogo-degli-operai-per-conte-il-virus-si-ferma-davanti-ai-cancelli-delle-fabbriche-si-12-03-2020-312852?fbclid=IwAR2h9ObV6diKkDvONAhF1_3b41XSLdK0S4_8zkE_cCqIV3_Z_R6MLzjbBM8">Der Coronavirus macht nicht vor den Fabriktoren halt</a>“, bringt es eine Arbeiterin auf den Punkt. In vielen Sektoren der Produktion ist die Arbeit trotz Lahmlegung des restlichen Landes intensiviert worden. In gewissen Betrieben der Logistikbranche stiegen die Auftragszahlen massiv, wie beispielsweise bei Amazon. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben. Amazon hält sich jedoch weder an die Betriebshygiene, noch hat der Konzern den Arbeiter*innen individuelle Schutzvorkehrungen garantiert. Erst nachdem <a href="http://www.ansa.it/piemonte/notizie/2020/03/11/coronavirus-positivo-dipendente-amazon-in-piemonte_55d8c86c-ed14-4e8f-a009-95c021eff37a.html">ein Fall von Coronavirus im Lager von Torrazza Piemonte</a> aufgedeckt wurde, wurde der Betrieb gereinigt und desinfiziert und einige Arbeiter*innen in Quarantäne gestellt.</p><p>Auch in vielen Call Center wird mehr gearbeitet als zuvor, vor allem in Betrieben, die Aufträge von öffentlichen Institutionen übernommen haben und während diesen Zeiten zusätzliche Hotline-Dienste anbieten. In einem Call Center in Napoli wurden einige Maßnahmen getroffen (die Zuweisung eines fixen Computers, Sicherheitsdistanz von einem Meter), andere hingegen nicht (fehlende Seife und Desinfektionsmittel in den WCs). Manche Maßnahmen grenzen ans Absurde, wie beispielsweise die Aufforderung, Kaffeeautomaten auszuschalten, um „unnötige Menschenansammlungen zu vermeiden.“ Die Betriebsleitung des Call Center lehnt weiterhin den Vorschlag der Hausarbeit ab; die Arbeiter*innen sind aufgrund der zusätzlichen Dienste hingegen gezwungen, Überstunden zu leisten.</p><p>Kaum eine Stimme haben diejenigen, die ohne Vertrag, irregulär und daher ohne Sozialversicherungsschutz arbeiten: Care-Arbeiter*innen müssen aus Angst vor einer Ansteckung zu Hause bleiben, vor allem diejenigen, die mit alten Menschen arbeiten; (Schein-)Selbständige sind nicht erwerbslosenversichert und riskieren nun einen längeren Lohnausfall, falls <i>smart working</i> nicht umsetzbar ist; junge Arbeiter*innen ohne Vertrag, die in Bars, Restaurants oder anderen „Zuliefererbetrieben“ des Tourismus (vor allem in den Städten) tätig sind, wurden aufgrund der Verordnung von einem Tag auf den anderen entlassen und sind nun ohne Job. Für diese Sektoren sehen die Verordnungen der Regierung bis heute keine Lösungen vor.</p><h2><b>Widerstand formiert sich</b></h2><p>Immer mehr Arbeiter*innen akzeptieren diese mangelnden gesundheitlichen und sozialen Sicherheitsvorkehrungen jedoch nicht und beginnen zu streiken. Zahlreich sind die Beispiele der landesweiten Arbeitsniederlegungen, vor allem in der <a href="https://contropiano.org/news/politica-news/2020/03/11/bartolini-fca-ikea-scioperi-spontanei-la-sicurezza-prima-del-profitto-0125077">Logistikbranche</a> und in den <a href="https://torino.repubblica.it/cronaca/2020/03/12/news/scioperi_spontanei_in_piemonte_contro_le_fabbriche_aperte_regole_di_sicurezza_non_rispettate_-251052173/">Regionen</a>, in denen der Virus schon weit verbreitet ist. In einigen Fällen geht es aber auch um weit mehr als um Gesundheitsschutz. Die <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1238085207338729472?s=20">Arbeiter*innen der Luxuskleiderfabrik Corneliani in Mantova</a> fordern nicht nur die Einhaltung jeglicher Schutzmaßnahmen in der Produktion, sondern auch die vorübergehende Schließung der Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern. Dem Interesse der Confindustria, die Produktion um jeden Preis – vor allem um den der Gesundheit der Arbeiter*innen – weiterzuführen, setzen die spontanen Proteste der Arbeiter*innen eine Grenze.</p><p>Von den großen Gewerkschaftsverbänden CGIL, CISL und UIL ist in diesen Tagen indes weit weniger zu hören als vom Unternehmensverband. Die drei Maschinen- und Metallindustriegewerkschaften Fiom, Fim und Uilm rennen den Protesten der Arbeiter*innen regelrecht hinterher und verlangen die <a href="https://www.fiom-cgil.it/net/index.php/comunicazione/stampa-e-relazioni-esterne/7328-le-fabbriche-si-fermino-fino-a-domenica-22-marzo-per-applicare-le-misure-sanitarie-di-contrasto-al-covid-19">Schließung der Fabriken</a> bis zum 22. März, „um alle Arbeitsplätze zu sanieren, zu sichern und neu zu organisieren.“ Die Basisgewerkschaften fordern hingegen mehr: Die USB ruft zu einem <a href="https://www.usb.it/leggi-notizia/coronavirus-usb-proclama-32-ore-di-sciopero-nei-settori-industriali-non-essenziali-fermare-le-fabbriche-garantire-la-salute-e-il-salario-1232.html">32-stündigen Streik</a> auf und fordert die „vorübergehende Unterbrechung aller industriellen Aktivitäten, mit Ausnahme derjenigen, die eng mit dem Kampf gegen die Pandemie verbunden sind.“ Der SI Cobas schließlich ruft zu <a href="http://sicobas.org/2020/03/11/italia-stato-di-agitazione-nazionale-su-tutte-le-categorie-coronavirus-situazione-insostenibile-in-migliaia-di-aziende/">sofortigen italienweiten Mobilisierungen und Arbeitsniederlegungen</a> in allen Kategorien aus und fordert die Einberufung eines Verhandlungstisches mit der Regierung und dem Arbeitsministeriums.</p><p>Die Krise des Coronavirus hat also den Interessenskonflikt zwischen Profitmaximierung seitens der Unternehmen und dem Gesundheitsschutz und der Jobgarantie seitens der Arbeiter*innen entblößt und verschärft. Der Gang der Arbeitsproteste bleibt offen, sicher ist nur eines: Die Arbeiter*innen haben es satt, die Krise sowohl mit ihrer Gesundheit als auch mit der Arbeitsplatzsicherheit und dem sozialen Schutz bezahlen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass die Arbeitskonflikte den Coronavirus bei weitem überleben werden.</p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Nicoletta Picchio, Imprese decisiva la continuità aziendale, ilsole24ore 12.03.2020, S.2.</p><p><b>[2]</b> Die aufgeführten Beispiele von Prekarisierung und Arbeitsniederlegung sind einerseits den <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/da-fincantieri-ad-amazon-stabilimenti-parte-protesta-la-sicurezza-ADl3DrC">Berichterstattungen von Tageszeitungen</a> und Gewerkschaften entnommen, andererseits handelt es sich um Dokumentationen des <a href="https://poterealpopolo.org/il-coronavirus-non-contagi-i-diritti-dei-lavoratori-parte-la-nostra-assistenza-telefonica/"><i>Roten Telefons</i> von <i>Potere al Popolo</i></a>, einem mit dem Ausbruch des Coronavirus aufgeschalteten Service. Das Rote Telefon ist eine Hotline, auf die Arbeiter*innen anrufen können, um Verstöße und fehlende Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu melden. Arbeitsrechtler*innen und Aktivist*innen von Potere al Popolo informieren darüber, was ein Unternehmen gesetzlich tun muss und wie die Arbeiter*innen sich organisieren und handeln können. Bisher wurden hunderte von Fällen dokumentiert.</p><p><b>Titelbild</b>: Die Basisgewerkschaft USB protestiert vor dem Ministerium für ökonomische Entwicklung.</p></div>
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<p>Das rote Telefon von Potere al Popolo</p>
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Viraler Kapitalismus2020-03-11T13:21:10.148042+00:002020-04-29T15:58:43.794454+00:00Alp Kayserilioğlu, Johanna Bröse und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/
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<div class="rich-text"><p>Der Schmuggel von Atemmasken boomt. Deutschland untersagt in Folge die Ausfuhr medizinischen Materials und stoppt eine Fracht mit 240.000 Atemmasken an der Schweizer Grenze. Desinfektionsmittel sind ausverkauft und quasi nur mehr am Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu bekommen und in den Supermärkten war über Tage hinweg kein Klopapier zu haben.</p><p>An den Börsen massive Kursstürze, in vielen Ländern kommt das Alltagsleben zum Erliegen. Italien wird de facto als Ganzes unter Quarantäne gestellt und die <a href="https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/italien/">Reisewarnungen</a>, die andere Länder ausgeben, entsprechen in etwa denen für Kriegszonen. Seit gestern weiten sich die Vorsichtsmaßnahmen in Form von Universitätsschließungen, Veranstaltungsverboten und so weiter auch auf Deutschland, Österreich, die USA und weitere Staaten aus. Tausende Menschen verlieren in Folge ihre Arbeitsplätze, insbesondere in der Leiharbeit und prekärer „Selbständigkeit“.</p><p>Gleichzeitig: Rassistische Reaktionen auf als chinesisch wahrgenommene Personen, dann auch auf Menschen, die generell als „asiatisch“ oder „iranisch“ einsortiert werden. Menschen im Nahverkehr setzen sich absichtlich nicht zu Menschen aus vermeintlichen "Risikogruppen". Ein Niesen oder ein Husten in der Öffentlichkeit führt zu Streit und dem Aussetzen elementarer Solidarität. Was genau passiert da gerade? Wie gelang es einem Virus, die ganze Welt in Panik zu versetzen? Und was hat das mit dem Kapitalismus zu tun?</p><h2><b>Die Masken fallen</b></h2><p>Vertrauen wir auf die – unterschiedlichen – Modelle über die möglichen Ausbreitungsszenarien, wird die Ausbreitung des Virus <a href="https://orf.at/stories/3156304/">kaum noch aufzuhalten</a> sein. Die Frage ist nur, wie viele Menschen letztlich davon betroffen sein werden – und wie viele daran sterben. Umso länger sich die Ausbreitung des Virus herauszögert, umso eher lässt er sich aufgrund veränderter klimatischer Bedingungen (etwa der Sommerhitze in vielen Teilen der Erde) eindämmen. Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass rechtzeitig ein Impfstoff erfunden wird, um die Epidemie/Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Ein nicht unwahrscheinliches Szenario ist es aber dennoch, dass auch dieser Virus „mit uns bleiben“ wird, wie die anderen „üblichen“ Krankheiten, bakteriell oder viral. Der Grad der Integration der Gesellschaften im globalen Rahmen führt eben dazu, dass lokale Ausbrüche von infektiösen Krankheiten schnell zu globalen Epidemien führen können. 2009 schaffte es das H1N1 Virus <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">in</a> <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">neun Tagen über den Pazifischen Ozean</a>, obwohl Modelle von Monaten ausgingen. Und seit der SARS Pandemie 2003 hat sich etwa der Flugverkehr alleine in China verzehnfacht.</p><p>Was wir über das aktuell alle Berichterstattungen dominierende Virus wissen, ist, dass es eine Mutation der Coronaviridae ist, die auch schon für die als SARS und MERS bekannten Epidemien/Pandemien verantwortlich waren. Wenn wir uns epidemische Ausbrüche der letzten Jahre anschauen, dann handelt es sich meistens um Mutationen der Coronaviridae oder der Influenza (Vogelgrippe, Schweinegrippe und so weiter). Ebola, aus der Gruppe der Filoviridae, stellt eine Ausnahme dar. In allen Fällen kommt es irgendwann zu einer Übertragung vom Tier auf den Menschen.</p><p>Das neuartige Virus wird fachlich als SARS-CoV-2 bezeichnet, welches die Erkrankung namens Covid-19 auslöst. Es ist deshalb <a href="https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-covid-19-ansteckender-ist-als-sars-enorme-mengen-virus-im-oberen-rachenbereich/25588526.html">brandgefährlich</a>, weil Träger*innen – im Unterschied zu SARS oder ähnlichen Viren – schon ansteckend sind, bevor sie überhaupt Krankheitssymptome aufweisen. Das erschwert klarerweise die rechtzeitige Identifikation von Träger*innen enorm und ist ein wesentlicher Grund der raschen Ausbreitung. Über den Ursprung des Virus können wir bisher nur spekulieren. Allerdings: Auch bei diesem Virus ist eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/01/31/corinavirus-nature-fights-back/">kapitalistische Landwirtschaft und Massentierhaltung</a> die Entstehung und Verbreitung des Virus massiv gefördert haben. Zum einen schwächt die Abholzung großer Waldflächen die natürlichen Schranken von Wäldern gegen Übertragungen. <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">Kombiniert</a> mit der Suche nach immer „exotischeren“ Tieren zum kommodifizierten Verzehr – der Corona-Virus <i>könnte</i> im Markt von Wuhan für „exotische Tiere“ ausgebrochen sein – und der Auslagerung der Fleischproduktion auf fabrikmäßige Zulieferer an Waldrändern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich „Nutztiere“ neuartige Viren fangen und diese sofort übertragen. <a href="https://socialistreview.org.uk/455/what-makes-disease-go-viral">Andererseits</a> fördert die profitgetriebene Massentierhaltung die Entstehung und Verbreitung von Viren und Epidemien innerhalb des Tierreichs, da die Tiere nicht nur unter den brutalsten und unhygienischsten Bedingungen hochgezüchtet werden, was die Virenübertragung und -ausweitung extrem fördert, sondern aus „Effizienzgründen“ eine Monokultur bei der Züchtung bevorzugt wird, die zusätzlich eine Ausbildung von Resistenzen der Tiere verringert.</p><p>Gleichzeitig gibt es kaum Mechanismen, die einer wirklich weltumfassenden Pandemie angemessen wären und die koordinierte und effektive Maßnahmen im Sinne der Allgemeinheit treffen könnten. Zentraler Grund: Die medizinische Forschung ist im neoliberalen Kapitalismus genauso privatisiert wie der Gesundheitssektor. Das wirkt sich in massivem Umfang auf die Behandlung der Betroffenen aus. Italiens kaputtgesparter Gesundheitssektor ist schon jetzt <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-italien-wie-ein-tsunami-a-634be2c3-3666-434e-be74-44c6452e3690">komplett überlastet</a> und beschränkt funktionsfähig, <a href="https://taz.de/Zustaendigkeiten-beim-Coronavirus/!5667299/">Deutschland</a> ist hier <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/besucher-der-trompete-risikopatient-wurde-vier-tage-nicht-auf-das-coronavirus-getestet/25631386.html">offensichtlich</a> <a href="https://twitter.com/FrlRottenmaier/status/1237443682606989312">nicht viel besser</a> gestellt, auch aus anderen Ländern werden Engpässe und Überlastungen gemeldet.</p><p>Die profitgetriebene, privatisierte medizinische Forschung führt dazu, dass <a href="https://www.theatlantic.com/health/archive/2020/02/covid-vaccine/607000/?fbclid=IwAR24oQFi1KW_030hGhGXHnw8j75mU8dTSCfFXblDfy9VGsXySahXKlFqQyg">Forschung und Produktion von Medikamenten und Impfungen</a> nicht im Sinne des Allgemeinwohls, sondern gemäß der Profitlogik getätigt werden. Viele Informationen werden nicht weitergegeben. Die Medikamente oder zumindest die Forschung dazu existiert am Ehesten noch dort, wo sie am Wenigsten gebraucht würde, um den wirklichen Ausbruch solcher Epidemien zu verhindern. Letztlich wird auch in der Pharmaindustrie nur dort geforscht und entwickelt, wo und wann es einen Profit verspricht. Dabei ist es bei Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie schon zu spät – Forschung, Aufklärung, Vorbereitung müssten schon längst zuvor organisiert und längerfristig geplant, Investitionen dauerhaft getätigt werden, wenn es denn daran gelegen wäre, möglichst viele Menschen vor einer epidemischen oder pandemischen Krankheit zu schützen und deren Effekte abzumildern. Die Kapazitäten hierfür hat die Menschheit schon längst – es ist die kapitalistische Logik, die ein solches Vorgehen verhindert. Denn Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln ist teuer und eine profitträchtige Nachfrage nach diesen Maßnahmen gibt es in kapitalistischen Verhältnissen nur, wenn eine Epidemie ausbricht, wenn es also schon zu spät ist. Und auch dann zählt das Geld.</p><p>Ein Interesse an einem effektiven Schutz, an einer Sorge für einen Großteil der Menschen gibt es im Kapitalismus aber nicht, auch nicht im Angesicht einer Pandemie. Am 10. März verkündete die EU-Kommission die Bereitstellung eines 25 Milliarden Euro Fonds zur Bearbeitung der „Corona-Krise“. Davon sollen immerhin <a href="https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_440">140 Mio. Euro</a> direkt in die Forschung gehen, die restlichen Milliarden sind dazu da, dass „die europäische Wirtschaft den Turbulenzen trotzen“ kann.</p><h2><b>Eine virale Krise des Sozialen</b></h2><p>Nachdem sich die Organisation erdölexportierender Länder<b> (</b>OPEC) und Russland Anfang dieser Woche nicht auf eine gemeinsame Förderbremse – wegen Corona-bedingtem Einbruch der Ölnachfrage Chinas – einigen konnten, wurde das Virus quasi zusammen mit dem massivsten Einbruch des Ölpreises seit 1991 Auslöser eines Kurssturzes an den Börsen weltweit. Die Wachstumsprojektionen der meisten Länder wurden für 2020 schon vor dem Einsturz des Ölpreises nach unten revidiert – <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">jetzt</a> werden die Prognosen noch düsterer. Die Entwicklungen führen die Fragilität der globalen kapitalistischen Gesellschaftsformation sehr deutlich vor Augen: Die Weltwirtschaftskrise 2007-08ff. ist eben nur oberflächlich „überwunden“ worden. Ein vergleichsweise zufällig losgetretenes Ereignis reicht womöglich, um erneut eine ausbuchstabierte Weltwirtschaftskrise vom Zaun zu brechen.</p><p>Andererseits: Keineswegs sind alle Menschen gleich vom Virus betroffen. Während nun „Konjunkturpakete“ für „die Wirtschaft“ – lies: die Kapitalist*innen – herausposaunt werden, regnen keine „Sozialpakete“ für den Großteil der Werktätigen. Schon jetzt wurden zahllose Messen abgesagt – und damit das Einkommen zahlloser Arbeiter*innen, die ohne Verträge oder „auf Honorarbasis“ angestellt sind, vernichtet. Alle, die können, sollen<i> home office</i> machen, heißt es; in Deutschland kann man sich per Bildaufnahme seines Krankenausweises aus der Ferne eine Krankheitsbescheinigung für die Arbeit ausstellen lassen. Welch Fürsorge! Aber was ist mit denen, die prekär oder informell arbeiten? Was ist mit prekär selbstständigen Kulturarbeiter*innen, jetzt, wo viele Kulturveranstaltungen abgesagt sind? Was ist mit prekären Übersetzer*innen, Akademiker*innen, Leiharbeiter*innen? Was sollen diejenigen machen, die sich Ausfälle an Arbeitstagen oder medizinische Diagnosen in Ländern mit noch krasser privatisierten Gesundheitssystemen wie den USA nicht leisten können? Die große Politik schweigt.</p><p>In Italien sind <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1237447577144119299">landesweit</a> Arbeiter*innen in Streik getreten, weil nicht genügend Sicherheits- und Gesundheitsmaßnamen im Sinne der Arbeiter*innen getroffen werden; in und um über 25 <a href="https://twitter.com/redfishstream/status/1237433635265019905">Gefängnissen</a> brachen Aufstände aus, weil den Angehörigen der Kontakt verweigert wird – es gibt schon <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-italy-prisons/six-dead-as-coronavirus-measures-trigger-prison-riots-across-italy-idUSKBN20W1JP">Tote</a>. Das <a href="https://dso.college.harvard.edu/coronavirusfaq">Harvard College</a> ruft alle Studierenden dazu auf, innerhalb von fünf Tagen ihre Schlafsäle und Campus-Wohnungen zu verlassen, alle Kurse finden nur mehr online statt. Zur Frage danach, wie das Studierende, die kaum Geld oder andere Unterkünfte zur Verfügung haben, organisieren sollen, heißt es lapidar: „It may take some time before financial issues are settled.“ Auch in Deutschland und Österreich werden immer mehr Schulen geschlossen – welche Eltern können sich<i> home office</i> oder Abwesenheit von der Arbeit leisten, um sich um die Kinder zu kümmern?</p><h2><b>Solidarische Perspektiven in Zeiten von Corona</b></h2><p>Während sich das Virus derzeit noch exponentiell steigend ausbreitet, haben das kapitalistische System und seine politische Verwaltung bisher nicht viel mehr zu bieten als kaputtgesparte Gesundheitsinfrastruktur sowie recht grobe und ziellose Quarantäne-Maßnahmen und „Verhaltensempfehlungen“, die eine weitestgehende Individualisierung der Folgen beinhalten. Ausgenommen natürlich die „Unternehmer*innen“, um die sorgt man sich ganz besonders.</p><p>Die Bevölkerung selbst soll sich voneinander fernhalten – außer bei prekären Jobs, und auf dem Weg dorthin in überfüllten Nahverkehrsmitteln. Sogar die <a href="https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/advice-for-public">WHO</a>, immerhin eine der größten und wichtigsten internationalen Gesundheitsorganisationen, empfiehlt neben dem Händewaschen die soziale Distanzierung. Wer kann, der isoliere sich, der Rest desinfiziere eben die Hände – falls Desinfektionsmittel noch erschwinglich zu bekommen sind. Was dieses Drängen auf soziale Isolation gerade im Kontext von Care-Arbeit mit älteren Menschen oder mit Menschen mit anderen Erkrankungen bedeuten wird, in Zeiten von Vereinsamung vieler Menschen – all dies wird sich erst mit der Zeit zeigen.</p><p>Die kapitalistische Medienlogik – <i>sex sells</i>,<i> panic sells</i>,<i> spectacle sells</i> – macht mit, es herrscht ein Informationschaos, dessen Ausmaße oszillieren zwischen exzessiver Panikmache – „Die meisten von uns werden erkranken, viele Junge und Alte werden sterben!“ – und Derailing – „eine normale Influenza ist viel gefährlicher, die meisten Menschen werden kaum mal leichte Symptome haben!“. Stimmen, die hier auf die Marginalisierten, die Menschen mit chronischen Erkrankungen, die Menschen in sehr prekären Arbeitsverhältnissen ohne Kündigungsschutz und so weiter hinweisen, bleiben weit dahinter zurück. Im Gegenteil: Ihnen dröhnt noch rechte Geiferei entgegen. Der neurechten Internationalen in den USA, Italien, Frankreich, der Schweiz, Spanien, <a href="https://www.nbcnews.com/news/world/coronavirus-used-european-populist-right-challenge-e-u-open-borders-n1149491">Ungarn</a>, <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/video-mit-pistolenschuss-wie-rechte-das-coronavirus-zur-hetze-gegen-fluechtlinge-benutzen/25625008.html">Deutschland</a> und Österreich <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/28/coronavirus-outbreak-migrants-blamed-italy-matteo-salvini-marine-le-pen">schäumt schon der Mund</a>: die Geflüchteten, die Chinesen, die Afrikaner – Danke Merkel, GRENZEN ZU!!!</p><p>Wir als Linke müssen gegen diesen kapitalistische Bankrottpolitik gegenüber dem Sozialen und dem Versuch der reaktionären Kapitalisierung angesichts der Corona-Krise entschieden entgegentreten und klarmachen: In der heutigen neoliberalen Welt ist die Entstehung viraler Pandemien durch kapitalistischen Raubbau und Massentierhaltung viel wahrscheinlicher geworden; ihre Ausweitung hingegen geht aufgrund der Globalisierung viel schneller vor sich. Daran hat aber wiederum nicht eine abstrakte „Globalisierung“ Schuld. Der Hund <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">liegt darin</a> begraben, dass es im neoliberalen Weltkapitalismus einfach kaum präventive Maßnahmen und Vorbereitungen für den Umgang mit solchen Pandemien im Sinne des Allgemeinwohls gibt, da sie aus der Perspektive privatisierter Pharmaindustrien und Gesundheitssysteme nicht profitabel sind. Das gilt für die jetzige Corona-Krise genauso wie für die weltweite Klimakrise. Nach dieser Logik fordert auch der Multimilliardär Bill Gates <a href="https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2003762">jetzt massive öffentliche Investitionen</a> und die teilweise Aussetzung kapitalistischer Marktlogiken, um dem Virus beizukommen. Was er freilich nicht sagt: Dass es genau Menschen wie er waren, die zu der aktuellen Krise und zur stetigen Kommodifizierung des Gesundheitssektors und aller anderen Gesellschaftssphären beigetragen haben.</p><p>Kurzfristig müssen wir alles Erdenkliche dafür tun, dass auch diese Krise des Kapitalismus, die wortwörtlich eine virale ist, nicht auf dem Rücken der Vulnerabelsten und Schwächsten – (prekäre) Arbeiter*innen, <a href="https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/arbeitende-rentner-sind-am-gefaehrdetsten">Rentenaufstocker*innen</a>, Frauen*, <a href="https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/02/27/Coronavirus-Iran-refugees-IDPs-Italy-Europe-disease">Refugees</a>, chronisch Kranke, behinderte Menschen – ausgetragen wird. Es muss Sozial- und Sorgepakete statt Konjunkturpakete geben; dafür zahlen müssen die, die das Geld haben; keine Prekäre oder Reproduktionsarbeiterin darf die Lasten alleine tragen, es müssen soziale Sorgemechanismen und Auffangnetze eingefordert und organisiert werden. Mittel- und langfristig müssen wir auf eine Revolutionierung der Gesundheitssysteme und der Pharmaindustrie, und nicht zuletzt von Landwirtschaft und Tierhaltung drängen: Weg von einer Profitorientierung hin zu einer Gemeinwohlorientierung. Nur die Perspektive und Organisation einer solchen antikapitalistischen und internationalen Solidarität wird auch letztlich den dunklen Horizont neurechter Hetze und Menschenverachtung dorthin verfrachten, wohin er hingehört – auf den Müllhaufen der Geschichte.</p></div>
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Gemeinsam gegen die Fleischindustrie2018-02-24T22:01:54.730721+00:002018-02-24T22:15:35.710041+00:00Bündnis Marxismus und Tierbefreiungredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/gemeinsam-gegen-die-fleischindustrie/
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<h1>Gemeinsam gegen die Fleischindustrie</h1>
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<div class="rich-text"><p>Naturzerstörung,
Klimawandel, Tierversuche, Massentierhaltung, „Gammelfleisch“ – es gibt viele
gute Gründe, einen radikal anderen gesellschaftlichen Umgang mit Natur und
Tieren zu fordern. Wer als Linke oder Linker jedoch die Befreiung der Tiere als
Bestandteil einer sozialistischen Bewegung propagiert, erntet schräge Blicke –
und zwar von gleich zwei Seiten: Von vielen marxistischen und kommunistischen
Linken, weil sie mit Tierbefreiung nichts anfangen können, und von der
Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, weil sie von Marxismus und
sozialistischer Politik nichts wissen will. Trotzdem haben ihre Kämpfe mehr
miteinander zu tun, als beide Seiten glauben. Schließlich haben sie den selben
Gegner: Das Kapital, das Arbeitskraft, die Natur und Tiere verheizt. MarxistInnen
und TierbefreierInnen müssen sich zusammentun, um ihn wirksam bekämpfen zu
können.</p>
<h2><b>Profit auf
Kosten der ArbeiterInnen, Natur und Tiere </b></h2><p>Milliarden
Tiere – das heißt leidensfähige Individuen – werden jährlich ausgebeutet und
umgebracht. Sie müssen unter Qualen Milch und Eier produzieren, in Zoos und
Zirkussen stumpfsinnige Shows vorführen, werden in Laboren gequält und
ermordet, oder landen auf dem Teller. Die Fleischindustrie lässt im Akkord
töten, verschwendet dafür natürliche Ressourcen wie Wasser und Soja und
verpestet die Umwelt und das Klima – Tendenz steigend. Nach Angaben des Statistischen
Bundesamtes wurden im Jahr 2017 in Deutschland ganze 8,11 Mio. Tonnen Fleisch „produziert“ – darunter 57,9 Mio. getötete Schweine, 3,5 Mio. getötete Rinder,
rund 1,5 Mio. Tonnen Hühnerfleisch und etwa 20,600 Tonnen getötete Lämmer und
Schafe. Der deutsche Markt ist oligopolistisch organisiert: Kleine und
bäuerliche Betriebe müssen zusehends schließen, wenige Konzerne – u.a. <i>Tönnies</i>, <i>Vion</i>, <i>Westfleisch</i> –
teilen die Mordsprofite unter sich auf. Professionelle Lobby- und
Öffentlichkeitsarbeit sorgt für die propagandistische Legitimation des
Geschäfts und die Hegemonie der Fleischkultur. Sie soll die Profiteure u.a. als
nachhaltig wirtschaftende Unternehmen inszenieren. </p><p>Auch
die Arbeiterinnen und Arbeiter haben derweil nichts zu lachen: Sie arbeiten zu
Hungerlöhnen unter miesen Bedingungen und werden schikaniert. Der aktuelle
Tarifvertrag zwischen der Fleischwirtschaft und der Gewerkschaft Nahrung,
Genuss, Gaststätten (NGG) sieht Mindestlöhne von mageren neun Euro vor. Es gibt
mittlerweile genug Belege dafür, dass sogar dieser Hungerlohn systematisch von
den Konzernbossen unterlaufen wird. Leiharbeit, informelle
Beschäftigungsverhältnisse und Werkverträge, die die Löhne noch weiter nach
unten drücken, sind die Regel. Gewerkschaftliche Organisierung wird massiv
bekämpft, um die NiedriglöhnerInnen – meist ArbeitsmigrantInnen aus Osteuropa –
ungestört ausbeuten zu können. </p><p>Wie
keine andere versinnbildlicht die Fleischindustrie den rücksichtslosen
Verschleiß von Mensch, Natur und Tieren durch das Kapital. Für ihre Profite
nimmt die Bourgeoisie nicht nur das Ende des Planeten, wie wir ihn kennen, und
das Elend der arbeitenden Klasse in Kauf. Sie geht auch buchstäblich über
Leichen: Die Ursache der milliardenfachen industriellen Tötung von Tieren für
die Fleisch-, Leder-, Milch-, Eier-, Pelzproduktion usw. ist das Kapital, das
die Klasse der KapitalistInnen daraus schlägt – nicht bloß das falsche Denken „der“ Menschen über „die“ Tiere, wie Teile der Tierrechts- und
Tierbefreiungsbewegung meinen. Der Kampf gegen die Tierausbeutungsindustrie,
wie ihn Initiativen wie <i>Kampagnen gegen Tierfabriken</i>, <i>LPT Schließen</i>,
die<i> Offensive gegen die
Pelzindustrie</i> und andere betreiben, ist daher begrüßenswert und
fortschrittlich.
</p><h2><b>Klassenfrage
Tierausbeutung</b></h2><p>Die
marxistische Linke hat zwar begriffen, dass es das systematische Streben der
KapitalistInnen nach Profit ist, das Ausbeutung, Imperialismus, Naturzerstörung
und millionenfaches Leid verursacht. Ihr Antikapitalismus hat jedoch einen
blinden Fleck, wenn sie sich weiterhin weigert, die Frage nach der Befreiung
der Tiere als Feld linker und sozialistischer Politik zu begreifen und
ernsthaft zu diskutieren. Das Beispiel der Fleischindustrie zeigt, wie eng die
Ausbeutung der Tiere mit der sozialen Frage und der Zerstörung der Natur
verbunden ist. Dass die Linke sich ihrer bislang kaum angenommen hat, ist nicht
nur angesichts der objektiven Bedeutung dieser Branche sowie der durch sie
verursachten gravierenden Schädigung allein von Mensch und Natur verwunderlich.
Für MarxistInnen gibt es darüber hinaus zwingende Gründe, die Tiere in den
Kreis derer aufzunehmen, die es von Ausbeutung und Klassenherrschaft zu
befreien gilt.
</p><p>Für
das Kapital sind nicht nur LohnarbeiterInnen, sondern auch Tiere bloß
Instrumente der Verwertung: Die einen als Arbeitskraft und variables Kapital,
die anderen als Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, sprich konstantes Kapital.
Und für beide bedeutet das die schmerzvolle Abstraktion von ihren eigentlichen
Bedürfnissen: Sie werden ausgebeutet und leidvoll verschlissen, die Tiere sogar
systematisch umgebracht und zerstückelt. Die Interessen beider sind dem Kapital
letzten Endes gleichgültig. Sie stehen in objektiver Gegnerschaft zur
herrschenden Klasse und sitzen letztlich im selben Boot. Warum prangert man das
Leid der einen an, lässt die anderen aber unberücksichtigt? <br/></p><p>Dass
sich die Ausbeutung von Arbeiterklasse und Tieren qualitativ unterscheidet –
Tiere sind keine doppelt freien LohnarbeiterInnen, produzieren keinen Mehrwert
und gehören nicht zur Arbeiterklasse – tut dem keinen Abbruch. Nur zum
Vergleich: Marxistisch gesehen unterscheidet sich auch die Ausbeutung von SklavInnen
qualitativ von jener der Lohnarbeit. Taugt das zum Argument gegen ihre
Befreiung? Wohl kaum. Wir meinen: Wer als MarxistIn die Menschheit vom Elend
des Kapitalismus befreien will, <i>muss</i>
auch die Tiere befreien wollen. Die Arbeiterklasse leidet unter der Herrschaft
des Kapitals, und die Tiere tun es nicht minder – also muss der Klassenkampf
auch im Interesse beider organisiert werden.</p>
<h2><b>Alles nur Moralismus?</b></h2>
<p>Das
halten einige GenossInnen nun für bürgerlichen Moralismus und entgegnen, Leiden
und Moral könnten nicht die Grundlage kommunistischer Politik sein. Schließlich
sei das Leiden der Menschen ja ein ganz anderes als das der Tiere. Und außerdem
haben Marx, Engels, Lenin und andere ja nicht bloß die Leiden der
Arbeiterklasse beweint, sondern konkrete Analysen der gesellschaftlichen und
historisch-spezifischen Bedingungen und Ursachen dieses Leidens vorgenommen, um
dann organisiert für die Interessen der Arbeiterklasse kämpfen zu können. Nicht
sentimentale Appelle, sondern wissenschaftliche Analyse war und ist daher die
Grundlage revolutionärer Strategie und Politik. Und das stimmt zweifelsohne,
dennoch werden hier zwei Dinge übersehen: Erstens ist auch der Kampf für die
Befreiung der Arbeiterklasse sehr wohl moralisch angetrieben, und zweitens ist
Moral nicht mit Moralismus zu verwechseln.</p><p>
</p><p>Man
will den Kapitalismus ja nicht abschaffen, weil er den Widerspruch von
Gebrauchs- und Tauschwert hervorbringt, zur Monopolbildung treibt oder weil ihm
der tendenzielle Fall der Profitrate innewohnt. So <i>analysiert</i> man ihn, aber diese Analyse liefert keine <i>Begründung</i> für die Notwendigkeit seiner
Abschaffung. MarxistInnen wollen den Kapitalismus abschaffen, weil er Ausbeutung,
Verelendung, Konkurrenz, Hunger, Krieg und dergleichen bedeutet – kurz:
gesellschaftlich produziertes Leid. Ohne den Drang, dieses zu mildern und aus
der Welt zu schaffen, wären auch alle objektiven Widersprüche des Kapitalismus
letztlich egal und jeder Klassenkampf gegenstandslos. Insofern ist Leid eine
zentrale Kategorie des historischen Materialismus. Auch dem Marxschen
Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, liegt ein
moralischer Impuls zugrunde.</p><p>MarxistInnen
belassen es jedoch nicht bei diesem Impuls und sind sich immer über die
gesellschaftlichen und historischen Grenzen der Moral im Klaren. Einen
moralischen Antrieb haben und ihn zum Ausgangspunkt für Analyse und
Organisation nehmen – das ist daher etwas ganz anderes als <i>Moralismus</i>, der die Verhältnisse moralisieren muss, weil er ihren
inneren Zusammenhang nicht begreift.</p><p>Insofern
verwundert die Ignoranz, mit der einige Genossinnen und Genossen sich einreden,
der Kampf für die Befreiung der Tiere sei per se moralistisch und reine „Privatsache“. Natürlich kann man das Leid der Tiere und das der Menschen nicht
gleichsetzen. Daraus aber zu schließen, dass man das eine abschaffen muss und
das andere ignorieren darf, ist bürgerlicher Idealismus: man unterschlägt
nämlich, dass der Mensch selber auch ein Tier ist (woran Marx und Engels als
historische Materialisten übrigens keinen Zweifel ließen) und sich auch in der
Leidensfähigkeit nur graduell vom Tier unterscheidet. Die Verachtung für das
Mitleid mit den Tieren ist also vor allem eins: doppelmoralisch,
antimaterialistisch und bürgerlich. Ihr liegt dieselbe Kälte zugrunde, mit der
die Bürgerlichen auf den Wunsch der Linken nach Freiheit, Solidarität und
Frieden herabsehen.<b><br/></b></p><h2>Tierausbeutung ist heute
fortschrittsfeindlich</h2>
<p>Darüber
hinaus ist der Fortbestand der Fleisch- und Tierindustrie heute objektiv
irrational und zivilisationsfeindlich. Die großindustrielle Ausbeutung der
Tiere ist nicht nur längst überflüssig, sondern mittlerweile ein Hindernis für
die Weiterentwicklung der menschlichen Gattung: Für die „Produktion“ von
Fleisch verbraucht sie wichtige Ressourcen wie Getreide und Wasser, die wir
anders viel besser einsetzen könnten. Sie holzt den Regenwald ab, um Flächen
für den Anbau von Tierfutter für weidendes Schlachtvieh zu schaffen.
Gleichzeitig gilt die Fleischindustrie u.a. als ein Hauptverursacher des
Klimawandels. Mit dem massenhaft produzierten Billigfleisch der
imperialistischen Zentren werden zudem periphere Ökonomien überschwemmt und
zerstört. Damit trägt die Fleischindustrie zur Vernichtung von
Existenzgrundlagen bei und zwingt Menschen zum Verlassen ihrer Länder.<br/></p><p>
</p><p>Ohne
Frage waren Fleischkonsum und die Domestikation von Tieren wichtig für die
Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Das ist allerdings kein Argument, sie
hier und heute noch fortzuführen. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte
macht es nötig und problemlos möglich, die Menschheit zu ernähren und zu
kleiden, ohne dabei auf die Ausbeutung und Tötung von Tieren zurückzugreifen.
Die ökologischen und sozialen Vorteile ihrer Abschaffung liegen auf der Hand.
Sowohl moralisch als auch ökonomisch ist es daher geboten, die industrielle
Tötung und den Verschleiß der Tiere zu beenden. </p>
<h2><b>Fleischindustrie
enteignen – Kapitalismus abschaffen!</b></h2><p>Die
Tierbefreiungsbewegung und die sozialistische Linke führen den gleichen Kampf:
Die einen für die Befreiung der lohnabhängigen Klasse, die anderen für die
Befreiung der Tiere – und beide gegen die Bourgeoisie, weil sie ArbeiterInnen
und Tiere zu bloßen Mitteln der Kapitalverwertung degradiert. Sie müssen sich
zusammentun und eine revolutionäre Politik für die Befreiung von Mensch, Tier
und Natur entwickeln. Dazu müssen die einen begreifen, dass die Tiere zwar
nicht Subjekt, wohl aber Objekt der Befreiung seien müssen; und die anderen
müssen ihre Vorbehalte und mitunter antikommunistischen Vorurteile gegenüber
marxistischer Gesellschaftskritik ablegen und ihre Politik auf ein radikales,
antikapitalistisches Fundament stellen.</p><p>
</p><p>Eine
erste gemeinsame Forderung könnte die Enteignung der Fleisch-KapitalistInnen
sowie die Vergesellschaftung und Konversion ihrer Industrie sein. Warum nicht
zusammen den Umbau der Tier-Industrie im Sinne einer ökologisch nachhaltigen,
vernünftigen Produktion unter planmäßiger Kontrolle der Gesellschaft fordern?
Angesichts der horrenden Ausbeutungsverhältnisse in den Tierindustrien, ihrer
Zerstörung von Umwelt und Klima und des täglichen Massenmords an Tieren wäre es
längst an der Zeit.</p><hr/>
<p>Das <a href="https://de-de.facebook.com/marxismusundtierbefreiung/">Bündnis Marxismus
und Tierbefreiung</a> ist ein Zusammenschluss von Aktiven der marxistischen
Linken und Tierbefreiungsbewegung, welcher seit 2014 besteht und sich um die
Vereinigung von linker und Tierbefreiungspolitik auf einer revolutionären,
historisch-materialistischen Grundlage bemüht. Das Bündnis beteiligt sich an
Veranstaltungen der Tierbefreiungsbewegung sowie der sozialistischen Linken und
publiziert außerdem eigene Flyer und Texte wie das ausführliche <a href="http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/?p=4007">Thesenpapier „Marxismus und
Tierbefreiung“</a>. Vom 30. März bis 1. April organisiert es in Hamburg eine
Osterakademie unter dem Motto <a href="https://osterakademie.jimdo.com/">„Die
Zukunft der Bewegung – Tierbefreiung zwischen Opposition und Affirmation“</a>.</p>
<p><br/></p></div>
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