re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2812018-01-20T23:22:40.773658+00:00Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Afrind wird bombardiert" height="420" src="/media/images/Afrin.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>
Tötet die Projektionsflächen in eurem Kopf!2017-10-19T14:10:09.358442+00:002018-01-20T23:22:40.773658+00:00Geronimo Marulandaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/
<div style="background: #eaeaea; width: 100%; height: 100%">
<style>
.__wrapped-content {
max-width: 670px;
padding: 1.5rem;
margin: 1.5rem auto;
background: white
}
</style>
<article class="__wrapped-content">
<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
<header class="content">
<h1>Tötet die Projektionsflächen in eurem Kopf!</h1>
</header>
<div class="content-image">
<div class="content-image-wrapper">
<img alt="Romantik auf Kurdisch" height="420" src="/media/images/Kurd.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Internationalismus
ist wieder en vogue. Seit die kurdische, im Norden Syriens gelegene
Stadt Kobanê 2014 von den Djihadisten des sogenannten <i>Islamischen
Staats</i> (IS) bedroht wurde, ist auch in Deutschland wieder
spektrenübergreifend von Internationalismus die Rede. Das ist
bemerkenswert. Denn bis vor wenigen Jahren suchte man vergebenseine
weiterführende Beschäftigung mit internationalen Themen,
insbesondere mit der jetzt so abgehypten kurdischen Bewegung. Im
Gegenteil: WortführerInnen eines überwiegenden Teils der radikalen
Linken galt die kurdische Bewegung als suspekt: nationalistisch, gar
völkisch und reaktionär soll die PKK noch Mitte der 00er Jahre
gewesen sein. [1] Eine Zeit, in der Öcalan und die PKK bereits ihren
Paradigmenwechsel vollzogen hatten.</p><p>
</p><p>Ich
persönlich begann im Jahr 2011 Interesse an der kurdischen Bewegung
und ihrem neuen Paradigma des „Demokratischen Konföderalismus“
zu gewinnen. Ich sprach vermehrt mit kurdischen GenossInnen zum Thema
und schloss mich schließlich einer YXK-Delegation in die
Südost-Türkei, also Nordkurdistan an. Die konkreten Erfahrungen,
die ich dort machte, wie zum Beispiel der Besuch selbstverwalteter
Frauenhäuser, war so beeindruckend, dass ich dem Hype um den
Prozess, der in Rojava stattfand, wohlwollend gegenüber stand.
Allerdings hatte dieser Hype für mich von Anfang an einen bitteren
Beigeschmack. Sauer stieß mir unter anderem auf, was mir hierzulande
mit dem Elan des frisch entbrannten Internationalismus über die
kurdische Bewegung dargelegt wurde: Ökologisch, frauenbefreit,
rätedemokratisch solle es dort in Kurdistan zugehen – manche
redeten von Sozialismus. Antinational gar sollte das Projekt laut
anderer sein. Doch nicht nur solche Äußerungen wollten so gar nicht
zu meiner Erfahrung vor Ort passen. So fragte ich mich darüber
hinaus, warum ausgerechnet eine radikale Linke, die knapp 20 Jahre
nichts anderes getan hatte, als ihre Wurzeln im Internationalismus
der 68er Bewegung und seiner Fortführung in dem der K-Gruppen der
70er und den Antiimps der 80er Jahre zu kappen, nun auf die Idee
kommt, eine nationale Befreiungsbewegung zu unterstützen.
</p>
<p>Ja ihr
habt richtig gelesen: Nationale Befreiungsbewegung. Denn es ist eben
mitnichten so, dass das Konzept von Nation in Rojava und erst Recht
nicht in der kurdischen Exillinken dekonstruiert wird. Es wird im
Gegenteil ganz real kultiviert und das hat auch eine nachvollziehbare
Ursache: die jahrhundertelange Unterdrückung der kurdischen Kultur,
Sprache und Identität. „Aber, aber“, sagen jetzt diejenigen von
euch, die Öcalans <i>Jenseits von Staat, Macht und Gewalt</i>
gelesen haben. Es gehe doch beim Demokratischen Konföderalismus um
eine anti-nationalstaatliche Bewegung. Wo wir bei einer begrifflichen
Unschärfe der sogenannten „Antinationalen“ angelangt wären:
Denn Nationalstaat ist eben nicht gleich Staat, ist eben nicht gleich
Nation. Nation bezeichnet eine Gemeinschaft, die sich über
gemeinsame Prägung in einem kulturellen Raum, Sprache, Territorium,
geschichtliches Narrativ und ökonomischem Verkehr, der erstere
Facetten grundsätzlich bedingt, definiert. Historisch ist Konzept
wie Realität der Nation parallel zu bürgerlicher Staatlichkeit
entstanden und löste Religion als dominante Herrschaftsideologie und
-praxis ab. Staaten gab es auch schon vor der amerikanischen und
französischen Revolution, deshalb ist das, was wir heute im
Durchschnitt haben, eben auch Nationalstaat, das heißt ein
bürgerlicher Staat, der sich durch die Ideologie seiner herrschenden
Klasse auszeichnet – eben die der Nation und ihrem Verwandten, die
des Nationalismus.</p>
<p>Also
was jetzt: Alles Scheiße oder wie in Rojava? Nein sicher nicht, nur
komplizierter als es ideologisch bei Öcalan geschrieben steht und
tausendfach über kurdische Propagandakanäle gejagt wird. Denn ganz
so einfach ist das eben nicht mit dem „antinational“ in der
Praxis. Während Nation insbesondere in unseren Ländern kein
fortschrittliches Konzept mehr ist, weil es sich hier in einer
aggressiven imperialistischen Machtpolitik und aggressiven
Nationalismen äußert, ist es für Völker, die schon immer kolonial
beherrscht wurden oder sogar von Vernichtungspolitik betroffen waren,
überhaupt erst eine Möglichkeit, sichtbar zu werden und eine Stimme
zu bekommen. Bestes Beispiel: die Aborigines in Australien. Anderes
Beispiel: die Sahauris in der West-Sahara. Noch eines: die Indigenen
in Mexiko. Oder exemplarisch zuletzt: eben die Kurden, oder die
Yeziden, oder die Aleviten in der Türkei. Auf letztere beiden, die
eigentlich so etwas wie eine Mischung aus Religionsgemeinschaft und
kultureller Gemeinschaft sind, wendet die kurdische Bewegung eben
auch das Nationskonzept an. Es wird nicht umsonst von ,,Völkern“
im Plural gesprochen.
</p>
<p>Und
auch der Begriff ,,Volk“ wird von der kurdischen Bewegung ganz
liberal gebraucht: nicht marxistisch-leninistisch als Chifre für
„unterdrückte Klassen“, auch nicht völkisch im Sinne von einer
Erbgemeinschaft, aber ganz sicher im bürgerlichen Sinne als
Bevölkerung. Die kurdische Bewegung ist so, nicht nur in ihrer
Praxis, sondern auch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine primär
nationale Befreiungsbewegung: eben eine Mischung aus bürgerlichen,
links-bürgerlichen und revolutionären Elementen und
klassenübergreifend statt genuin klassenkämpferisch. Da ändert
auch der Demokratische Konföderalismus als neue Leitlinie nichts
daran, der das Narrativ lediglich von nationalistisch (das heißt
pro-nationalstaatlich) auf multi-national (theoretisch
anti-nationalstaatlich föderal) verschoben hat. Man könnte es
herunterbrechen auf: Nicht das, was jemand sagt, ist das, was zählt,
sondern das, was jemand tut. Und man müsste ergänzen: das, was
jemand im Kern ist.</p>
<p>Und was
die kurdische Bewegung im Kern sicher nicht ist, ist zum Beispiel
genuin antiimperialistisch zu sein, denn Imperialismus ist ein
ökonomisches Konzept der international organisierten
Klassenunterdrückung und Antiimperialismus hat dementsprechend eine
Analyse durch den internationalen Klassenkampf zum Ausgangspunkt. [2]
Auch wenn die Ideologie des Demokratischen Konföderalismus ein
solches Potenzial in sich besitzt, da zum Beispiel die Idee der
Selbstverwaltung der Völker im Nahen Osten dem<i> Greater Middle
East Project</i> der US-Außenpolitik ebenso wie dem russisch
gestützten Assad-Regime diametral gegenübersteht, zeigt die Praxis
der kurdischen Führung in Syrien doch ganz klar, dass die Bekämpfung
des westlichen und/oder russischen Imperialismus nicht unbedingt ganz
oben auf der Agenda der kurdischen Befreiungsbewegung steht, sondern
diese vielmehr versucht, mit den verschiedenen Playern zu spielen.
Dieses Spiel, das die kurdische Bewegung spielt, ist aber eben keine
antiimperialistische Politik, sondern bürgerliche Machtpolitik, die
verständlich ist, da es eben ums Überleben geht, aber nicht allein
als „Widersprüche gegeneinander ausspielen“ verklärt werden
darf. Es bleibt abzuwarten, ob im Falle des Sieges der YPG/J eine
Emanzipation von russischer und/oder amerikanischer Politik
stattfinden wird, oder ob USA und Russland über ihre militärische
Präsenz in Rojava den Daumen draufhalten werden. Eine Politik, der
es darum ginge mehr zu befreien als die kurdischen Gebiete, das
heißt eine wirkliche klassenkämpferische, internationalistische
und damit antiimperialistische Politik, sollte darüber hinaus zum
Beispiel auch Europa nicht nur als ruhiges Hinterland betrachten,
sondern auch dort die demokratische Autonomie aufbauen und eine
dortige antiimperialistische Linke stärken. Wie wir wissen, ist das
mitnichten der Fall.</p>
<p>Was die
kurdische Bewegung sicher auch nicht ist, ist rein basisdemokratisch
oder rätedemokratisch organisiert zu sein. Sicherlich ist es so,
dass es diese Elemente gibt und auch, dass sie im Alltag der Menschen
eine Rolle spielen. So sicher ist aber auch, dass die gut
organisierten Kader der PKK ihre Rolle spielen, die eben nie
aufgehört hat, nach den Prinzipien einer Kaderpartei zu arbeiten.
Genauer gesagt vereint die kurdische Bewegung gleich mehrere
Organisationsmodelle: Die Guerilla als kollektivistische militärische
Einheit mit Kommandostruktur, die Räte, die Basiseinheiten, die
Kaderpartei und die Vorfeld-Massenorganisationen, zu denen sicherlich
auch partiell die HDP gezählt werden kann. Das Interessante an der
kurdischen Bewegung ist ja gerade nicht, dass sie eine reine
Graswurzelbewegung wäre, sondern dass sie verschiedene
Organisationsmodelle in Scharnieren miteinander verbindet und es
damit schafft, im Alltag der Menschen auf unterschiedlichste Weise
präsent zu sein.Wenn man das, was da in Rojava passiert, schon mit
einem Modell vergleichen will, dann vielleicht mit der frühen
Sowjetunion, in der es eine Doppelmacht von Kaderpartei und Räten
gegeben hat – bevor letztere entmachtet wurden.</p>
<p>Dazu
kommt: Ein Modell wie der Demokratische Konföderalismus ist ein
Modell, das für eine Gesellschaft entwickelt wurde, die zu einem
großen Teil aus BäuerInnen und Kleinhandeltreibenden besteht, also
weder über eine organisierte Staatsmacht verfügt, die wesentliche
Teile des Alltags der Menschen reguliert, noch über eine starke
Konzentration der Bevölkerung in Städten und/oder Betrieben. Die
Selbstorganisation der Menschen in der Kommune ist hier bereits
Alltag, weil sie überlebensnotwendig ist – eben weil der Staat
keine Sozialprogramme organisiert. Im Gegenzug dazu leben wir in
einer hochgradig zentralisierten Gesellschaft, in der sich der
Nationalstaat in jedem Winkel unseres Lebens vollends durchgesetzt
hat. Selbstorganisation muss hier erst wieder gelernt werden.
Offensichtlich wird das Modell Übertragungsschwierigkeiten
aufweisen. Die Kämpfe sind in ihrer Form, wie sie geführt werden,
nicht vergleichbar und können auch nicht zu ähnlichen Resultaten
führen. Die Frage, was wir von der kurdischen Bewegung lernen
können, ist so gesehen schon falsch gestellt, wenn sie außer Acht
lässt, dass zum Lernen eben zwei Instanzen mit sehr
unterschiedlichen Hintergründen gehören. Dann geht es nämlich
nicht mehr ums Kopieren und Übertragen von Konzepten, sondern um das
gegenseitige Stärken durch Austausch von Erfahrungen.
</p>
<p>Also
ist es alles nichts mit der Idee des Demokratischen Konföderalismus?
Entsolidarisierung mit den Kurden? Sicher nicht! Entsprechende
Beiträge, die unter anderem in antiimperialistischen Strömungen
populär sind [3], haben eine mechanische oder puristische Weltsicht,
in der es keine Widersprüche und Prozesse gibt und deshalb nur die
Kiste revisionistisch oder revolutionär, schwarz oder weiß,
Verräter oder Verbündeter übrig bleibt. So wollen wir gar nicht
erst anfangen: Die kurdische Bewegung ist fraglos die wichtigste
demokratische und soziale Kraft im Nahen und Mittleren Osten. Sie hat
das Potenzial, eine ganze Generation junger Menschen, die historisch
in vielen Ländern bislang nur vor die Wahl säkulare Diktatur oder
islamistischer Widerstand gestellt wurden, in demokratischen,
massenhaften Prozessen zu sozialisieren. Und: In dieser Bewegung
kämpfen verschiedenste radikale Linke, die dem Prozess und den
beteiligten Menschen ihren Stempel aufdrücken. Vielleicht
unterstützen wir gerade ein Projekt, das am Ende einen liberalen
kurdischen Nationalstaat hervorbringen wird. Wir sollten aber nicht
unterschätzen, dass die Generation, die diesen erkämpft hat,
bleibt, genau so wie die Ideen, die den Kampf angetrieben haben,
womit auch die Voraussetzungen für weitere progressive Bewegungen in
der Region gelegt sind.</p>
<p>
</p>
<p>Warum
eigentlich dann dieser Text? Warum nicht weiter so in der Solidarität
mit der kurdischen Bewegung? Weil ich der Meinung bin, dass ein
Internationalismus, der sich in falschen romantisierenden
Vorstellungen von der Sache ergeht und die Widersprüche in der
Bewegung nicht sieht, am Ende enttäuscht werden muss. Weil ein
Internationalismus, der ständig woanders hin schaut, weil es da
angeblich toller, actionreicher, revolutionärer und so weiter ist,
eine Einbahnstraße ist, die der revolutionären Bewegung hierzulande
nichts bringt. Weil ein deutscher Internationalismus, der in
Projektionen anderswo Lösungen für Probleme hier finden will,
besser beraten wäre, sich endlich solidarisch mit seiner eigenen
Geschichte zu befassen und sie nicht komplett zu negieren oder für
gescheitert zu erklären. Und nicht zuletzt: Weil genau diese Aspekte
die Fehler des Internationalismus der 1970er Jahre waren, dessen
ProtagonistInnen dann – aus Enttäuschung und Flucht vor der
kritischen Auseinandersetzung mit ihren romantizistischen
Vorstellungen über die nationalen Befreiungsbewegungen des Trikonts
– am Ende ganz woanders landeten: nämlich in den Chefetagen der
imperialistischen Länder oder doch zumindest bei ihren liberalen
Ideologien. Töten wir endlich die Projektionsflächen in unserem
Kopf - Lasst uns nicht unsere Fehler wiederholen, sondern
selbstkritisch fragend voran schreiten!</p>
<p><b>Anmerkungen:</b></p>
<p>[1]
Diese Position vor allem der antinationalen und antideutschen Linken
basierte vor allem auf: Gruppe Demontage:<i> Postfordistische
Guerilla - Vom Mythos nationaler Befreiung</i>, Münster, 1998.„Der
emanzipative Gehalt völkischer Ansätze tendiert gegen Null ... Als
Beispiel für ein tendenziell völkisches Modell bietet sich die PKK
an.“</p>
<p>[2]
Dazu Lenin: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des
Kapitalismus“ (1916/17).</p>
<p>[3]
Beispielhaft anhand zweier Strömungen: Einmal die stalinistische
Position von <a href="https://www.unsere-zeit.de/de/4836/29/3475/Krach-in-der-imperialistischen-Pyramide.htm">Hans-Christoph
Stood</a>t und zum anderen die maoistische Position
des Onlineportals <a href="http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/t-dokumente/1167-ueber-die-haltung-der-antiimperialisten-zur-pkk"><i>Dem
Volke Dienen</i></a>.</p>
<p><br/>
</p></div>
</section>
</article>
<footer class="__wrapped-content">
<div class="columns is-desktop">
<div class="column is-7-10">
<section class="content content-license padded">
<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
<p>
Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
</p>
<p class="print-remove">
<a id="imprint" href="/imprint">Impressum</a> |
<a id="privacy" href="/imprint#privacy">Datenschutz</a>
</p>
</section>
</div>
</div>
</footer>
</div>