re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2752021-09-01T20:15:26.475261+00:00Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Zwei.2020-10-31T12:31:07.446411+00:002021-09-01T20:15:26.475261+00:00Laura Müllerredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/drei-mythen-%C3%BCber-die-corona-krise-teil-zwei/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Zwei.</h1>
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<div class="rich-text"><p>Die Corona-Pandemie bringt für uns konstant Veränderungen mit sich: Im Tages- oder im Wochentakt werden neue Bedingungen und Regeln aufgestellt. Die meisten von uns verfolgen die Entwicklungen mehr oder weniger regelmäßig und versuchen, die Ereignisse und damit auch mögliche Szenarien der Krisenbearbeitung durch die Herrschenden einzuordnen und zu analysieren. Dabei gibt es auch Annahmen und Mystifizierungen, die es (zum aktuellen Zeitpunkt) zu hinterfragen und zu diskutieren gibt. Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Reihe zum Thema. Obwohl sich einige der Aussagen sicher verallgemeinern lassen, beziehen sich die folgenden Überlegungen in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland.</p><p></p><hr/><p><i>Mythos 2: Wir befinden uns in einer pandemiebedingten Krise.</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Natürlich befinden wir uns in einer krisenhaften Zeit. Zum einen ist da die Gesundheitskrise: Gesundheit und Leben der weltweiten Bevölkerung sind durch das Virus und seine Ausbreitung tatsächlich bedroht. Ist von einer pandemiebedingten Krise die Rede, so ist aber zumeist eine wirtschaftliche Krise gemeint, die durch die Pandemie verursacht wird. Diese Schlussfolgerung lässt sich von zwei Seiten aus kritisieren.</p><h3><b>Kapitalistische Krisen</b></h3><p>Es wird zum einen ausgeblendet, dass der Kapitalismus <i>an sich</i> krisenhaft ist. Seine funktionellen Mechanismen haben zerstörerische Wirkung, was sich auf grundsätzlich widersprüchliche Verhältnisse dieser Wirtschaftsordnung zurückführen lässt. Der Kapitalismus ist auf die Naturkräfte und die Naturprodukte beziehungsweise natürlichen Ressourcen angewiesen. Sie bilden die Grundlage der Warenproduktion. Ungeachtet dessen strebt das Kapital nach immer besseren und umfassenderen Verwertungsmöglichkeiten, sprich mehr Profit – und das ohne Rücksicht auf die reproduktiven Grenzen der Natur. Es entzieht sich Stück für Stück die eigene Funktionsgrundlage.</p><p>Der Kapitalismus tritt damit in Widerspruch zu sich selbst. Zudem befindet sich der Mensch in einem dialektischen Verhältnis zur Natur, „<i>insofern sie 1. ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie [2.] die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit ist. […] Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur“</i> (MEW 40: 516). Der Mensch ist also selbst Natur und steht ihr zugleich gegenüber, indem er sie durch seine produktive Tätigkeit verändert. Durch die kapitalistische Entfremdung von der Natur, die zu einer immer stärkeren Ausbeutung ihrer Kräfte und Ressourcen durch die menschliche Arbeit führt, tritt der Mensch also letztlich in Widerspruch zu sich selbst, indem er Lebensmittel und Gegenstand seiner Arbeit zerstört. Worum es im Kapitalismus geht, ist Kapitalverwertung und die Produktion von Mehrwert.</p><p>Es geht nicht darum, das Leben der Menschen durch Fortschritt zu verbessern, es geht nicht um Wohlstand für die breite Bevölkerung, es geht nicht um Nachhaltigkeit durch verbesserte Technologien, sondern um eines: möglichst effiziente Kapitalverwertung und den sich daraus ergebenden Unternehmensprofit. Das Argument des Fortschritts durch Innovationsdruck in der unternehmerischen Konkurrenz ist letztlich eine ideologische Überblendung dieser nüchternen Profitlogik. Der Kapitalismus mag gewaltige Produktivkräfte hervorbringen, aber eben darum wirkt er zerstörerisch auf den Menschen und die Natur. Die Form eines „Green New Deal“, wie ihn etwa EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/green-new-deal-umweltschutz-ursula-von-der-leyen">propagiert</a>, ist auch deshalb eine Farce: Effizientere Technologien, die sich in einer nicht-kapitalistischen Ordnung wahrscheinlich tatsächlich im Sinne einer nachhaltigeren Produktion nutzen ließen, führen durch die Triebkräfte des Kapitals stattdessen zu Rebound-Effekten, das heißt, zu Mehrproduktion oder Mehrkonsumtion durch frei werdende Ressourcen, anstatt sie einzusparen. Einen grünen Kapitalismus gibt es nicht, da die ihm innewohnenden Mechanismen zwangsläufig die Übernutzung von Ressourcen nach sich ziehen.</p><h3><b>Krisen ins Innere verlagern</b></h3><p>Zur Zerstörung der Natur kommt die Zerstörung der einzelnen Menschen durch physische und psychische Belastung. Im Zuge der Neoliberalisierung haben sich dabei der Druck und Zwang auf die Arbeiter*innen zum großen Teil von außen nach innen verlagert. Selbstoptimierung und -Management werden zu Leitbegriffen immer größerer Teile der Bevölkerung. Sie sind die Prinzipien der neuen Arbeits- und Ausbeutungsmodelle. Die schlimmsten Auswüchse der Exploitation, wie sie noch im 19. Jahrhundert vorherrschten, sind nur scheinbar überwunden. Nach wie vor sind Kapitalismus und Ausbeutung eins: „Stößt die Verlängerung der Arbeitszeit aufgrund gesetzlicher oder tariflicher Beschränkungen an Grenzen, dann versucht der Kapitalist in der Regel eine Intensivierung der Arbeit durchzusetzen, etwa durch ein höheres Tempo der Maschinen“ (Heinrich 2018: 114). In diese Kerbe schlägt beispielsweise der kürzliche <a href="https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2020-10/konjunkturkrise-mehrarbeit-ohne-lohnausgleich-gesamtmetall-chef-stefan-wolf">Vorstoß</a> des Gesamtmetall-Chefs und Multimillionärs Stefan Wolf, Pausenregelungen aufzuweichen, sowie Mehrarbeit ohne Lohnzuschlag ableisten zu lassen.</p><p>Ungehindert würde sich das Kapital seiner einzigen wirklichen wertschaffenden Grundlage berauben: der menschlichen Arbeitskraft. Allein politische Reglements und der Staat, die die Überbelastung der Arbeiter*innen begrenzen und die Reproduzierbarkeit der Arbeitskraft garantierten, verhindern diese Entwicklung – allerdings nicht primär zugunsten der Arbeiter*innen, sondern zugunsten der Sicherung des Kapitalismus selbst. In kapitalistischen Demokratien ist die grundlegende Aufgabe der Politik, die Gesundheit und Arbeitskraft der Bevölkerung so weit zu erhalten, dass sie für das Kapital produktiv bleibt. Die realen Lebensumstände einiger Menschen mögen dadurch an verschiedenen Punkten tatsächlich verbessert werden, was aber nichts an der zerstörerischen Tendenz des Kapitalismus ändert und schon gar nicht etwas über die Qualität dieses staatlichen Modells aussagt. In einem solchen System bleiben dennoch all jene auf der Strecke, die sich nicht standardisiert verwerten lassen oder aufgrund struktureller Benachteiligung und Ausschlüsse von vornherein schlechtere Chancen haben.</p><h3><b>Krise der Wirtschaft?</b></h3><p>Des Weiteren müssen wir nun genauer betrachten, was eine <i>Wirtschaftskrise</i> im kapitalistischen Kontext überhaupt bedeutet. In eine Krise gerät die kapitalistische Wirtschaft, wenn ein großer Teil der produzierten Waren wegen zurückgehender Zahlungsfähigkeit nicht mehr absetzbar ist. Historisch betrachtet verlief die Entwicklung des Kapitalismus seit seinen Anfängen in immer wiederkehrenden Krisen. Die unternehmerische Konkurrenz und der Zwang, Profit zu machen, bedingen den Wachstumszwang im Kapitalismus. Er drängt das Kapital zu einer immer weiter getriebenen Verwertung, was in einer Situation begrenzter Ressourcen und Konsumtionsfähigkeit zwangsläufig an materielle Grenzen stoßen muss. Das führt zu zyklischen Krisen, in denen die produzierte Warenmenge abnimmt. Wachstumshemmend sind diese nur geringfügig.</p><p>Nach einem jahrelangen kontinuierlichen Anstieg nahm in Deutschland selbst in der letzten großen Wirtschaftskrise nur im Jahr 2009 die Wirtschaftsleistung <a href="https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1251/umfrage/entwicklung-des-bruttoinlandsprodukts-seit-dem-jahr-1991/">um einige Prozent ab</a> und stieg ab 2010 weiter an. Auch inmitten der Pandemie schreitet die wirtschaftliche Erholung weltweit (und insbesondere in Deutschland, dank umfangreicher finanzieller Konjunkturstützungsmaßnahmen der Bundesregierung) immer weiter <a href="https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/Wirtschaftliche-Lage/2020/20201014-die-wirtschaftliche-lage-in-deutschland-im-oktober-2020.html">voran</a>. Entsprechend nimmt der Ressourcenverbrauch auch trotz Krisen konstant zu und hat dementsprechend das Potential zu immer verschärfteren Krisen. Damit ist nicht gesagt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise zusammenbrechen muss. Krisen haben für den Kapitalismus sogar nutzenbringende Wirkungen. So sind Unternehmen durch die nachlassende Kaufkraft gezwungen, ihre Produktion wieder enger an die Nachfrage bzw. Zahlungsfähigkeit der Warenkonsument*innen zu koppeln und sie durch technische Neuerungen den veränderten Bedingungen anzupassen.</p><p>In der Krise können neue Industriezweige oder Branchen entstehen und wenig profitable Unternehmen werden durch Bankrott ausgesiebt. Damit werden die Bedingungen für den nächsten Aufschwung geschaffen. Krisen sind dem Kapitalismus also nicht nur aufgrund der sachlich bedingten Kapitalbewegung inhärent, sondern er kann sie funktionell integrieren. Obwohl sie für einzelne Unternehmer*innen nachteilig sind, können sie insgesamt die Wirtschaftsordnung am Laufen halten.</p><h3><b>Krise der Krisenerzählung</b></h3><p>Auch die aktuelle (wirtschaftliche) Krise ist keineswegs rein pandemiebedingt. Vielmehr ist der Kapitalismus in seinem Wesen widersprüchlich und somit krisenhaft und führt zyklisch zu wirtschaftlichen Einbrüchen. Darin ist die Pandemie ein besonderer Anlass der Krise, wobei sie einen kapitalistischen Charakter hat und im Wesentlichen kapitalistisch bedingt ist. Krisen bedeuten im Kapitalismus nachlassendes Wachstum. Um die Herrschenden diese momentane Krise der kapitalistischen Warenproduktion nicht auf unserem Rücken austragen lassen, müssen wir den kapitalistischen Wachstumszwang selbst als die Krise und den Grund für Ausbeutung und Gefährdung unserer Leben, unseres Planeten und die ungerechte Ordnung unserer Gesellschaft erkennen.</p><p>Letztlich zielt die bedrohliche Rhetorik der Politik in Bezug auf die Wirtschaftskrise darauf ab, die Akzeptanz dafür zu stärken, dass eine schlecht laufende Wirtschaft vor allem unsere persönlichen Leben beeinträchtigt und das angestrebte Wirtschaftswachstum (das uns gern widersprüchlich als „wirtschaftliche Stabilität“ verkauft wird) unser ganz individuelles wie vordringlichstes gesellschaftliches Interesse sei. Doch wer profitiert am Ende am meisten von den staatlichen Konjunktur-Maßnahmen? Schlechte Kapitalverwertungsmöglichkeiten führen durch die nachlassende Nachfrage nach Arbeitskraft zu Arbeitslosigkeit und damit zu einer realen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen durch Mangel an Einkommen zur Existenzsicherung.</p><p>Das hat mit den Lebensbedingungen der Arbeiter*innen im Kapitalismus generell zu tun. Indem man jede*n Einzelnen in die Pflicht nimmt, sich dem „kapitalistischen Gemeinwohl“ verpflichtet zu fühlen, suggeriert man, dass sich Kapitalinteressen mit sozialen Interessen decken würden. Das ist der Mythos, der in Teil drei dieser Reihe untersucht wird.</p><p></p><hr/><h3><b>Weiterführende Literatur:</b></h3><p>Heinrich, Michael (2018): Kritik der politischen Ökonomie: eine Einführung in „Das Kapital“ von Karl Marx. Reihe Theorie.org. Stuttgart: Schmetterling Verlag.</p><p>Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: Karl Marx Friedrich Engels Ergänzungsband, MEW 40. Berlin: Dietz Verlag, S. 465–588.</p></div>
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Risiken und Nebenwirkungen der Corona-Pandemie2020-05-05T23:19:49.049202+00:002020-05-05T23:19:49.049202+00:00Jens Benickeredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/risiken-und-nebenwirkungen-der-corona-pandemie/
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<div class="rich-text"><p>„Hinter dem Faschismus steht das Kapital“. Diese Parole, die immer noch gerne bei fast jeder Antifa-Demo gerufen wird, trifft bei der Alternative für Deutschland (AfD) (bisher zumindest) nicht zu. Nur für Betonkopf-Kommunistinnen und -Kommunisten ist auch die AfD im Sinne Georgi Dimitroffs Ausdruck der „reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals“. In der Realität dagegen unterstützten nur vereinzelte Unternehmerinnen und Unternehmer, vorwiegend mittelständischer Firmen, die Partei, die sich unter anderem für einen neuen Nationalismus stark macht. Denn das deutsche Kapital profitiert von einer globalisierten Ökonomie und benötigt Arbeitskräfte aus dem Ausland. Sowohl gut ausgebildete Fachkräfte als auch billige Arbeiterinnen und Arbeiter sind deshalb sehr gefragt. Abschottung, Protektionismus und Rassismus, wie von der AfD propagiert, wird deshalb von diesem als geschäftsschädigend angesehen.</p><h2><b>Das Image zählt</b></h2><p>Das schwierige Verhältnis vieler Wirtschaftsfraktionen zur AfD wird etwa im Fall des Unternehmers Hans Wall augenscheinlich. Wall war der Gründer und erster Aufsichtsratsvorsitzender der Außenwerbungsfirma Wall AG. Im Jahr 2013 trat er aus seiner bisherigen Partei, der FDP aus und in die AfD ein. Er unterstützte die Partei im Wahlkampf mit einer Spende über 10.000 Euro. Für ihn sei die AfD „die Partei des deutschen Mittelstands“, <a href="https://www.morgenpost.de/berlin/article133332066/Unternehmer-Hans-Wall-unterstuetzt-die-AfD.html">so Wall</a>. Nachdem die Parteimitgliedschaft Walls öffentlich bekannt wurde, distanzierte sich seine eigene Firma von ihm und von der AfD: „Wir wollen mit dieser rechtspopulistischen Partei nichts am Hut haben“, <a href="https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/wall-streit-um-spenden-wie-die-afd-eine-berliner-unternehmensfamilie-entzweit-li.52782">so Wall-AG-Sprecher Daniel Abbou</a>.</p><p>Die Haltung dieserFirma ist ein Beispiel für eine verbreitete Haltung in der deutschen Wirtschaft gegenüber der Rechtsaußenpartei. Und so verwundern auch Aussagen wie die des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Dieter Kempf nicht, der <a href="https://bdi.eu/artikel/news/erfolge-der-afd-schaden-dem-image-unseres-landes/">im August 2019</a>, vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, den Zeitungen der Funke Mediengruppe diktierte: „Erfolge der AfD schaden dem Image unseres Landes“ und „Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus passen nicht zu einer international erfolgreichen deutschen Wirtschaft.“ Diese Aussagen machen deutlich, dass das Gros der deutschen Industrie auf die Exportwirtschaft und die internationale Vernetzung setzt. Erfolge rassistischer Parteien sind dafür kontraproduktiv, da sie einen Imageschaden auslösen können, der dann zu weniger Investitionen führen kann.</p><p>Wollten also Linke die Wahlerfolge der AfD marxistisch begründen, konnten sie bisher kaum auf die historischen Erklärungsmuster des Traditionsmarxismus zurückgreifen. Die materielle Basis des deutschen Kapitalismus aus Exportorientierung und weltweiter ökonomischer Verflechtung anhand globaler Lieferketten und billiger Arbeitskräfte stand dem entgegen. Für eine an Marx orientierte Analyse des rasanten rechten Aufstiegs der letzten Jahre musste also auf dissidente Strömungen der Arbeiterinnenbewegung zurückgegriffen werden, etwa auf das <a href="https://dietzberlin.de/Beck-Stuetzle-Hrsg-Die-neuen-Bonapartisten">Bonapartismus-Konzept</a> August Thalheimers oder die <a href="https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/1025">Theorie des autoritären Charakters</a> der Kritischen Theorie. Doch könnte die ökonomische Entwicklung seit der Krise 2007/2008 auch Erklärungsmuster rehabilitieren, die auf einen engen Zusammenhang von Faschismus, Kapital und Staat rekurrieren.</p><h2><b>Nationalistische Tendenzen vor Corona</b></h2><p>Denn seit ein paar Jahren gibt es globale Tendenzen hin zu einer Schwächung internationaler Vernetzung und Globalisierung beziehungsweise eine Rückbesinnung auf nationale Märkte. Nach dem weltweiten Kriseneinbruch 2007ff. bemühten sich die Staatenlenkerinnen und Staatenlenker auf Konferenzen wie den G 20-Gipfeln noch um die Priorisierung der internationalen Kooperation. Doch durch die langandauernde Phase der Krise, des schwachen Wachstums und nun der durch die Corona-Pandemie verursachten <a href="https://revoltmag.org/articles/infektion-der-%C3%B6konomie/">erneuten Wirtschaftskrise</a>, erleben vielerorts nationalistische und autoritäre Parteien und Gruppierungen einen Aufschwung. Dieser wurde auch durch die Niederlage der Protestbewegungen vom Arabischen Frühling über die Platzbewegungen in den südeuropäischen Krisenstaaten bis zur Occupy-Bewegung befeuert. Die Rechte propagiert statt internationaler Zusammenarbeit und weltweiter Wirtschaftsverflechtungen, Protektionismus und die Förderung der heimischen Ökonomie. Allen voran die USA unter Trumps Credo „America first!“</p><p>Zwar sind die USA nach wie vor die hegemoniale Macht innerhalb des Weltsystems, stemmen sich aber seit den 1970er-Jahren gegen den eigenen Abstieg und gegen den Aufstieg zahlreicher Konkurrenten. Die Corona-Krise scheint diese Entwicklung zu besiegeln. Allen Erwartungen zufolge wird China ökonomisch und moralisch gestärkt aus der Krise hervorgehen. Die von Trump vom Zaun gebrochenen Handelskriege, vor allem gegen den Hauptkonkurrenten China, und die aufgekündigten Freihandelsabkommen markieren einen Kurswechsel in der Politik der USA, die bisher zu den lautesten Verfechtern freier Märkte und der Globalisierung gehörten, und in der globalen Ökonomie. Weitere Beispiele dieser Entwicklung sind die aggressive Durchsetzung deutscher Interessen in der Eurokrise zu Ungunsten südeuropäischer Krisenstaaten und der Brexit. Was damit schon angedeutet wurde, zeigt es sich dann in der Corona-Krise klar: die EU ist zur Farce geworden. In ihren Reaktionen auf den Virus zeigt sich, wie weit eine gemeinsame europaweite Krisenbewältigung von der aktuellen Politik weg ist. Politisch wie ökonomisch ziehen die Staaten die Nation des Staatenbundes vor. Auch in Fragen der europäischen Migrationspolitik kann sich die EU in erster Linie nur auf <a href="https://revoltmag.org/articles/das-gesch%C3%A4ft-mit-der-flucht/">die gemeinsame Migrationsabwehr</a> einigen. Innerhalb Europas gibt es diesbezüglich kaum Einigkeit und die Menschen, die es nach Europa schaffen, werden auf Kosten der jeweiligen anderen (Mitglieds)Staaten zu verschieben oder vom eigenen Territorium fernzuhalten versucht.</p><h2><b>Corona als Katalysator einer Entglobalisierung?</b></h2><p>Durch die Corona-Krise dürfte sich diese Tendenz hin zu Protektionismus und dem Rückbezug auf die eigene Nation noch verstärken. Die Pandemie zeigt, wie verwundbar ein Kapitalismus ist, der sich auf globale Lieferketten stützt. Wenn in China Städte abgeriegelt werden, brechen auch hier ganze Produktionszweige zusammen. Diese Erfahrung begünstigt die bereits vor Corona eingesetzte Entwicklung. So wurden schon vor dem Ausbruch der Pandemie einige Zulieferbetriebe der US-amerikanischen Autoindustrie von Ostasien nach Mexiko geholt, um diese näher an den Stammwerken zu haben.</p><p>Bei dieser Strategie geht es darum die Lieferketten der Zukunft etwas weniger effizient, dafür aber widerstandsfähiger zu machen; unddies bedeutet eben auch eine stärkere Anbindung an die Heimatmärkte. Die Zulieferindustrie wird näher an die Heimatproduktion gebracht und führt damit erstmals seit Jahrzehnten zu ersten Formen der Entkopplung der internationalen Arbeitsteilung. Es wird dadurch eine Regionalisierung anstelle der Globalisierung gefördert.</p><p>Vor allem die beiden wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt – USA und China – sind davon im Rahmen des so genannten Handelsstreits betroffen. Konkret lässt sich dieses so genannte Decoupling unter anderem an den Auseinandersetzungen um den chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei ablesen. Als Reaktion auf US-Sanktionen gegen die Firma plant Huawei nun die Entwicklung eines <a href="https://www.heise.de/hintergrund/Smartphones-Gelingt-die-Unabhaengigkeit-von-Huawei-durch-eigenes-Betriebssystem-4704104.html">eigenen Betriebssystems</a> für Smartphones. Wirtschaftskolumnistinnen, wie die Financial Times Mitarbeiterin <a href="https://www.ft.com/rana-foroohar">Rana Foroohar</a>, befürchten, schon dass in Zukunft die einzelnen Wirtschaftsblöcke eigenständige technische Systeme für ihre Produkte entwickeln könnten und damit die Welt auch technisch von einem globalen System zu territorialen Systemen wechseln könnte. Dies hätte gravierende Auswirkungen sowohl auf die Industrie als auch für die Konsumentinnen und Konsumenten und natürlich auch auf eine globale Wirtschaft. Es wäre eine Paradigmenwechsel, der die bisher fast symbiotischen Beziehungen zwischen den USA und China, plastisch gefasst im Begriff „Chimerika“, auf denen die Weltwirtschaft noch basiert, beenden würde.</p><p>Die Reaktionen der in der EU zusammengeschlossenen Nationalstaaten auf die Corona-Pandemie zeigen ebenfalls diese auseinanderdriftenden Tendenzen. Statt gegenseitiger Unterstützung gab es Grenzschließungen. Diese wurden von allen Staaten einseitig beschlossen – ohne die EU-Kommission auch nur darüber zu informieren. Auch die Versuche, sich gegenseitig medizinisches Material streitig zu machen oder wegzuschnappen zeugt von einer Priorisierung nationaler Interessen, komme was wolle. In Italien und Spanien lieferten inzwischen Russland und China Hilfsgüter und inszenierten sich dabei als die großen Helfer dort, wo die EU versagt. So hatte sich wohl niemand in der EU das 25-jährige Jubiläum des Schengen-Raumes vorgestellt.</p><h2><b>Nationalismus und Großmachtpolitik</b></h2><p>Bereits die Finanzkrise von 2008 und die folgenden Austeritätsprogramm für südeuropäische Staaten legte das politische und ökonomische Ungleichgewicht der EU offen. Nicht anders verhält es sich nun in der Corona-Krise. Besonders betroffenen südlichen EU-Länder fordern die Einrichtung gemeinsamer europäischer Anleihen (Corona-Bonds), um gemeinsam Schulden am Kapitalmarkt aufnehmen zu können. Durch die wirtschaftliche Stärke der nördlichen EU-Staaten würden diese Bonds dazu führen, dass die Schuldenaufnahme für die Krisenstaaten deutlich günstiger ausfallen würde. Doch allen voran die deutsche Regierung lehnt diese Programme kategorisch ab. Bereits 2012 stellte sich Bundeskanzlerin Merkel auf den Standpunkt, es werde keine gesamtschuldnerische Haftung – zum Beispiel über Euro-Bonds – geben, <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/kanzlerin-merkel-schliesst-euro-bonds-aus-a-841115.html">„so lange ich lebe“.</a></p><p>Vor diesem Hintergrund ist es zu erwarten, dass die nationalen Krisenprogramme gegen die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie sich noch verstärkt auf die Interessen der Nationalstaaten konzentrieren werden. Wie stark die Staaten dafür bereit, sind im Rahmen des Ausnahmezustands auch in die Interessen selbst global agierender Konzerne einzugreifen, zeigt sich momentan. In zahlreichen Ländern sind alle Wirtschaftsaktivitäten, die nicht „lebensnotwendig“ sind, gestoppt oder zumindest stark eingeschränkt.</p><p>Regierungen nutzen zudem die aktuellen Einschränkungen von Rechten dazu, ihre Macht zu festigen. Am offensichtlichsten geschieht dies momentan in Ungarn, wo Orban das Parlament ausgeschaltet hat. Zu einer weiteren Stärkung des Staates wird auch die ökonomische Krisenreaktion führen. Fast in allen Ländern wurden bereits Verstaatlichungen kriselnder Unternehmen angekündigt und die Schaffung staatlich geförderter Produktion von als lebenswichtig angesehener Produkte. Mit diesen Maßnahmen fallen dann die wirtschaftlichen Interessen dieser Konzerne mit den nationalen Interessen in eins. Die Hoffnungen einer staatsfixierten Linken in die Möglichkeiten einer neuen keynesianischen Politik gegen die Macht transnationaler Konzerne werden nur zu mehr Nationalismus und aggressiven Großmachtpolitik führen.</p><p>Es steht zu befürchten, dass die aktuelle Entwicklungen dazu führen, dass das jeweilige Kapital eines Landes ein materielles Interesse an einer politischen Vertretung gewinnt, die aggressiv die eigenen Vorteile gegen alle anderen vertritt. Ansatzweise ist dies jetzt schon zu beobachten, wenn etwa AfD und Wirtschaftsverbände ein schnelles Ende der Corona-Beschränkungen fordern. Denn längst steht hinter den rechten Formierungen nicht mehr nur der frühere Chef einer Firma, die Plakate aufhängt. Die Erklärungen des Traditionsmarxismus scheinen so doch wieder aktuell zu werden.</p></div>
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<div class="rich-text"><p><i>Der Beitrag wurde eingesprochen von Maja Tschumi.</i></p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p>Mit dem Ausbruch der „Corona-Pandemie“ seit Anfang dieses Jahres und den entsprechenden politischen Maßnahmen hat sich die seit längerem schwelende Wirtschaftskrise konkretisiert und verschärft. Unlängst ist von einer globalen Rezession die Rede, deren Ausmaß jener der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gleicht und global bis zu 200 Millionen Arbeitsplätze zu vernichten droht.</p><p>In der Schweiz geht das <a href="https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news.msg-id-78887.html">Staatssekretariat für Wirtschaft</a> von einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von etwa sieben Prozent aus. Einen derartigen Einbruch gab es das letzte Mal Mitte der 1970er Jahre während des „Erdölschocks“, in dessen Folge 340.000 hiesige Arbeitsplätze vernichtet wurden. Zum Großteil davon betroffen waren migrantische Arbeiter*innen, die sogenannten Saisoniers oder Gastarbeiter*innen und schweizerische Frauen*. 250.000 Gastarbeiter*innen mussten als sogenannte „Konjunkturpuffer“ die Schweiz verlassen, da ihnen die befristete Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wurde. Und die schweizerischen Frauen* wurden in die unbezahlte Hausarbeit zurück gedrängt.</p><p>Heute nimmt der Bundesrat – also die Bundesregierung der Schweiz – 65 Milliarden Franken in die Hand und versucht damit alle Spalten zu stopfen, die „der Virus“ ins Gefüge der Gesellschaft reißt, um die ökonomischen und sozialen Folgen der derzeitigen Krise zu bekämpfen.</p><h2><b>Ihr Krisenmanagement – unsere Forderungen!</b></h2><p>Schweizweit sind bereits 40 Prozent der Arbeiter*innen in Kurzarbeit, während weiterhin 2.000 Arbeiter*innen täglich ihren Job verlieren. Die offizielle Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent vor der Pandemie könnte auf bis zu sieben Prozent ansteigen. Um einen allfälligen Einkommensverlust auszugleichen, kann teilweise Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend gemacht werden, doch das gilt lange nicht für alle. Die Explosion der Anträge für Sozialhilfe verdeutlichen das: Die Zahl der Neuanmeldungen hat sich in der Deutschschweiz insgesamt <a href="https://digitalcollection.zhaw.ch/bitstream/11475/19947/3/2020_Laetsch-Eberitzsch-Brink_Coronastudie-ZHAW.pdf">vervierfacht</a>. Besonders betroffen sind Arbeiter*innen in prekären Arbeitsverhältnissen wie Stundenlöhner*innen und Teilzeitangestellte, Alleinerziehende,<i> Working Poor</i>, aber auch Selbstständigerwerbende. Derweil halten sich migrantische Menschen ohne Arbeitslosenversicherung (ALV) mit der Anmeldung bei den Sozialwerken zurück, weil der Bezug von Sozialhilfe durch eine Reihe von Gesetzesrevisionen eine negative Auswirkung auf den Aufenthaltsstatus hat. Die Folge ist, dass Migrant*innen oft in noch prekärere Arbeits- und Lebensverhältnisse abdriften und effektiv zu Tagelöhnern werden, die von der Hand in den Mund leben.</p><ol><li><i>Deshalb ist es jetzt in der Krise von größter Dringlichkeit, diese negative Kopplung zwischen Sozialhilfebezug und Aufenthaltsrecht aufzuheben und eine weitere Verelendung der untersten Schichten der Arbeiter*innenklasse zu verhindern!</i></li></ol><p>Teil des Maßnahmenpaketes des Bundesrates ist es, der ALV genügend Geld zur Verfügung zu stellen, um Kurzarbeitsentschädigung (KAE) auszahlen zu können. Das ist sehr wichtig. Nur ist dieses Geld eigentlich für die 80-prozentige Lohnfortzahlung der Arbeiter*innen gedacht, die aufgrund der Maßnahmen nicht oder nur reduziert arbeiten können und nicht dafür, dass Firmen, die diese Gelder beantragen, weiterhin Dividenden auszahlen können – was sie aber faktisch tun!</p><ol><li><i>Deshalb braucht es ein Verbot von Dividendenzahlungen für diejenigen Firmen, die Ersatzgelder für Arbeiter*innen von der ALV beziehen!</i></li></ol><p>Außerdem muss gewährleistet werden, dass diese Gelder dort hinfließen, wo es wirklich benötigt wird. Das Problem ist einerseits, dass viele Arbeitgeber*innen sich quer stellen, um keine Präzedenzfälle und Verbindlichkeiten für prekär angestellte Arbeiter*innen zu schaffen, obwohl die bundesrätliche Bestimmung den Anspruch dieser Schichten angesichts der Notlage explizit gewährleistet. Andererseits ist es teilweise für Spitzenverdiener*innen möglich, KAE zu beantragen, da der Verdienstausfall für Einkommen von bis zu 148.200 Franken gilt.</p><ol><li><i>Deshalb muss eine effektive Kontrollstelle geschaffen werden, an die sich Arbeiter*innen für den Fall der Verweigerung ihres Anspruchs seitens ihrer Arbeitgeber*innen wenden können! Die Einkommensgrenze, bis zu der ein Anspruch wegen Verdienstausfall besteht, muss herabgesetzt werden!</i></li></ol><p>Das reduzierte Einkommen – wenn es ausgezahlt wird – bringt gering verdienende Arbeiter*innen in finanzielle Schwierigkeiten, da Mieten und Krankenversicherungsprämien weiterhin wie gewohnt gezahlt werden müssen. Bisher hat der Bundesrat diesbezüglich noch nicht interveniert und so die Renten der größten Immobilienbesitzer*innen der Schweiz garantiert.</p><ol><li><i>Deshalb muss der Bundesrat einen Mietzins- und Prämienerlass für Arbeiter*innen an der unteren Einkommensgrenze erwirken und ein minimales Einkommen für alle Menschen garantieren, die sich in der Schweiz befinden!</i></li></ol><p>Aufgrund der Maßnahmen ist von einem Anstieg der Schuldlast im Staatshaushalt die Rede. Das stimmt. Nur muss klar sein, dass der Großteil dieser Schulden auf Liquiditäts- und Kreditgarantien für Großunternehmen und Banken entfällt, die davon hauptsächlich <a href="https://www.woz.ch/2018/wer-zahlt-die-krise/ein-staat-fuer-die-vermoegenden">profitieren</a>! Es kommt hinzu, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Anstieg der Verschuldungsquote in der Schweiz bis Ende 2021 um lediglich sechs Prozent rechnet, das heißt von einem Anstieg des Staatsdefizits von 40 Prozent auf 46 Prozent ausgeht, was in keinster Weise ein finanzielles Problem darstellt. Nur ein kleiner Teil der 65 Milliarden Franken, nämlich 14 Milliarden Franken, wird für die Finanzierung der ALV aufgewendet.</p><ol><li><i>Deshalb muss die Liquidität der ALV unbedingt weiterhin gesichert werden, da sie die juristisch festgelegte jährliche Verschuldungsgrenze von knapp acht Milliarden Franken schon erreicht hat – statt noch mehr Geld für Banken und Konzerne auszugeben!</i></li></ol><p>Dann steht die Frage im Raum, wem diese Schuldenlast am Ende aufgebürdet werden wird. Höhere Lohnabgaben der Arbeiter*innen an die ALV seien unvermeidbar, sagen die Wirtschaftseliten und warnen gleichzeitig vor den fatalen Folgen allfälliger Steuererhöhungen. Stattdessen müsse man jetzt mutig genug sein, um die Diskussion der allgemeinen Erhöhung des Rentenalters „anzupacken“. Damit machen sie unmissverständlich klar, wen sie für die Begleichung der Ausgaben zur Kasse beten werden: Den Scherbenhaufen sollen wieder wir Arbeiter*innen zusammenzukehren!</p><p>Und noch zynischer wird es, wenn man sich anschaut, wie seit Wochen alle Wirtschaftsverbände und rechten Kräfte den Bundesrat mit der Forderung bombardieren, die Maßnahmen aufzuheben und zum gewohnten Alltag zurückzukehren. Bezahlen kann man also diesen Verbänden nach auch mit der Gesundheit der Arbeiter*innen. Um die rückläufigen Profite zu kompensieren, sollen Arbeiter*innen herhalten und zum Auslöser einer zweiten Infektionswelle gemacht werden, die die ohnehin massiv belastete öffentliche Gesundheitsstruktur vollends an die Wand fahren würde. Auch hier sollen wieder die Arbeiter*innen die Misere ausbaden.</p><ol><li><i>Deshalb braucht es eine vorsichtige und schrittweise Aufhebung des Lockdowns und eine Verteilung der Schuldenlast auf jene, die von der Krise profitieren!</i></li></ol><p>Dadurch, dass sich das Parlament zu Beginn der Pandemie in der Schweiz Mitte März selbst in den Lockdown geschickt hat und es den Kommissionen verboten wurde, zu tagen, regiert der Bundesrat seit nun schon sieben Wochen per Dekret. Die einzigen Kräfte, die ihn derzeit maßgeblich beeinflussen können, sind die Lobbyisten der Wirtschaftsverbände. So hat nun also der Bundesrat eine zügige Aufhebung des Lockdowns entschlossen und riskiert damit eine zweite Imfektionswelle. Im schlimmsten Fall wird diese zu einem neuen Lockdown und zu noch tiefgreifenderen ökonomischen und sozialen Verschärfungen führen, als der jetzige. Wenn es um die Wurst geht, dann steht auch in der Schweiz der Kapitalismus über der Demokratie.</p><ol><li><i>Deshalb muss das Parlament wieder tagen! Der maßlosen Lobbypolitik muss im Sinne der Demokratie Einhalt geboten werden!</i></li></ol><p>Im Rahmen der Zweiten Phase der Lockerung wurde am 29. April auch die Grenze für den Familiennachzug von EU-Bürgern wieder geöffnet – nicht aber für „Angehörige von Drittstaaten“. Außerdem bleiben die Schengengrenzen zu, womit es im Moment keine Möglichkeit gibt, Asyl in der Schweiz zu beantragen. Man kann die Ungleichheit in dieser Situation also schlicht auch dadurch verschärfen, indem einfach nichts getan wird!</p><ol><li><i>Darum müssen wir die Situation der ohnehin entrechteten Menschen mit besonders kritischem Blick prüfen und ihre Ungleichbehandlung bekämpfen!</i></li></ol><h2><b>Nicht auf unserem Rücken!</b></h2><p>„Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“, heißt es in der Präambel der Verfassung der Schweiz. Wir machen uns nichts vor, denn angesichts der herrschenden Krise ist es klarer denn je: Wir migrantischen Arbeiter*innen können als schwächstes Glied der Arbeiter*innenklasse von unserer Freiheit keinen Gebrauch machen, denn niemand braucht unsere Arbeitskraft.</p><p>Wir arbeiten in denjenigen Branchen, in denen die prekärsten Verhältnisse herrschen und die von der Krise am stärksten betroffen sind. Wir fallen als Erste. Arbeitslosigkeit betrifft uns bis zu fünf Mal so stark wie nicht-migrantische Arbeiter*innen, weil wir oft die Arbeit verrichten, die sonst niemand unter den herrschenden Bedingungen verrichten will. Wir wissen, dass die Arbeitgeber*innen uns benutzen, um die Löhne, trotz der von Jahr zu Jahr steigenden Profite, zu drücken und niedriger zu halten, als sie eigentlich sein könnten und sollten. Wir wissen, dass sie uns Arbeiter*innen spalten und unseren migrantischen Teil als Abschreckung für den Rest benutzen, dass sie auf uns zeigen und sagen: „Da könnt ihr sehen, was aus euch wird, wenn ihr euch nicht fügt!“. Wir sind das Ende der Fahnenstange: Unsere Sozialrechte sind eingeschränkt, und erst recht unsere politischen Rechte; heute müssen wir mehr denn je um unser Aufenthaltsrecht bangen.</p><p>Und was ist mit den tausenden illegalen Arbeiter*innen, die auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt effektiv ihren Platz haben, die unter den schlechtesten Bedingungen arbeiten, aber keinen Arbeitsvertrag bekommen und keinen ordentlichen Aufenthalt beantragen können? Was ist mit den vielen illegalisierten migrantischen Arbeiterinnen in den Privathaushalten, die Betreuungsarbeit unter prekärsten Umständen leisten? Was ist mit dem Gesetz, dass gleiche Arbeit gleich entlohnt werden muss? Was passiert mit diesen Frauen*, deren ohnehin unsicheres Einkommen angesichts der Krise nun ganz und gar auf der Kippe steht?</p><p>Was ist mit den vielen Geflüchteten, die noch nicht einmal so frei sind, ihre Arbeitskraft unter normalen Verhältnissen verkaufen zu können? Sie werden zu Zeiten der Pandemie in den Kollektivunterkünften ihrem Schicksal überlassen, ohne dass auch nur im Ansatz für die hygienischen Minimalstandards gesorgt wäre.</p><p>Angesichts der herrschenden Lage sagen wir: Wir sind keine Konjunkturpuffer! Wir bezahlen die Kosten der Krise nicht, indem wir uns abschieben lassen, um die Arbeitslosenzahlen zu senken; indem wir auf unseren Lohn verzichten oder mit unserer Gesundheit herhalten! Wir Frauen* ziehen uns nicht wieder in die unentgeltliche Hausarbeit zurück, um den Arbeitsmarkt zu entlasten; wir stemmen die ganze Betreuungs- und Pflegearbeit nicht wieder allein! Wir entrechteten migrantischen Arbeiter*innen und Geflüchtete verharren nicht im Schatten der Illegalität, sondern fordern unsere legitimen Rechte!</p><p>Mit Brecht grüßen wir den Kampf aller Arbeiter*innen und sagen: „Unsere Herren, wer sie auch seien, sehen unsre Zwietracht gern. Denn solang sie uns entzweien, bleiben sie doch unsre Herrn“.</p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Video-Reihe: Viraler Kapitalismus? Was Tun!2020-04-28T07:00:00+00:002020-05-07T21:24:03.279572+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus-was-tun/
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<h1>Video-Reihe: Viraler Kapitalismus? Was Tun!</h1>
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<div class="rich-text"><p>Die Corona-Pandemie stellt unser Leben auf den Kopf. Sich immer wieder stark ändernde politische Maßnahmen werfen uns im Alltag und auch in unserer politischen Arbeit aus bislang festgefahrenen Bahnen und stellen uns vor viele Fragen. Wir haben mit unterschiedlichen politischen Solidaritätsstrukturen in Deutschland gesprochen, was der „Ausnahmezustand“ für sie und ihre Arbeit bedeutet: Wer wird die Last dieser Krise zu schultern haben? Welche Formen der Solidarität gibt es angesichts sich verschärfender sozialer Ungleichheit - und was ist jetzt die Aufgabe einer radikalen Linken?</p><p>Wir veröffentlichen die Beiträge, die wir dazu erhalten haben, im Kontext der Mobilisierung zum Ersten Mai, dem internationalen Arbeiter*innenkampftag.</p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><h2>Teil 1 unserer Video-Reihe „Viraler Kapitalismus? Was Tun!“</h2><p><b>„Unsere Form der Organisierung so ausrichten, dass wir jederzeit kämpfen können“</b></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p><i>"Natürlich erfordert die jetzige Situation einen bewussten Umgang oder auch Einschränkungen, aber eben keine Handlungsunfähigkeit oder Passivität, gerade nicht für uns als Linke. Gerade jetzt ist es für uns wichtig, dass wir aktiv sind, wiederständig und kämpferisch, und vor allem auch unsere Strukturen so aufstellen und unsere Form der Organisierung so ausrichten, dass wir jederzeit kämpfen können. Denn eines ist klar, dass die kommenden Auseinandersetzungen knallharte Verteilungskämpfe werden, und nicht irgend ein Kaffeekränzchen. Es gibt keine Pause im Klassenkampf."</i></p><p><b>Solidarisches Stuttgart</b> <a href="https://solidarisches-stuttgart.org">solidarisches-stuttgart.org</a></p><p></p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><h2>Teil 2 unserer Video-Reihe „Viraler Kapitalismus? Was Tun!“</h2><p><b>„Die Krise kann nicht auf unserem Rücken ausgetragen werden. Die Reichen müssen zahlen“</b></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p><i>„Menschen werden zunehmend in systemrelevant und verzichtbar, in nützlich und unnütz eingeteilt. das ist gefährlich, denn es unterstützt sozialchauvinistische Denkweisen. Es liegt an uns, aufeinander zu achten. Denn gleichzeitig zeigt uns der bürgerlich-kapitalistische Staat aktuell, dass er kein Interesse am Schutz von Menschenleben hat, sondern lediglich den Kollaps eines sowieso schon kaputten Systems verhindern möchte. Was aus der Krise zu lernen ist, müssen wir von links deutlich machen.“</i></p><p><b>Hände weg vom Wedding</b> <a href="https://www.unverwertbar.org">www.unverwertbar.org</a></p><p></p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><h2>Teil 3 unserer Video-Reihe „Viraler Kapitalismus? Was Tun!“</h2><p><b>"Wir müssen uns zusammenschließen und zusammen kämpfen, solidarisch und entschlossen"</b></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p><i>„Der Ausnahmezustand zeigt sich daran, dass hundert Menschen eng zusammen in einem Versandzentrum arbeiten müssen, es aber verboten ist, draußen dagegen zu protestieren. […] Ausnahmezustand heißt, dass wir erstens für die Krise der Reichen bezahlen und das zweitens das auch noch still und leise hinnehmen sollen. Normal ist, dass wir uns dagegen wehren, zusammen auf der Straße."</i></p><p><b>Solidaritätsnetzwerk (Freiburg [ Köln | Cottbus)</b> <a href="https://soli-net.de">soli-net.de</a></p><p></p><hr/><p></p></div>
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Krise, Klima, Klopapier2020-04-21T13:06:28.336618+00:002020-04-21T13:07:21.491680+00:00Christian Hofmann und Philip Broistedtredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/krise-klima-klopapier/
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<span class="content-copyright">Alp Kayserilioğlu</span>
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<div class="rich-text"><p>Die Krise ist zurück: Nach der Asienkrise (1997), dem Platzen der Dotcom-Blase (2000) und der so genannten Finanzkrise (ab 2008) steuert nun alles mit Volldampf auf die nächste große ökonomische Krise zu. Dieses Mal ist es eine Pandemie, die alles ins Trudeln bringt, und damit den Ausbruch der Krise vorwegnimmt. Doch was auch immer die Auslöser nun sein mögen – ob nun partiell oder wie bereits 2008 allgemein, ob territorial einigermaßen begrenzt oder global: Ökonomische Krisen sind offensichtlich ein fester Bestandteil der auf Profit und Markt ausgerichteten Gesellschaftsordnung.</p><p>Die Besonderheiten der jeweiligen Krisenverläufe einmal außen vorgelassen, sind die allgemeinen Muster von verblüffender Ähnlichkeit. Zunächst wirtschaftliche Erholung mit Krediten zur Finanzierung des Aufschwungs. Dann folgt beschleunigtes Wachstum und Euphorie. Schließlich Kursstürze, Panikverkäufe, Zusammenbruch und massenhafte Insolvenzen. Während in den zyklischen Wachstumsperioden die Wirtschaftsliberalen die gefragten Talkshowgäste sind, schlägt in der Krise stets die Stunde der Protektionist*innen und Keynesianer*innen. Täglich grüßt das Murmeltier!</p><h2><b>Funke …</b></h2><p>Auch jetzt rufen alle wieder nach Staatshilfen. Von den (Solo-)Selbstständigen über den Mittelstand bis zum transnationalen Unternehmen, von der Szenekneipe bis zu Apple und VW: Unternehmen drosseln die Produktion oder stellen sie ganz ein. Löhne werden gekürzt, massenhaft Erwerbstätige auf die Straße gesetzt. Das Bruttosozialprodukt und der Ölpreis stürzen ab, Pleitewellen sind im Anmarsch. Der IWF rechnet mit der größten Krise seit der Großen Depression und die Konjunktur- und Rettungsprogramme übersteigen in ihrem Umfang bereits jetzt alle bis hierher bekannten.</p><p>Dass der Krisenauslöser dieses Mal eine Pandemie ist, bringt neben diesen allgemeinen Mustern natürlich Besonderheiten (hierzulande) unbekannten Ausmaßes mit sich: Ausgangssperren, Quarantäne, Mobilmachung der Armee. Erhöhte Repressionsmaßnahmen des Staates und drastische Einschnitte in die Rechte der Lohnabhängigen sind zwar oft Begleiterscheinungen ökonomischer Krisen – aber wer sollte sich trauen, diese im Zeichen des grassierenden Virus in Frage zu stellen? Der herrschenden Politik ist es zuvor schon gelungen den Gesundheitssektor und die Krankenhäuser ohne stärkeren politischen Gegenwind kaputt zu sparen. Die (Spät)folgen der letzten Krisenbewältigung werden nun schmerzlich spürbar und die sozialen Abwehrkämpfe müssen wohl oder übel auf die Tage nach der Ausbreitung des Virus verschoben werden.</p><p>Doch eine Frage drängt nach Beantwortung: Sollten wir überhaupt noch von gängigen zyklischen Krisen sprechen? Oder müssen wir nicht vielmehr, was die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung betrifft, bereits von einer allgemeinen Krise, einer Krise in Permanenz reden? Denn auch wenn die mediale Öffentlichkeit allem Anschein nach immer nur ein Thema zur selben Zeit behandeln kann, sollten wir nicht vergessen, dass wir gerade erst damit angefangen hatten, endlich über die Klimakrise und ihre dramatischen Auswirkungen zu debattieren. Nicht nur die Rekordwerte unserer „winterlichen“ Temperaturen sollten daran erinnern, dass die Klimakrise eben kein mediales Intermezzo war. Vielmehr gehen wir unentwegt und mit Siebenmeilenstiefeln auf irreversible Kipppunkte des Ökosystems zu. Ab diesen werden verstärkende Rückkopplungen einsetzen, die zu einem Lawineneffekt werden dürften. Erinnert sei hier nur kurz an das arktische Meereis, den grönländischen Eisschild oder die tauenden Permafrostgebiete. Sind unsere derzeitigen Notstandsgesetze vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn die Wetterextreme über uns hereinbrechen und die Reichen und Schönen sich in ihren wetterfesten Luxusbunkern verschanzen werden? Vor uns die Sintflut, nur leider „rettet uns kein höheres Wesen“...</p><h2><b>…und Pulverfass</b></h2><p>Wirtschaftskrise, nicht bewältigte Staatsschuldenkrise, Klimakrise, riesige Migrations- und Fluchtbewegungen, deren sozialen Ursachen oft schon durch klimatische Veränderungen beflügelt wurden, und nun also eine Pandemie unerwarteten Ausmaßes. Der gemeinsame Nenner dieser Krisen ist ein globales Wirtschaftssystem, in welchem dem Streben nach maximalem Profit alles andere untergeordnet werden muss. Wir befinden uns in einer Situation, bei der Mensch und Natur auf kurz oder lang zwangsläufig unter die Räder kommen müssen. Unendliches profitgesteuertes Wachstum ist nämlich nicht vereinbar mit den planetaren Grenzen, die gerade überschritten werden.</p><p>Aber profitgeleitetes Wachstum lässt sich unter Marktbedingungen nicht einfach abschalten, denn Unternehmer*innen, die bei dem Streben nach Profitmaximierung nicht mitmachen, können auf dem Markt nicht bestehen und gehen unter. Dieser Mechanismus ist die objektive Ursache für den grenzenlosen Drang nach Profit und dem Streben nach stetigem Wachstum. 'Profite first!' – Ökologie- und Gesundheitssysteme bestenfalls 'second' – und auch dann nur, soweit die Absicherung des Profits das erfordert. Denn Produktion für einen Markt heißt immer und zwangsläufig durch Konkurrenz vermittelte, unkontrollierte, unkoordinierte, also letztlich planlose Produktion und deren rücksichtslose Erweiterung. Selbst wenn der Markt überschaubar wäre, würde weiterhin jedes Unternehmen versuchen, seine Konkurrent*innen aus dem Feld zu schlagen. Sowohl das Ökosystem, als auch die Gesundheit und das Leben der Lohnabhängigen sind dem zwangsläufig untergeordnet.</p><p>Die kapitalistische Dynamik hat die Produktivkräfte bis zu einem Punkt nie gekannter Entwicklungen und Möglichkeiten entwickelt. Von der Globalität, der Vernetzung und der Digitalisierung bis hin zur Automatisierung. Andererseits stehen wir gerade kurz vor dem Abgrund. Aber gibt es tatsächlich keine Alternativen zu einem Hineingeworfen oder -gestoßen werden? Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt, so kann ihre Betrachtung doch die Blicke für heutige Möglichkeiten schärfen. Von Interesse sollte in diesem Zusammenhang sein, was Karl Marx und Friedrich Engels bereits in jungen Jahren über das Aufkommen und den Durchbruch des Bürgertums, der Bourgeoisie, gegen das feudale Mittelalter schilderten:</p><p><i>„Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“</i></p><p>Was damals die feudalen, sind heute die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Sie sind zu Fesseln geworden, was die weit hinter dem Entwicklungsstand zurückbleibende Pharmaforschung und die unzureichende Versorgung mit Medikamenten schlagend beweisen. Erst wenn diese Fesseln und mit ihnen der Zwang zur Profitakkumulation aufgehoben wird, besteht die Möglichkeit, mit den notwendigen und den zur Verfügung stehenden Arbeiten und Arbeitskräften, sowie den natürlichen und menschengemachten Ressourcen zu rechnen und zu planen. Würden die Produktionsmittel der gesamten Gesellschaft gehören, könnte so geplant werden, dass alle arbeiten, dafür aber weniger. Es könnte so gewirtschaftet werden, dass die Grenzen des Ökosystems ganz oben auf der Prioritätenliste ständen - denn Profit und Markt wären beseitigt. Auch der Gesundheitssektor könnte endlich den Stellenwert bekommen, der ihm gebührt. Pandemien und schreckliche Krankheiten ließen sich mit voller Kraft erforschen und bekämpfen. Würden sie dann überhaupt noch auftreten? Die neueren Infektionskrankheiten haben ihre Wurzel fast ausnahmslos im Niedergang der Artenvielfalt und der kapitalistischen Form der Landnutzung, also Monokulturen, rücksichtslose Rodung der Wälder und überbeanspruchte Böden.</p><p>Tatsächlich müssten auch bei assoziierter Produktion im Falle einer Pandemie alle eine Weile zu Hause bleiben. Aber niemand müsste zum Beispiel darum fürchten, nach dieser Zeit seinen Job zu verlieren. Denn wo nicht der Profit Sinn und Maßstab der Produktion ist, sondern das Erzeugen nützlicher Gebrauchsgüter, gibt es keinen Grund Produktionsstätten zu schließen, auch wenn diese eine Zwangspause einlegen müssten.</p><p>Wir können es drehen und wenden wie wir wollen. Was auch immer die Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft waren, die „Eigentumsverhältnisse entspr[e]chen […] den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr“. Ergo müssen sie gesprengt werden!</p><h2><b>Wer nicht kämpft, hat schon verloren</b></h2><p>Die gute Nachricht: Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist objektiv soweit fortgeschritten, dass zumindest theoretisch ein gutes Leben für alle möglich wäre. Und die Schlechte? Anders als von Kautsky bis Ulbricht vermutet, gibt es kein heimliches Drehbuch für geschichtliche Entwicklungen und keine Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln. Die wichtigste Produktivkraft aber ist, und genau das haben die genannten deutschen Sozialisten sträflich vernachlässigt, der Mensch. Anders gesprochen: Nur wenn in und durch die Krise das massenhafte Bewusstsein entsteht, das eine andere Welt nicht nur möglich, sondern mittlerweile dringend nötig ist, kann der Durchbruch zu assoziierten Gesellschaft gelingen.</p><p>Im Zeichen der Corona-Bekämpfung hat Angela Merkel vermeintlich ein Paradoxon entdeckt: Nur durch Abstand zu Anderen könnten wir heute unsere Solidarität unter Beweis stellen. Was tiefgründig daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung bezüglich eines grassierenden Virus als banale empirische Beschreibung des Offensichtlichen. Der eigentliche Widerspruch dagegen sitzt tiefer. Die Gesellschaft, deren erstes Wort die Konkurrenz ist, ruft plötzlich nach Solidarität. Dabei haben wir alle, die wir in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind, zunächst einmal nur gelernt, uns um den eigenen Arsch zu kümmern. Beim Kampf ums Klopapier ist dieses Credo dieser Tage recht eindrücklich zu beobachten. Was dem ein oder anderen diesbezüglich noch ein Schmunzeln über die Lippen jagt, ist in anderen Weltgegenden schon bedrohlicher geworden. Hier schnellen bereits, bedingt durch die Coronapanik, Waffenkäufe in die Höhe: Ein Schalk, wer Böses dabei denkt.</p><p>Also „Game Over“? Wenn wir der bürgerlichen Apologetik vertrauen, die in ihrer grenzenlosen Ignoranz den <i>homo economicus</i>, also den Menschen, wie er sich in der von ihr vertretenden Gesellschaftsordnung entwickelt hat, mit dem <i>homo sapiens</i> gleichsetzt, dann unbedingt. Gehen wir diesen Trugschluss nicht mit, sehen wir – neben den ungeahnten neuen technischen Möglichkeiten – auch gesellschaftliche Entwicklungen, die durchaus hoffen lassen: Massive sozialen Kämpfe in Frankreich und Chile, die globale Klimabewegung, die Kämpfe von Mieter*innen, oder die beginnenden Corona-Streiks für temporäre Betriebsschließungen und bessere Sicherheitsstandards. Überall stehen, mal mehr mal weniger hervorgehoben, das bürgerliche Eigentum und die blind wütenden Marktgesetze zur Debatte.</p><p>Wie also werden sich die Menschen in der Krisenentwicklung verhalten? Welche Strukturen schaffen und aufbauen? Welche Kämpfe führen, welche Niederlagen erleiden und welche Schlüsse daraus ziehen? Wir wissen es nicht. Aber dass mittlerweile alle Varianten von halbherzigen 'Lösungen' und national beschränkten 'Kompromissen' dahin schmelzen, wie das Polareis, stellt zumindest eine Chance dar. Ebenso der Aspekt, dass in der Krise offensichtlich wird, wie unfähig die Marktprinzipien sind, die anstehenden Probleme zu lösen und zu koordinieren: Ob bei der Entwicklung von Medikamenten, oder der Versorgung mit Krankenhausbetten. Zumindest nach „mehr Markt“ oder der „unsichtbaren Hand“ kräht plötzlich niemand mehr.</p><p>„Die Alternative zu globaler Freiheit und Gerechtigkeit ist die weltweite Hölle“ haben Dietmar Dath und Barbara Kirchner vor einigen Jahren mit so viel Berechtigung wie Pathos formuliert. Verblüffend ist lediglich, wie schnell die Wirklichkeit dazu drängt, sich zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden zu müssen. Aber wie heißt es doch so schön; nur wer nicht kämpft hat schon verloren. In diesem Sinne: The future is unwritten!</p><p></p><hr/><p><i>Christian Hofmann und Philip Broistedt schreiben auf</i> <a href="https://assoziation.info">assoziation.info</a>. <i>Im September 2020 erscheint ihr Buch „Goodbye Kapital“ im Papy Rossa Verlag.</i></p><p></p></div>
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Die selektive Solidarität durchbrechen2020-04-18T08:55:56.412120+00:002020-06-18T17:07:31.543017+00:00Kritik & Praxis Frankfurtredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-selektive-solidarit%C3%A4t-durchbrechen/
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<h1>Die selektive Solidarität durchbrechen</h1>
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<div class="rich-text"><p></p><p><i>[Editorial:] Der folgende Debattenbeitrag von</i> <a href="https://kritikundpraxis.org/"><i>Kritik & Praxis Frankfurt</i></a><i> ist ein Debattenauftakt um widerständige Praxis und Organisierungsformen unter dem herrschenden Ausnahmezustand. Wir rufen alle antikapitalistischen Zusammenhänge und Organisationen dazu auf, sich an dieser Debatte zu beteiligen, Beiträge einzureichen und gerne auch Widerspruch und Kritik zu leisten.</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Ende Januar hat die chinesische Zentralregierung Wuhan und andere Städte in der Provinz Hubei unter Quarantäne gestellt und ganze Krankenhauskomplexe in wenigen Tagen aus dem Boden gestampft. Auf die Verbreitung des neuartigen Virus SARS-CoV-2 und die drastischen Maßnahmen zu dessen Eindämmung reagierten Beobachter*innen in europäischen Gesellschaften mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Ausgeschlossen schien, dass „so etwas“ hier möglich sei.</p><p>Nur wenige Wochen später stapeln sich in Italien und Spanien die Särge vor den Hallen eines durch die europäische Austeritätspolitik kaputt gesparten Gesundheitssystems und die Wörter „Ausgangssperre“, „Quarantäne“ und „Kontaktverbot“ sind eine manifeste Realität unseres Alltags geworden. Der Ausnahmezustand wirft uns – wenn auch auf höchst unterschiedliche Art und Weise – aus unseren privaten und politischen Alltagsroutinen und Gewohnheiten. Der folgende Text ist eine erste Zwischenbilanz einiger politischer Fragen, die sich aus der gegenwärtigen Situation ergeben. Er steht unter dem Vorbehalt des situativen Denkens. Jeder Versuch, die Geschehnisse auf den Begriff zu bringen, ist vorläufig.</p><p>In Deutschland zielen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf die Kontrolle der Bewegung im öffentlichen Raum, die Einschränkung der privaten Kontakte in der Freizeit, sowie eine Änderung des individuellen Hygieneverhaltens. Damit einher geht eine enorme Aufwertung des epidemiologischen Wissens und seiner Träger*innen in den Staatsapparaten. Wir können beobachten, dass weitreichende politische Entscheidungen und Grundrechtsbeschränkungen mit Verweis auf die Expertise von Virolog*innen, allen voran jenen des staatlichen Robert-Koch-Instituts, gefällt werden. Durch den Verweis auf die wissenschaftliche Expertise werden Entscheidungen immer einer politischen Diskussion entzogen. Gleichzeitig eröffnet der virologisch begründete Ausnahmezustand der Exekutive einen großen Ermessensspielraum – und den nutzt sie derzeit auch, um linken Protest zu verunmöglichen. Das zu sagen, heißt nicht, das epidemiologische Wissen grundsätzlich in Frage zu stellen, oder zu behaupten, die Gefahr von Covid-19 sei in irgendeiner Art und Weise „konstruiert“, um den staatlichen Ausnahmezustand zu proben.</p><p>Die radikale Linke steht vor einer paradoxen Situation. Wir beobachten die digitalen Überwachungsfantasien, das Vorgehen gegen Demonstrationen und die Stilllegung jedes politischen Diskurses mit großer Sorge. Und natürlich tragen die gesundheitspolitischen Maßnahmen den Makel einer zynischen Doppelmoral, weil das tägliche Sterben an den europäischen Außengrenzen, in den Textilfabriken des globalen Südens, oder im Bombenhagel russischer und türkischer Kampfjets in Syrien, stillschweigend hingenommen wird. Gleichwohl ist es nicht möglich, sich einfach gegen diese Regierung der Gesellschaft und den Zugriff auf unsere Subjektivität zu stellen. Physische Distanz, die Vermeidung von Menschenmengen, eine gewisse Einschränkung unserer Sozialkontakte: Zumindest solange kein Impfstoff existiert, scheint das sinnvoll. Die Alternative jedenfalls wäre eine sozialdarwinistische Logik der Auslese, die unter dem gegebenen Zustand des Gesundheitssystems mit der ungebremsten Zirkulation des Virus einherginge. Es ist kein Zufall, dass die „starken Männer“ von Trump bis Bolsonaro mit dieser Option sympathisieren. Die gegenwärtige Situation lässt sich nicht in der binären Logik einer einseitigen Parteinahme auflösen: Es gibt nicht einfach ein „dafür“ und „dagegen“. Behauptungen, die staatlichen Maßnahmen wären nur autoritär sind ebenso falsch, wie das auch unter Linken zu beobachtende Denunziantentum und der allgemein grassierende Untertanengeist. Wer unterhalb dieser Fallhöhe argumentiert, verweigert sich der Komplexität der Situation.</p><p></p><h3><b>Von Nachbarschaftshilfen zum zivilen Ungehorsam</b></h3><p>Was also tun? Trotz des Festhaltens an einem vernünftigen Kern der staatlichen Maßnahmen dürfen wir uns nicht einfach dem medizinischen Diskurs der Epidemiologie und der staatlichen Bevölkerungspolitik unterwerfen, der uns jeglicher politischer Sprechfähigkeit beraubt. Es ist absurd, dass es problemlos möglich ist, 175.000 gestrandete Urlauber*innen zurückzuholen und gleichzeitig die humanitäre Aufnahme von 5.500 Geflüchteten auszusetzen. Gleichzeitig werden Geflüchtete hierzulande weiterhin in Sammelunterkünften zusammengedrängt, die sie einer ungleich größeren Gefahr der Ansteckung aussetzen. Grundsätzlich verbannen die staatlichen Maßnahmen die Verantwortung für die Eindämmung von SARS-CoV-2 in den öffentlichen Raum und die privaten Sozialbeziehungen. Die kapitalistische Warenproduktion hingegen soll mehr oder weniger ungehindert weiterlaufen. In den Amazon-Logistikzentren, auf Baustellen und bald auch auf deutschen Spargelfeldern müssen Arbeiter*innen weiterhin antanzen. Unter dieser Politik leiden derzeit Frauen*, die einen Großteil der Sorgearbeit leisten und vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, sowie prekär und migrantisierte Beschäftigte und Marginalisierte, wie Obdachlose in besonderem Maße.</p><p>Parallel zu den staatlichen Maßnahmen sind in vielen Städten spontane Netzwerke nachbarschaftlicher Solidarität entstanden. Sie korrespondieren mit der Anrufung einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, aber sie gehen nicht darin auf. In Frankfurt/M sind einige von uns in diesen Netzwerken aktiv. Wir beobachten, dass viele Menschen, die sich jetzt zum Teil erstmals organisieren, die staatlichen Exklusionsmechanismen im Blick haben und kritisieren. Ideen wie Gabenzäune für obdachlose Menschen mussten nicht erst von außen an die Netzwerke herangetragen werden. Die Wut auf ein auch hierzulande kaputt gespartes und in Teilen privatisiertes Gesundheitssystem ist groß. Natürlich gilt das nicht für alle, die sich jetzt engagieren. Doch das deckt sich mit unseren Erfahrungen aus anderen sozialen Bewegungen: Orte, an denen Neues entsteht, sind immer von einer gewissen Ambivalenz durchdrungen. Wenn das in der Vergangenheit kein Ausschlusskriterium war, um mitzumischen – warum sollte es jetzt anders sein? In welche Richtung sich die Nachbarschaftsnetzwerke entwickeln, wird zum Teil auch von uns abhängen.</p><p>Gleichzeitig müssen wir so schnell wie möglich Strategien entwickeln, um jenseits der nachbarschaftlichen Mikropolitiken wieder handlungsfähig zu werden. Machen wir uns nichts vor: Die nachbarschaftlichen Solidaritätsnetzwerke sind in ihrer Reichweite und ihrem Aktionsradius beschränkt. Um die staatlichen Exklusionsmechanismen und Teilungsdispositive zu kritisieren und praktisch zu unterlaufen, brauchen wir auch im Ausnahmezustand Formen des politischen Handelns in der Öffentlichkeit – erst recht, weil wir uns in den kommenden Monaten hierzulande auf eine neue Konjunktur sozialer Kämpfe im Zuge der Wirtschaftskrise einstellen müssen. Es wird nicht reichen, Transparente aus den Fenstern zu hängen oder Online-Demonstrationen zu veranstalten. Ohne eine Praxis des zivilen Ungehorsams ist die Ethik der Fürsorge im Kleinen auch in Zukunft wenig wert. Wir fangen besser heute als morgen damit an, über das „wie“ nachzudenken.</p></div>
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Der Zug fährt ab2020-04-11T11:22:39.158132+00:002020-04-29T16:17:03.438321+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-zug-f%C3%A4hrt-ab/
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<span class="content-copyright">Markus Spiske</span>
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<div class="rich-text"><p>Der Beitrag wurde eingesprochen von CeeJay und Emexota.</p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p></p><p>Innerhalb weniger Wochen hat sich die allgemein als „Corona-Krise“ bezeichnete kapitalistische Gesundheitskrise weltweit rasant verschärft. Mit Ablauf des 10. April 2020 sprechen wir von <a href="https://ncov2019.live/">weltweit</a> fast 1,7 Millionen registrierten Infizierten und von über 100.000 Toten. Die Dunkelziffer der Infizierten dürfte allerdings deutlich höher liegen. Dieser Umstand lässt die Letalitätsrate des Virus zwar vermutlich niedriger ausfallen: Es sterben also prozentual gesehen weniger infizierte Menschen an SARS-CoV-2, als es uns im Verhältnis zu den offiziellen Zahlen erscheint. Gleichzeitig bedeutet die Dunkelziffer aber, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus immens ist. <a href="https://www.kinder-verstehen.de/mein-werk/blog/corona-ist-nicht-gefaehrlicher-als-die-grippe/">Sie ähnelt</a> mit hoher Wahrscheinlichkeit der der Spanische Grippe von vor über 100 Jahren, an der weltweit zehn Millionen Menschen starben. Außerdem ist die Dunkelziffer der <a href="https://www.heise.de/tp/features/In-der-Lombardei-gibt-es-viel-mehr-mit-Corona-verbundene-Tote-als-offiziell-gemeldet-4695910.html">Todesfälle</a> noch gar nicht geklärt; sie scheint ebenfalls recht hoch zu sein. In den besonders betroffenen Regionen – <a href="http://www.euromomo.eu/">ob das nun</a> Spanien, Italien, Frankreich, die Schweiz <a href="https://public.flourish.studio/visualisation/1812248/">oder</a> New York ist – schnellt die „Exzessmortalität“, also das Mehr an Todesfällen über einen Durchschnitt im Vergleichszeitraum der letzten Jahre hinaus, massiv in die Höhe. Aus all diesen Gründen ist SARS-CoV-2 mit keiner noch so schweren saisonalen Grippe zu vergleichen. Wir befinden uns am Beginn einer weltweiten Pandemie.</p><p>Die aktuelle Lage wird von der bundesdeutschen Regierung sowie den Landesregierungen genutzt, um sich in unterschiedlichem Maße am Repertoire des Ausnahmezustands zu bedienen. Neben einer generellen gesellschaftlichen Lähmung scheinen auch weite Teile der Linken in eine Schockstarre gefallen zu sein: Obgleich sich viele von ihnen der historischen Zäsur und der möglichen Schlagkraft dieser Krise bewusst werden, kämpfen sie mit Kommunikationsproblemen, der Atomisierung ganzer Zusammenhänge und der Suche nach passenden <i>praktischen</i> und in der Jetztzeit <i>umsetzbaren</i> linken Antworten auf die Verschärfung gesellschaftlicher und politischer Auswirkungen durch SARS-CoV-2. Es herrscht eine weitverbreitete Ratlosigkeit, wie politische Organisation und Praxis – auch außerhalb der virtuellen Netzwerke, im öffentlichen Raum – gewährleistet werden kann; etwa darüber, wie eine Praxis des Umgangs mit den staatlichen Maßnahmen aussehen könnte, die auch über ganz kleinteilige Solidaritätsarbeit im Nahbereich hinausgeht. Welchen Weg haben wir also vor uns? Welche politischen Analysen von links müssen wir angesichts dieses Szenarios anstellen, um uns aus der politischen Passivität zu lösen?</p><h2><b>Durch den Höllenschlund: Das globale Gesundheitssystem</b></h2><p>Die Infiziertenzahlen wachsen fast überall exponentiell, wie jede_r mittlerweile wissen dürfte. Es besteht die Gefahr, dass kaputt gesparte Gesundheitssysteme weltweit einbrechen – in Italien, Spanien, Großbritannien, den USA und Frankreich ist dies teilweise schon der Fall. Am schwersten scheint es vor allem jene Gesundheitssysteme des globalen Nordens zu treffen, die durch exzessive neoliberale Sparmaßnahmen und weitgehende Privatisierungen <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/im-jahr-der-pandemie/">kaum noch</a> technische, personelle und finanzielle <a href="https://www.jacobinmag.com/2020/04/coronavirus-covid-19-crisis-capitalism-disaster">Kapazitäten</a> haben, um die hohen Fallzahlen aufzufangen. Die Länder des globalen Südens, denen in der Mehrheit diese materiellen Mittel für ein umfassendes Gesundheitssystem erst gar nicht zur Verfügung standen, stehen vor einer humanitären Katastrophe, deren Ausmaß noch nicht abzusehen ist. <a href="https://www.versobooks.com/blogs/4623-this-is-a-global-pandemic-let-s-treat-it-as-such">Schon jetzt</a> sind sie von der Weltwirtschaftskrise am härtesten betroffen. Die Fotos von leidlich abgedeckten Toten in den Straßen ecuadorianischer Städte, die kürzlich um die Welt gingen, lassen aber bereits erahnen, wie verheerend das Virus im Trikont (in Afrika, Lateinamerika und Teilen des asiatischen Kontinents) wüten wird.</p><p>In den durch das Virus erschütterten Krisenökonomien des globalen Nordens wird derweil das Krankenhauspersonal mit <a href="https://www.spiegel.de/international/germany/the-big-wave-of-corona-cases-will-hit-german-hospitals-in-10-to-14-days-a-45cd754c-e179-4dbb-8caf-8f6074e641cf">vollkommen ungenügenden</a> Vorkehrungsmaßnahmen in die Bresche geschickt. Überstunden bis zur völligen Erschöpfung – oder eben der eigenen Covid-19 Infektion – werden Normalzustand. Die Anforderungen an das Krankenhauspersonal, die Fehler und Missstände eines <a href="https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/gesundheitswesen-coronavirus-krankenhaus-unterfinanzierung-personal/komplettansicht">kaputtgesparten</a>, marktorientierten Gesundheitssystems zu kaschieren oder nun dafür mit <a href="https://m.tagesspiegel.de/wirtschaft/das-arbeitszeitgesetz-wird-gelockert-laenger-arbeiten-in-der-krise/25723938.html">12-Stunden-Tagen</a> einzustehen, sind enorm. In den von der EU-Troika kaputt privatisierten Ländern werden bereits jetzt nur noch diejenigen zur Behandlung ausgewählt, die größere Überlebenschancen haben. Andere Menschen werden angesichts der Überlastung der Gesundheitssysteme in den Tod geschickt. Die Anzahl an Beatmungsgeräten, die den Unterschied zwischen Tod und „nur“ schwerem Krankheitsverlauf bei Covid-19 ausmachen können, ist überall sehr beschränkt. Mittlerweile ist klar, dass nicht nur „sehr alte Menschen“ von den Folgen der Erkrankung betroffen sind: <a href="https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/03/young-people-are-not-immune-coronavirus/608794/">In den USA</a> sind 40 Prozent der ins Krankenhaus eingelieferten Personen zwischen 20-54 Jahre alt, sie beanspruchen 14 Prozent aller Intensivbetten. Es trifft vor allem die Menschen jeden Alters, die übliche „Volkskrankheiten“ wie beispielsweise Diabetes, COPD oder Bluthochdruck aufweisen, oder Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Mit diesen Krankheiten lassen sich normalerweise Jahre, wenn nicht Jahrzehnte leben; diese Menschen stehen nicht alle, wie der neue sozialdarwinistische Zynismus meint, sowieso „kurz vor dem Tod“. Zudem lassen sich <a href="https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/langzeitschaeden-von-covid-19-was-wir-wissen-und-was-nicht/">Langzeitschäden</a>, <a href="https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-the-hammer-and-the-dance-be9337092b56">Mutation</a> des Virus und <a href="https://www.scmp.com/news/china/science/article/3078840/coronavirus-low-antibody-levels-raise-questions-about">Effektivität</a> von Immunreaktionen noch <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-southkorea/south-korea-reports-recovered-coronavirus-patients-testing-positive-again-idUSKCN21S15X">gar nicht genau</a> abschätzen.</p><p>Gerade deshalb – und entgegen aller Verschwörungstheorien, die von einer Inszenierung oder einem Kalkül der „Herrschenden“ sprechen – mag es auf den ersten Blick vielleicht verwundern, warum insbesondere die Staaten des Westens so langsam und behäbig auf das Virus reagierten. Erste Fälle wurden in Europa schließlich schon Mitte Januar gemeldet. <a href="https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200121-sitrep-1-2019-ncov.pdf">Zu diesem Zeitpunkt</a> hatten die chinesischen Behörden auch schon längst über die Gefahren des Virus informiert. Statt zu handeln, tönte es über alle Kanäle, man sei gut vorbereitet. Das Virus sei letztlich wie eine Grippe; man solle in den Auswirkungen nicht übertreiben. Als sich Covid-19 dann ab Anfang März – bedingt durch den <a href="https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_87525436/coronavirus-von-ischgl-verbreitete-sich-covid-19-in-ganz-europa.html">Skitourismus</a>, Festivals, <a href="https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/corona-virus-zusammenfassung-donnerstag-100.html">Karneval</a>, Fußball und ähnliche Großereignisse – rasend schnell in Europa verbreitete und die Situation in Norditalien schon unglaublich heftig war, da zauderten viele europäische Regierungen noch immer. Wie ist das zu erklären?</p><h2>„Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“ (Marx)</h2><p>Es hat einen ganz handfesten Grund, warum diese Staaten so spät – und dann auch noch recht inkonsequent – reagiert haben. Er nennt sich kapitalistische Akkumulation. <b>[1]</b> Schnell war klar, auch aus <a href="https://unherd.com/2020/03/the-scientific-case-against-herd-immunity/">historischen Erfahrungen</a>, dass die weitestgehend mögliche Verringerung körperlicher Kontakte zwischen Menschen – als <i>Social</i> oder <i>Physical Distancing</i> bekannt – das effektivste Mittel ist, die Beschleunigung der Pandemie aufzuhalten. Ziel ist, Zeit zu gewinnen, um weiterführende Maßnahmen (bis hin zu einer künftigen Impfung) zu ergreifen. Die Kontaktvermeidung kann allerdings nur durch Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf umgesetzt werden. Das geschah dann auch, in Deutschland ab Anfang März. Mit gravierenden ökonomischen Folgen: <a href="https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/coronavirus-bundesregierung-hilfen-1.4854452">Unterschiedliche Prognosen</a> für die Bundesrepublik gehen mittlerweile von einem Wirtschaftseinbruch zwischen drei und 20 Prozent und von einer Steigerung des Staatsdefizits von mindestens 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Der Internationale Währungsfonds (IMF) geht <a href="https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/weltwirtschaftskrise-iwf-rechnet-wegen-corona-pandemie-mit-schwerster-krise-seit-der-grossen-depression-a-7ef62a83-683f-4bbe-b529-7b10a3e0c844">mittlerweile</a> von der schwersten Weltwirtschaftskrise seit 1929 aus. Es ist offensichtlich, dass sich Kapitalist*innen und ihre Staaten um ein solches Szenario drückten.</p><p>Gleichzeitig: In einem 17-seitigen, geleakten „<a href="https://www.abgeordnetenwatch.de/blog/informationsfreiheit/das-interne-strategiepapier-des-innenministeriums-zur-corona-pandemie">Expert*innen-</a>Papier“ des Bundesinnenministeriums wird ein Szenario entworfen, in dem eine unkontrollierte Explosion der Pandemie bis zu zwei Millionen Tote und einen Zustand der „<a href="https://taz.de/Strategiepapier-des-Innenministeriums/!5675014/">Anarchie</a>“ hervorbringen könne. Das liegt selbstverständlich auch nicht im Sinne kapitalistischer Akkumulation, noch der dominanten politischen und wirtschaftlichen Machtakteur*innen im Staatsapparat. Ähnliche machttaktische Überlegungen dürften die wohl großmäuligsten und wirkmächtigsten „Corona-Truther“ des Planeten, die rechten Präsidenten Donald Trump (USA), Jair Bolsonaro (Brasilien) und Boris Johnson (Großbritannien), dazu gebracht haben, von der Strategie der „<a href="https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/covid-19-herdenimmunitaet-coronavirus-1.4852026">Herdenimmunität</a>“ abzuweichen. Diese Strategie ist ein grob fahrlässiges Szenario, in dem unabschätzbar viele Tote und Geschädigte in Kauf genommen würden. Aber nur wenige Wochen nach dem Eingeständnis ihrer Notwendigkeit pochen in Europa, wie auch in den USA, unterschiedliche Teile der (neoliberalen) Bourgeoisie nervös darauf, die Maßnahmen endlich zu beenden.</p><h2><b>Erst die Ware, dann das Menschenleben</b></h2><p>Im Ringen um das Zurückfahren der Maßnahmen wird klassischerweise auf die Folgen für „die Wirtschaft“ verwiesen. Der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick (Republikaner) war nur der konsequenteste unter diesen <a href="https://www.stern.de/politik/ausland/vize-gouverneur-von-texas--senioren-wuerden-fuer-die-wirtschaft-ihr-leben-riskieren-9195702.html">Stimmen</a>, als er US-amerikanische Senior*innen in einem Interview aufforderte, für ihre Enkel (beziehungsweise „die Wirtschaft“) zu sterben. Wissenschaftler*innen rechnen schon methodisch penibel genau <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/04/06/lives-or-livelihoods/">aus</a>, wann es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt, ein Leben zu retten. In Deutschland sind es <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134907.linke-debatte-corona-krise-nicht-den-kompass-verlieren.html">neoliberale Kräfte</a>, allen voran die FDP unter ihrem zuletzt krisengebeutelten Bundesvorsitzenden Christian Lindner, die nun politische Morgenluft wittern. Die FDP fordert, der Warenverkehr dürfe nicht zu Lasten gesundheitspolitischer Maßnahmen behindert werden. Praktisch heißt das: Die Produktion und die Wertschöpfung muss unter allen Umständen aufrecht erhalten werden. Profit vor dem Menschenleben der lohnabhängigen Klassen.</p><p>Dass jedoch Warenverkehr nicht ohne jene ausgebeuteten Klassen, die die Werte erst schaffen, funktioniert, leuchtet den Neoliberalen ein. Dies ist vor allem in der Agrarindustrie zu spüren. Die Beschränkung des Personenverkehrs auf europäischer Ebene trifft beispielsweise die Landwirtschaft schwer – und dort vor allem die niedrigentlohnten Saisonarbeiter*innen, von denen ein Großteil Frauen* sind. Für sie gibt es keine Rettungspakete. Nun werden Ausnahmen für bulgarische und rumänische Arbeiter*innen geschaffen: Sie sollen die auf den Feldern der Republik zur Arbeit gehen können, um den heiligen Spargel „zu retten“. Die eilig herbeigerufenen Arbeiter*innen, die auch <a href="https://revoltmag.org/articles/jeglicher-reformismus-ist-zum-scheitern-verurteilt/">in Spanien</a> und Italien häufig illegalisiert und ohne jeglichen arbeitsrechtlichen Mindestschutz arbeiten, stellen in der europäischen Landwirtschaft als billige und meist entrechtete Arbeitskräfte das Rückgrat der hiesigen Lebensmittelversorgung dar. Eine Zuspitzung wurde mit dem <a href="https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/erntehelfer-deutschland-coronavirus-landwirtschaft-julia-kloeckner-arbeitslose-gefluechtete">Aufruf</a> der Landwirtschaftsministerin zur Arbeit von in Deutschland befindlichen Geflüchteten und Erwerbslosen in der Ernte ins Spiel gebracht. Die Spirale der sowieso schon prekären Saisonarbeiten dreht sich weiter nach unten: noch billiger, noch entrechteter, noch schneller verfügbar.</p><p>In allen kapitalistischen Staaten, insbesondere aber in jenen des Westens, können wir gerade sehen, wie die Regierungen angesichts der Corona-Krise je nach Risikoeinschätzung und -wagnis versuchen, sich irgendwo zwischen kurzfristigen und mittel- bis langfristigen Interessen der kapitalistischen Akkumulation zu positionieren. Dabei wird im Vorgehen auf den durchschnittlich minimalsten Schaden kalkuliert. Staaten, die sich im Hinblick auf mögliche Folgeschäden für ihre jeweiligen kapitalistischen Wirtschaften nicht zu viel leisten können oder wollen, tun hingegen dezidiert wenig. Im Westen wäre das Paradebeispiel hierfür im vergangenen Monat Schweden. Aber auch erzautoritäre und protofaschistische Regime können sich Autoritarismus und Faschisierung nicht einfach nur um der eigenen Machtgeilheit willen leisten, wie uns manche populäre kritische Theorien zum „Ausnahmezustand“ glauben lassen wollen. Die Türkei hat bis zu diesem Wochenende und seiner erratischen 48-Stunden-Verordnung von wenigen Ausnahmen abgesehen keinen Ausnahmezustand verhängt. <a href="https://yetkinreport.com/2020/03/24/korona-kriz-hakkinda-soylenmeyenler-bilmediklerimiz/">Es heißt</a>, Erdoğan höchstpersönlich sei dagegen gewesen – trotz Drängen des Gesundheitsministers und des Wissenschaftsrates. Und das nicht ohne Grund: Die kapitalistische Wirtschaft in der Türkei würde sonst vermutlich recht schnell kollabieren.</p><h2><b>Zwischen autoritärer Verschärfung und neoliberaler Restauration</b></h2><p>Während sich die unterschiedlichen Machtblöcke also gemäß ihrer kapitalistischen Logiken positionieren und handeln, hinken wir als Linke wieder einmal hinterher. Es sind Krisenzeiten, in denen die größten Chance bestehen, Hegemonien zu brechen und neue zu schaffen – oder eben auch alte zu restaurieren. Vor unserer aller Augen manifestieren sich gerade zwei der letztgenannten Tendenzen: nämlich die der autoritären Verschärfung und die der neoliberalen Restauration, also Konsolidierung der neoliberalen Ordnung.</p><p>Nach anfänglichem Zögern konnte sich die deutsche Bundesregierung dazu durchringen, umfassendere Maßnahmen, wie zum Beispiel die Schließung des Großteils der Geschäfte und Kontaktverbote zu verabschieden. Es wurden aber auch <a href="https://www.handelsblatt.com/dpa/gesundheit-regierung-erwartet-2-15-millionen-kurzarbeiter/25663134.html">Maßnahmen</a> <a href="https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/coronavirus-staatshilfe-fuer-hartz-iv-privatschuldner-soloselbstaendige-a-37e8f2ce-3f88-4702-b08a-f711c4fc2395">sozialer Art</a> getroffen, von denen es unter streng neoliberaler Ägide seit Jahrzehnten hieß, sie seien aus ökonomischer Erwägung heraus nicht machbar: So gibt es derzeit ein vergleichsweise repressionsfreies und quantitativ stark erweitertes ALG-Regime der Arbeitsagenturen und Jobcenter, das Kurzarbeitergeld wird vergleichsweise komplikationslos gezahlt, an mehrere Millionen Selbständige und Freiberufler*innen werden Hilfsgelder zur Überbrückung herausgegeben, hohe Summen in die Krankenhäuser und den Ausbau von Intensivreserven gesteckt und es findet sogar eine beschränkte <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/in-der-krise-die-weichen-stellen-die-corona-pandemie-und-die-perspektiven-der-transformation/">Produktionskonversion</a> statt: Der Fahrzeughersteller <a href="https://app.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/coronakrise-volkswagen-bereitet-teileproduktion-fuer-medizingeraete-vor/25666274.html">VW</a> produziert Schutzmasken-Teile, der Jägermeister-Konzern Alkohol für Desinfektionsmittel.</p><p>Klar: Die weitaus größten Summen der im Maximalfall <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/30/a-war-economy/">fast</a> 30 Prozent des BIP ausmachenden Gelder und Kreditgarantien gehen indes an die großen Unternehmen, die ganz ohne Schamesröte weiterhin Milliarden an Dividenden an irgendwelche Kouponschneider <a href="https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/bmw-haelt-an-ausschuettung-fest-dividende-trotz-staatshilfe-autokonzerne-stehen-in-der-kritik/25720114.html">auszahlen</a>. Die verabschiedeten Sozialpakete betreffen eine Minderheit der Werktätigen. Und nicht zuletzt ist auch die de facto Ausgangssperre nur für diejenigen, die eine gute Unterkunft und einigermaßen finanzielle und soziale Stabilität besitzen, eine „Geduldssache“. Alle derzeit getätigten Notmaßnahmen und alles Gelaber von „Solidarität“ seitens der Politik ist Augenwischerei angesichts des neoliberalen, profitorientierten Umbaus des Gesundheitssystems der letzten Jahrzehnte. Dennoch: Das Bedienen von Kapitalinteressen einerseits und das gleichzeitige – wenn auch vorläufige, beschränkte und viel zu rudimentäre – Abfedern sozialer Deklassierung andererseits zeigt, dass sich die Bundesregierung in ihrer Rolle als „ideellem Gesamtkapitalisten“ derzeit aktiv bemüht, den Spagat zwischen Gesundheits- und Sozialpolitik einerseits sowie Kapitalinteressen andererseits zu meistern.</p><p>Die Interpretation von Ereignissen wird aber hauptsächlich von denen bestimmt, die heute handeln und in ihren Handlungen so viele Interessen und Bedürfnisse wie eben möglich in ein politisches Regime zu integrieren vermögen. Das nennt sich politische Hegemonie. In Deutschland setzt gerade ein neoliberales Regime der Pandemiebekämpfung sachdienliche Maßnahmen und Vorgehensweisen um, gekoppelt mit einem sozialen Anstrich.<i> Zugleich</i> aber sind die Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht nicht konsequent genug: Eigentlich hätte die gesamte nicht-lebensnotwendige Produktion heruntergefahren werden müsen für einige Wochen. Aber das wäre dann wiederum zu sehr in die Profite der Unternehmen hineingefahren. Die pro-kapitalistische Schlagseite des zaghaften Vorgehens und auch der verabschiedeten Krisenpakete ist eindeutig. Und auch die ordnungstreue, immer mehr polizeistaatliche Schlagseite der politischen Praxis tritt immer mehr ans Tageslicht.</p><h2><b>Die zwei Gesichter des Regierungshandelns</b></h2><p>Die beiden Elemente – Schutz kapitalistischer Profite mit autoritären Maßnahmen und semi-vernünftige Pandemiebekämpfung mit sozialem Anstrich – lassen sich zwar in der Analyse voneinander separieren, sie treten in der Praxis aber geeint auf. Diese Elemente werde zudem von ihren Akteur*innen diskursiv als notwendig miteinander verknüpft dargestellt. Das kann vor allem deshalb überzeugen, weil es die Bundesregierung ist, die tatsächlich<i> handelt</i>, und ihr Maßnahmenbündel eben auch viele „vernünftige“ Elemente enthält.</p><p>Die <a href="https://www.sueddeutsche.de/panorama/coronavirus-news-deutschland-1.4828033">Zustimmungswerte</a> zu den Maßnahmen der Bundesregierung sprechen eine klare Sprache. Das Vorgehen der Bundesregierung ist somit auch ein Versuch, eine veritable Restauration des zumindest in der Bevölkerung eigentlich diskreditierten Neoliberalismus einzuleiten. Wenn das weiter so unwidersprochen durchexerziert werden kann, wird sich eines Tages nach dem Ende der Krise ein Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hinstellen und sagen können: „Seht ihr, dafür haben wir den Arbeitsmarkt dereguliert und die staatlichen Sozialausgaben zurückgefahren, damit wir eine schwarze Null haben für Krisenzeiten. Deshalb machen wir das jetzt gleich wieder!“ Das wird genau dann fatal, wenn es um die sich schon in voller Eskalation befindende Weltwirtschaftskrise geht.</p><p>Verständlich, aber politisch fatal ist indes, sich als Linke derzeit einzig oder hauptsächlich auf eine Kritik der polizeistaatlichen und sonstigen willkürlichen Extreme der Krisenbewältigung zu fokussieren. Es ist glasklar: Alles, was an dieser Sicherheitsordnung und ihrer Polizei schon immer Scheiße war, hat sich derzeit unter dem Ausbau ihrer Befugnisse und des Kontrollauftrags nur noch verschärft. People of Color und Schwarze Menschen werden noch öfter in rassistischen Polizeikontrollen drangsaliert; Obdachlose noch schlechter behandelt und gegängelt; demonstrieren und streiken darf man derzeit ohnehin nicht, ohne mit Strafanzeige oder Polizeigewalt rechnen zu müssen. Was in dieser Hinsicht gerade unter dem Deckmantel „vernünftiger Maßnahmen“ passiert, wird potentiell einer autoritären Hegemonie den Boden bereiten, sollte die derzeitige neoliberale Krisenbewältigungsstrategie an die Wand fahren. Zu diesem Szenario könnte es etwa dann kommen, wenn die Wirtschaft und/oder die Europäische Union (EU) kollabieren und/oder die Zahl der Toten und Beschädigten drastisch in die Höhe schießt. Wo sich hier dann keine stark artikulierende und organisierende Linke als Alternative präsentiert, droht der protofaschistische Takeover. Das <a href="https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/ungarn-orban-ermaechtigungs-gesetz-100.html">Beispiel Ungarn</a> zeigt uns, wohin das führen kann: In eine neoliberale de facto Diktatur mit weitgehenden staatlich-repressiven Maßnahmen. Es braucht aber nicht gleich ein deutscher Orban kommen: Die derzeitige Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und ihrer Willkür können einfach nicht mehr „zurückgedreht“ werden. Auch das ist schon schlimm genug.</p><p>Dennoch: Alle Kritik an und Opposition zur Verschärfung des Autoritarismus, zu polizeistaatlichen Maßnahmen und zu Einschränkungen von Grundrechten werden ineffektiv bleiben, wenn sie nicht mit einer mindestens ebenso effektiven Pandemiebekämpfungsstrategie wie der derzeitigen verknüpft werden. Theoretisch wie praktisch. Allerdings muss diese dann eine klare Perspektive links der Bundesregierung eröffnen, und damit den Kapitalismus neoliberaler Prägung als zentralen Katalysator der Krise ins Visier nehmen. Unserer Meinung nach besteht unsere Aufgabe derzeit darin, genau für eine solche Perspektive zu streiten. Notwendigerweise schließt dies mit ein, diese Perspektive und daraus resultierende Maßnahmen <i>jetzt</i>, und wenn nicht anders möglich, ganz kleinteilig umzusetzen. Hierzu gibt es in vielen linken Strukturen schon gute Ansätze, die wir im <i>re:volt magazine</i> in den kommenden Wochen näher beleuchten wollen. Wer nur darüber diskutiert, wie wir mit der Situation <i>nach</i> der Corona-Krise umgehen sollten, oder wie wir die dann eventuell einsetzende Wirtschaftskrise von links auffangen, der sorgt dafür, dass wir nach der Corona-Krise gerade nicht mehr, sondern weniger Handlungsmacht besitzen. Denn nur <i>inmitten</i> der Bewältigung der Corona-Krise wird entschieden werden, wessen Interessen und welche Hegemonie sich für die Nach-Corona-Zeit durchsetzen.</p><h2><b>Linke Perspektiven erstreiten</b></h2><p>Wenn es eine gute Sache an dieser Krise gibt, dann die, dass sie nicht nur aufzeigt, wie der Kapitalismus zur Entstehung gesundheitlicher Krisen <a href="https://monthlyreview.org/2020/04/01/covid-19-and-circuits-of-capital/">wesentlich beiträgt</a>. Sie zeigt auch, in aller Deutlichkeit, dass das neoliberale Mantra der Profitmaximierung und des „Marktes“ im Angesicht von Pandemien nicht funktioniert. Die ganzen staatlichen Programme – inklusive die über Nacht unter <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1134571.corona-lasst-die-beschaeftigten-ran.html">staatliche Leitung</a> gefallenen privaten Krankenhäuser in Spanien und die Diskussion ähnlicher Maßnahmen in anderen Ländern – zeigen uns (da aus gänzlich anderen Motiven umgesetzt) im Negativbild auf, dass linke Vorstellungen einer nicht-kapitalistischen, bedürfnisorientierten Umorientierung <a href="https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wer-braucht-schon-autos">durchaus machbar sind</a>. Aber nur, wenn diese eben auch durch eine Linke in der Krise selbst thematisiert, organisiert und erkämpft werden. Die Streiks der Arbeiter*innen in Italien und den USA zeigen, dass ein teilweiser Lockdown der nicht-lebensnotwendigen Produktion durchaus auch schon heute erstritten werden kann, ohne zu Lasten der Arbeiter*innen zu gehen.</p><p>In Sinne einer linken, demokratischen Perspektive müssen wir natürlich auch die polizeistaatlichen Maßnahmen kritisieren und im Einzelfall genau überprüfen, was der Pandemiebekämpfung dient, und was nur dem Ausbau des repressiven Staatsapparats. Reservist*innen der Bundeswehr, die zivile Aufgaben übernehmen und helfen, könnten unter Umständen vernünftig sein; bewaffnete Soldat*innen, die polizeiliche Funktionen übernehmen, <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/375819.bundeswehr-im-innern-an-der-grenze-des-grundgesetzes.html">ganz klar</a> nicht. Keine Großveranstaltungen unter beengten Verhältnissen mehr abzuhalten ist vernünftig, jeden Protest und jede politische Ansammlung, die sie sich an gesundheitliche Auflagen hält, zu verbieten oder seitens der Gewerkschaften gleich proaktiv absagen, ist zu kritisieren und unter heutigen Umständen abzulehnen.</p><p>Weitere Anknüpfungspunkte für eine linke Offensive können Forderungen sein, die schon in größeren Teilen der Bevölkerung Anklang gefunden haben: Wir müssen jetzt dafür streiten, dass die sozialen Maßnahmen (Lohnfortzahlungen, Hilfsleistung für prekäre Selbständige, Arbeitslosenhilfen und so weiter) für den Großteil der Werktätigen verstärkt werden. Eine zentrale Stellung in unseren Forderungen sollten die Schutzmaßnahmen für die weiterarbeitenden Lohnabhängigen in Verkauf, Gesundheit, Erziehung, Reinigung und sonstigen Sektoren einnehmen. Eine schrittweise Reduzierung und Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen hat sich am Gemeinwohl zu orientieren, nicht nach den Profitinteressen der Kapitalist*innen. Die Abkehr vom neoliberalen Paradigma gilt es auch in Debatten und Diskussionen zu forcieren und auf Vergesellschaftungen und Rekommunalisierungen zu drängen. Die Finanzierungsfrage der Maßnahmen beantworten wir mit der Forderung von Vermögensabgaben für die Reichsten.</p><p>Auch die Rolle der (Basis-)Gewerkschaften wird wichtiger werden. Linke Positionen müssen sich deutlich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeitenden stellen – noch bevor die Rezession nach unten weitergereicht wird. Die soziale Frage muss besetzt werden, bevor rechte Kräfte die entstehenden sozialen Widersprüche weiter für sich nutzen.</p><p>Nicht zuletzt müssen wir die Bedeutung der Care-Arbeit ins Spiel bringen: Jeden Abend um 21:00 Uhr wird zwar kräftig für die Arbeitenden im Gesundheitssektor applaudiert, geschwiegen wird dabei allerdings über Lohnerhöhungen, bessere Arbeitsbedingungen und gemeinwohl- statt profitorientierte Gesundheitssysteme. Still ist es auch darüber, dass ein Großteil der mies bezahlten Care-Arbeiten von Frauen* gemacht werden – von der unbezahlten Care-Arbeit und Erziehungsarbeit mal abgesehen, die jetzt auch wieder ganz individuell zu lösen ist. Der gesamte Bereich der Erziehung, Pflege, Familienarbeit und weitere, die unser aller Wohlergehen betreffen, ist in unserer Gesellschaft das Rückgrat, ohne das kaum etwas anderes möglich wäre. Systemrelevant ist also vielleicht sogar noch nicht treffend genug – und eine angemessene Honorierung dieser Berufs- und Arbeitsfelder <a href="https://www.n-tv.de/ratgeber/So-viel-gibt-s-in-systemrelevanten-Berufen-article21657469.html">längst überfällig</a>.</p><p>Die Linke muss unter den verschärften politischen wie gesellschaftlichen Bedingungen ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangen. Aktuell sehen sich viele Strukturen aufgrund der ordungspolitischen und gesundheitlichen Beschränkungen einer Vereinzelung ihrer Mitglieder und absurderweise einer politischen Perspektivlosigkeit ausgesetzt. Dabei ist genau jetzt der Zeitpunkt, linke Gegenmodelle zum herrschenden aufzuzeigen und dafür zu streiten. Also packen wir es an!</p><p></p><hr/><h2><b>Anmerkungen</b></h2><p><b>[1]</b> Das kapitalistische System ist auf die Maximierung des Profits ausgelegt, der durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft erwirtschaftet wird, und somit auf die Maximierung von Reichtum in Form von Kapital bei Strafe des Untergangs, wofern nicht akkumuliert wird. Das ist mit kapitalistischer Akkumulation gemeint. Alles, was dem Prozess entgegenläuft, diesen Profit zu vergrößern, wird vom Kapital bekämpft. Marx hat die zwiespältigen Eigenschaften des Kapitals sehr gut beschrieben: „Kapital […] flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ (MEW, Bd. 23, S. 788)</p></div>
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Die Pandemie und das Märchen der Eigenverantwortung2020-03-29T11:28:59.922709+00:002020-03-29T12:45:54.831720+00:00Jonas Frickredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/die-pandemie-und-das-m%C3%A4rchen-der-eigenverantwortung/
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<div class="rich-text"><p>Zwischen der COVID-19-Pandemie und vergangenen Grippewellen besteht nicht nur ein Unterschied in der Gefährlichkeit, sondern auch in der individuellen Wahrnehmung über die Verbreitung: Nie zuvor haben sich diese Menge an Menschen bei viralen Erkrankungen derart gefragt, wer einen bald anstecken könnte – oder bereits angesteckt hat. Wie ein Buschfeuer verbreitet sich die Information, wer den neuen Virus schon hat und welche Orte man meiden sollte. Freilich handelt es sich dabei in der Regel um aufgeregten Smalltalk in Zeiten, in denen andere Gesprächsthemen in den Hintergrund rücken. Man würde es auch niemandem ernsthaft übelnehmen, wenn er oder sie tatsächlich Teil der Übertragungskette war. Dass man sich ständig mit den Virus-Übertragenden beschäftigt, hat dennoch einen Grund. Der mediale wie auch staatliche Diskurs in der Eindämmung der Pandemie zielt auf das Individuum und dessen „Eigenverantwortung“. Und dies, so die folgende These, ist gefährlich, weil es einen falschen Fokus legt, der uns in dieser Krise – die nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine wirtschaftliche und politische ist – noch nachhaltig beschäftigen wird.</p><h2><b>Gegen die Individualisierung des Virus</b></h2><p>Was für andere Pandemien wie der Influenza-Grippe fataler Trugschluss oder schlicht nicht haltbar wäre, scheint bezüglich COVID-19 plötzlich selbstverständlich: Wer jetzt nicht sofort zuhause bleibt, ist für die Übertragung verantwortlich oder riskiere das Leben seiner Mitmenschen, lautet sinngemäß die weit verbreitete Botschaft. Diejenigen, die diese Botschaft verkünden, sind nicht selten dieselben, die sich zugleich lächerlich über jene machen, die die Vorschrift dann allzu ernst nehmen und sich wie Prepper mit Einkäufen eindecken. Es sei betont, dass man sich solidarisch verhalten sollte – doch ich bin nicht Hauptverantwortlicher für die Viren, die ich in mir trage, und schon gar nicht für die Sterberate, mit der der Virus um sich schlägt!</p><p>Entgegen vieler Behauptungen trifft der Virus nämlich nicht alle gleich. Neben der Art des Virus ist auch der Zugang zum Gesundheitswesen entscheidend, wie viele Menschen letztendlich in Folge des Virus sterben. Und dieser Zugang ist in einer Klassengesellschaft ungleich verteilt – direkt, weil nicht jede/r gleichermaßen versichert ist, indirekt, weil einige ihren Jobs leichter fernbleiben können als andere. Diese Ungleichheit gilt auch für jene, die man umgangssprachlich „RisikopatientInnen“ nennt. Vorerkrankungen sind immer auch abhängig vom sozio-ökonomischen Status einer Person. Freilich können sowohl KapitalistInnen als auch ArbeiterInnen beispielsweise an Diabetes erkranken, allerdings <a href="https://www.diabetesde.org/system/files/documents/fileadmin/users/Patientenseite/PDFs_und_TEXTE/Stellungnahmen_Positionspapiere/2015/Positionspapier_diabetesDE_Soziale_Ungleichheiten_und_Diabetes_Typ_2_2.06.2015.pdf">korreliert das Risiko</a> an Diabetes Typ 2 zu erkranken mit den ökonomischen und sozialen Umständen. So ist es auch mit Corona. Wie wichtig dabei der Klassenunterschied ist, zeigt sich anhand der historischen Pandemien. Die Spanische Grippe zum Beispiel wütete dort <a href="https://www.wildcat-www.de/aktuell/a112_socialcontagion.html?fbclid=IwAR1kob0kMC2mwtVeyYqFIdgS-RJZw5fONNgRVPgIjYHZ9HkZmNz6Kb2Babs#fn3">ungleich mehr</a>, wo sie auf katastrophale Lebensbedingungen und entsprechend auf eine Vielzahl an Vorerkrankungen traf, insbesondere im kolonialisierten und von Hungersnöten betroffenen Indien. Die linke Diskussion auf Solidarität mit den Mitmenschen und der entsprechenden Anpassung des individuellen Verhaltens zu reduzieren, ist deshalb aus meiner Sicht gefährlich. Natürlich muss man sich als Individuum den neuen Verhältnissen anpassen. Das individuelle Verhalten kann aber nicht allein verantwortlich gemacht werden für die Lösung der Krise – exakt so, wie es die Linke in Umweltfragen die letzten Jahre noch und nöcher bezüglich des bewussten individuellen Konsums predigte. Kurzum: Man mag das Verhalten des Skifahrers, der einen Tag länger auf der Piste war und der Partygängerin, die auch am Samstag noch eine Hausparty schmiss, angesichts der gegenwärtigen Lage zu Recht kritisieren – gerade auch weil der Kapitalismus uns jahrzehntelang egoistisches und konsumorientiertes Verhalten anerzogen hat – , doch weder er noch sie trägt eine reale Mitschuld an den Todeszahlen. Entscheidend für Leben und Tod ist der Zugang zum Gesundheitswesen und die Verfügbarkeit von Geräten und medizinischem Personal, nicht das individuelle Handeln.</p><p>Die Gefahr dieser falschen Fokussierung zeigt ein Blick auf verschiedene von linken Kräften und Personen geteilten Kampagnen in den sozialen Medien. Dazu vorweg: Natürlich ist Twitter und Facebook nicht mit der Realität zu verwechseln. Gleichzeitig sind Meldungen darauf immer auch symptomatisch für bestimmte Tendenzen, die linke Diskurse in den kommenden Monaten prägen können. Unter dem Hashtag #staythefuckhome rufen beispielsweise auch einige meiner FreundInnen dazu auf, zuhause zu bleiben, um dadurch „Leben zu retten“. Dass sich derart viele Menschen solidarisch um ihre Mitmenschen sorgen und Teil einer Eindämmungsstrategie sein wollen, ist gut. Allerdings fürchte ich, dass dadurch simples individuelles Handeln zu einem politischen Akt erkoren wird – was es nicht ist. Es ist sicherlich klug, angesichts der aktuellen Situation gewissen Maßnahmen Folge zu leisten. Fokussiert man jedoch auf die Handlung des/r Einzelnen, läuft man Gefahr, die gegenwärtige Krise in ihrem politischen Charakter zu verkennen. Anders gesagt: Man übergibt dem Individuum die Verantwortung, der sich der Kapitalismus verweigert.</p><p>Dies mag angesichts der solidarischen Intentionen harsch klingen. Tatsächlich ist es wichtig, all die schönen Momente beziehungsweise Chancen zu betonen, die jeder Krise ebenso inhärent sind wie ihre Tragödien. In der Corona-Krise sind es die verschiedenen Formen der Selbstorganisierung und Nachbarschaftshilfen, wo Menschen solidarisch mit bedrohlichen Situationen umgehen. Wenn wir es nicht nur schaffen, dass diese positiven Momente in Erinnerung bleiben, sondern die Krise auch dazu nutzen, uns besser zu organisieren, dann werden am Horizont auch Alternativen einer anders strukturierten Gesellschaft sichtbar. Allerdings muss man sich keine Illusionen machen: Der Kampf um die Deutungshoheit ist schon längst entbrannt und die Herrschenden werden sich nicht davor scheuen, diesen Kampf ebenfalls mit allen Mitteln zu führen.</p><h2><b>Die nationalistischen Reaktionen auf den Feind</b></h2><p>Viren haben die Eigenart, dass sie als eine Art Fremdkörper wahrgenommen werden (im Körper sind sie es schlichtweg meistens auch). In dieser Rhetorik ist es kein Wunder, dass die politische Rechte gerade jetzt ihr liebstes „Allheil-Mittel“ fordert: Grenzschließungen und stärkere Kontrolle, ganz so, als könnte man den Virus ähnlich wie Migrationsbewegungen repressiv an der Grenze stoppen. Als Fremdkörper tauchen Viren allerdings auch in der allgemeinen Mobilmachung auf, die dann plötzlich auch von anderen Kräften mitgetragen wird. Gemeinsam, überparteilich, alle zusammen sollen wir gegen den Virus zusammenstehen, ganz so als sei die gegenwärtige Pandemie etwas, das uns alle gleichermaßen – als Menschen – trifft. Freilich ist es dem Virus egal, ob er auf KapitalistInnen, Kleinbürger oder ProletarierInnen trifft, doch treffen die ökonomischen Konsequenzen der durch den Virus gestoppten Wirtschaft die unteren Klassen ungemein mehr als die obere.</p><p>Das Gemeinwohl des Staates ist im Kapitalismus das Wohl des Kapitals, und dies zeigt sich nicht nur in den Maßnahmen, die zuerst die individuelle Freiheit in den Blick nimmt, bevor die Produktion gestoppt wird. Es zeigt sich auch in den kommenden Abwälzungen der Krise. Schon heute steigt der <a href="https://revoltmag.org/articles/die-corona-krise-als-care-krise/">Druck auf die Betreuung</a>, sei es in der bezahlten oder unbezahlten Variante, oder auf <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">alle prekär Angestellten</a>. Dieser Druck wird sich in den kommenden Monaten intensivieren – und er wird ungleich verteilt und legitimiert werden. Und auch hier werden Unternehmen, PolitikerInnen und staatliche Institutionen früher oder später mit dem Argument auftauchen, dass es doch uns alle betrifft und wir nun zusammenhalten müssen. Man wird den Arbeitenden, uns, die Ferien streichen wollen und uns auffordern, freiwillig auf unsere Löhne zu verzichten. Wieder wird es um das Gemeinwohl gehen, nur dass es dann endgültig nicht mehr um das Virus, sondern um die Wirtschaft geht. Ich hoffe, dass wir dann kollektiv fähig sein werden, die unterschiedlichen Varianten eines Gemeinwohls sichtbar zu machen und gegen falsche Versprechen zu kämpfen.</p><h2><b>Die Corona-Krise ist auch eine Umwelt-Krise</b></h2><p>In den ersten drei Monaten des neuen Jahrzehnts waren wir mit zwei einschneidenden Ereignissen konfrontiert. In Australien brannten gigantische Waldflächen, was eine Klimakatastrophe darstellt, und gegenwärtig erleben wir eine globale Pandemie, deren Ausmaß sich nicht abschätzen lässt. Dahinter steckt sowohl ein Zufall, als auch eine Symptomatik. Kapitalistische Widersprüche verschärfen sich, auch was die Umweltkatastrophen und die biologischen Nebenwirkungen zunehmender Landnahme und intensivierter Nahrungsmittelindustrie – insbesondere die Massentierhaltung und Wildtiermärkte – betrifft. Das zeigt sich vor allem in der Klimaerwärmung und der durch sie ausgelösten oder verstärkten Naturkatastrophen, aber auch in zunehmenden Pandemien, die wie die Vogel- oder Schweinegrippe meist (noch) auf das Tierreich beschränkt bleibt.</p><p>Die beiden linken Historiker beziehungsweise Biologen Mike Davis und Rob Wallace haben dazu in den letzten Jahrzehnten ausreichend Forschung betrieben. <b>[1]</b> Sie haben zwar verschiedene Schwerpunkte, folgen aber denselben drei Thesen: Erstens beschleunigt sich die globale Verbreitung von Viren durch Prozesse der kapitalistischen Globalisierungs- und Landnahme. Dadurch intensiviert der Kapitalismus die Gefahr von viralen Epidemien. Dies ist wichtig zu betonen, weil es dem verbreiteten Glauben widerspricht, dass wir jetzt ein wenig Verzicht üben müssen, um das Übel ein für alle Mal zu beseitigen. Virale Epidemien werden uns jedoch in Zukunft mehr denn je begleiten. Zweitens trägt die kapitalistische Landwirtschaft, insbesondere nach ihrer neoliberalen Reorganisierung, zur tödlichen Virenproduktion bei. Die Schweine- und Geflügelindustrie bilden einen idealen Nährboden für künftige Epidemien. Hier treffen Viren auf geschwächte Wirte und werden aufgrund der gesteigerten Umlaufszeit, in der sie neue Tiere befallen müssen, evolutionär angeregt, sich rascher zu verbreiten. Drittens hat die Klassengesellschaft Auswirkungen auf den Umgang und die Folgen von Pandemien.</p><h2><b>Die Austerität als Nährboden der Gefahr</b></h2><p>Als „Katastrophenkapitalismus“ <a href="https://www.heise.de/tp/features/Katastrophenkapitalismus-4563390.html?seite=all">kritisiert</a> Tomasz Konicz, wie unvorbereitet die Staaten auf Naturkatastrophen reagieren. Katastrophen treffen auf einen kaputtgesparten oder privatisierten Sozial- und Gesundheitsbereich. 2018 brannten beispielsweise die Wälder in Griechenland. Aufgrund der Austerität fehlte es an allen Ecken an Personal, insbesondere bei der Feuerwehr. Natürlich hatten die Brände auch ohne Austerität nicht einfach gestoppt hätten werden können. Doch durch die Sparmaßnahmen verstärkte sich die Katastrophe, indem sowohl präventive Schutzmaßnahmen als auch Personal in der Feuerbekämpfung fehlten.</p><p>Vergleichbares zeigt sich in der aktuellen COVID-19-Pandemie. Je schlechter das Gesundheitssystem eines Landes funktioniert, desto katastrophaler wird der Virus wüten – zumindest für jene, die es sich nicht leisten können. Auch hier ist es nicht so, dass ein optimales System – oder gar eine andere Gesellschaftsform – eine virale Pandemie einfach stoppen könnte. Doch je nach Ausgangslage sinkt oder steigt die Sterblichkeitsrate immens. Und nicht nur diese. Auch die Folgekosten sind abhängig von der Verfügbarkeit und Organisation des Gesundheitswesens. Gerade hier sieht es weltweit nach Jahren der Sparmaßnahmen und Privatisierungen katastrophal aus. In den USA fehlen zahlreiche Betten, und Menschen mussten erst politischen Druck ausüben, damit sie führ ihre COVID-19-Tests nicht selbst bezahlen müssen. Ähnlich verheerend sieht es in England aus, wo der Staat für immens viel Geld Betten von privaten Spitälern mieten muss. Zudem leidet das Gesundheitswesen weltweit unter dem Problem, dass dank der postfordistischen Just-in-Time-Bestellungen wenig Vorräte an Versorgungs- und Schutzmitteln vorhanden sind. Weitere Beispiele für das Versagen des Kapitalismus werden sich in den kommenden Monaten zu Genüge finden lassen.</p><h2><b>Der Klassencharakter der staatlichen Eingriffe</b></h2><p>Der gegenwärtige Ausnahmezustand ist wie jede Krise im Kapitalismus zeitgleich eine Rationalisierungsmaschinerie und ein Testfeld für staatliche Interventionen. Das bedeutet nicht, dass der Staat und das Kapital diese Krise heraufbeschworen oder gar selbst aktiviert haben, wie gewisse Verschwörungstheorien behaupten. Aber man muss nicht so tun, als wäre diese Krise eine ganz andere als bisherige, als stünden uns nicht wie immer Schockstrategien bevor, die Menschen entlang von Klassengegensätzen ungleich treffen werden. Wenn man die gegenwärtige Krise auch in ihrem allgemeinen und nicht nur in ihrem speziellen Charakter betrachtet, dann zeigen sich zwei Dinge.</p><p>Erstens werden sich bestehende Widersprüche verstärken, beispielsweise die imperialistischen Spannungen oder die neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse und Ungleichheiten. Das wiederum verstärkt andere Übel der Gesellschaft wie Rassismus (siehe beispielsweise den Alltagsrassismus oder den gegenwärtigen Umgang mit Migrationsbewegungen) oder Geschlechterungleichheiten (siehe beispielsweise die erwartete <a href="https://wien.orf.at/stories/3039318/">Zunahme</a> „häuslicher“, sprich patriarchaler Gewalt während des Lockdown).</p><p>Zweitens wird die Krise für die betroffenen Menschen irreversible Schäden hervorrufen. Für den abstrakten Standpunkt des Kapitals allerdings gibt es diese Irreversibilität nicht. Der wertkritisch inspirierte Politikwissenschaftler William Sewell hat dies einst mit einem einfachen Beispiel erläutert: „Jeder Verlust ist gleichzeitig ein Gewinn: Der Konkurs einer Firma ist eine Chance für ihren Rivalen; der Misserfolg einer Investition ist ein Zeichen für das Kapital, sich anderswo zu investieren, wo die Erfolgschancen höher sind.“ <b>[2]</b> So zeichnet sich bereits heute ab, dass die gegenwärtige Krise eine neue Welle der Digitalisierung und Rationalisierung auslösen wird. Während sich viele Unternehmen vor den Umbrüchen fürchten, hat Amazon bereits angekündigt bis zu 100‘000 neue Stellen in seinen Verteilzentren schaffen zu wollen, weil Menschen noch mehr dazu übergehen, ihre Einkäufe online zu tätigen. <b>[3]</b> Und der Staat wird keine Sekunde zögern, diese Maßnahmen zu fördern. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Staat sich nicht um den Ausgleich bemüht und sich nur für die Wirtschaft interessiert. Denn gerade das ist unter anderem sein Wesen: die Bereitstellung einer funktionierenden Wirtschaft in einer antagonistisch verfassten Gesellschaft. Ebenso wenig ist der Staat in Zeiten der Epidemie aber in eine dem Kapital gegenüber neutralen Position übergegangen.</p><h2><b>Solidarität und das Aufkommen von neuen Kämpfen</b></h2><p>Es gehört zu den beliebten linken Floskeln der letzten Jahre, dass man mit Widersprüchen umgehen muss. In diesem Falle hat sie etwas Wahres und es läge wohl darin: dass Menschen solidarisch sind, diese Solidarität aber auch das Potenzial hat, sich in ihr Gegenteil zu verkehren.</p><p>Wie gut wir damit tatsächlich umgehen können, wird sich zeigen. Eine erste Hürde hierzu wird sich offenbaren, sobald es darum geht, die staatlichen Maßnahmen nicht mehr einfach hinzunehmen. Zu Recht bewunderte man in den letzten Wochen die Aufstände in den italienischen Knästen und Produktionsstätten. Es ist zu hoffen, dass wenn im deutschsprachigen Raum vergleichbares geschieht, nicht plötzlich linken Stimmen den moralischen Zeigefinger erheben werden, der den Widerstand zum jetzigen Zeitpunkt als falsch oder gar gesundheitsgefährdend brandmarkt. Früher oder später wird es zum Moment kommen, in dem wir Druck aufbauen und eine militante Position entwickeln müssen, die sich nicht um staatliche Verbote kümmert. Gerade wenn es um den Umgang mit den durch die Krise verschärften Widersprüche geht, wird es verantwortungsbewusste, aber doch kollektive Aktionen und Druck von unten brauchen, der kollektiv passieren muss und nicht von zuhause aus oder nur digital laufen kann. Wir dürfen andere prekäre Notlagen wie zum Beispiel in den Lagern in Griechenland nicht vergessen. Und in den kommenden Monaten werden uns neue, durch die kommende Krise angereicherte lokale wie globale Protestwellen erwarten. Wir können sicher sein, dass der Staat und die Massenmedien in solchen Fällen sofort zur nationalen Einheit aufrufen und vermeintlichen GegnerInnen gesundheitsgefährdendes Verhalten unterstellen werden. Inwiefern eine linke Bewegung dann fähig sein wird, sich diesem zersetzenden und spaltendem Druck entgegenzusetzen, wird sich zeigen und wesentlich von ihrer Organisierung abhängen. Wir tun allerdings gut daran, bereits jetzt unsere eigenen Positionen zur Krise zu entwickeln und nicht dem staatlichen Krisen- und Pandemie-Diskurs zu verfallen.</p><h2><b>Anmerkungen</b></h2><p><b>[1]</b> Davis, Mike: Vogelgrippe: Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien, Berlin 2005. // Wallace, Rob: Big Farms Make Big Flu, New York 2016.</p><p><b>[2]</b> Sewell, William H.: The temporalities of capitalism, in: Socio-Economic Review 6 (3), 01.07.2008, S. 517–537</p><p><b>[3]</b> Bei Amazons Ankündigungen handelt es sich auch um einen PR-Maßnahme: Wer in der gegenwärtigen Krise Jobs generiert, verschafft sich damit eine große Portion politischen Goodwill. Darum sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen. In der Tendenz zeigen sie allerdings durchaus, wer aktuell von der Krise profitiert.</p></div>
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<p>Gesundheit statt Profite - das darf durchaus auch mal etwas prominenter platziert werden.</p>
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Ein Brief aus Italien2020-03-17T17:07:26.354357+00:002020-03-17T17:12:55.117304+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-brief-aus-italien/
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<div class="rich-text"><p>Die Verbreitung des Coronavirus konfrontiert uns mit einem bisher noch nie dagewesenen Szenario. Obwohl einige Regierungen, insbesondere die USA, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung immer noch unterschätzen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Covid-19 vor einigen Tagen offiziell zur Pandemie erklärt; immer mehr Regierungen beginnen, das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen.</p><p>Italien ist, was Ansteckung und Tote angeht, das am zweitschlimmsten betroffene Land nach China, mit knapp 27.980 bestätigten Fällen und über 2.158 Todesfällen (Stand 17.3.2020) – Tendenz steigend. Italien kann somit als Testfall dafür angesehen werden, wie das Virus andere Länder im Norden der Welt treffen könnte. Die Situation entwickelt sich sehr schnell und sorgt für viel Verwirrung. Wir denken deshalb, es macht Sinn, ein paar kurze Überlegungen zu einigen Aspekten dieser Krise zu teilen: die staatliche Antwort auf die Verbreitung des Virus; die Maßnahmen der Regierung; die sich daraus ergebenden sozialen Kämpfe; unsere Organisierung unter den sich veränderten und stets verändernden Umständen.</p><p>Covid-19 ist ein neuer Virus – die Expert*innen haben sich daher Zeit genommen, über die Art und Weise zu entscheiden, an ihn heranzutreten. Die dadurch verursachte Verwirrung, gepaart mit der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der ungeprüfte Informationen in der heutigen Welt verbreitet werden, führt dazu, dass eine Fülle unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Ratschläge und Analysen angeboten werden. Bis vor einer Woche definierten einige prominente Persönlichkeiten, darunter auch Politiker*innen, die Erkrankung schlicht als eine schwere Grippe, die nur alte Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten betrifft. Inzwischen ist jedoch die Ernsthaftigkeit von Covid-19 für jede*n in Italien klar geworden. Covid-19 hat das italienische Gesundheitssystem in die Knie gezwungen.</p><p>Dafür gibt es drei Hauptgründe: Erstens, das Virus breitet sich tatsächlich effektiv und schnell aus; Zweitens, wenn Menschen ernsthaft erkranken, müssen sie wochenlang in Intensivstationen gepflegt werden; Drittens, die Kürzungen und Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte haben die Kapazität des öffentlichen Gesundheitssystems ausgehöhlt, das sonst weitaus besser hätte auf die Krise antworten können. Obwohl das Gesundheitssystem in einigen Regionen des Nordens in vielerlei Hinsicht für europäische Verhältnisse gut ist, hat die Tatsache, dass das System auf regionaler Ebene verwaltet wird, große landesinterne Unterschiede produziert. Bisher wurde erkannt, dass das einzige wirksame Mittel zur Eindämmung der Ansteckung darin besteht, den Kontakt zwischen den Menschen zu begrenzen. Aus diesem Grund haben die betroffenen Länder beschlossen, bestimmte Gebiete oder, im Falle Italiens, das ganze Land vorübergehend zur Sperrzone zu deklarieren.</p><p>Die unterschiedlichen Reaktionen der Regierungen auf das Virus spiegeln das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der jeweiligen Länder wider. Im Falle Italiens hat die Regierung einige drastische Maßnahmen ergriffen; obwohl schon früher viel mehr hätte getan werden können und sollen. Insbesondere hat die italienische Regierung versucht, eine Balance zu finden zwischen der wachsenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit auf der einen Seite und den Interessen des Kapitals auf der anderen Seite. Dies hat allzu oft zu Regierungsentscheidungen geführt, die zweiterem Vorrang einräumen und somit Menschen in Gefahr bringen.</p><h2><b>Italiens Umgang mit der Krise</b></h2><p>Am 4. März erklärte Italien die Schließung der am stärksten betroffenen Gebiete im Norden und verbot unnötige Reisen. Die Einzelheiten der Verordnung wurden den Medien zugespielt, bevor die Regierung die Möglichkeit hatte, sie offizielle anzukündigen. Die führte dazu, dass Hunderte von Menschen in die Bahnhöfe der Städte des Nordens strömten, in der Hoffnung, einen Zug zu erwischen, der sie aus den roten Zonen brachte. Viele Menschen reisten in dieser Nacht durch das Land und schmälerten somit die Wirkung der Sicherheitsmaßnahmen, da das Virus dadurch möglicherweise in neue Regionen gebracht wurde.</p><p>Am 9. März wurde die Verordnung dann auf das ganze Land ausgedehnt. Alle öffentlichen Versammlungen und unnötige Reisen sind verboten, Bars müssen um 18 Uhr schließen und jede*r, die*der sein Haus verlässt, musste ein Formular mit detaillierten Angaben über Wohnort, Arbeitsort und weiteren Erklärungen mit sich tragen. Die Schließung von Schulen und Universitäten wurde bis zum 3. April verlängert.</p><p>In der Nacht vom 11. März kündigte die Regierung die Schließung aller nicht wesentlichen Geschäfte an. Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Postämter, Zeitungshändler*innen und Tankstellen bleiben jedoch offen. Auf Druck der Confindustria, dem italienischen Unternehmensverband, wurden zudem viele produktive Tätigkeiten nicht in diese neue Verordnung integriert. Das bedeutet, dass Arbeiter*innen der Industrie, von Call Center, Logistikarbeiter*innen und viele Arbeiter*innen weiterer Sektoren weiterhin täglich zur Arbeit fahren müssen.</p><p>Diese letzte Verordnung hat zu einer Situation geführt, in der es den Menschen verboten ist, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und auf den Straßen zu spazieren (außer in Notfällen). Die Menschen werden gezwungen, zu Hause zu bleiben – gleichzeitig ist aber weiterhin ein beträchtlicher Teil der Arbeiter*innen noch in Fabriken zusammengepfercht; Menschen, die keine lebensnotwendigen Güter herstellen oder keine lebensnotwendigen Dienstleistungen anbieten.</p><p>Seit der Einführung dieser Verordnung gab es in vielen Lagerhäusern und Fabriken zahlreiche Meldungen von Verstößen gegen den gesundheitlichen Schutz der Arbeiter*innen. Am 9. März traten die Beschäftigten der FIAT-Fabrik im süditalienischen Pomigliano d'Arco bei Neapel in einen wilden Streik, um gegen die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen zu protestieren. Die Logistikarbeiter*innen eines Lagers des Unternehmens Bartolini in Caorso bei Piacenza im Norden und diejenigen eines TNT-Lagerhaus in Caserta (Süden) taten dasselbe. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes gehen stündlich Berichte über Streiks ein, die große Produktionsstätten im ganzen Land betreffen (weitere Einzelheiten sind <a href="https://poterealpopolo.org/coronavirus-sciopero-ovunque/">hier</a> auf italienisch und <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">hier</a> auf deutsch zu finden). Die größte Basisgewerkschaft USB hat zu einem 32-stündigen Streik in allen nicht wesentlichen Sektoren aufgerufen, die großen Gewerkschaftsbünde hingegen haben mit der Regierung und der Vertreter*innen der Unternehmen ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, welches jedoch in keiner Weise den Forderungen nach gesundheitlichem und sozialem Schutz der kämpfenden Belegschaften entspricht.</p><p>In diesen letzten Wochen wurden auch die italienischen Gefängnisse zum Brennpunkt sozialer Proteste. Das italienische Gefängnissystem befindet sich seit langem in eine Krise: Veraltete Einrichtungen und eine massive Überbelegung bedeuten, dass Italiens Gefängnisse ständig gegen die geltenden Gesetze, Vorschriften und oft auch fundamentalen Menschenrechten verstoßen. Unter diesen Bedingungen lösten die staatlichen Restriktionen (unter anderem Besuchsverbot, Begrenzung der Anrufe an Familien und der Arbeitserlaubnis bis zum 31. Mai) landesweit Aufstände in den Gefängnissen aus. Vierzehn Menschen sind während dieser Revolten unter noch unklaren Umständen gestorben. Es wurde berichtet, dass ein Wärter in Vicenza positiv auf Covid-19 getestet wurde, und Familien berichteten von der Angst der Häftlinge, die nur begrenzten Zugang zu Informationen und Beratung haben. Wenn „der Grad der Zivilisation in einer Gesellschaft durch das Betreten ihrer Gefängnisse beurteilt werden kann“ (Dostojewski), dann geht es Italien nicht gut.</p><p>Die Regierung hat nun ein weiteres Paket von wirtschaftlichen Maßnahmen ankündigt. Es heißt, dies sieht die Unterbrechung der Zahlung von Hypotheken und die Ausweitung der Zahlung von Erwerbslosengelder vor. Es bleibt aber noch unklar, ob Maßnahmen für Selbständige, Arbeiter*innen mit Null-Stunden-Verträgen oder für diejenigen im informellen Sektor darin Platz finden. Die Regierung hat als Reaktion auf das Covid-19 25 Milliarden Euro für außerordentliche ökonomische Maßnahmen gesprochen, doch angesichts der Tatsache, dass Italiens Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist es schwer vorstellbar, dass eine solche Summe eine signifikante Wirkung zeigen wird. Die EU hatte in ihrem Vorgehen Flexibilität gezeigt, doch schon am 12. März zog sich die Europäische Zentralbank von einer weiteren Unterstützung zurück und ließ die italienischen Anleiherenditen in die Höhe schnellen. Die Weltwirtschaft steuert auf eine schwere Rezession zu, Italien wird es wohl stärker als die meisten anderen Länder treffen.</p><h2><b>Coronavirus und Mutualismus: Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?</b></h2><p>Wenn eine Krise eine von Ungleichheit geprägten Gesellschaft trifft, sind es immer die Schwachen, die am meisten darunter leiden: ältere Menschen, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Frauen, Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten. Als <i>Potere al Popolo</i> versuchen wir, die Isolation jeder und jedes einzelnen zu durchbrechen und Beziehungen der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zwischen den Menschen und <i>Communities</i> aufzubauen. In vielen Städten haben wir ein System gegenseitiger Hilfe für Menschen eingerichtet, die Unterstützung bei der täglichen Arbeit benötigen, etwa beim Einkaufen von Produkten des täglichen Bedarfs (unter sicheren Bedingungen).</p><p>Wir haben auch ein <i>rotes Telefon</i> eingerichtet, eine nationale Hotline also, um den von der Krise betroffenen Arbeiter*innen Beratungen unterschiedlichster Art zu bieten. Das rote Telefon wurde vor einigen Tagen aufgeschaltet, aber bereits am ersten Tag haben wir rund 70 Anrufe von Arbeiter*innen erhalten; von Arbeiter*innen, die gezwungen sind, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, entlassen wurden oder im informellen Sektor arbeiten und daher riskieren, von den angekündigten Krisenmaßnahmen der Regierung ausgeschlossen zu werden. Mit den aus diesen Anrufen gesammelten Informationen können wir planen, welche Maßnahmen wir als Organisation ergreifen müssen und Forderungen an die Unternehmen und die Regierung formulieren. Alle Anrufe an das rote Telefon werden zunächst von einer kleinen Gruppe aktivistischer Jurist*innen entgegengenommen; anschließend werden die Arbeiter*innen mit den Aktivist*innen vor Ort zur weiteren Unterstützung in Kontakt gesetzt.</p><p>Bislang haben wir drei Schlüsselbereiche für die Intervention der gegenseitigen Hilfe identifiziert. Der erste Bereich ist der Logistiksektor: Wir sind mit Lagerarbeiter*innen von Amazon in Kontakt gekommen, die uns erklärt haben, dass sie aufgrund der gestiegenen Nachfrage mehr (dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben) und unter Bedingungen arbeiten müssen, die nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen entsprechen. Der zweite Bereich sind die Call Center: diese Unternehmen haben sich geweigert, den Arbeiter*innen Heimarbeit zu gestatten, da die Kosten für die Anschaffung der notwendigen Technologie zu hoch seien; und so bleiben die Arbeiter*innen weiterhin in engen Büros zusammengepfercht. In beiden Fällen haben Anwält*innen eine formelle Meldung an die betreffenden Unternehmen geschickt und gefordert, dass die Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt werden und alle Arbeiter*innen vom Zwang zu Überstunden befreit werden.</p><p>Der dritte Bereich betrifft die Saisonarbeiter*innen. In Italien gibt es eine große Zahl von Saisonarbeiter*innen, insbesondere in der Landwirtschaft und im Tourismus, aber auch in den Fabriken. Saisonarbeit ist eine Form der unsicheren und prekären Arbeit, weil die Unternehmen nicht verpflichtet sind, am Ende einer Saison und bei Vertragsende wieder die gleichen Arbeiter*innen anzustellen. Ihnen ist jedoch der Zugang zu Arbeitslosengeld garantiert (nicht alle Arbeiter*innen haben das Recht auf Arbeitslosengeld in Italien). Wir haben die Regierung und das Ministerium für soziale Sicherheit mit der Forderung angeschrieben, dass Saisonarbeiter*innen, die aufgrund der Krise in diesem Jahr nicht wieder eingestellt werden, für die gesamte Dauer dieser verlängerten Arbeitslosigkeit Leistungen gewährt werden.</p><p>Abgesehen von diesen drei konkreten Fällen, die Beispiele für die mögliche Umsetzung unmittelbarer Maßnahmen sind, fordern wir die Regierung auf, die Gehälter aller betroffenen Arbeiter*innen zu garantieren, einschließlich der selbständig Arbeitenden, derjenigen, die ohne gültigen Vertrag arbeiten und Arbeiter*innen der Gig-Economy. Wir fordern, dass jede*r, die*der seine Arbeit verloren hat, Arbeitslosenunterstützung erhält und dass jede*r, die*der nicht in der Lage ist, die Miete, die Hypothek oder Rechnungen zu bezahlen, ein Zahlungserlass gewährt wird.</p><p>Wir fordern zudem, dass die Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern eingestellt werden und den Arbeiter*innen die Lohnfortzahlung garantiert wird.</p><p>Schließlich fordern wir, dass der Staat massiv in das Gesundheitssystem investiert, mehr Gesundheitsarbeiter*innen mit unbefristeten Verträgen einstellt und die Produktion von Medikamenten und Gesundheitsgeräten unter öffentliche Kontrolle bringt. Wir fordern, dass die Regierung den Sparkurs umkehrt und den Europäischen Fiskalpakt aufhebt. Italien steht nun vor einer schweren Wirtschaftskrise; nur ein vollständiger Paradigmenwechsel mit enormen staatlichen Investitionen in die Wirtschaft und in öffentliche Dienste und die Schaffung von Arbeitsplätzen wird uns vor den schlimmsten Konsequenzen dieser Katastrophe bewahren.</p><hr/><p><i>Der Brief der Genoss*innen erschien zuerst auf der</i> <a href="https://poterealpopolo.org/brief-aus-italien-in-zeiten-des-coronavirus/"><i>Webseite</i></a><i> von von Potere Al Popolo. Er wurde auch in weitere Sprachen übersetzt. Wir haben den Text endredaktionell bearbeitet und aktualisiert.</i></p><p>Übersetzung: Mauricio Coppola und Evrim Muştu.</p></div>
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<h1>Die „Corona-Krise“ als Care-Krise</h1>
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<span class="content-copyright">M. Spiske</span>
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<div class="rich-text"><p>Lange hat man von der ehemaligen revolt-Redakteurin Anja Klein nichts mehr gehört. Das hat einen nachvollziehbaren und nervigen Grund: Vor knapp zwei Jahren ist Anja Mama geworden – und scheitert seitdem, ebenso wie Millionen weitere Mütter in Deutschland, an der strukturellen Unvereinbarkeit von Familie und Beruf (oder in ihrem Fall: dem Studium und politischer Arbeit). Nun steht sie seit dieser Woche, ebenso wie alle anderen (berufstätigen) Erziehungsberechtigten in diesem Land vor einem massiven Problem. Denn: Die Kindertageseinrichtungen und Schulen sind geschlossen – und das für mindestens fünf Wochen!</p><p>Alles fällt aus: Das Kinderturnen, die Musikschule und der Besuch bei Oma und Opa am besten auch. Millionen von Kindern müssen ab spätestens Mitte der Woche privat betreut werden – Ausnahmen gibt es nur für Angehörige bestimmter „systemrelevanter“ Berufsgruppen. Diese Maßnahme sollen die Ansteckungsketten verzögern und die Wirtschaft möglichst wenig kosten. Das bedeutet für den absoluten Großteil der Mütter (Mütter, auch berufstätige, verbringen <a href="https://service.destatis.de/DE/FrauenMaennerEuropa/DE_DE_womenmen_core/bloc-3d.html?lang=de">statistisch</a> gesehen mehr Zeit mit Kindererziehung und werden gerade jetzt mehr damit verbringen), einen Arsch voll Arbeit damit zu haben, einen komplexen Not-Betreuungsmix zu organisieren – ohne Hilfe älterer Familienmitglieder, auf die sonst oft zurückgegriffen werden kann. Die Alternativen: nervtötende, anstrengende und unproduktive Tage im Home-Office (schon mal versucht, mit Kleinkind auf dem Schoß zu arbeiten?) oder eben unbezahlter Zwangs-Urlaub und existenzielle Nöte. Im allerbesten Fall findet sich eine halbwegs egalitäre Lösung innerhalb der Partnerschaft. Letzteres bleibt wohl Ausnahmefall. Aus feministischer Perspektive lässt sich sagen: Wir steuern einmal mehr auf eine Care-Krise zu. Und die Frauen* und Mütter werden am meisten darunter leiden. Aber es kann ihnen zumindest ansatzweise solidarisch geholfen werden.</p><h2><b>All we care about</b></h2><p>Zuerst ein bisschen Theorie dazu. Vor einigen Jahren hat vor allem die linke Bewegung hierzulande mehr oder weniger flächendeckend das Thema Care-Arbeit für sich entdeckt. Spätestens die Frauen*Streiks zum 8. März im vergangenen Jahr zeigten dann, dass Care-Arbeit auch im breiteren linken und öffentlichen Diskurs als Thema angekommen ist. Mit Care-Arbeit sind alle Arbeiten gemeint, die Hausarbeit, Betreuung, Pflege und Erziehung von Menschen (eben Fürsorge) umfassen. Care-Arbeit findet bezahlt statt (in den Dienstleistungsberufen, zum Beispiel als Erzieher*innen, Pflegekräfte) und unbezahlt (zu Hause oder ehrenamtlich). Care-Arbeit ist „weiblich“. Der absolute Großteil der im Care-Bereich Beschäftigten sind Frauen*. Diese Berufe sind schlechter bezahlt und abgesichert. Sie erfahren gesellschaftlich deutlich weniger Wertschätzung als Arbeiten, die mehrheitlich von Männern ausgeübt werden. Die Geschlechterforschung spricht hier auch von einer <a href="https://books.google.de/books?id=OaLODwAAQBAJ&pg=PA147&lpg=PA147&dq=%E2%80%9Evergeschlechtlichten+Segregation+des+Arbeitsmarktes%22&source=bl&ots=iVnkQWr7_o&sig=ACfU3U2jiOgiZYTGEGxzjl21EydArN8XuQ&hl=en&sa=X&ved=2ahUKEwjwrM_zxqHoAhVHLewKHX9qCcEQ6AEwAHoECAMQAQ#v=onepage&q=%E2%80%9Evergeschlechtlichten%20Segregation%20des%20Arbeitsmarktes%22&f=false">vergeschlechtlichten</a> Segregation des Arbeitsmarktes. Der absolute Großteil der unbezahlt geleisteten und unsichtbar gemachten Care-Arbeit wird von Frauen* erbracht. Spätestens nach der Geburt des ersten Kindes tritt selbst in vorher mehr oder weniger egalitär geführten Partnerschaften das Phänomen der „<a href="https://www.deutschlandfunk.de/geschlechtergleichheit-moderne-familien-nur-im-kopf.1148.de.html?dram:article_id=386482">Retraditionalisierung</a>“ auf. Mit anderen Worten: Zugunsten des männlichen Familienernährers und seiner Karriere (und damit auch einer stabilen Familienfinanzierung) bezieht Mama Elterngeld. Sie bleibt zu Hause, wischt Baby-Popos sauber, kocht Brei und Papas Abendessen, putzt Klos und manchmal auch die Fenster. Alternativ lassen besserverdienende Frauen* diese Arbeiten von prekär beschäftigten Frauen* aus dem globalen Süden erledigen. Trotz dieser schon beträchtlichen Arbeitsbelastung lassen es sich immer weniger Frauen* nehmen, auch sehr früh nach der Geburt wieder in den Beruf einzusteigen. In Deutschland ist das Teilzeit-Modell nach kurzer Erwerbsunterbrechung das im Moment gängigste, um eine individuelle „Lösung“ für die Vereinbarkeit zu finden. Denn auch Teilzeitarbeit und Erwerbsunterbrechung <a href="https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf">sind „weiblich“</a> und gehen einher mit Nachteilen auf dem neoliberalen Arbeitsmarkt, ökonomischer und sozialer Abhängigkeit von dem Partner oder dem Jobcenter, der Rolle einer Zuverdienerin und Altersarmut.</p><p>Obgleich diese sozialen und ökonomischen Auswirkungen gerade sehr zugespitzt beobachtbar sind und diskutiert werden, sind sie im Grunde nichts wirklich Neues. Vorangestellt werden muss, dass sich die Situation von Frauen* und Müttern insgesamt durch Neoliberalismus und „aktivierenden Sozialstaat“ in den vergangenen Jahren massiv verschärft hat. Spätestens seit den 1980er Jahren untersucht die Frauen- beziehungsweise Geschlechterforschung die Phänomene des sozialen Wandels der Frauen* durch die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre sowie den Einbezug in den Arbeitsmarkt bei gleichzeitiger Beibehaltung der traditionellen geschlechtlichen innerfamiliären Arbeitsteilung. <a href="https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/soz_eth/Geschlecht_als_Kategorie/Die_doppelte_Vergesellschaftung_von_Frauen/becker_schmidt_ohne.pdf">Regina Becker-Schmidt</a> und andere sprechen deshalb – angelehnt an marxistische Gesellschaftsanalysen – von der „doppelten Vergesellschaftung der Frau“. Im Fokus steht dabei der Einbezug der Frauen* in Familie und Beruf gleichzeitig. Die Frauenforschung stellt einen grundlegenden Wandel der subjektiven Haltung der Ehefrauen und Mütter zugunsten einer durchgängigen biografischen „Doppelorientierung“ auf Beruf und Familie fest. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Arbeitskraft von Frauen* wird im Kapitalismus doppelt ausgebeutet. Das kapitalistische System beruht darauf, dass die Frauen* den absoluten Großteil der gesamten Reproduktionsarbeit unterbezahlt oder gleich unbezahlt übernehmen. Männer mit Familie oder Freundin profitieren also auch strukturell davon, dass ihnen diese Arbeit abgenommen wird. Das kapitalistische Wirtschaftssystem braucht die weibliche Arbeitskraft als Fachkraft und für unbezahlte Care-Arbeit. Und der Staat beruht darauf, dass Familien unbezahlt Kinder produzieren, die dann später die Rente sichern. Das bürgerliche Ideal einer glücklichen, heilen Familie aus männlichem Familienernährer, fürsorgender Hausfrau und zwei wohlerzogenen Kindern ist nicht real und war es für einen großen Teil der Bevölkerung auch eigentlich nie. Und trotzdem lebt dieses Bild in der Vorstellung vieler Menschen, die damit einhergehende Ungleichstellung der Geschlechter wird – auch von einigen <a href="https://revoltmag.org/articles/zerschlagt-das-patriarchat/">Frauen* selbst</a> – als Normalität wahrgenommen.</p><h2><b>Back to Corona-Business</b></h2><p>Und was hat das jetzt mit Corona zu tun? Die <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">aktuelle Krise</a> wird zu einem großen Teil davon gekennzeichnet sein, dass weibliche Arbeitskraft – insbesondere in Form von Care-Arbeit – noch heftiger als zuvor ausgebeutet wird. Pflegekräfte litten schon vor Corona unter massiver Dauer-Überlastung, hervorgerufen durch das Kaputtsparen des Gesundheits- und Pflegesystems. Jetzt kann die Situation komplett eskalieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Arbeits- und Tarifrechte von Pflegekräften in Deutschland im aktuellen Ausnahmezustand „zurechtgestutzt“ werden. Sie sind jetzt schon, mit einigen anderen „systemrelevanten“ Berufsgruppen, die Einzigen mit einem Recht (beziehungsweise einer Pflicht) auf Notkinderbetreuung. Viele pädagogische Fachkräfte sind auch in ihrem normalen Arbeitsalltag ständig umgeben von „Virenschleudern“ (zumeist Kindern) und haben dadurch generell hohe gesundheitliche Belastungen durch ihre Arbeit. Jetzt durften sie sich zunächst einige Wochen lang ohne Risikozuschlag dem Risiko einer unbemerkten Ansteckung ausliefern, nur um jetzt plötzlich vor vollendeten Tatsachen und Unsicherheiten zu stehen. Infizierte Kinder zeigen häufig wenig bis gar keine Symptome und sind dennoch hochansteckend. Unklar ist zum Beispiel aktuell noch vielen Erzieher*innen, ob sie früher oder später unbezahlten Urlaub nehmen müssen.</p><p>Kommen wir schlussendlich zu den vielen Millionen Kindern, die nun zu Hause betreut werden müssen; oder den Kranken und unter Quarantäne gesetzten, die zur „üblichen“ Tätigkeit pflegender Angehöriger dazu kommen. Wer wird das wohl alles leisten, und dafür die beruflichen Nachteile oder nächtliches Home-Office in Kauf nehmen? Ja, genau, Menschen wie Anja Klein werden das zum Beispiel tun. Die Mütter, die sie heute (zum letzten Mal) in der Kinderturn-Gruppe getroffen hat, werden es größtenteils tun. Und die Mütter aus den Krabbelgruppen-/Kita-/Grundschulklassen-/Spielplatz-Whatsapp-und-Facebook-Gruppen. Dort wird sich bereits informell über mögliche gegenseitige Betreuungshilfe ausgetauscht – aber auch diese werden nur sehr eingeschränkt möglich sein, zumal es kaum Freizeit- und Bewegungsmöglichkeiten gibt und die Wohnungen als Spielplätze nur bedingt herhalten. Und die alleinerziehende Mama wird es sowieso tun müssen. Die kommenden fünf Wochen werden zeigen, wie belastbar dieses Care-System noch ist. Eine Vermutung: Es wird kollabieren, an irgendeiner Stelle. Darauf müssen wir vorbereitet sein.</p><h2><b>Feministische Nachbarschaftshilfe</b></h2><p>Zum Schluss: Was könnte „man“ jetzt tun? Über linke Perspektiven insgesamt müssen wir uns dringend unterhalten, und unseren <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">künftigen Kampf um eine andere Gesellschaft</a> so gut wie möglich vorbereiten. Das wird in den nächsten Monaten sehr entscheidend sein. Aber auch da benötigt es alle Kräfte – eben auch diejenigen, die <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">besonders von der Corona-Krise</a> betroffen sind. Daher meine ich hiermit das Konkrete, Alltägliche: Zuerst einmal solche Initiativen verbreiten, die Risikogruppen oder „Unter-Quarantäne-Sitzenden“ Hilfe anbieten, wie es zwischenzeitlich schon sehr umfangreich passiert. Die kursierenden, <a href="https://www.unverwertbar.org/aktuell/2020/4434/">selbstorganisierten Angebote</a> nehmen derzeit meistens die Form von alltäglicher Hilfestellung an (zum Beispiel Einkäufe erledigen, Post einwerfen und so weiter). Aber es bleibt doch eine Lücke: Es wäre wünschenswert, wenn sich mehr politisch Aktive und Interessierte – abseits der sowieso schon am Limit laufenden Mütter mit ihren privaten Netzwerken – für Care-Arbeit interessieren würden, auch wenn der Frauen*Streik zum 8. März vorbei ist. Sich also für die Lage dieser Millionen Menschen, die in Deutschland mit Kindern oder Pflegebedürftigen leben, mal unabhängig vom politischen Kalender zu interessieren und konkrete Hilfe anzubieten. Was sich Anja Klein konkret wünschen würde? Dass wenigstens ein einziger (!) politisch linker Mensch (besser noch: ein männlicher linker Mensch) ihr wenigstens in dieser Situation einmal anbieten würde, die Kinderbetreuung zu übernehmen und sei es nur für einen Nachmittag oder eine Stunde. Das würde ihr ermöglichen, auch in solchen Krisenzeiten etwas Luft für politisches Engagement zu haben, statt wie zum Beispiel zum Verfassen dieses Texts, nachts am Computer sitzen zu müssen, zwischen „Kind ins Bett bringen“, „Abendessen!“, „Schnell noch Wäsche aufhängen“ und „Oh, Kind weint schon wieder“. Oder ihrer Arbeit, oder ihrem Studium, oder oder oder. Es wird den Müttern in eurer Umgebung vermutlich ziemlich schlecht gehen in den kommenden Wochen. Und zwar nicht, weil sie ihre Kinder nicht lieben und gerne mit ihnen Zeit verbringen. Sondern, weil sie viel zu wenige Rahmenbedingungen und strukturelle Sicherheiten an die Hand kriegen, um diese Krise zu lösen. Sie müssen die sich täglich zuspitzende Situation, soweit ist der Stand seitens der staatlichen Agenda, komplett alleine meistern. Und das wird gehörig schiefgehen. Es hilft also nichts, wir müssen uns auch auf uns selbst besinnen: Schaut euch um und werdet aktiv. Bietet einer Mutter in eurer Nachbarschaft Hilfe an <b>[1].</b> Nutzt eure Kinderbetreuungs- oder Pflegeskills oder baut sie aus. Macht fantastische Online-Angebote für Kinder und Jugendliche. Integriert auch feministische Solidarität in euren Alltag!</p><h2>Anmerkung:</h2><p><b>[1]</b> Um Infektionsketten zu verringern, solltet auch ihr mit möglichst wenig verschiedenen Kindern und Familien Kontakt haben. Es wird empfohlen, lieber regelmäßig der gleichen Familie in der Nachbarschaft Hilfe bei der Kinderbetreuung anzubieten, als öfters wechselnden.</p></div>
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Infektion der Ökonomie2020-03-13T12:20:50.618324+00:002020-06-18T17:09:49.809180+00:00Jens Benickeredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/infektion-der-%C3%B6konomie/
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<div class="rich-text"><p>Wie hängen Kapitalismus, Krise und Krieg zusammen? Als im Jahr 2008 die globale Krise ihren Höhepunkt erlebte, war selbst dem bürgerlichen Feuilleton die bange Frage zu entnehmen, ob sich denn die Weltwirtschaftskrise, wie Anno 1929, zu einem neuen Weltkrieg entwickeln könne – ein Szenario, das von Linken und Aktivist*innen der Friedensbewegung schon viele Jahre <a href="https://www.rosalux.de/publikation/id/897/kapitalismus-krise-und-krieg/">diskutiert</a> wurde. Doch die ökonomische Struktur des globalisierten Kapitalismus und das abgestimmte Handeln des politischen Personals schienen diesen Befürchtungen zu widersprechen. Mehrere G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer bekräftigten die internationale Zusammenarbeit und erteilten dem Protektionismus eine Absage. Konzertierte Aktionen der wichtigsten Zentralbanken, die die Märkte mit billigem Geld zu beruhigen suchten und gewaltige Konjukturprogramme konnten eine „Kernschmelze des Finanzsystems“, wie sie nicht nur der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück befürchtete, gerade noch einmal verhindern.</p><h2><b>Austeritätsprogramme aus der Schäubleschmiede</b></h2><p>Doch die proklamierte Einigkeit der doch eigentlich konkurrierenden Nationalökonomien hielt nicht lange vor. Selbst innerhalb der Staatenbünde kam es zu handfesten Differenzen. So kam es innerhalb der Europäischen Union, während der Phase der Krise, die als „Eurokrise“ bekannt wurde, zum Streit darüber, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommen könne. Während vor allem Deutschland auf einem harten Sparkurs und Austeritätsprogrammen gegenüber den, vor allem südeuropäischen, Krisenstaaten beharrte, forderten andere einen Schuldenschnitt und eine nachfrageorientierte Politik, um die Konjunktur wieder anzuheizen. Das deutsche Erfolgsmodell, das auf einer exportorientierten Wirtschaft mit niedrigen Löhnen basiert, konnte dies natürlich nicht zulassen. Und so setzte der als rigoroser Sparkommissar auftretende Nachfolger Steinbrücks, Wolfgang Schäuble, gemeinsam mit der so genannten Troika äußerst schmerzhafte Austeritätsmaßnahmen in den von der Krise besonders betroffenen Staaten durch.</p><p>Der Widerstand gegen eine „deutsche EU der Austerität“ und die schier endlose Krise, die sich mit den neoliberalen Rezepten ganz offensichtlich nicht überwinden ließ, brachten nicht nur linke Parteien, wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien an die Macht, sondern stärkten auch populistische und autoritäre Parteien und Bewegungen. Diese beklagten vor allem die Eingriffe in die nationale Souveränität und den Einfluss supranationaler Organisationen. Auch weltweit bekamen souveränistische und protektionistische Strömungen immer mehr Zulauf. Statt gemeinsam den globalen Kapitalismus retten zu wollen, besannen sich die Staatenlenker zunehmend auf ihr nationales Interesse. So propagierte Donald Trump die Parole „America first“ und kündigte Freihandelsabkommen auf, mit dem erklärten Ziel Industriearbeitsplätze in die USA zurückzuholen und die bedrohte Führungsrolle der Vereinigten Staaten zu verteidigen. Und in Großbritannien trat sogar, wider aller ökonomischen Vernunft aus der EU aus, um in Zukunft ihre wirtschaftlichen Interessen nur noch nationalstaatlich vertreten zu können und keine Rücksicht mehr auf die anderen Mitgliedsstaaten nehmen zu müssen. Die ökonomische Krise führte auf dem politischen Parkett also zu einem verstärkten Rückzug auf vermeintlich eigene Interessen und zu einer schärferen Abgrenzung gegen die Konkurrenz.</p><h2><b>Eine neue Krise bahnt sich an…</b></h2><p>Und jetzt auch noch Corona! Der Ausbruch der Corona-Epidemie Ende vergangenen Jahres in China und dessen schnelle Verbreitung über die ganze Welt, zeigt die <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">Verwundbarkeit des globalisierten Kapitalismus</a>. Wenn Städte abgeriegelt und Fabriken geschlossen werden, trifft dies – neben allen Auswirkungen auf die Menschen, die Lohnabhängigen und so weiter – eng getaktete Lieferketten. Dies kann dann dazu führen, dass am anderen Ende der Welt Produktionsanlagen stillstehen, wenn Teile nicht angeliefert werden. Der Ausbruch der Epidemie in China trifft die Weltwirtschaft besonders hart. Zum einen ist China inzwischen die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und die aufsteigende Kraft im Weltsystem und zum anderen immer noch die „Werkbank der Welt“. Hier werden viele der Produkte hergestellt, die dann in den Vereinigten Staaten oder in Europa verkauft werden. Beispielhaft dafür steht der US-Elektronikkonzern Apple, der wie kaum ein anderes Unternehmen auf die Produktion in China <a href="https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/lieferketten-im-corona-stress-samsung-hui-apple-pfui/25606394.html">setzt</a>. Bereits im Januar musste Apple aufgrund der zwischenzeitlich als „Pandemie“ deklarierten Krankheit eine <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-apple-101.html">Umsatzwarnung</a> herausgeben.</p><p>Dazu kam noch das anfänglich verheerende Krisenmanagement der autoritären Staatsführung in China, die die Informationen über die neuartige Lungeninfektion zurückhalten wollte und erst viel zu spät mit drastischen Quarantänemaßnahmen versuchte, eine Ausbreitung zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber schon Millionen Menschen Wuhan, den mutmaßlichen Ursprungsort der Epidemie, verlassen, um zu ihren Verwandten zu fahren und mit diesen das Neujahrsfest zu feiern. Das Virus wurde verbreitete sich immer weiter. Durch die enge Einbindung der chinesischen Wirtschaft in die globalen Verwertungsketten, durch Treffen von internationalen Manager_innen oder Konzernmitarbeiter_innen, aber auch durch Touristinnen und Touristen, wurde das Virus schnell über die ganze Welt verteilt.</p><p>Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft werden deutlich stärker ausfallen als noch 2003, als der durchaus vergleichbare SARS-Virus ebenfalls in China ausbrach und sich dann weiterverbreitete. Zum einen war 2003 die Weltwirtschaft in keinem so geschwächten Zustand wie heute, nach der immer noch nicht bewältigten großen Krise. Zum anderen ist seitdem die Bedeutung und die Einbindung Chinas in der Weltwirtschaft deutlich gewachsen. Lag der Anteil der globalen Wirtschaftsleistung Chinas <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-wirtschaft-103.html">damals</a> bei nur vier Prozent, sind es heute bereits 17 Prozent. In Folge der SARS-Epidemie 2003 schwächte sich das Wachstum der chinesischen Wirtschaft um ein Prozent ab. Dies wiederrum hatte auch damals Folgewirkungen auf die Nationalökonomien anderer Staaten, aber noch im überschaubaren Rahmen: Es soll etwa das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik damals um weniger als 0,1 Prozent <a href="https://www.zeit.de/2020/07/corona-virus-epidemie-pandemie-weltwirtschaft/seite-2">gesenkt</a> haben.</p><p>Dieses Mal werden sowohl die Auswirkung auf das chinesische Wachstum als auch auf die mit China verbundenen Handelspartner deutlich größer werden. Anfang März schätzte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass sich das ursprünglich für 2020 erwartete Wachstum aufgrund der Corona-Epidemie halbieren könnte. Am stärksten betroffen wäre natürlich die chinesische Wirtschaft, der die OECD nur noch eine für ihre Verhältnisse erschrecken schwaches Wachstum von 4,9 Prozent vorhersagt. Doch selbst diese düstere Prognose könnte sich nach den Entwicklungen der letzten Tage (Börsencrash, Ölpreiseinbruch und weitere weltweite Verbreitung des Virus) noch als zu optimistisch herausstellen.</p><h2><b>Wird die Globalisierung rückgängig gemacht?</b></h2><p>Die aktuellen Entwicklungen dürften auch den Trend verstärken, Produktionsstandorte aus China zu verlegen. Bereits in den vergangenen Jahren kam es vor allem in der Textilindustrie zu Verlagerungen, etwa nach Vietnam oder Bangladesch. Gründe dafür waren unter anderem das gestiegene Lohnniveau, dass sich die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter erkämpfen konnten. Die Kolumnistin der <i>Financial Times,</i> Rana Foroohar, <a href="https://www.capital.de/wirtschaft-politik/das-coronavirus-beschleunigt-die-entkopplung-der-weltwirtschaft?article_onepage=true">sieht deshalb</a> im Corona-Virus einen wichtigen Faktor, der die Entkopplung der Weltwirtschaft weiter vorantreibt. Sie sieht den Beginn einer neuen Ära, die die Globalisierung durch eine zunehmend regionale und lokaler ausgerichtete Produktion ablöst. Anzeichen dafür seien schon seit einiger Zeit zu beobachten, etwa wenn US-Konzerne ihre Lieferketten aus Asien abziehen und in Mexiko und damit näher an den USA aufbauen. Foroohar zitiert dazu den Blackrock-Investmentstrategen Mike Pyle, der vorhersagt, dass die Lieferketten der Zukunft etwas weniger effizient, dafür aber aber widerstandsfähiger seien müssen und dies bedeute eben auch eine stärkere Anbindung an die Heimatmärkte.</p><p>Diese ökonomische Entwicklung zurück zu den Nationalstaaten bzw. geographischen Großräumen stärkt wiederum genau diejenigen, die auch einen politischen Bezug auf die eigene Nation und die Nationalökonomie fordern. Die rechten Parteien und Bewegungen erhalten dadurch eine materielle Basis für ihr politisches Handeln. Handelskriege, wie die, die momentan schon von US-Präsident Donald Trump ausgelöst wurden, werden wohl keine Ausnahme mehr bleiben. Der Kampf um die wirtschaftliche und geopolitische Vorherrschaft zwischen den einzelnen Blöcken wird dadurch noch offener und aggressiver ausgetragen werden und dies erhöht auch die Gefahr größerer Kriege. Etwas mehr als zehn Jahre nach Beginn der großen Krise kann damit die Frage nach dem Weltkrieg nicht mehr so leicht wegewischt werden.</p></div>
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<div class="rich-text"><p>Der Schmuggel von Atemmasken boomt. Deutschland untersagt in Folge die Ausfuhr medizinischen Materials und stoppt eine Fracht mit 240.000 Atemmasken an der Schweizer Grenze. Desinfektionsmittel sind ausverkauft und quasi nur mehr am Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu bekommen und in den Supermärkten war über Tage hinweg kein Klopapier zu haben.</p><p>An den Börsen massive Kursstürze, in vielen Ländern kommt das Alltagsleben zum Erliegen. Italien wird de facto als Ganzes unter Quarantäne gestellt und die <a href="https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/italien/">Reisewarnungen</a>, die andere Länder ausgeben, entsprechen in etwa denen für Kriegszonen. Seit gestern weiten sich die Vorsichtsmaßnahmen in Form von Universitätsschließungen, Veranstaltungsverboten und so weiter auch auf Deutschland, Österreich, die USA und weitere Staaten aus. Tausende Menschen verlieren in Folge ihre Arbeitsplätze, insbesondere in der Leiharbeit und prekärer „Selbständigkeit“.</p><p>Gleichzeitig: Rassistische Reaktionen auf als chinesisch wahrgenommene Personen, dann auch auf Menschen, die generell als „asiatisch“ oder „iranisch“ einsortiert werden. Menschen im Nahverkehr setzen sich absichtlich nicht zu Menschen aus vermeintlichen "Risikogruppen". Ein Niesen oder ein Husten in der Öffentlichkeit führt zu Streit und dem Aussetzen elementarer Solidarität. Was genau passiert da gerade? Wie gelang es einem Virus, die ganze Welt in Panik zu versetzen? Und was hat das mit dem Kapitalismus zu tun?</p><h2><b>Die Masken fallen</b></h2><p>Vertrauen wir auf die – unterschiedlichen – Modelle über die möglichen Ausbreitungsszenarien, wird die Ausbreitung des Virus <a href="https://orf.at/stories/3156304/">kaum noch aufzuhalten</a> sein. Die Frage ist nur, wie viele Menschen letztlich davon betroffen sein werden – und wie viele daran sterben. Umso länger sich die Ausbreitung des Virus herauszögert, umso eher lässt er sich aufgrund veränderter klimatischer Bedingungen (etwa der Sommerhitze in vielen Teilen der Erde) eindämmen. Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass rechtzeitig ein Impfstoff erfunden wird, um die Epidemie/Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Ein nicht unwahrscheinliches Szenario ist es aber dennoch, dass auch dieser Virus „mit uns bleiben“ wird, wie die anderen „üblichen“ Krankheiten, bakteriell oder viral. Der Grad der Integration der Gesellschaften im globalen Rahmen führt eben dazu, dass lokale Ausbrüche von infektiösen Krankheiten schnell zu globalen Epidemien führen können. 2009 schaffte es das H1N1 Virus <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">in</a> <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">neun Tagen über den Pazifischen Ozean</a>, obwohl Modelle von Monaten ausgingen. Und seit der SARS Pandemie 2003 hat sich etwa der Flugverkehr alleine in China verzehnfacht.</p><p>Was wir über das aktuell alle Berichterstattungen dominierende Virus wissen, ist, dass es eine Mutation der Coronaviridae ist, die auch schon für die als SARS und MERS bekannten Epidemien/Pandemien verantwortlich waren. Wenn wir uns epidemische Ausbrüche der letzten Jahre anschauen, dann handelt es sich meistens um Mutationen der Coronaviridae oder der Influenza (Vogelgrippe, Schweinegrippe und so weiter). Ebola, aus der Gruppe der Filoviridae, stellt eine Ausnahme dar. In allen Fällen kommt es irgendwann zu einer Übertragung vom Tier auf den Menschen.</p><p>Das neuartige Virus wird fachlich als SARS-CoV-2 bezeichnet, welches die Erkrankung namens Covid-19 auslöst. Es ist deshalb <a href="https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-covid-19-ansteckender-ist-als-sars-enorme-mengen-virus-im-oberen-rachenbereich/25588526.html">brandgefährlich</a>, weil Träger*innen – im Unterschied zu SARS oder ähnlichen Viren – schon ansteckend sind, bevor sie überhaupt Krankheitssymptome aufweisen. Das erschwert klarerweise die rechtzeitige Identifikation von Träger*innen enorm und ist ein wesentlicher Grund der raschen Ausbreitung. Über den Ursprung des Virus können wir bisher nur spekulieren. Allerdings: Auch bei diesem Virus ist eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/01/31/corinavirus-nature-fights-back/">kapitalistische Landwirtschaft und Massentierhaltung</a> die Entstehung und Verbreitung des Virus massiv gefördert haben. Zum einen schwächt die Abholzung großer Waldflächen die natürlichen Schranken von Wäldern gegen Übertragungen. <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">Kombiniert</a> mit der Suche nach immer „exotischeren“ Tieren zum kommodifizierten Verzehr – der Corona-Virus <i>könnte</i> im Markt von Wuhan für „exotische Tiere“ ausgebrochen sein – und der Auslagerung der Fleischproduktion auf fabrikmäßige Zulieferer an Waldrändern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich „Nutztiere“ neuartige Viren fangen und diese sofort übertragen. <a href="https://socialistreview.org.uk/455/what-makes-disease-go-viral">Andererseits</a> fördert die profitgetriebene Massentierhaltung die Entstehung und Verbreitung von Viren und Epidemien innerhalb des Tierreichs, da die Tiere nicht nur unter den brutalsten und unhygienischsten Bedingungen hochgezüchtet werden, was die Virenübertragung und -ausweitung extrem fördert, sondern aus „Effizienzgründen“ eine Monokultur bei der Züchtung bevorzugt wird, die zusätzlich eine Ausbildung von Resistenzen der Tiere verringert.</p><p>Gleichzeitig gibt es kaum Mechanismen, die einer wirklich weltumfassenden Pandemie angemessen wären und die koordinierte und effektive Maßnahmen im Sinne der Allgemeinheit treffen könnten. Zentraler Grund: Die medizinische Forschung ist im neoliberalen Kapitalismus genauso privatisiert wie der Gesundheitssektor. Das wirkt sich in massivem Umfang auf die Behandlung der Betroffenen aus. Italiens kaputtgesparter Gesundheitssektor ist schon jetzt <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-italien-wie-ein-tsunami-a-634be2c3-3666-434e-be74-44c6452e3690">komplett überlastet</a> und beschränkt funktionsfähig, <a href="https://taz.de/Zustaendigkeiten-beim-Coronavirus/!5667299/">Deutschland</a> ist hier <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/besucher-der-trompete-risikopatient-wurde-vier-tage-nicht-auf-das-coronavirus-getestet/25631386.html">offensichtlich</a> <a href="https://twitter.com/FrlRottenmaier/status/1237443682606989312">nicht viel besser</a> gestellt, auch aus anderen Ländern werden Engpässe und Überlastungen gemeldet.</p><p>Die profitgetriebene, privatisierte medizinische Forschung führt dazu, dass <a href="https://www.theatlantic.com/health/archive/2020/02/covid-vaccine/607000/?fbclid=IwAR24oQFi1KW_030hGhGXHnw8j75mU8dTSCfFXblDfy9VGsXySahXKlFqQyg">Forschung und Produktion von Medikamenten und Impfungen</a> nicht im Sinne des Allgemeinwohls, sondern gemäß der Profitlogik getätigt werden. Viele Informationen werden nicht weitergegeben. Die Medikamente oder zumindest die Forschung dazu existiert am Ehesten noch dort, wo sie am Wenigsten gebraucht würde, um den wirklichen Ausbruch solcher Epidemien zu verhindern. Letztlich wird auch in der Pharmaindustrie nur dort geforscht und entwickelt, wo und wann es einen Profit verspricht. Dabei ist es bei Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie schon zu spät – Forschung, Aufklärung, Vorbereitung müssten schon längst zuvor organisiert und längerfristig geplant, Investitionen dauerhaft getätigt werden, wenn es denn daran gelegen wäre, möglichst viele Menschen vor einer epidemischen oder pandemischen Krankheit zu schützen und deren Effekte abzumildern. Die Kapazitäten hierfür hat die Menschheit schon längst – es ist die kapitalistische Logik, die ein solches Vorgehen verhindert. Denn Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln ist teuer und eine profitträchtige Nachfrage nach diesen Maßnahmen gibt es in kapitalistischen Verhältnissen nur, wenn eine Epidemie ausbricht, wenn es also schon zu spät ist. Und auch dann zählt das Geld.</p><p>Ein Interesse an einem effektiven Schutz, an einer Sorge für einen Großteil der Menschen gibt es im Kapitalismus aber nicht, auch nicht im Angesicht einer Pandemie. Am 10. März verkündete die EU-Kommission die Bereitstellung eines 25 Milliarden Euro Fonds zur Bearbeitung der „Corona-Krise“. Davon sollen immerhin <a href="https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_440">140 Mio. Euro</a> direkt in die Forschung gehen, die restlichen Milliarden sind dazu da, dass „die europäische Wirtschaft den Turbulenzen trotzen“ kann.</p><h2><b>Eine virale Krise des Sozialen</b></h2><p>Nachdem sich die Organisation erdölexportierender Länder<b> (</b>OPEC) und Russland Anfang dieser Woche nicht auf eine gemeinsame Förderbremse – wegen Corona-bedingtem Einbruch der Ölnachfrage Chinas – einigen konnten, wurde das Virus quasi zusammen mit dem massivsten Einbruch des Ölpreises seit 1991 Auslöser eines Kurssturzes an den Börsen weltweit. Die Wachstumsprojektionen der meisten Länder wurden für 2020 schon vor dem Einsturz des Ölpreises nach unten revidiert – <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">jetzt</a> werden die Prognosen noch düsterer. Die Entwicklungen führen die Fragilität der globalen kapitalistischen Gesellschaftsformation sehr deutlich vor Augen: Die Weltwirtschaftskrise 2007-08ff. ist eben nur oberflächlich „überwunden“ worden. Ein vergleichsweise zufällig losgetretenes Ereignis reicht womöglich, um erneut eine ausbuchstabierte Weltwirtschaftskrise vom Zaun zu brechen.</p><p>Andererseits: Keineswegs sind alle Menschen gleich vom Virus betroffen. Während nun „Konjunkturpakete“ für „die Wirtschaft“ – lies: die Kapitalist*innen – herausposaunt werden, regnen keine „Sozialpakete“ für den Großteil der Werktätigen. Schon jetzt wurden zahllose Messen abgesagt – und damit das Einkommen zahlloser Arbeiter*innen, die ohne Verträge oder „auf Honorarbasis“ angestellt sind, vernichtet. Alle, die können, sollen<i> home office</i> machen, heißt es; in Deutschland kann man sich per Bildaufnahme seines Krankenausweises aus der Ferne eine Krankheitsbescheinigung für die Arbeit ausstellen lassen. Welch Fürsorge! Aber was ist mit denen, die prekär oder informell arbeiten? Was ist mit prekär selbstständigen Kulturarbeiter*innen, jetzt, wo viele Kulturveranstaltungen abgesagt sind? Was ist mit prekären Übersetzer*innen, Akademiker*innen, Leiharbeiter*innen? Was sollen diejenigen machen, die sich Ausfälle an Arbeitstagen oder medizinische Diagnosen in Ländern mit noch krasser privatisierten Gesundheitssystemen wie den USA nicht leisten können? Die große Politik schweigt.</p><p>In Italien sind <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1237447577144119299">landesweit</a> Arbeiter*innen in Streik getreten, weil nicht genügend Sicherheits- und Gesundheitsmaßnamen im Sinne der Arbeiter*innen getroffen werden; in und um über 25 <a href="https://twitter.com/redfishstream/status/1237433635265019905">Gefängnissen</a> brachen Aufstände aus, weil den Angehörigen der Kontakt verweigert wird – es gibt schon <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-italy-prisons/six-dead-as-coronavirus-measures-trigger-prison-riots-across-italy-idUSKBN20W1JP">Tote</a>. Das <a href="https://dso.college.harvard.edu/coronavirusfaq">Harvard College</a> ruft alle Studierenden dazu auf, innerhalb von fünf Tagen ihre Schlafsäle und Campus-Wohnungen zu verlassen, alle Kurse finden nur mehr online statt. Zur Frage danach, wie das Studierende, die kaum Geld oder andere Unterkünfte zur Verfügung haben, organisieren sollen, heißt es lapidar: „It may take some time before financial issues are settled.“ Auch in Deutschland und Österreich werden immer mehr Schulen geschlossen – welche Eltern können sich<i> home office</i> oder Abwesenheit von der Arbeit leisten, um sich um die Kinder zu kümmern?</p><h2><b>Solidarische Perspektiven in Zeiten von Corona</b></h2><p>Während sich das Virus derzeit noch exponentiell steigend ausbreitet, haben das kapitalistische System und seine politische Verwaltung bisher nicht viel mehr zu bieten als kaputtgesparte Gesundheitsinfrastruktur sowie recht grobe und ziellose Quarantäne-Maßnahmen und „Verhaltensempfehlungen“, die eine weitestgehende Individualisierung der Folgen beinhalten. Ausgenommen natürlich die „Unternehmer*innen“, um die sorgt man sich ganz besonders.</p><p>Die Bevölkerung selbst soll sich voneinander fernhalten – außer bei prekären Jobs, und auf dem Weg dorthin in überfüllten Nahverkehrsmitteln. Sogar die <a href="https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/advice-for-public">WHO</a>, immerhin eine der größten und wichtigsten internationalen Gesundheitsorganisationen, empfiehlt neben dem Händewaschen die soziale Distanzierung. Wer kann, der isoliere sich, der Rest desinfiziere eben die Hände – falls Desinfektionsmittel noch erschwinglich zu bekommen sind. Was dieses Drängen auf soziale Isolation gerade im Kontext von Care-Arbeit mit älteren Menschen oder mit Menschen mit anderen Erkrankungen bedeuten wird, in Zeiten von Vereinsamung vieler Menschen – all dies wird sich erst mit der Zeit zeigen.</p><p>Die kapitalistische Medienlogik – <i>sex sells</i>,<i> panic sells</i>,<i> spectacle sells</i> – macht mit, es herrscht ein Informationschaos, dessen Ausmaße oszillieren zwischen exzessiver Panikmache – „Die meisten von uns werden erkranken, viele Junge und Alte werden sterben!“ – und Derailing – „eine normale Influenza ist viel gefährlicher, die meisten Menschen werden kaum mal leichte Symptome haben!“. Stimmen, die hier auf die Marginalisierten, die Menschen mit chronischen Erkrankungen, die Menschen in sehr prekären Arbeitsverhältnissen ohne Kündigungsschutz und so weiter hinweisen, bleiben weit dahinter zurück. Im Gegenteil: Ihnen dröhnt noch rechte Geiferei entgegen. Der neurechten Internationalen in den USA, Italien, Frankreich, der Schweiz, Spanien, <a href="https://www.nbcnews.com/news/world/coronavirus-used-european-populist-right-challenge-e-u-open-borders-n1149491">Ungarn</a>, <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/video-mit-pistolenschuss-wie-rechte-das-coronavirus-zur-hetze-gegen-fluechtlinge-benutzen/25625008.html">Deutschland</a> und Österreich <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/28/coronavirus-outbreak-migrants-blamed-italy-matteo-salvini-marine-le-pen">schäumt schon der Mund</a>: die Geflüchteten, die Chinesen, die Afrikaner – Danke Merkel, GRENZEN ZU!!!</p><p>Wir als Linke müssen gegen diesen kapitalistische Bankrottpolitik gegenüber dem Sozialen und dem Versuch der reaktionären Kapitalisierung angesichts der Corona-Krise entschieden entgegentreten und klarmachen: In der heutigen neoliberalen Welt ist die Entstehung viraler Pandemien durch kapitalistischen Raubbau und Massentierhaltung viel wahrscheinlicher geworden; ihre Ausweitung hingegen geht aufgrund der Globalisierung viel schneller vor sich. Daran hat aber wiederum nicht eine abstrakte „Globalisierung“ Schuld. Der Hund <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">liegt darin</a> begraben, dass es im neoliberalen Weltkapitalismus einfach kaum präventive Maßnahmen und Vorbereitungen für den Umgang mit solchen Pandemien im Sinne des Allgemeinwohls gibt, da sie aus der Perspektive privatisierter Pharmaindustrien und Gesundheitssysteme nicht profitabel sind. Das gilt für die jetzige Corona-Krise genauso wie für die weltweite Klimakrise. Nach dieser Logik fordert auch der Multimilliardär Bill Gates <a href="https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2003762">jetzt massive öffentliche Investitionen</a> und die teilweise Aussetzung kapitalistischer Marktlogiken, um dem Virus beizukommen. Was er freilich nicht sagt: Dass es genau Menschen wie er waren, die zu der aktuellen Krise und zur stetigen Kommodifizierung des Gesundheitssektors und aller anderen Gesellschaftssphären beigetragen haben.</p><p>Kurzfristig müssen wir alles Erdenkliche dafür tun, dass auch diese Krise des Kapitalismus, die wortwörtlich eine virale ist, nicht auf dem Rücken der Vulnerabelsten und Schwächsten – (prekäre) Arbeiter*innen, <a href="https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/arbeitende-rentner-sind-am-gefaehrdetsten">Rentenaufstocker*innen</a>, Frauen*, <a href="https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/02/27/Coronavirus-Iran-refugees-IDPs-Italy-Europe-disease">Refugees</a>, chronisch Kranke, behinderte Menschen – ausgetragen wird. Es muss Sozial- und Sorgepakete statt Konjunkturpakete geben; dafür zahlen müssen die, die das Geld haben; keine Prekäre oder Reproduktionsarbeiterin darf die Lasten alleine tragen, es müssen soziale Sorgemechanismen und Auffangnetze eingefordert und organisiert werden. Mittel- und langfristig müssen wir auf eine Revolutionierung der Gesundheitssysteme und der Pharmaindustrie, und nicht zuletzt von Landwirtschaft und Tierhaltung drängen: Weg von einer Profitorientierung hin zu einer Gemeinwohlorientierung. Nur die Perspektive und Organisation einer solchen antikapitalistischen und internationalen Solidarität wird auch letztlich den dunklen Horizont neurechter Hetze und Menschenverachtung dorthin verfrachten, wohin er hingehört – auf den Müllhaufen der Geschichte.</p></div>
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Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
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<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
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Gabriels Türkeiliebe und linksliberale Selbstvernebelungen2018-01-11T09:00:00+00:002018-01-20T23:18:46.004788+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/gabriels-t%C3%BCrkeiliebe-und-linksliberale-selbstvernebelungen/
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<header class="content">
<h1>Gabriels Türkeiliebe und linksliberale Selbstvernebelungen</h1>
</header>
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<img alt="Panzer/Aktion Kirchentag 25.05.17" height="420" src="/media/images/34517200380_6d6003100a_k.d0797f7b.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Jakob Huber</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>„Unglaublich, dieser Sigmar Gabriel!
Da geht der einfach hin, schenkt dem türkischen Außenminister
Çavuşoğlu einen Unterwerfungs-Tee ein, faselt irgendwas von
Wiederaufnahme von Dialog und schlägt den Deal „Yücel gegen
Panzer“ vor! Welch erbärmliche Erniedrigung, vor diesem
diktatorialen Regime in der Türkei so niederzuknien! Und noch im
selben Zug Panzer zu versprechen, von denen doch klar ist, dass die
zum Plattmachen der Kurden genutzt werden! Selbst als SPD!
Inakzeptabel, eine solche Herabwürdigung unserer demokratischen
Werte!“</p><p>
</p><p>
</p><p>Empörung – die ist allerorts Tenor,
wenn über das Wiederannäherungstreffen zwischen Gabriel und
Çavuşoğlu gesprochen wird, das vor einigen Tagen in Goslar
stattfand. Grundsätzlich muss man über die politischen Beziehungen
zur Türkei ja auch dringend sprechen. Das Problem aber ist, dass
diese Empörungswelle mit all ihren Voraussetzungen und Konsequenzen
– und damit auch in ihren Apologien deutscher Politik – ebenfalls in
Teilen der Linken Fuß gefasst hat. Sie ist eine Aktualisierung der
Schwäche einer Linken, die es nicht schafft, ihre eigene Identität
zu wahren und deshalb zum Spielball der Auseinandersetzung
großbürgerlicher Interessen wird.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Deutsche Interessen, deutsches
Geld...</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Es ist ein gewisser National- oder wohl
eher Machtstolz, der in dieser Empörung mitschwingt, und der sich
geradezu nach einer Intervention des deutschen Staates sehnt: „Wir
sind eine so mächtige Nation, ein so mächtiger Staat – wie können
wir bloß vor einer so mickrigen Nation wie der Türkei einknicken!
Deutscher Staat, hoffentlich haust du dem mal auf die Finger“. Dann
aber vor allem der Moralismus, der einfach nicht kapiert, worum es
geht.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der Gabriel ist das Gegenteil von doof,
der ist ganz schön geschickt. Der versucht ganz einfach noch
weitestgehend ohne große militärische Macht Weltpolitik zu machen.
Und dabei setzt er natürlich auch Druckmittel ein. Sein
Parteikollege Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, hat es direkt im Anschluss an das Treffen in
Goslar <a href="http://www.deutschlandfunk.de/kuschelkurs-mit-der-tuerkei-wir-haben-da-schon-die.694.de.html?dram:article_id=407692">auf
den Punkt</a> gebracht: „Und es ist ja übrigens auch sehr, sehr
viel eingesetzt worden an Druckmitteln – jetzt nicht nur die Frage
der Unterbindung von Rüstungsexporten, [… ] es geht auch um die
Frage der Hermes-Bürgschaften, die zum Teil gestoppt worden sind,
die Kreditvergabe der Europäischen Investitionsbank[.]“ Und dann
zum Kern der Sache: „[I]ch glaube, wir müssen auch über unsere
eigenen Interessen sprechen. Die Türkei hat deutlich gemacht, sie
orientiert sich auch in Richtung Russland und China, daran können
wir auch kein Interesse haben[.]“</p><p>
</p><p>
</p><p>Siehe da: Es gibt <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/german-companies-show-confidence-in-turkeys-future-------.aspx?pageID=238&nID=109829&NewsCatID=345">über
6000 deutsche Unternehmen</a> mit Niederlassung in der Türkei. Dies
sei, so die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), „ein
großer Beweis unseres tiefen Interesses an einem guten Verhältnis
unserer Länder“. Deutschland ist der größte Exportmarkt der
Türkei und die deutschen Auslandsdirektinvestitionen in der Türkei
sind die zweitgrößten nach denen der Niederlande, weshalb die sich,
im Übrigen, noch weniger über das lumpenhafte Auftreten der
türkischen Regierung beschweren als die Bundesdeutschen. <a href="https://www.reuters.com/article/us-turkey-energy-windpower/germanys-siemens-wins-tender-for-turkish-wind-power-project-idUSKBN1AJ1FJ">Siemens</a>
hat erst vor Kurzem mal wieder eine Investition über eine Milliarde
Euro in einem lukrativen Windkraftgeschäft in der Türkei
abgestaubt. Aber es geht, wie es Annen auf den Punkt bringt, auch um
glasklare geopolitische Interessen. Ein Potpourri an Zitaten von
deutschen Eliten und Eliteinstitutionen der unterschiedlichsten
politischen Couleur zur Sachlage verdeutlicht das:</p><p>
</p><p>
</p><p>Fangen wir an mit dem außenpolitischen
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt. Der meinte
2016 in einer <a href="http://www.kas.de/wf/doc/kas_438-2190-1-30.pdf?161214152314">Publikation</a>
der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS): „Die
Bedeutung der Türkei zur Diversifizierung unserer Energieversorgung
und als Transitland für Energielieferungen aus dem Iran, dem Irak
oder dem Kaspischen Raum wird zunehmen. […] Das Land ist zentraler
außenpolitischer Akteur und Stabilitätsanker in der
konfliktreichen Region zwischen dem Schwarzen Meer, dem Persischen
Golf und dem Mittelmeer.“ Die Türkei als solider Partner also.</p><p>
</p><p>
</p><p>Das Problem sei allerdings, so <a href="https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A06_srt.pdf">Günther
Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP</a>) Anfang
2017, dass sich die Türkei aus hegemonialen und geostrategischen
Eigeninteressen Richtung Russland und China wendet: „Aus
strategischer Perspektive bleibt offen, was die Türkei ohne den
Rückhalt der Nato russischer Machtprojektion im Schwarzen Meer, im
Kaukasus und im Nahen Osten entgegensetzen will. Ein Bruch mit dem
Westen ist deshalb weder ökonomisch noch strategisch sinnvoll. Doch
kann sich der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht
der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird. Um die Türkei
im Westen zu halten, sollte die EU Ankara deshalb entgegenkommen.“</p><p>
</p><p>
</p><p>Noch offener und konsequenter legt nur
der <a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/europas-notwendigkeit-mit-der-tuerkei-zu-verhandeln-14517389.html">Türkei-Korrespondent
der FAZ, Michael Martens</a>, dar, was das dann aus
„demokratietheoretischer Perspektive“ bedeutet: „Selbst
wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in
dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und
Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit
dem Nato-Partner festzuhalten.“</p><p></p><p>
</p><p>
</p><p>Die Liste an Zitaten <a href="http://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/videoschmusekursmiterdoganwirsolltenaufhoerendietuerkeizukritisieren102.html">lässt</a>
<a href="https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2017/maerz-april/abschied-von-europa">sich</a>
<a href="http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-03/deniz-yuecel-tuerkei-freilassung-ruprecht-polenz-interview/komplettansicht">unendlich</a>
<a href="https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2017_06.pdf">fortsetzen</a>.
Die Sachlage ist klar: Wirtschaftliche und geostrategische Interessen
bestimmen deutsche Außenpolitik betreffs der Türkei, nicht
irgendwelche abstrakten menschlichen Werte. Schon seit Jahrzehnten
morden deutsches Geld und deutsche Waffen mit in Kurdistan, schon
immer verschlossen deutsche Regierungen die Augen vor den
Menschenrechtsverletzungen der unterschiedlichen diktatorialen Regime
in der Türkei. Die derzeitigen Panzerdiskussionen sind schlicht
Fortsetzungen derselben Politik, keine Unterwürfigkeitsgeste von
Sigmar Gabriel. Das ist im Übrigen nichts Neues, schaut man sich die
Verwicklung von deutschem Staat und deutschem Kapital in den
Diktaturen in <a href="http://www.dw.com/de/vw-hat-militärdiktatur-in-brasilien-unterstützt/a-41807343">Brasilien</a>,
<a href="https://amerika21.de/analyse/172409/kaesemann-mord-brd-regierung">Argentinien</a>,
Griechenland und so weiter und so fort an. Von der Kontinuität von
Strukturen und Personal des faschistischen Deutschlands in der achso
demokratischen Bundesrepublik ganz zu schweigen. Das nennt sich
deutscher Imperialismus. Siehe die Forderungen des Bundes deutscher
Industrie (BdI) <a href="https://bdi.eu/media/presse/publikationen/marketing/Fokus_Sicherheit_Rohstoffe_Oktober_2015_web.pdf">nach
mehr Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen in der
Sicherheits- und Außenpolitik</a> im Jahre 2015; das <a href="http://www.imi-online.de/2016/08/01/bittere-pille-fuer-den-frieden/">neue
Weißbuch der Bundeswehr</a> aus dem Jahre 2016; Frank-Walter
Steinmeiers unmissverständlicher Artikel „<a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/2016-06-13/germany-s-new-global-role">Germany’s
New Global Role</a>“ in der Juli-August 2016 Ausgabe der<i> Foreign
Affairs</i> und unzählige andere <a href="http://tp-presseagentur.de/rede-von-aussenminister-gabriel-beim-forum-aussenpolitik-der-koerber-stiftung/">Äußerungen</a>
und <a href="https://www.swp-berlin.org/publikation/internationale-ordnung-im-umbruch/">Strategiepapiere</a>
von deutschen Eliten zum Stand der Dinge: Der deutsche Imperialismus
kommt mit aller Wucht zurück und stellt wieder Globalansprüche.
Verpackt wird das, wie immer, in einer humanitären Hülle, damit man
sich gegen den bösen Trump, den bösen Putin und die ganzen anderen
bösen Bösen abgrenzen kann.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der deutsche Imperialismus ist als
solcher zu entlarven, damit man ihn bekämpfen kann. Wenn man ihn mit
irgendwelchen Phrasen über demokratische Werte und Menschenrechte
vernebelt, sich über irgendeinen Minister und sein Gebaren aufregt,
diesen sogar zur richtigen „demokratischen“ Handlung gegenüber
einer „menschenrechtsfeindlichen“ Regierung auffordert –
nämlich endlich mal auf den Putz zu hauen, weil wir doch im
Gegensatz zu „denen da“ eine „sozialstaatliche Demokratie“
seien – dann tut man genau zwei Dinge: Man erweist dem
demokratischen und antifaschistischen Kampf in der Türkei einen
Bärendienst und beteiligt sich zudem an der (Selbst-)Vernebelung der
Machtverhältnisse.</p><p>
</p><p>
</p><p>Am Ende jubeln solche Linken sogar,
wenn der deutsche Staat wirklich mal wieder autoritärer auftritt
oder endlich eine konservativ-liberale Alternative zu Erdoğan, sei
es nun Abdullah Gül oder Meral Akşener oder Kemal Kılıçdaroğlu,
in der Türkei an die Macht kommt. Dann werden erneut die Player
ausgetauscht, aber die spezifischen Konstellationen kapitalistischer
Verhältnisse, die jenen reaktionären Schund erst hervorgebracht
haben, bleiben erhalten. Genau so war es auch mit dem Machtantritt
der AKP im Jahr 2002, der nicht von wenigen Linken bejubelt wurde.
Same shit, different day. Eine solche Haltung ist zu reaktivem
Verhalten verdammt, das niemals Agenden bestimmt, sondern von Agenden
bestimmt wird. Ähnlich sieht es in der Türkeisolidarität breiter
Teile des Bürgertums, aber eben auch der liberalen und in Teilen der
radikaleren Linken, aus.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Kein Frieden ohne (Gegen-)Macht</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Da wird dann stur zum Beispiel das
auswendiggelernte HDP-Programm runtergebetet: Kein eigener kurdischer
Nationalstaat mehr, nur mehr Demokratie und demokratische Autonomie,
Freiheit und Rechte für alle Minderheiten und Menschen in der Türkei
und so weiter und so fort. Stimmt ja alles, es ist aber nur ein
Drittel der Wahrheit. Das zweite Drittel macht deutlich: Die Türkei
gründet sich eben auf dem Genozid der armenischen Bevölkerung, auf
der Kolonisierung von Teilen Kurdistans, der Marginalisierung der
Alevitinnen und Aleviten, auf Antikommunismus und Revolution „von
oben“. Diese Fundamente der Republik bestimmen bis heute Staat und
Gesellschaft. Und nicht zuletzt, das dritte Drittel Realität: Die
HDP war deshalb nur möglich auf Grundlage eines jahrzehntelangen
Guerillakrieges, den die PKK zunehmend erfolgreich gegen den
türkischen Staat geführt hat. Sie hat ihn somit unter anderem mit
Waffengewalt dazu<i> gezwungen</i>, eine gewisse Öffnung der
politischen Sphäre zu vollziehen und einen Friedensprozess, der von
Anfang an ein Kräftemessen war, zu starten. Kurz: Ohne PKK keine
HDP. Wer die PKK dafür kritisiert, dass sie es gewesen sein soll,
die den Krieg in der Türkei 2015 erneut entflammt und quasi den
Faschismus herbei provoziert hat, der hat es schlichtweg nicht
geschnallt. Als ob der türkische Staat ein etwas schlecht gelaunter
Hund sei, den man ja nicht provozieren sollte, weil er sonst
Bürgerkrieg entfesselt, um den man aber sonst ganz still
herumschleichen kann, um sein Ziel zu erreichen. Der türkische Staat diesmal
unter Führung von Erdoğan war schon seit 2013 schnellenden
Schrittes unterwegs zum Autoritarismus und zur Faschisierung. Das war
das Einzige, was den Staat noch zusammenhielt. Als 2015 klar wurde,
dass es knallen wird, hat die PKK souverän mit der Ausrufung von
Autonomiegebieten gehandelt, bevor sie überrollt werden konnte. Wer
sich genauer anschauen möchte, wie die Verhältnisse sich
entwickeln, wenn sich ein Staat faschisiert, <i>ohne</i> von einer
relevanten politisch-militärischen Gegenmacht in Schach gehalten zu
werden: Ein Blick nach Ägypten genügt. Richtig ist eben das
direkte Gegenteil der linksliberal-pazifistischen Illusionen: Ohne
PKK ist in der Türkei<i> derzeit</i> überhaupt keine oppositionelle
Politik möglich.</p><p>
</p><p>
</p><p>Das ist alles kein Aufruf dazu, sich
jetzt auf den militärischen Kampf zu beschränken oder gar der PKK
beizutreten. Es geht darum, zu verstehen, dass partielle
demokratische Öffnungen überall, aber vor allem in Ländern wie der
Türkei, Produkte erfolgreichen revolutionären Kampfes gegen Kapital
und Staat darstellen. Der Kampf in allen anderen Sphären als der im
engeren Sinne politisch-militärischen sind mit anderen Mitteln, aber
derselben Militanz zu führen. Natürlich geht es darum, Spaltungen
abzubauen, Bündnisse zu schmieden und trotz des weit verbreiteten
Nationalismus und Chauvinismus in der Türkei fähig zu sein, mit dem
Großteil der Leute in Kontakt zu kommen und mit ihnen Politik zu
machen. Das wird aber zwangsläufig provozieren, denn jede Politik,
die eine Demokratisierung oder gar sozialistische Revolution der
Türkei beabsichtigt, ist eine Provokation, weil sich der türkische
Staat und mit ihm das türkische Kapital aufgrund ihres historischen
Charakters gegen selbstbestimmte populare Mobilisierungen stemmen.
Und deswegen wird man Konflikten nicht entgehen können. Vor allem
sollten wir nicht vergessen, dass es hier um Kampf von Macht und
Gegenmacht geht und es darin nichts einfach so, nur aufgrund von
irgendwelchen Werten oder Friedensprozessen gibt. Das Gegenteil ist
der Fall: Erst wer der bestehenden Macht eine in den militärischen,
politischen, sozialen und kulturellen Sphären verankerte Gegenmacht
entgegenstellen kann, der kann<i> erzwingen</i>, dass es plötzlich
um „Menschenrechte“ und „Friedensprozesse“, ja gar um soziale
Rechte geht. Es gibt keinen anderen erfolgreichen Weg hierzu.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Von Waffen über Suppenküchen:
linken Internationalismus wiederaufbauen</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a></a>Der Umgang von
Teilen der Linken mit der deutsch-türkischen Interessenkoalition
offenbart damit eines: Ihre aktuelle Schwäche und
Identitätslosigkeit. Natürlich will ich in keinster Weise die
enorme Bedeutung der ganzen kleinteiligen Solidaritätsarbeit, der
Prozessbeobachtungen, der öffentlichen Skandalisierungen der
AKP-Willkür und dergleichen Dinge in Abrede stellen. Sie sind
sehr wichtig. Wir sollten nur ganz klar wissen, dass das nicht ausreicht –
und uns der schmerzhaften Bearbeitung dessen zuwenden, dass wir
derzeit vielleicht zu viel mehr nicht in der Lage sind. Aber diesen
Zustand in ideologischer und politisch-taktischer Hinsicht zu
verabsolutieren wäre politischer Selbstmord. Denn indem die Linke
ihre eigenen machttheoretischen, kapitalismuskritischen und
taktisch-strategischen Traditionen, Erfahrungen und
Weiterentwicklungen aufgibt und stattdessen linksliberale Denkmuster
und Handlungsweisen übernimmt, kann sie sich nur zum Spielball
bürgerlicher, imperialistischer Interessen machen. Der revolutionäre
Internationalismus der 1970er und 1980er hat, bei all seinen
projektionsbehafteten und kruden Fehlern, vorgemacht, wie
internationalistische Solidaritätsarbeit geht: Einmal in Form von
gezieltem Ressourcenfluss, unter anderem von Waffen, an die
anti-imperialistischen und anti-kapitalistischen Kämpfe, vom Zentrum
zur Peripherie. Zum anderen in Form von aktiver Mitarbeit am Aufbau
von revolutionärer Gegenmacht vor Ort und Kampf gegen den eigenen
Imperialismus hier. Es ist dringend an der Zeit, dass wir uns als
revolutionäre Linke von den linksliberalen Illusionen, die die
Bourgeoisie sät, verabschieden, klar die Feinde benennen und unsere
Taktiken und Strategien neu ausrichten, damit wir nicht das linke
Feigenblatt der jeweiligen Bourgeoisien werden oder verbleiben. Und
zwar nicht nur in betreffs der Türkei-Solidarität.</p></div>
</section>
</article>
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Zwischen Faschisierung, Elitenzwist und Widerstand. Die Türkei seit dem Referendum2017-10-21T12:26:09.941296+00:002018-01-20T23:17:29.286040+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/zwischen-faschisierung-elitenzwist-und-widerstand-die-t%C3%BCrkei/
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<h1>Zwischen Faschisierung, Elitenzwist und Widerstand. Die Türkei seit dem Referendum</h1>
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<div class="rich-text"><p>Erdoğan, so scheint es,
kennt kein Stoppen mehr. Seine Herrschaft ist ewig, die Repression
überwältigend und noch die offensichtlich dümmsten, barbarischsten
und gossenhaftesten Auftritte haben scheinbar keine Konsequenzen. Nun
hat er auch noch den popularen Willen hinter sich bei der
Umstrukturierung der Türkei in eine Präsidialdiktatur: Er und seine
AKP gewannen das Volksreferendum vom 16. April 2017, das über die
entsprechenden Veränderungen in der Verfassung gehalten wurde. Dass
es sich bei den zur Wahl stehenden Veränderungen, ganz
offensichtlich um den Versuch einer verfassungsrechtlichen
Verankerung einer Präsidialdiktatur ging, haben Kritiker*innen schon
<a href="https://www.jungewelt.de/artikel/308985.instabile-diktatur.html">frühzeitig</a>
angeprangert und mit den Entwicklungen der letzten Jahre belegt. Die
Ereignisse seitdem bestätigen diese Einschätzung.</p><p>
</p><p>Beim näheren Hinsehen
wird allerdings deutlich, dass die sich im Aufbau befindende Diktatur
von Erdoğan kaum als stabil zu bezeichnen ist. Im Gegenteil: Der bis
heute andauernde Prozess einer tiefen Hegemoniekrise setzt sich fort
und tritt nun in eine entscheidende Phase ein. Glitt der AKP der
gesellschaftliche Konsens schon seit 2013 aus dem Ruder, so konnte
sie ihn die Jahre über nicht wieder unter Kontrolle bekommen. Sie
wurde zusätzlich von einer Krise nach der anderen erschüttert,
zuletzt am offensichtlichsten mit dem Militärputsch vom 15. Juli
2016. Es ist offensichtlich, dass Erdoğan nun versucht, mit der
vollständigen Installation einer faschistischen Diktatur eine Art
„Frieden durch Repression“ herzustellen. Jede kleinste Abweichung
im Staat und bei den Eliten wird durch die vollständige
Vereinheitlichung und Kontrolle der Staatsapparate durch den
Präsidenten verhindert. Mit einer völlig uferlosen Repression wird
gleichzeitig so beständig und umfassend auf jeden gesellschaftlichen
Widerstand eingetrommelt, dass, so die Rechnung, diesem eines Tages
einfach die Kraft und Energie ausgeht. Am Ende steht ein Staat und
eine Gesellschaft, die dem großen Diktator gehorcht und zum Teil
auch von des Sultans Gnaden großzügig entlohnt wird. Ein
Diktaturfrieden eben.</p><p>
</p><p>Nun lässt sich aber vom
heutigen Standpunkt aus kaum behaupten, dass dieser Gang der
Geschichte in Stein gemeißelt wäre. Es gibt viel zu viele teils
offene, teils untergründige Widersprüche, die der große Sultan und
seine Hohe Pforte [1] einfach nicht in den Griff kriegen. „Oben“
wie „unten“ kriselt es und es scheint eher wahrscheinlich, dass
der Laden erneut und noch heftiger in die Luft fliegt, als dass sich
die Diktatur um Erdoğan stabilisiert. Es werden die konkreten
Kräfteverhältnisse und die konzertierten politischen Aktionen in
einem solchen voraussichtlichen Krisenfall sein, die bestimmen
werden, wohin die Reise gehen wird. Schon das Referendum spricht
Bände: In ihm kristallisieren sich alle die Widersprüche, die seit
2013 die Hegemoniekrise bestimmen. Sie setzen sich auch seit dem
Referendum fort.</p><p>
</p>
<h2><b>Eine geklaute
Volksabstimmung</b></h2><p>
</p><p>Es kann gar nicht oft
genug betont werden, wie knapp die Volksabstimmung im April 2017 im
Sinne der AKP entschieden wurde: Zustimmung gaben 51,41 Prozent
gegenüber 48,59 Prozent der Wähler*innen, welche die Änderungen
abgelehnt haben. Eine Abstimmung über eine grundlegende
Verfassungsänderung ist hierbei nicht irgendeine Abstimmung. Sie hat
ganz besondere Bedeutung: Einer großen Verfassungsänderung, der nur
von knapp der Hälfte der Wahlbevölkerung zugestimmt wurde, wird es
auf absehbare Zeit nicht gelingen, die für die Umsetzung notwendige
Zustimmung hervorzubringen.</p><p>
</p><p>Die Oppositionsparteien
HDP und CHP schätzen zudem, dass zwei bis zweieinhalb Millionen
Stimmen gefälscht wurden, dass also Wahlbetrug in hohem Maßstab
stattfand. Die zum öffentlichen Skandal gewordene Hauptmethode der
Fälschung war dabei, dass eine unbestimmte Anzahl an Wahlbriefen
seitens der Hohen Wahlkommission (<i>Yüksek Seçim Kurulu</i>, YSK)
herausgegeben wurden, die keinen offiziellen Stempel trugen,
dementsprechend nicht nachverfolgbar waren. Noch am Tag vor der Wahl
hatte die <a href="http://altinoz.com.tr/yuksek-secim-kurulu-karari-karar-no-559/">YSK
selbst</a> darauf hingewiesen, dass „der Zweck des Stempels der
Wahlbriefe mit dem offiziellen Stempel der YSK darin liegt,
Wahlfälschung vorzubeugen“. Bis zum Volksreferendum vom 16. April
2017 hatte der YSK nur in sehr seltenen Fällen Wahlumschläge ohne
offiziellen Stempel akzeptiert und dann auch ausschließlich nur
unter besonderen Umständen; etwa, dass die nicht gestempelten
Wahlumschläge die Ergebnisse nicht änderten und ihre Zahl und Ort
der Abgabe lokalisiert wurden. Nichts davon fand an diesem Wahltag
statt. Auf Grundlage einer informellen Bitte eines lokalen
AKP-Politikers erklärte der YSK plötzlich mitten im Wahlgeschehen,
dass türkeiweit ungestempelte Wahlbriefe akzeptiert würden. In den
sozialen Medien kursierten rasch zahllose Videos und Bilder, die
zeigten, dass AKP-nahe Personen in Hinterzimmern, Autos oder gar
direkt an den Wahlurnen reihenweise Stimmzettel mit „Ja“
abstempelten. Der YSK wusste plötzlich nicht mehr, wie viele
ungestempelte Briefe an die Wahllokale herausgegeben oder an den YSK
abgegeben wurden – noch von wo. Dennoch wurde jede Anfechtung oder
erneute Auszählung abgelehnt, auf den Topf der Deckel gelegt.</p><p>
</p><p>Es zeigt sich damit
deutlich: Nicht einmal mit einer geklauten Wahl, mit allen vorherigen
Einschüchterungen und Repressionen, der absurden Dominanz der
AKP-Wahlwerbung in Medien und Öffentlichkeit und den Wahlfälschungen
am Tag selbst, konnten die AKPler auf über mickrige 51 Prozent der
Wähler*innenstimmen kommen. Das spricht kaum für einen in der
Gesellschaft oppositionslos verankerten Faschismus. Zum Vergleich:
Das Verfassungsreferendum vom 7. November 1982, mittels deren die
Militärfaschisten des 12. September 1980 die bis heute gültige
erzrepressive Verfassung durchdrückten, wurde mit 91,37 Prozent der
Stimmen angenommen. Der damalige Faschismus war erfolgreich in der
Etablierung eines Diktaturfriedens, der heutige ist es (noch?) nicht.
Aber was sind die Ursachen dafür, dass es nicht zum überwältigenden
Sieg ausreichte?</p><p>
</p><p>
</p><p>1. Die AKP hat generell
in den wichtigsten und größten politischen wie ökonomischen
Zentren des Landes die Referendumswahl verloren. Dabei zum ersten Mal
seit Jahren: Istanbul und Ankara. Es wird deutlich, dass die
großstädtischen Klassen (städtisches Prekariat und Proletariat,
Mittelklassen, Großkapital) den Plänen der AKP nicht mehr
zustimmen. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit
unterschiedlichen Mitteln opponieren sie der AKP-Politik der letzten
Jahre. Dazu mehr in den folgenden Abschnitten.</p><p>
</p><p>
</p><p>2. Zentral in diesem
Zusammenhang ist, dass die AKP auch wichtige islamische Zentren wie
z.B. das Viertel Üsküdar in Istanbul abhanden gekommen sind. Eine
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/akp-surveys-voters-amid-party-restructuring.aspx?pageID=238&nID=116785&NewsCatID=338">interne
Untersuchung der AKP</a> ergab, dass sie zwischen 4 Prozent
(Zentralanatolien und Norden) bis 12 Prozent (im Westen) ihrer
Wähler*innen verloren hat. Hierfür gibt es mehrere Gründe:
Einerseits treffen die brutal ausgeführten Repressionsmaßnahmen
mittlerweile auch die AKP-Wähler*innenbasis, zu der auch viele
Gülen-Anhänger*innen oder Familien, deren Mitglieder Gülen
nahestehen oder eine Gülen-Schule besucht haben, gehören.
Andererseits zeigt sich hierin, dass auch Teile des
islamischen/islamistischen Milieus mit der faschistoiden Gangart und
der zunehmenden politischen Instabilität unzufrieden sind. Ein
anderer <a href="http://t24.com.tr/haber/akpnin-16-nisan-raporundan-parti-yoneticileri-ve-hukumet-uyeleri-yeni-sistemi-icsellestirmedi,419027">AKP-interner
Untersuchungsbericht</a> kommt zu dem Ergebnis, dass sie mit der
Bezeichnung der Opposition als „Terroristen“ eher Leute
abgeschreckt haben. Der Bericht führt den prekären Sieg aber darauf
zurück, dass man dem Volk das neue System nicht genügend „erklären“
konnte. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass sich die
Wähler*innenbasis über Arbeitslosigkeit, Günstlingswirtschaft und
den Ersatz solidarischer Beziehungen durch Professionalisierung der
AKP-Basiskader beschwert. Auch dies zeigt, dass ein Großteil der
AKP-Wähler*innenbasis diese immer noch aus ökonomischen und
sozialen Gründen wählt und Unmut äußert, wenn die Versprechen der
AKP nicht eingehalten oder destruktivere Politiken verfolgt werden.
Mittlerweile organisieren sich die oppositionellen Teile der
konservativ-liberalen islamischen Bewegung um Zeitschriften wie<i>
Karar</i> oder Bewegungen wie<i> <a href="https://hakveadaletplatformu.blogspot.de/">Hak
ve Adalet Platformu</a></i> (Plattform für Recht und Gerechtigkeit),
die zum Großteil aus ehemaligen AKP-Kadern besteht. Oder sie
profilieren sich mit berühmten Persönlichkeiten wie dem Professor
<a href="http://www.gazeteduvar.com.tr/yazarlar/2017/08/05/prof-cihangir-islam-ak-partide-islamci-yok/">Cihangir
Islam</a>, der zu den intellektuellen Größen des politischen Islams
in der Türkei gehört.</p><p>
</p><p>
</p><p>3. Ebenfalls bedeutend
ist, dass die AKP keinen nennenswerten Boden in den kurdischen
Gebieten gewinnen konnte. Hier waren die offiziellen Nein-Stimmen in
weiten Teilen weit über 50 Prozent, obgleich der türkische Staat
dort einen Großteil der HDP-Strukturen zerschlagen und auch
repressiv gegen so ziemlich alle Wahlveranstaltungen vorgegangen war.
Es stimmt zwar, dass diesmal in den kurdischen Gebieten weniger gegen
die AKP gestimmt haben als zuvor. Allerdings hat auch der Großteil
der Wahlfälschung vermutlich in den kurdischen Gebieten
stattgefunden. Es ist nicht weiter erstaunlich: Nach all dem
Staatsterror und der barbarischen Kriegsführung seitens des
türkischen Staates in den Jahren 2015-16, der ganze Städte in
Schutt und Asche gelegt hat, findet der Großteil der Kurd*innen
Erdoğans Politik immer noch nicht besonders toll. Die Strategie in
Bezug auf die „Kurdenfrage“ – Einbindung einerseits, brutale
Unterdrückung und Vernichtung andererseits – scheint endgültig an
die Wand gefahren zu sein.</p><p>
</p><p>
</p><p>4. Geradezu als ein
Desaster erwies sich die Allianz, die die AKP mit der klassischen
nationalistisch-faschistischen Partei, der<i> Milliyetçi Hareket
Partisi</i> (MHP, Partei der nationalistischen Bewegung), einging.
Insbesondere für die MHP wurde dies zum Verhängnis: Umfragen
ergaben, dass die MHP im Zuge der Referendumswahlen bis zu 70 Prozent
ihrer Wähler*innenbasis verloren hat. Gemeinsam hätten beide
Parteien – bemisst man es an den Wahlergebnissen zur Parlamentswahl
im November 2015 – locker mehr als 60% haben müssen. Gleichwohl
war zu erwarten, dass der MHP die Basis wegläuft: Die war von Anfang
an unzufrieden darüber, dass der derzeitige MHP-Chef Bahçeli und
seine Clique seit Mitte/Ende 2016 dazu übergingen, aktiv die AKP zu
stützen, nachdem sie Jahre lang die AKP als islamistisch und als
imperialistischen Trojaner beschimpft hatten.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der Turn der MHP-Führung
hatte zwei Gründe: Erstens führten die massiven Säuberungen im
Staatsapparat seit dem Militärputsch vom 15. Juli 2016 zu massiven
Lücken im Staat, die nun unter anderem MHP-Kader ausfüllen. Die AKP
bedurfte aber auch um der gesellschaftlichen Hegemonie willen anderer
Bündnispartner*innen, nachdem die Gülen-Bewegung zusammengehauen
wurde. Deshalb schwenkte sie rhetorisch auf nationalistische Symbolik
und Rhetorik um. Der massive Krieg gegen kurdische Autonomiegebiete
im Südosten der Türkei 2015-16 sowie die Invasion Nordsyriens im
August 2016 funktionierte auch in dieser Hinsicht: Die MHP-Führung
war damit endgültig ins Boot geholt, unterschied sich doch die AKP
selbst nicht mehr groß von Praxis und Ideologie der MHP.
Mittlerweile wird diskutiert, der MHP <a href="https://www.birgun.net/haber-detay/binali-yildirim-dan-mhp-ye-bakanlik-aciklamasi-143910.html">Ministerposten</a>
und ihrem Führer Bahçeli eventuell die Position des
<a href="https://www.medya24.com/devlet-bahceli-cumhurbaskani-yardimcisi-olabilir-haberi-1250.html">stellvertretenden
Präsidenten</a> zu geben.</p><p>
</p><p>Andererseits formierte
sich seit dem Turn der MHP eine starke innerparteiliche Opposition um
die ehemalige Innenministerin Meral Akşener. Nicht dass diese Person
besonders angenehm oder demokratisch wäre. Sie ist schlichtweg
Ausdruck und Organisatorin der dominanten Basisströmung innerhalb
der MHP: eines nach rechtsaußen gerichteten, in Teilen faschistoiden
Nationalismus, der den sunnitischen Islam als untergeordnetes Element
des Türkentums betrachtet und eine dementsprechend Machkonzentration
bei Erdoğan als Grauen empfindet. Nicht zuletzt sehen sie auch, dass
eine Präsidialdiktatur die MHP als eigenständige Partei – wie
generell das Parlament – überflüssig macht. Mittlerweile befinden
Akşener und ihre Clique sich in der Gründungsphase einer neuen
Partei und es ist sehr wahrscheinlich, dass diese in der nächsten
Zukunft eine zentrale Rolle spielen wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>5. Es ist auch
bezeichnend, dass niemand außer Katar, Guinea, Bahrain und
Azerbaijan – also alles eher kleinere Länder – Erdoğan direkt
für das Wahlergebnis gratulierte. Die EU und die USA kündigten an,
dass sie erst mit der Veröffentlichung des detaillierten
OSZE-Berichts zur Wahlbeobachtung endgültig Position beziehen
würden. Sie nahmen dann das Ergebnis hin, sprachen aber von
Irregularitäten, die zu klären seien. Anders ausgedrückt: Im
Wahlergebnis drückte sich auch die zunehmende internationale
Isolation der herrschenden Clique in der Türkei aus. Dabei sind den
EU und der USA die Demokratie und Menschenrechte total egal. Den
Militärputsch vom 12. September 1980 hat man ja schließlich auch
mitgetragen oder hingenommen. Das Problem mit der Erdoğan-Clique für
die großen imperialistischen Brüder ist ausschließlich, dass
Erdoğan – wenn auch nicht besonders erfolgreich – zu sehr
eigenständige subimperialistische Ambitionen verfolgt, nicht mehr
nach ihrer Pfeife tanzt und bockig und damit auch unberechenbar wird.
Da ihm das Referendum noch mehr Macht verleiht, reagierten die großen
Player aus dem Westen eher kühl.</p><p>
</p><p>
</p><p>6. Nicht zuletzt war das
Großkapital nicht besonders zufrieden. Die Lobbyorganisation der
größten Kapitalgruppen der Türkei, der <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-top-bosses-call-for-national-solidarity-economic-reforms-in-post-referendum-era.aspx?pageID=238&nID=112122&NewsCatID=344">TÜSIAD</a>
(quasi so etwas wie eine Kombo aus BDI und BdB) rief zur nationalen
Einheit auf und dazu, „Freiheiten und Pluralismus“
aufrechtzuerhalten, sprich keine Erdoğan-Diktatur aufzubauen. Der
TÜSIAD ist, wie schon seit langem, besorgt ob des
auseinanderbrechenden gesellschaftlichen Konsenses und der teils
politisch bedingten wirtschaftlichen Instabilität, weshalb er
gleichermaßen mantramäßig „ökonomische Reformen“ fordert.
Aber diese Sorgen beschränken sich nicht allein auf die
Kapitalgruppen, die im TÜSIAD organisiert sind. Auch die weniger
großen und tendenziell islamisch ausgerichteten Kapitalverbände und
-gruppen reagieren alarmiert: Der islamische MÜSIAD ebenso wie die
Handelskammern (TOBB), der Außenhandelsverband (DEIK) und der
Investorenverbund (YASED) <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-top-bosses-call-for-national-solidarity-economic-reforms-in-post-referendum-era.aspx?pageID=238&nID=112122&NewsCatID=344">fordern</a>
Reformen, Demokratie und ähnliches.</p><p>
</p>
<h2><b>Beschleunigte und
verdichtete Faschisierung</b></h2><p>
</p><p>Erdoğan ließ sich von
der Fragilität seines Sieges – zumindest unmittelbar – nicht
beeindrucken. Kann er auch nicht, denn für ihn steht alles auf dem
Spiel. Er ist nicht mehr in der Lage, mit „weichen“
demokratischen Mitteln und Methoden Massenzustimmung hervorzubringen
und hat seine Gegner*innen durch permanente Repression, Korruption,
Verbrechen, Unterstützung von Jihadisten und positiven Bezug auf
exorbitante Polizeigewalt in eine vollständig antagonistische
Position gedrängt. Seine Gegner*innen in der Bevölkerung wie auch
im Staat warten nur auf seinen Fall, um wie die Wölfe über ihn
herzufallen. Er hat keine andere Wahl, als an der Macht zu bleiben
und sie weiter zu vertiefen, indem er ein System stabilisiert, das
den Staat in seinen Händen zentralisiert, die Opposition permanenter
willkürlicher Repression aussetzt und eben aufgrund dieses
diktatorialen und faschistoiden Charakters Zustimmung auf ganz eigene
Art bei bestimmten Teilen der Gesellschaft hervorbringt.</p><p>
</p><p>a)<i>
Autoritarismus als Legitimationsquelle.</i> Dementsprechend zog
Erdoğan <a href="http://t24.com.tr/haber/erdogan-bosuna-ugrasmayin-ati-alan-uskudari-gecti,399447">direkt
an das Wahlergebnis anschließend</a> diese harte Linie weiter durch:
Die OSZE-Wahlbeobachtungsdelegation wurde als „Terrorsympathisanten“
gebrandmarkt, die EU-Beitrittsgespräche jederzeit für aufkündbar
erklärt, die Einführung der Todesstrafe erneut thematisiert und von
einem großen „Wiederauferstehungsepos“ geschwafelt. Es folgten
weitere herabwürdigende und übergriffige Statements: Erdoğan
<a href="http://t24.com.tr/haber/erdoganin-yargi-yarin-sizi-de-davet-ederse-sasmayin-sozlerine-chpden-yanit,409549">drohte</a>
<a href="http://siyasihaber3.org/erdogan-kapiyi-acti-kilicdaroglu-bu-isin-nereye-varacagini-biliyor-hesap-verecekler">mehrmals</a>
dem CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu, wegen dem Gerechtigkeitsmarsch
und weil dieser Tourist*innen abschrecke; bezüglich inhaftierter
Journalist*innen wiederholte er, dass sie keine Journalist*innen
seien, sondern an <a href="http://sendika62.org/2017/09/erdogan-bildiginiz-gibi-hapistekilerin-cogu-gazeteci-degil-bunlar-terorist/">Bombenlegung
</a><a href="http://sendika62.org/2017/09/erdogan-bildiginiz-gibi-hapistekilerin-cogu-gazeteci-degil-bunlar-terorist/">und
Diebstahl beteiligte Terroristen</a>; und Menschen, die ihren
Bildungsweg im westlichen Ausland fortsetzten, bezeichnete er als
„<a href="http://t24.com.tr/haber/erdogan-egitim-icin-batiya-gidenler-ajan-oluyor,445785">freiwillige
Agenten</a>“, die „uns mehr Schaden zugefügt haben als jeder
Feind“. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Dieses permanente
feindliche Bombardement geschieht dabei aus dem Kalkül, Zustimmung
aus dem rechten Lager mittels einer gezielten Barbarisierung des
politischen Diskurses und der politischen Praxis zu erlangen. Als
Teil hiervon funktioniert auch die Normalisierung einer Lynch- und
Hasskultur: Die gezielte Auslöschung von dutzenden Menschenleben in
den Kellern von Cizre 2016, die permanente Thematisierung der
Todesstrafe bzw. Forderung des Hängens der Militärputschisten, aber
auch das Geschehenlassen von islamistischen Überfällen auf
alevitische Viertel in den Tagen nach dem Militärputsch, oder das
straflose Gewährenlassen des AKP-nahen Mafiapaten Sedat Peker, der
mehrmals öffentlich kundtat, im Blute seiner Gegner*innen duschen zu
wollen und nicht zuletzt die zahlreichen frauen*feindlichen
Gesetzesvorschläge und Übergriffe – all dies folgt demselben
Kalkül und ist kein Zufall. Parallel werden weiterhin Pöstchen an
besonders militante und fanatische Erdoğan-Anhänger verteilt und
<a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/turkiye/733298/OHAL_havuzu_buyuttu..._Cemaat_medyasi_yandasa_gitti.html">Medien</a>
und <a href="http://www.diken.com.tr/darbe-girisimi-bank-asyanin-yonetim-kurulu-eski-baskanina-hapis-cezasi/">Unternehmen</a>,
die angeblich der Gülen-Gemeinschaft gehörten und dann
beschlagnahmt wurden, an Gefolgsleute überlassen. Letztlich zeigen
die Ereignisse der letzten Jahre, dass das Kalkül partiell aufging:
Millionen von Stimmen der MHP und anderer rechter Parteien wanderten
seit 2015 zur AKP, das Militär kooperierte – den Militärputsch
mal ausgenommen – enger mit der AKP, die MHP-Führung wurde zur
Stütze der AKP. Dabei ist es dennoch Fakt, dass, wie oben erwähnt,
weiterhin ein Großteil der AKP-Wähler*innenbasis dem offen
faschistoiden Diskurs und seinen Praktiken ablehnend bis
desillusioniert gegenübersteht. Insofern versuchen Erdoğan und die
AKP, stets eine Balance zwischen ihrer Massenbasis und den
radikalisierten autoritären und militanten Elementen herzustellen.
Sie bedürfen beider Elemente, um weiterhin an der Macht zu bleiben.</p><p>
</p><p>b)<i>
Faschisierung als ausufernde Repression</i>. Die Faschisierung
beschleunigte sich dementsprechend immens und verdichtete sich. Der
quasi in Permanenz geltende Ausnahmezustand sowie seit Juli 2016
insgesamt 28 weitreichende Dekrete mit Gesetzeskraft (Stand 31.08.17)
waren Hauptmotoren dieses Faschisierungsprozesses. Über die
Repression gegenüber der Opposition wird mittlerweile auch
deutschsprachig ordentlich berichtet. Bei<i> <a href="https://turkeypurge.com/">turkeypurge.com</a></i>
kann man in regelmäßigen Abständen das aktuelle Ausmaß
nachschlagen: Über 146.000 Staatsbedienstete (darunter über 8600
Akademiker*innen) wurden entlassen und 127.000 Personen in
Untersuchungshaft genommen. (Stand: 08. Oktober 2017) Besonders hart
wird gegen die kurdische und linke Opposition vorgegangen: Fast 100
Ko-Bürgermeister*innen kurdisch verwalteter Bezirke wurden durch
Zwangsverwalter*innen ersetzt, Tausende Aktivist*innen oder
Gewerkschafter*innen entlassen oder inhaftiert. Auch für
Medienschaffende sieht es schlecht aus: Laut <a href="http://sendika62.org/2017/07/chp-milletvekili-ilgezdi-medya-ve-ozgurluk-raporunu-acikladi/">Zahlen
des Justizministeriums</a> mussten im Zeitraum von 2003 bis 2016
etwas mehr als 11.000 Journalist*innen (oder auch: 68% aller in der
Türkei aktiven Journalist*innen!) aufgrund von Verstößen gegen das
Pressegesetz vor Gericht erscheinen. Knapp die Hälfte hiervon
landete zumindest zeitweise hinter Gittern. Allein im Zeitraum von
2013 bis 2016 wurden fast 36.000 Presseausweise nicht erneuert oder
widerrufen. Über 300 Journalist*innen sitzen weiterhin im Knast. Und
seit neuestem geht es auch gegen die systemimmanente
Oppositionspartei CHP.</p><p>
</p><p>Daran wird deutlich:
Mittlerweile wird schlicht alles und jede*r, der*die besonders
wirkmächtig oppositionell oder kritisch – oder einfach nicht
linientreu genug ist – unter zumeist absurden und hanebüchenen
Terrorvorwürfen inhaftiert. Noch die profiliertesten
Gülen-Gegner*innen landen mittlerweile mit dem Vorwurf, Mitglied
eben derselben Organisation zu sein, in Knast: Zum Beispiel der
Anwalt des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, <a href="http://www.hurriyet.com.tr/son-dakika-kilicdaroglunun-avukati-gozaltina-alindi-40579487">Celal
Çelik</a>. Aus Protest gegen die Infiltrierung der Justiz durch die
Gülen-Gemeinde war er im Jahre 2011 von seinem hohen Richterposten
zurückgetreten – nur um jetzt als scheinbarer Unterstützer
derselben angeklagt zu sein. Umgekehrt landen aber auch
Staatsanwält*innen und Richter*innen, die solche Scheinverfahren
anstoßen, im Knast – mit denselben Vorwürfen. So ergeht es
derzeit dem Istanbuler Generalstaatsanwalt <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/turkiye/624968/Cumhuriyet_e_sorusturma_acan_savci__FETO__uyeliginden_agir_muebbetle_yargilaniyor.html">Murat
Inam</a>, der das Verfahren gegen die <i>Cumhuriyet</i> leitet,
selbst aber ein Verfahren mit der Forderung nach lebenslänglicher
Haft aufgrund der „Mitgliedschaft bei FETÖ“ am Hals hat. Längst
ist die als Kampfbegriff und gleichzeitig offizieller juristischer
Terminus funktionierende Abkürzung „FETÖ“ (<i>Fetullah Gülen
Terör Örgütü</i>, Fetullah Gülen Terrororganisation) eine
faschistische Wunderwaffe geworden, mit der aus den willkürlichsten
Gründen der politische oder persönliche Feind – und derer gibt es
viele – ausgemerzt oder interne Disziplin im Staat erzwungen werden
kann. Funktionierst du nicht gut genug oder bist nicht Erdoğan-treu
genug? Dann heißt dein Schicksal schnell: „FETÖ“! Oder
zumindest: Entlassung aufgrund von „Ineffizienz im Kampf gegen
FETÖ“ (so geschehen mit dem Chef der Religionsbehörde, <a href="http://sendika60.org/2017/08/yetkin-erdoganin-diyanet-cikisi-yeni-adimlara-isaret-hazirlikli-olmak-lazim/">Görmez</a>)!
Suspendierst du den Staatsdienst, weil du die Ehre deines Berufes und
vor allem deines Gewissens nicht weiter durch den Dreck ziehen
möchtest? FETÖ! Also überlege dir genau, was du machst. Dies alles
geschieht zusätzlich zu den unzähligen Mikrorepressionen des
politischen Alltags: Demonstrationsverbote, willkürliche
Inhaftierungen, Namensänderungen von kurdischen Schildern, Auflagen,
Sanktionen und so weiter und so fort.</p><p>
</p><p>c)<i>
Faschisierung als Staatsumbau</i>. Auch die Umstrukturierung des
Staates ließ nicht auf sich warten, im Gegenteil. Betroffen sind
hiervon etwa das Rechtssystem, der Bildungsbereich sowie das
Sicherheitssystem, spezifisch Militär und Geheimdienst. So wurde
umgehend die Justiz umstrukturiert. Die ist zwar schon faktisch
längst auf linientreu geschalten: Die hanebüchenen und unzähligen
Terrorstrafverfahren und ihre Nutzung als politische Waffe sind Indiz
genug, dass die Justiz der verlängerte Arm Erdoğans ist. Mit der
Umstrukturierung erhält sie nun aber ihr legitimiertes Mandat dazu.
Am 21. Mai 2016 wurde bereits das Symbolbild für diesen Umstand
medienwirksam, die sogenannte <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/538261/Yuksek_yargi_Erdogan_la_cay_topladi.html">türkische
Tea Party</a>: Die Vorsitzenden der – neben dem Verfassungsgericht
– drei höchsten Gerichts- und Berufungsinstanzen der Türkei
(Staatsrat/Verwaltungsgerichtshof, Kassationshof und Rechnungshof)
ließen sich dabei ablichten, wie sie gemeinsam mit Erdoğan Tee
pflückten. Viele ähnliche symbolische <a href="http://www.diken.com.tr/aym-baskani-egildi-hukukcular-ayaga-kalkti-nezaketen-dahi-uygun-degil/">Handlungen</a>
und Rituale, die die Unterwürfigkeit der Justiz unter den
Präsidenten darstellten, folgten. Am offensten sprach darüber die
Vorsitzende des Danıştay (Staatsrat/Verwaltungsgerichtshof), <a href="http://www.diken.com.tr/cay-partisi-uclusunden-danistay-baskani-referandumdan-memnun-kuvvetler-ayriligi-belirginlesti/">Zerrin
</a><a href="http://www.diken.com.tr/danistay-baskani-chpyle-polemige-giristi-sozde-yuruyus-sozde-kurultay/">Güngör</a>:
Sie verteidigte den permanenten Ausnahmezustand sowie die Inhalte des
Referendums, sprach von einer noch nie dagewesenen Unabhängigkeit
der Justiz und verdammte den Gerechtigkeitsmarsch der CHP, der sie
Verletzung der Ehre der Justiz vorwarf. Ein Schelm, wer Böses denkt:
Ganz zufälligerweise arbeitet ihre Tochter im Präsidentenpalast in
leitender Funktion und ihr Schwiegersohn ist Manager in einem
Unternehmen der großen Rönesans Holding, die den Bauauftrag für
Erdoğans Palast erhielt.</p><p>
</p><p>Aber das allein reicht
noch nicht, vor allem nicht mittelfristig. Es braucht ein System, das
die Unterwerfung der Justiz unter den Präsidenten nicht an einzelne
Personen bindet, sondern legalisiert und normalisiert. Das wurde mit
dem Referendum geschaffen und der dementsprechende Umbau schnell in
Angriff genommen: So wurden im Mai in etwas weniger als die Hälfte
der Mitglieder des Rats der Staatsanwälte und Richter im Parlament
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/parliament-elects-seven-members-to-board-of-judges-prosecutors-.aspx?pageID=238&nID=113221&NewsCatID=339">neu
gewählt</a>. Dieser Rat bestimmt über alle Disziplinar- und
Personalfragen betreffs Richter*innen und Staatsanwält*innen, sprich
bestimmt darüber, wer richtet und anklagt. Seit dem Referendum wird
der Rat mehrheitlich direkt vom Präsidenten kontrolliert. Außerdem
werden die Bürokrat*innen, die vom Parlament in den Rat gewählt
werden, großteils solche sein, die ebenfalls der Präsident stellt,
da er nun über das Recht verfügt, alle höheren Staatsbediensteten
zu bestimmen. Es wurde <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/parliament-elects-seven-members-to-board-of-judges-prosecutors-.aspx?pageID=238&nID=113221&NewsCatID=339">kein
Hehl</a> darum gemacht, worum es bei der Wahl der neuen
Ratsmitglieder ging: Fünf der neuen Ratsmitglieder stellte die AKP,
die restlichen zwei ihre Bündnispartnerin, die MHP (darunter ist nun
auch der Anwalt des amtierenden MHP-Chefs Bahçeli). Außerdem
mussten die Leerstellen in den Richter*innenrängen und der
Staatsanwaltschaft aufgefüllt werden – natürlich mit eigenen
Leuten. So deckte z.B. der <a href="https://medium.com/@dokuz8HABER/partili-yargı-avukatlıktan-hâkimliğe-geçiş-sınavıyla-hâkim-olanların-yüzde-90-ı-akp-nin-il-ve-5f3719748f29">CHP-Abgeordnete
Yarkadaş</a> auf, dass 90 Prozent der 1.341 neuen Richter*innen vom
24. April 2017 AKP-Mitglieder aus Bezirksgruppen waren oder
anderweitig mit der AKP positiv in Beziehung standen.</p><p>
</p><p>Beim Bildungssystem sieht
es ähnlich aus. Die spezifische „Islamisierung“ der Bildung wird
vorangetrieben: Im Sommer entfernte das Bildungsministerium (MEB)
alle Passagen zur <a href="http://sendika62.org/2017/07/bakanin-demokratik-cogulcu-mufredati-cihadin-ogretilmesi-gorevimiz/">Evolutionstheorie</a>
aus den Schulbüchern und fügte stattdessen Passagen zum <a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/09/turkey-reform-education-religious.html?utm_source=Boomtrain&utm_medium=manual&utm_campaign=20170920&bt_ee=hKff0VAVHUD81NH5A7b9y5wtKTajlUq59KpB7SgFRBwJF3fUyh+jaQYQ4kXLX7+U&bt_ts=1505932373310">Dschihad</a>
sowie regimetreue Interpretationen der PKK, von Fetullah Gülen und
dem Kampf gegen den Militärputsch vom 16. Juni 2016 hinzu. Auch die
<a href="http://sendika62.org/2017/08/meb-yonetmelikte-karma-ogrenci-yurdu-ifadesi-yok-kapatin/">Schließung</a>
von geschlechtergemischten Schüler*innen- und Studierendenheimen
wurde beschlossen. Die Kaderpolitik ähnelt der im Justizsystem. Aus
dem Schulsystem wurden seit dem Militärputsch besonders viele linke
und kurdische Lehrer*innen entlassen. Ihre Reihen werden nun durch
eigene Leute aufgefüllt. So wies der CHP Istanbul-Abgeordnete
Adıgüzel im August nach, dass 90 Prozent aller für das Jahr 2017
seitens des MEB berufenen <a href="http://sendika62.org/2017/08/chpli-adiguzel-mulakati-gecen-egitimcilerin-yuzde-90i-yandas-sendika-uyesi/">neuen
leitenden Beamten im Bildungswesen</a> aus AKP-nahen Gewerkschaften
stammen. Diese Entwicklungen korrespondierten mit teils absurd
erscheinenden Entwicklungen in der Kulturpolitik, wie zum Beispiel
dem <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/no-dating-shows-on-turkeys-tvs-this-season-top-media-watchdog-official-says.aspx?pageID=238&nID=117046&NewsCatID=341">Verbot
von dating shows</a> im Fernsehen. Es ist klar, dass die
Veränderungen in Bildungs- und Kulturpolitik auf eine mittel- bis
langfristige Basis in den Köpfen der Menschen zielt – durch die
Erschaffung und Normalisierung eigener, autoritär aufgeladener
Symbole und Rituale sowie Interpretationen religiöser Texte.</p><p>
</p><p>Zentrale Veränderungen
wurden im Geheimdienst und Militär vorgenommen. Das erste Mal <a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-how-top-soldier-kept-his-post.html">tagte</a>
der Oberste Militärrat (<i>Yüksek Askeri Şura</i>, YAŞ) im August
2017 in einer Formation, in der Regierung und Präsident mehr zu
sagen hatten als das Militär. Der YAŞ entscheidet über alle
Beförderungen im Militär. Im Zuge der Säuberungen nach dem
Militärputsch waren bis zu 40 Prozent aller Generäle und Admiräle
aus ihren Posten entfernt worden, was zu einer kompletten
Zertrümmerung der inneren Einheit und Stabilität dieser
staatstragenden Institution beitrug. Daran änderte sich nichts: Alle
Oberkommandeursposten der unterschiedlichen Streitkräfte (Land,
Meer, Luft) wurden neu besetzt, zum Teil Offiziere im Widerspruch zur
Rangfolge befördert. Es setzte eine Reihe an Rücktritten bei den
Seestreitkräften ein. Generalstabschef Akar hingegen verblieb in
seinem Amt und stärkte seine Position. Es ist nicht klar, ob er aus
politischen oder persönlichen Opportunitätshinsichten so nah zu
Erdoğan steht oder ob er ein direkter Gefolgsmann von Erdoğan ist.
Mit einer langjährigen Karriere unter anderem im NATO-Hauptquartier
in Neapel einerseits, seiner persönlichen Bekanntschaft mit Kadern
der islamischen Bewegung andererseits gibt es Indizien, die für
beide Alternativen sprechen. Zuvor hatte die politische
Rehabilitation des Militärs im Zuge der Belagerung kurdischer Städte
seit 2015 einen Machtzugewinn ermöglicht. Das war eines der wenig
beachteten Hauptgründe, warum sich Teile auch des
nicht-gülenistischen Militärs überhaupt erst in der Lage wähnten,
gegen Erdoğan putschen zu können. Auch die unmittelbare Situation
nach dem Militärputsch 2016 ist entscheidend für eine Bewertung des
ambivalenten Verhältnisses von Erdoğan und Militär: Es stand lange
zur Debatte, ob nicht der Generalstabschef, die damaligen
Oberkommandierenden und der Geheimdienstchef entlassen werden.
Allesamt gerieten sie in der Putschnacht in Gefangenschaft und
konnten den Aufstand nicht stoppen. Die genauen Rollen der meisten
von ihnen in der Putschnacht sind bis heute nicht geklärt. Erdoğan
beendete die Debatten mit dem Kommentar: „Man wechselt das Pferd
nicht beim Überqueren eines Baches.“ Zu instabil war die Lage und
zu hoch die Gefahr, Militär und Geheimdienst aus dem Ruder zu
verlieren. Erdoğan musste sich darauf einlassen, weiterhin mit Fidan
(Geheimdienstchef) und Akar (Generalstabschef) zu arbeiten, was deren
individuelle politische Positionen stärkte, während parallel die
jeweiligen Institutionen geschwächt wurden. Gleichzeitig wurden
schon seit 2014 alte nationalistische Anti-AKP-Militärs, die einst
von Gülen-Kadern in Justiz und Militär verklagt oder blockiert
worden waren, wieder ins Boot geholt oder wegen fehlendem
hochqualifizierten Personal in hohe Ränge befördert. Es stellte
sich hier eine Allianz des klassischen pro-NATO sowie
nationalistischen Blocks im Militär mit der AKP und den restlichen
Elementen im Staat her. Dies ermöglicht zwar Einigung des
Staatswohls wegen im Kampf gegen die PKK und die Gülenisten, sowie
eine Stärkung und Stabilisierung der jeweiligen Alliierten –
stellt aber keine strategische Perspektive dar.</p><p>
</p><p>Erdoğan ist sich
dementsprechend, trotz ganz vielen Einheitsritualen gemeinsam mit dem
Generalstabschef Akar, gar nicht so sicher, wie treu ihm wer im
Militär ist. Noch Anfang des Jahres hatte sich das Militär mit
einem aufsehenerregenden Artikel über Kritiken der CHP am Militär
in der auflagenstarken Tageszeitung<i> Hürriyet</i> <a href="http://www.hurriyet.com.tr/karargah-rahatsiz-40376970">beschwert</a>.
Sie gab darin aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie unabhängig
von der derzeitigen Regierung agiert. Es kursieren <a href="http://odatv.com/dikkat-ceken-kare-0506171200.html">Bilder</a>,
auf denen Erdoğan bei Besuchen von Militärbataillonen Soldaten
grüßt, die keine Waffen in ihren Halftern aufweisen – warum wohl?
<a href="http://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/verda-ozer/ordunun-yuzde-kaci-ak-partili-40508533">Interne
Umfragen</a> im Militär seit dem Putsch vom 15. Juli 2016 ergaben,
dass vor allem in den oberen Rängen die islamistischen Fraktionen
schwach, die streng laizistischen Fraktionen in ihren
unterschiedlichen Lagern hingegen stark sind. Insgesamt erreicht der
Anteil der Islamisten angeblich 15 Prozent. Bei den unteren Rängen
soll es allerdings bis zu 50 Prozent Zustimmung für die Politik von
Erdoğan selbst seit dem Militärputsch vom 15. Juli 2016 geben –
allerdings nicht für die AKP, da liegt die Anhängerschaft angeblich
nur bei einem Prozent. Begründet wird die Zustimmung damit, dass das
Staatswohl bedroht sei und Erdoğan effektiv damit umgehen könne.
Dennoch sei der Anteil der Nein-Wähler*innen im Militär beim
Referendum vom 16. April 2017 überdurchschnittlich hoch gewesen und
ein Großteil der Zustimmung für Erdoğan aus den unteren Rängen
sei konjunkturell bedingt, so die Umfrage weiter. Dementsprechend
versucht das Regime, die relative Autonomie von Militär und
Geheimdienst durch schrittweise direkte Anbindung an den Präsidenten
aufzuheben oder zu minimieren. Der große Schritt diesbezüglich
wurde mit dem <a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decree-redesigns-vital-intstitutions.html">Dekret
Nr. 694</a> im August vorgenommen: In der Verfassung werden nun alle
Rechte die Nachrichtendienste betreffend direkt an den Präsidenten
gekoppelt. Der Geheimdienst MIT wird direkt an ihn angegliedert und
bekommt nun das Recht, uneingeschränkt auch im Militär
Informationen zu sammeln und aus Eigeninitiative Entlassungen im
Militär vorzunehmen. Was das Militär angeht, wird nun auch
gesetzlich ermöglicht, Beförderungen unabhängig von der Rangfolge
vorzunehmen. Der politischen Einflussnahme auf die Kommandohöhen des
Militärs werden Tür und Tor geöffnet. Gleichzeitig wird die
gesamte Militärgerichtsbarkeit abgeschafft und die Anzahl ziviler
Ausbilder*innen an Militärakademien erhöht, so dass sie nun die
Mehrheit bilden gegenüber militärischen Ausbilder*innen. <a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/05/turkey-military-will-rebuild-its-education-system.html">Schon
Ende letzten Jahres</a> wurden die Militärakademien an das
Verteidigungsministerium gebunden und AKP-nahe Zivilbeamte an
zentralen Stellen positioniert. Letztlich müssen die Tausenden von
Leerstellen seit dem Putsch ersetzt werden, wofür auch die
Aufnahmekriterien stark aufgeweicht wurden. Während Militäranalysten
davon ausgehen, dass in diesem Zusammenhang der sogenannte „<a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/05/turkey-military-will-rebuild-its-education-system.html">Gläubige
Block</a>“ im Militär, bestehend aus MHP-Kadern und Islamisten,
bedeutend gestärkt wurde, weisen sie gleichzeitig darauf hin, dass
mit den hier aufgeführten Schritten die klassische Kommandostruktur
und innere Einheit und Disziplin des Militärs in Richtung einer
Politisierung und Pluralität an Mächten innerhalb des Militärs
aufgeweicht wird. Inwiefern alle diese Entwicklungen in der Tat eine
Verankerung der Erdoğanisten im Militär besorgen oder doch eher den
klassisch nationalistischen pro-NATO Block restaurieren, oder zu
einer Abnahme der Kampfkraft des Militärs führen, oder gar das
„Röhm-Syndrom“ befördern – all das ist noch überhaupt nicht
absehbar.</p>
<h2><b>Das „Röhm-Syndrom“
und der Mythos von der Materialermüdung</b></h2><p>
</p><p>Stichwort „Röhm-Syndrom“:
Jeder Faschisierungsprozess, der auf einen Ersatz der
konstitutionellen Spielregeln durch direkte Machtpolitik setzt, dabei
aber aufgrund von Widerstand von unten oder Krisen nicht schnell
genug an Fahrt aufnimmt, sieht sich zwei grundlegenden Problemen
ausgesetzt: Einerseits fallen alle nicht-faschistischen oder
ängstlichen Elemente und Kader ab, weil sie ihren Kopf nicht weiter
riskieren wollen (oder weil sie schlicht nicht loyal und autoritär
genug sind); oder jeder, der genug Selbstbewusstsein und Macht zu
besitzen meint, dünkt, selbst der bessere Faschist zu sein. Das
Zweite bezeichne ich hier als „Röhm-Syndrom“. Beide Prozesse
nehmen in der Türkei rasant an Fahrt auf. Und beide sind Produkte
wie potenzielle Katalysatoren der Hegemoniekrise.</p><p>
</p><p>a)<i> Der Mythos
von der Materialermüdung</i>. So unbeeindruckt von der Prekarität
des Referendumergebnisses, wie es Erdoğan am Anfang zu sein schien,
war er nicht. Er <a href="http://sendika60.org/2017/08/giresunda-danisma-meclisi-toplantisinda-konusan-erdogan-2019da-isimiz-zor/">sprach
davon</a>, dass es im November 2019 (bei den ersten
Präsidentschaftswahlen entsprechend dem neuen System) schwer sein
wird, wenn nicht die Lektionen aus den Fehlern des Referendums
gezogen würden. Und so erfand er den großen Mythos von der
<a href="https://www.evrensel.net/haber/321629/erdogan-metal-yorgunlugu-var-teskilatlari-yenileyecegiz">Materialermüdung</a>:
Es habe sich, so Erdoğan immer wieder, eine gewisse Materialermüdung
in die Partei eingeschlichen. Gewisse Kreise erfüllten ihre Aufgaben
nicht mehr so, wie sie sie zu erfüllen verpflichtet seien.
Diejenigen, die zwar unersetzliche Dienste geleistet hatten, jetzt
aber etwas in der Performance hinterherhinkten – ermüdet seien –,
sollten zurücktreten und den Platz räumen. Einige lokale
AKP-Vorsitzende wurden ausgetauscht oder zum Rücktritt „überzeugt“.
Der neueste und bisher ranghöchste Rücktritt war derjenige des
alten AKP-Veteranen Kadir Topbaş, seit 14 Jahren der
Oberbürgermeister von Istanbul. Selbst diesem <a href="http://sendika62.org/2017/09/al-gozum-seyreyle-kadir-topbasin-13-yilini-istanbul-bu-hale-nasil-geldi/">schamlosen
Ekelpaket</a>, der die Betonifizierung und Gentrifizierung Istanbuls
mit aller Macht vorangetrieben hatte, erschienen fünf ihm von
AKP-nahen Unternehmen vorgelegte Baupläne vermutlich so inakzeptabel
oder offensichtlich desaströs, dass er sie ablehnte, weshalb er –
so munkelt man – gehen musste. Mittlerweile werden auch die
Bürgermeister von Ankara, Bursa
und Balıkesir – zum Teil politische Schwergewichte – zum
Rücktritt aufgefordert; sonst gäbe es „schwere Konsequenzen“
(<a href="http://sendika62.org/2017/10/erdogan-istifa-etmemeleri-durumunda-neticesi-agir-olur/">Erdoğan</a>).
Ein Großteil des zentralen exekutiven Entscheidungsgremiums der AKP
wurde „erneuert“, so dass alte AKP-Veteranen und Veteraninnen
kaum mehr vertreten sind. Dafür aber viele Junge, die zuvor keine
politische Karriere hatten und <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/the-second-phase-of-akp-rule-and-systemic-change-in-turkey.aspx?pageID=449&nID=113375&NewsCatID=409">100%
Erdoğan-loyal</a> sind. Man munkelt, dass bis 2019 <a href="http://t24.com.tr/haber/akpnin-il-ve-ilce-kongrelerinde-teskilatlarin-en-az-yuzde-50si-degisecek,420111">knapp
die Hälfte der Kader</a> „ausgetauscht“ werden sollen.</p><p>
</p><p>Letztlich ist die
Vorstellung einer Materialermüdung bloßer Mythos, der über die
eigentlich grundlegenden Probleme hinwegtäuscht. Das nur mittels
Wahlbetrug sehr knapp gewonnene Referendum und der sich permanent
fortsetzende gesellschaftliche Widerstand gegen die Faschisierung,
welche die politischen und ökonomischen Kosten derselben
hochtreiben, sowie die internationale Isolation führte zu
Irritationen und Verunsicherungen bei AKP-Kadern und organischen
Intellektuellen. Ein Austauschen derselben mit jungen Anhängern und
Anhängerinnen, die einfach nur auf militantere Art treuer, dafür
aber nicht besonders fähiger oder erfahrener sind, wird an der
kriselnden Hegemonie wenig ändern. Diese war von Anfang an nicht in
erster Linie eine Kaderfrage. Im Gegenteil: Die „Erneuerungswelle“
wird die Hegemoniekrise verschärfen, weil nun auch bis in den
engsten Kreis hinein nicht mehr die geringste Differenz geduldet
wird. Der Kreis der Führenden wird so zwar militanter und
einheitlicher, gleichzeitig jedoch enger und weniger umfassend. Damit
verliert die Führung immer mehr hegemoniale Kraft.</p><p>
</p><p>Das wird zum einen in
Bezug auf den liberal-konservative Flügel im islamischen Lager
sichtbar. Der ist, wie zuvor ausgeführt, zwischenzeitlich entweder
komplett von der AKP abgebrochen und führt eine auf Gerechtigkeit
und Demokratie gegründete Kampagne zur Erneuerung der Türkei. Oder
er befindet sich zwar noch in der AKP, geht aber seit geraumer Zeit
auf Distanz zur offiziellen Linie. Die AKP-Mitbegründer Arınç und
Gül sowie der ehemalige Außen- und dann Premierminister <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/values-of-turkeys-ruling-akp-rapidly-weakening-former-pm-davutoglu-.aspx?pageID=238&nID=113981&NewsCatID=338">Davutoğlu</a>
führen diese Front. Seit 2013 optieren sie plötzlich für eine
sanftere Gangart, die auf Dialog und Konsens setzt – schlicht und
ergreifend deshalb, weil sie befürchten, dass sich Hegemonie primär
mittels Zwang mittelfristig nicht mehr herstellen lässt. Diese
Elemente bilden gerade die Reserve und warten im Stillen darauf, dass
sie wieder an vorderster Front gebraucht werden. Auch die organischen
Intellektuellen lavieren ähnlich. Von ihnen bringt <a href="http://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/batiyla-iliskilerde-yeni-strateji-ihtiyaci-40516003">Abdulkadir</a>
<a href="http://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/bundan-sonra-bizi-ne-bekliyor-40429118">Selvi</a>,
bekannter pro-AKP-Intellektueller und Journalist, die Bedenken und
Unsicherheiten auf den Punkt: Geradezu panisch schrieb er nach dem
Referendumsergebnis, dass es nun angeraten sei, den Tonfall zu ändern
und einen inklusiveren Politikstil zu betreiben. Die Allianz mit der
MHP sei verheerend gewesen, und auch eine Entfernung von der EU würde
Putsche eher begünstigen als verhindern. Gleichzeitig sprach er
sich, unter anderem gemeinsam mit Davutoğlu, dagegen aus, dass
Journalisten der<i> Cumhuriyet</i> wegen „FETÖ“-Vorwürfen
weiterhin in Haft sitzen. Der Revolverjournalist und Erdoğan-Anhänger
<a href="http://sendika62.org/2017/09/ahmet-tasgetiren-gulerce-de-o-sebekeye-dahil-dedi-ve-stardan-ayrildi/">Ahmet
Taşgetiren</a> hingegen musste seine Tätigkeiten beim pro-AKP Blatt<i>
Star</i> aufgeben, weil die Zeitung seine Kolumnen nicht mehr
druckte. Das Blatt steht unerschütterlich weiter hinter Erdoğan.
Taşgetiren sah es nicht ein, warum einer der ehemaligen Minister
(Çağlayan), dem 2013 Korruption im großen Maßstab nachgewiesen
wurde, nicht vor Gericht gebracht wird. <a href="http://www.star.com.tr/yazar/kafa-karistirmayacak-bir-yazi-yazi-1255656/">Gleichzeitig</a>
hob er hervor, dass der Verlauf des Militärputsches vom Juli 2016
nach wie vor unklar sei und beschwerte sich über das Ausufern der
daran anschließenden Säuberungswelle. Dafür wurde er von anderen
Revolverjournalisten als Verräter gebrandmarkt. Indes gaben auch
andere zentrale Ideologen und Abgeordnete Signale des Rückzugs (z.B:
der Journalist <a href="http://sendika62.org/2017/08/yeni-safak-yazari-yoruldum-korkuyorum-bence-siz-de-korkun/">Ismail
Kılıçaslan</a>, Kolumnist bei einer der auflagenstärksten pro-AKP
Zeitungen,<i> Yeni Şafak</i>) oder der Panik (z.B. der AKP Gaziantep
Abgeordnete <a href="http://www.internethaber.com/samil-tayyar-cumhurbaskanina-izlettirmiyorlar-1774099h.htm">Tayyar</a>).
Es ist offensichtlich, dass diese Kader und organischen
Intellektuellen mittlerweile Panik bekommen vor dem hohen Risiko, das
mit der instabilen Faschisierung und ihren brutalen Mitteln
einhergeht.</p><p>
</p><p>Aber nicht nur im Kreise
der AKP-Kader und Intellektuellen, sondern auch bei den
Bündnispartnern sieht die Sachlage nicht rosig aus. Ganz vorneweg
ist da der desolate Zustand der MHP. Klar, deren Führungsriege um
Bahçeli herum hat sich nun felsenfest im Staat eingenistet und
bekommt wichtige Posten im Militär mit Aussicht auf Aufnahme in den
engsten Kreis des Präsidenten ab 2019. Dafür zerlegt’s, wie schon
erwähnt, die gesamte Partei. Scharenweise laufen MHP-Kader über zur
MHP-Abtrünnigen Meral Akşener, die ihre eigene Partei aufbaut. Es
sind vor allem führende Kader der militanten Jugendformationen, die
den Überlauf anführen. Allein innerhalb einer Woche Ende August
liefen <a href="http://sendika62.org/2017/08/mhpden-kopus-suruyor-muglada-937-son-bir-haftada-2-bin-istifa/">über
2000 Mitglieder</a> der MHP über zu Akşener. <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/823153/Meral_Aksener_li_ilk_secim_anketi_yayinlandi..._iste_sonuclar.html">Erste
Wahlprognosen</a> für 2019 gehen davon aus, dass Akşeners Partei
bis zu 20 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen erreichen
könnte (eine zweite Prognose ist etwas <a href="http://www.cumhuriyet.com.tr/amp/haber/turkiye/832740/SONAR_dan_Saray_in_keyfini_kaciracak_2019_anketi__Meclis_te_5_parti_olacak.html">vorsichtiger</a>).
Die MHP selbst könnte aus dem Parlament fliegen. Dann wären es nur
mehr die Kader der Führungsriege, die mit ihrer faschistoiden und
fanatischen Militanz der AKP im Staate zur Seite stehen würden –
gesellschaftlichen Rückhalt hätten sie nicht mehr. Und in welchem
Ausmaß sie der AKP zur Seite stünden, das ist sowieso eine ganz
eigene Frage. Noch bis vor zwei Jahren war derselbe MHP-Führer
Bahçeli, der jetzt wie wild Erdoğan verteidigt, der größte
Erdoğan-Hater der Nation. Eine rein strategische Ausrichtung: Jetzt
ist er im Bündnis mit Erdoğan und akkumuliert Macht innerhalb des
Staates. Er und seine Bande sind geradezu prädestiniert für das
„Röhm-Syndrom“: in einem Moment der aktualisierten tieferen
Krise oder bei genügend Selbstbewusstsein mit aller Macht gegen
Erdoğan vorzugehen und zu versuchen, sich selbst als den stärkeren
Faschisten zu etablieren.</p><p>
</p><p>b)<i> Das Ausmaß
des „Röhn-Syndroms“ in Partei und Staat:</i> Die erste
vermeintliche oder echte „Röhm“-Fraktion kam aus dem Inneren der
AKP und wurde (vorerst) erfolgreich marginalisiert. Und zwar – das
verwundert jetzt vermutlich die meisten Leser*innen in Deutschland –
die islamistische Fraktion innerhalb der AKP. Diesen stieß sauer
auf, dass Erdoğan in einem pragmatischen Turn zum einen die
Wiederannäherung mit Israel auf die Agenda setzte und zum zweiten
die Unterstützung für einige militante Jihadisten in Syrien kappte,
um die voranschreitende Isolation der Türkei zu vermindern. Zur
Fraktion gehört mit der IHH (<i>Insan Hak ve Hürriyetleri ve Insani
Yardım Vakfı</i>) eine „NGO“, die Waffentransporte und
logistische Unterstützung für die Jihadisten in Syrien
organisierte. Mit der Entmachtung des ehemaligen Außenministers und
Premiers Davutoğlu, der diese Fraktion führte, wurde sie an die
Seite gedrängt. Nach dem Referendum entbrannte ein <a href="http://sendika35.org/2017/04/iktidara-yakin-iki-farkli-kligin-degil-siyasal-islamin-krizi-vecih-cuzdan/">heißer
Kampf</a> in den jeweiligen Medien der Fraktionen, in denen die
islamistische Fraktion von den Erdoğanisten als „ideologische
Fanatiker“ bezeichnet wurde, während sie selbst von einem Verrat
sprachen. <a href="http://www.diken.com.tr/akpye-yakin-yazarlar-erdoganin-hedefinde-is-sirazeden-cikti-bazilari-trenden-indi/">Erdoğan
selbst</a> äußerte sich öffentlich gegen die islamistische
Fraktion. Seitdem platzt dieser Konflikt immer wieder auf.
<a href="https://www.artigercek.com/pensilkonya-uzerinden-davutoglu-kavgasi">Mittlerweile</a>
werfen sich die beiden Seiten wechselseitig vor, Mitglied der „FETÖ“
zu sein.</p><p>
</p><p>Dann wäre da noch,
ähnlich wie die MHP, die ultranationalistisch bis ebenfalls
faschistoid ausgerichtete<i> Vatan Partisi</i> (VP) unter Führung
von Doğu Perinçek. Diese Partei ist mittlerweile ein Sammelbecken
für hohe Eliten aus Militär, Justiz und Geheimdiensten geworden,
die ultranationalistisch ausgerichtet sind und im Unterschied zur
dominanten pro-NATO-Linie innerhalb des Staates die These eines
„dynamischen Gleichgewichts“ verteidigen. Nach ihrem Plan soll
ein Gleichgewicht der Zusammenarbeit mit dem Westen <i>und</i> mit
Russland hergestellt werden, um hieraus maximal möglichen
geopolitischen Profit für die Türkei herauszuschlagen. Die Crew von
Perinçek war maßgeblich für die Kontaktaufnahme mit Russland
zwecks der Normalisierung der Beziehungen zuständig. Die VP steht in
permanenter Konkurrenz zur MHP bezüglich des ultranationalistischen
Lagers, <a href="http://sendika62.org/2017/10/erdogan-asiklari-kapisti-perincek-ve-bahceli-arasinda-fitne-tartismasi/">Fetzereien</a>
gehören zur Tagesordnung. Perinçek weist fast dasselbe
Verhaltensmuster wie Bahçeli in Bezug auf die AKP auf: Bis vor zwei
Jahren verfluchte er sie als Scharia-Partei und Projekt des
Imperialismus zur Vernichtung der Türkei. Jetzt – seit er und
seine Partei mit im Staat sitzen – spricht er von Erdoğan als
einem echten Nationalisten, der gegen den Imperialismus und seine
Hampelmänner (gemeint sind PKK und „FETÖ“) kämpft.
<a href="http://vatanpartisi.org.tr/genel-merkez/rota-yazilari/dogu-perincek-akp-gidiyor-secenek-olusturmak-sart-24121">Gleichzeitig</a>
äußert Perinçek, dass „das Ende der AKP-Herrschaft“
eingeleitet sei: Sie könne nicht mehr alleine herrschen, vielmehr
müsse auf eine nationale Regierung – natürlich unter Führung der
VP – hingearbeitet werden. Übersetzt heißt das: „Hey AKP, ihr
seid am Kriseln, drückt uns Macht ab, sonst wird’s schwierig für
euch.“ Dieser seit ehedem prinzipienlose Scharlatan agiert
ausschließlich nach Machtkalkül. Er wird, sollte er die Situation
als opportun genug betrachten, genauso schnell wieder das Ruder in
die andere Richtung wenden und erneut – und diesmal gestärkter –
gegen die AKP vorgehen.</p><p>
</p><p>Nicht zuletzt gibt es da
die unzähligen kleinen Erdoğans, die vom gossenhaften Auftreten des
großen Erdoğan motiviert werden. Diese Lumpen sind es aktuell noch,
die fanatisch Erdoğan folgen und sich aufführen wie das
Allerletzte. In Anlehnung an einen der wichtigsten Chefberater von
Erdoğan seit 2013, Yiğit Bulut, werden sie „die Gegelten“
genannt. Bulut ist der Archetyp: Kein Auftritt ohne gegelte Haare und
Mafiosostyle. Mit Sprüchen wie „ich habe zwei Knarren und
unendlich viel Munition, kommt doch“ oder der These, dass dunkle
Mächte versuchten, Erdoğan per Telekinese zu töten, steht er für
die unendliche Degeneriertheit und Verlumpung derjenigen Fanatiker,
die sich mittlerweile im engsten Kreis von Erdoğan befinden. Und
natürlich: Immer wieder glaubt einer dieser Trottel, er sei genauso
toll wie Bulut oder Erdoğan, was dann regelmäßig zu Skandalen
führt. In solche muss selbst Erdoğan immer wieder mal
zurechtweisend intervenieren, um sich nicht noch das letzte Stück
Ernsthaftigkeit kaputt zu machen. Da wäre das AKP-Mitglied <a href="http://www.gazeteduvar.com.tr/politika/2017/08/04/ak-partili-ogan-yeni-bir-devlet-kurucusu-da-erdogan/">Ayhan
Oğan</a>, der sich entblödete, vor laufender Kamera davon zu reden,
dass „wir einen neuen Staat schaffen und Erdoğan ist der Führer“
– was dann sofort von der AKP-Zentrale dementiert wurde; oder der
Revolverjournalist Cem Küçük, der meinte die nicht-erdoğanistische
Zeitung<i> Hürriyet</i> sei nicht viel mehr wert als sein kleiner
Finger, woraufhin Erdoğan <a href="http://t24.com.tr/haber/fehmi-koru-erdogan-racon-aciklamasini-cem-kucukun-sozleri-nedeniyle-yapmis-olabilir,422254">erzürnt</a>
intervenierte mit „niemand macht in meinem Namen Ansagen, wenn dann
mach ich die selbst“; oder der AKP Jugendchef im Istanbuler
Stadtteil Fatih <a href="http://sendika62.org/2017/09/akpde-tersine-evrim-basladi-dunya-yuvarlak-degil-duzdur/">Tolgay
Demir</a>, der die These vertrat, dass die Erde nicht rund sondern
flach ist. Auch diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.</p><p>
</p><p>Während sich also
einerseits die liberal-konservativen Elemente verabschieden, Panik
bekommen oder schlicht von der Erdoğan-Clique selbst wegen
„Ineffizienz“ oder „Materialermüdung“ zwecks
Vereinheitlichung der Führungsriege abgestoßen werden, kriseln auch
die Bündnispartner, werden herausgefordert oder sind schlicht selbst
auf ihre eigene Machtposition bedacht. Es sind insbesondere zwei
Problemfelder, die die Hegemonie der AKP „von oben“ so dermaßen
in Krise versetzen: die außenpolitische Isolation und eng damit
verbunden die Unzufriedenheit des Großkapitals.</p>
<h2><b>Wertvolle Einsamkeit
auf ganzer Front...</b></h2><p>
</p><p>Von Anfang an visierte
die AKP auf eine Großraumpolitik. Zentrale Theoretiker ihrer
Außenpolitik (vorneweg Ahmet Davutoğlu) sahen eine Krise des
Weltsystems und ein Ende der unipolaren Weltordnung kommen. Die
Türkei sollte in dieser Übergangsperiode ihre Rolle stärken und zu
einer Regionalmacht, strategisch betrachtet gar zu einer Weltmacht
werden. Entsprechende kulturelle, politische und vor allem
wirtschaftliche Initiativen wurden lanciert. Allerdings ist
Weltpolitik eben nur auf dem Papier so einfach: Mit dem Arabischen
Frühling 2011 sah die AKP ihre Chance gekommen, überall im Nahen
Osten aktiver zu intervenieren. Die Muslimbrüder wurden in Ägypten
sogar noch dann unterstützt, als<i> global player</i> wie die USA
oder die BRD schon längst dazu übergegangen waren, al-Sisi’s
Militärdiktatur zu unterstützen; Assad, der gestern noch „unser
bester Freund“ war, wurde über Nacht zum blutrünstigen Diktator
erklärt und sein Sturz per ausländischer Intervention gefordert; in
Nordsyrien wurde militärisch einmarschiert und gegen den Irak sehr
aggressive Drohungen ausgesprochen. Mit der EU legte man sich auf
einer Art und Weise an, die mit den „Gepflogenheiten“ moderner
zwischenstaatlicher Diplomatie brach. Mittlerweile werden deutsche
Staatsbürger*innen <a href="https://revoltmag.org/articles/unnachgiebig-widerständig/">gezielt
in Geiselhaft</a> genommen und EU-Staaten die Nutzung von
„Nazi-Methoden“ vorgeworfen. Die Inkonsequenz der europäischen
Staaten im Umgang mit der Türkei wiederum liegt unter anderem darin
begründet, dass knapp <a href="http://al-monitor.com/pulse/originals/2017/01/turkey-gulf-money-lifesaver-for-economy.html">80</a><a href="http://al-monitor.com/pulse/originals/2017/01/turkey-gulf-money-lifesaver-for-economy.html">
Prozent aller Auslandsdirektinvestitionen</a> in der Türkei aus
europäischen Staaten kommen. Die jeweiligen bürgerlichen
Öffentlichkeiten und auch das Vertrauen der Regierungen hat die AKP
aber verloren. Der USA wurde von hohen Stellen offen Unterstützung
der Putschisten vom 15. Juli 2016 vorgeworfen; mittlerweile befinden
sich zwei US-Konsulatsmitarbeiter in Haft aufgrund von
„FETÖ“-Vorwürfen. Es stellte sich eine Visumskrise zwischen den
beiden Ländern ein, Erdoğan behauptete die Türkei habe die USA
nicht nötig, was eine mehr als gewagte Ansage ist.</p><p>
</p><p>Außenpolitisch gibt es
also langsam keine Freunde mehr, weshalb eine partielle Aufgabe der
eigenen Ziele (Sturz von Assad) vorgenommen wurde und
Wiederannäherungen mit Russland, dem Iran und mittlerweile auch mit
dem Irak gesucht werden. Diese niederschwellig angelegte
Wiederannäherung führte (bisher) zu keinem gemeinsamen Kampf gegen
den IS. Die Iran-nahen Milizen in Syrien und im Irak sind weiterhin
bedeutend erfolgreicher als die Türkei-nahen, weshalb sich die
Türkei gleichermaßen oft über den „aggressiven persischen
Nationalismus“ beschwert. In Nordsyrien konnte die Türkei zwar
einmarschieren, den Fortschritt der kurdischen Bewegung dort aber
(bisher) nur bremsen, nicht grundsätzlich verhindern. Zusätzlich
zeigte das Debakel den desolaten Zustand des türkischen Militärs
auf. Die politischen und ökonomischen Kosten der Invasion werden
sich mit der Zeit noch weiter steigern. Bis heute ist die Türkei
jedenfalls nicht in der Lage, weitere Fortschritte zu machen: Über
Monate hinweg bettelten die jeweiligen Regierungsstellen regelrecht
bei den USA darum, den Sturm auf Raqqa ohne die PKK-nahen
Verteidigungseinheiten YPG/J zu machen. Mittlerweile ist Rakka von
eben jenen Kräften befreit worden. Für die USA genauso wie für die
EU, Russland und den Iran war die Türkei zu einem zu instabilen und
aufmüpfigen Akteur geworden, um auf sie zu setzen. Parallel drohte
die Türkei damit, in den Kantonen Afrîn und in Menbic
einzumarschieren. Aber <a href="http://sendika40.org/2017/04/abd-tsk-ypg-catismasini-onlemek-icin-sinira-zirhli-arac-konuslandirdi/">weder</a>
USA <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/after-the-us-russia-also-pressing-turkey-on-the-ypg.aspx?pageID=449&nID=116505&NewsCatID=409">noch</a>
Russland erlaubten dies bisher, sondern intervenierten gegen einen
möglichen Einmarsch. In Idlip <a href="http://sendika58.org/2017/07/idlipteki-ic-savas-akpyi-vurdu-vecih-cuzdan/">hingegen</a>
musste Erdoğan im Juli wutschäumend zusehen, wie die ihm
nahestehende jihadistische Milizenfront Tahrir al-Sham von der
mittlerweile türkeifeindlichen Ahrar al-Sham ordentlich vermöbelt
wurde und alle zentralen Gebiete verlor. Um dagegen vorzugehen und
den Kanton Afrîn einzukreisen, marschierte die Türkei mittlerweile
in Idlip ein („Wir wollen kein zweites Kobanê“, <a href="http://sendika62.org/2017/10/erdogan-yeni-bir-kobani-yasamak-istemiyoruz-dedi-afrini-tehdit-etti">Erdoğan</a>)
– was das bringt, wird sich zeigen.</p><p>
</p><p>Wer immer und immer
wieder auf die heftigste Art droht, den Drohungen aber keine Taten
folgen lässt, den nimmt kaum mehr jemand ernst. So <a href="http://sendika62.org/2017/03/bahceliden-suriye-ozeti-turkiyenin-aciklamalarini-ciddiye-alan-yok/">beschwerte
sich</a> Bahçeli, Chef der MHP und Hauptverbündeter der AKP,
darüber, dass „niemand die türkischen Drohungen [in Richtung
Menbic] ernst nimmt“, während der AKP-nahe Intellektuelle Selvi
<a href="http://sendika62.org/2017/09/selvi-akpnin-cabalari-referandumu-erteletmeye-yetmedi-karizmayi-cizdirdik/">festhält</a>,
dass die Türkei „an Charisma eingebüßt“ habe, weil sie der
kurdischen Regionalregierung im Irak bezüglich des
Unabhängigkeitsreferendums zwar permanent gedroht, damit aber
dennoch nichts erreicht habe. Letztlich sind es insbesondere AKP-nahe
Unternehmen, die <a href="http://sendika62.org/2017/09/kurdistan-kapisi-kapanirsa-en-cok-milli-sermayemiz-uzulecek/">am</a>
<a href="https://www.rosalux.de/news/id/37886/nach-dem-referendum-in-irakisch-kurdistan/">meisten</a>
von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Barzani profitieren. Aber
nicht einmal dieser enge Kooperationspartner fügt sich einer
anvisierten türkischen Dominanz in Nahost.</p><p>
</p><p>Das aggressive
außenpolitische Auftreten der Erdoğan-Clique scheint also
vollständig unvernünftig zu sein. Es enthält aber eben doch einen
Kern von Vernunft: Die permanente Inszenierung von Stärke gegen die
„dunklen Kräfte, die sich gegen die Türkei verschworen haben“
erzeugt Zustimmung bei den rechten Kadern und Basisaktivist*innen,
die Verhinderung eines – im Falle von Barzani – noch so AKP-nahen
unabhängigen Kurdistans bezweckt die Verhinderung eines erstarkenden
kurdischen Nationalbewusstseins auch in der Türkei. Und natürlich
spuckt das ganze rechte Lager Gift und Galle ob des
Unabhängigkeitsreferendums. Hierin liegt auch dasselbe Problem wie
bei der Faschisierung im Allgemeinen: Umso mehr sich das aggressive
Auftreten als effektloses Rumgebrülle erweist, umso mehr schwindet
die Legitimität, die auf dem aggressiven Auftreten gründet.</p><p>
</p><h2>… <b>und panisches
Großkapital</b></h2><p>
</p><p>Diese außenpolitische
Isolation und das Abenteurertum gekoppelt mit der inneren
Instabilität führten und führen weiterhin zu einer instabilen
Wirtschaftslage in der Türkei. Neben dem <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-tourism-needs-long-time-to-fully-recover-says-research-firm.aspx?pageID=238&nID=117935&NewsCatID=349">massiv
eingebrochenen Tourismus</a> sind hier auch und die rückgehenden
Kapitalflüsse zentral. Der „Trump-Schock“ und die anfangs sehr
zaghafte Aufgabe des QE-Programms der US-amerikanischen Zentralbank
Fed <a href="http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/06/turkey-united-states-trump-stumbles-turkish-economy.html">führten
zwar weiterhin</a> zu einem ordentlichen Zustrom an sogenannten „hot
money“, also Geld, welches in kurzfristigen Anlagen investiert ist.
Allerdings reagieren diese besonders empfindlich auf Instabilitäten.
Die Fed hat nun angekündigt, das QE-Programm doch stärker
zurückzufahren, was die Finanzströme potenziell eher wieder in
Richtung USA kippen wird.</p><p>
</p><p>Abseits hiervon wurden
Ende 2016 die Datenerhebungsmethoden der offiziellen staatlichen
Statistikbehörde TÜIK gravierend geändert, so dass die die Türkei
plötzlich bedeutend höheres BIP-Wachstum und fast die höchste
Sparquote der Welt aufweist. Es gibt keine Transparenz darin, was
genau geändert wurde. Von dem wenigen, was nach außen durchkam,
hielten Kritiker*innen fest, dass es ungereimt und widersprüchlich
sei. Auch in den neuesten Wachstumszahlen widersprechen sich <a href="http://haber.sol.org.tr/yazarlar/korkut-boratav/ekonomide-durum-muhasebesi-205105">zum
Beispiel</a> massiv die Produktionsindizes und die Angaben zum
Wachstum. Es wird also Manipulation mit Statistiken im Großmaßstab
betrieben.</p><p>
</p><p>Das Großkapital ließ
sich nicht von den manipulierten Zahlen (offiziell ca. plus 5 Prozent
BIP-Wachstum im 1. Halbjahr 2017 gegenüber dem Vorjahr) und der
inszenierten Euphorie der regimetreuen Medienlandschaft beeindrucken.
Der Vorsitzende des TÜSIAD, Erol Bilecik, forderte <a href="http://sendika62.org/2017/09/tusiad-baskani-bilecik-buyume-gostergeleri-suni-erken-secim-istemiyoruz/">noch
im September</a> „sofortige Notmaßnahmen“ und sprach davon, dass
die Grenze eines an Konsum, Immobilien und billigen Auslandskrediten
orientierten Wachstums längst erreicht sei. In der Tat ist es so,
dass sich große Teile der türkischen Wirtschaft mit einer massiven
Ausweitung von Krediten sowie unternehmerfreundlichen Anreizen
(Gewinngarantien bei Großbauprojekten, Aufschub oder partieller
Erlass von Steuern, Sozialabgaben usw.) über Wasser halten.
Dementsprechend steigt das <a href="http://kriznotlari.blogspot.de/2017/07/turkiyede-borclanma-limiti-neden.html">Staatsdefizit</a>.
Auch die Verschuldung ins Ausland steigt: Sie liegt <a href="https://www.birgun.net/haber-detay/kirilganliklar-ve-bagimliliklar-artarken-174264.html">derzeit</a>
bei insgesamt 412 Milliarden Dollar oder bei über 50 Prozent des
BIP, während der Privatsektor den Großteil dieser Schulden führt.
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/high-growth-under-high-interest-rates.aspx?pageID=449&nID=117922&NewsCatID=516">Andererseits</a>
fallen die Industrieinvestitionen, während die Investitionen in die
Bauindustrie steigen. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/high-growth-under-high-interest-rates.aspx?pageID=449&nID=117922&NewsCatID=516">Mittlerweile</a>
bilden Investitionen in der Bauindustrie den Großteil der neuen
Investitionen, weil Industrieinvestitionen aufgrund des schlechten
Umfelds und hoher Zinsen schlicht unattraktiv erscheinen.</p><p>
</p><p>Jüngst zeigte sich
Erdoğan erbost darüber, dass sich das Großkapital die ganze Zeit
beschwert und ein Ende des Ausnahmezustandes fordert. Auf einer
Veranstaltung von Unternehmer*innen im Juli <a href="https://www.birgun.net/haber-detay/erdogan-ohal-i-grev-tehdidi-olan-yere-mudahale-icin-kullaniyoruz-169437.html">sprach
er</a> unverblümt: „Hat denn die Wirtschaft irgendwelche Probleme
gehabt wegen dem Ausnahmezustand? Wir nutzen den Ausnahmezustand
dazu, um Streiks zu verhindern. So klar ist die Sachlage.“ In der
Tat: Der wirtschaftliche Hauptprofiteur der AKP-Herrschaft ist immer
noch das Großkapital. Während die <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/borsada-ne-beklemeli/376822">Istanbuler
Börse</a> knapp 50 Prozent (1. Quartal 17) zulegte, konnten mehrere
der größten Holdings ihre Profite um 20 Prozent (<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-sabanci-holding-sees-first-half-sales-reach-55-bln.aspx?pageID=238&nID=116910&NewsCatID=345">Sabancı</a>,
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/state-run-ziraat-bank-sees-significant-rise-in-net-profits-amid-strong-loan-growth.aspx?pageID=238&nID=116820&NewsCatID=346">Ziraat
Bankası</a>; beide im 2, Quartal 17) oder gar 50 Prozent (die größte
Holding in der Türkei, <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-koc-holdings-net-profit-sees-sharp-rise-in-second-quarter.aspx?pageID=238&nID=116911&NewsCatID=345">Koç</a>,
Q2/17) steigern. Dabei ist <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-04-23/erdogan-inspired-incentives-seen-boosting-turkish-bank-profits">aber</a>
klar, dass es – neben einigen relativ stabilen
Großindustrieunternehmen wie dem einzigen Ölraffinerieunternehmen
in der Türkei, TÜPRAŞ (welches zur Koç Holding gehört) – die
massive Ausweitung von Krediten und die aufgrund der instabilen Lage
hohen Zinsen sind, die hauptsächlich zu diesem Anstieg der Profite
der Holdings mittels Ausweitung der Tätigkeit ihrer jeweiligen
Banken beitragen. Außerdem (und damit verknüpft) ist das Wachstum
zu instabil: Eine Umkehr der Geldströme oder eine Reihe an
Zahlungsausfällen kann die Balance sofort kippen. So führt die
permanente politische Instabilität und aggressive Außenpolitik zu
Stagnation in (Auslandsdirekt-) Investitionen und zu einer negativen
Beeinflussung der Handelsperspektiven (wie zum Beispiel die
Verhinderung des Upgrades der Zollunion mit der EU). Gleichzeitig
befürchtet das Großkapital natürlich, dass sich die Hegemoniekrise
verschärfen und die gesamte Ordnung in eine tiefe Krise stürzen
kann. Wie auch die europäischen Mächte haben sie das Interesse an
einer stabilen, konstitutionell abgesicherten Ordnung, die die
ungehinderte Akkumulation des Kapitals garantiert. Erdoğan
verschafft ihnen zwar derzeit immer noch ordentliche Profite, aber
auf eine äußerst prekäre, willkürliche und kriselnde Art und
Weise. Alles ausreichend Gründe, warum sich der TÜSIAD und andere,
kleinere Unternehmensverbände <a href="http://sendika43.org/2017/05/tusiad-ohal-kaldirilsin-talebinden-geri-adim-atmiyor/">bis</a>
<a href="http://sendika47.org/2017/06/iktidarin-surekliligi-ve-sermaye-talepleri-arasina-sikisan-erdogan-cem-solmaz/">heute</a>
<a href="https://www.artigercek.com/is-dunyasinda-almanya-endisesi">durchgehend</a>
und trotz hoher Profite <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/bilecik-gumruk-birliginin-guncellenmesi-20-yil-onceki-etkiyi-yapar-haberi-382665">beschweren</a>:
Es sei dringend eine Rückkehr zur Demokratie und Normalisierung der
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geboten, von der EU dürfe
man sich nicht entfernen, ausländisches Kapital dürfe nicht weiter
abgeschreckt werden, eine Vertiefung der Zollunion mit der EU sei
unabdingbar und so weiter.</p><p>
</p><h2><b>NEIN-Front, Gandi
Kemal und die eiserne Lady</b></h2><p>
</p><p>Der vielleicht zentralere
Grund für die andauernde Hegemoniekrise kommt aber „von unten“.
Eine Reihe an Gründen und Dynamiken habe ich oben aufgezählt. Es
ist klar: Eine faschistische Führung wirkt nach innen hin
unglaubwürdig, wenn sie es nicht schafft, die Gesellschaft zu
kontrollieren oder die Opposition zu vernichten. Denn einen Hauptteil
ihrer Legitimität gewinnt sie gerade aus diesem Anspruch.
Gleichzeitig steigt der Preis, der zu zahlen sein wird bei einem
eventuellen Scheitern. Es zerrüttet die innere Stabilität des
herrschenden Blocks, umso länger die Faschisierung dauert und umso
mehr sie sich brutalisiert, ohne endgültig zu siegen. Es sieht nicht
danach aus, als ob es der AKP in der nächsten Zeit besser gelingen
wird, den Widerstand zu vernichten.</p><p>
</p><p>In den europäischen
Medien wird sehr viel vom Gerechtigkeitsmarsch (<i>Adalet yürüyüşü</i>)
der Hauptoppositionspartei CHP und dem Widerstand ihres Vorsitzenden,
Kemal Kılıçdaroğlu, berichtet – sie wird zu<i> der</i> Quelle
des Widerstands in der Türkei verklärt. Das ist falsch. Die CHP
bildet nicht<i> die</i> Quelle des Widerstands; sie bildet<i> e</i><i>inen</i>
Organisationspol des Widerstands und zwar denjenigen, der die
Widerstandspotenziale bändigen will, um sie systemkonform wieder
einbinden zu können. Dabei ist ihr Vorgehen so passiv, dass es ihr,
sollte es so weitergehen, nicht einmal gelingen wird, Erdoğan zu
stürzen, selbst wenn erneut eine Krise ihn zum Straucheln bringen
sollte.</p><p>
</p><p>Der Widerstand in dieser
neuen Phase der türkischen Geschichte fing vor dem
Gerechtigkeitsmarsch der CHP an, nämlich direkt am Abend des
Referendums. Zehntausende gingen am Abend des Referendums in zumeist
„modernen“, „linkeren“ Stadtteilen vor allem in der
Westtürkei auf die Straße, um gegen den Wahlbetrug zu protestieren
und eine Neuauszählung, wenn nicht gar die Annullierung der Wahlen,
zu verlangen. Dies wiederholte sich mehrere Tage lang. Damit bekam
der gesellschaftliche Widerstand die Initiative. Bis heute haftet dem
Wahlergebnis aufgrund dieser schnellen Intervention der Makel der
Illegitimität an, was sogar regimenahe Intellektuelle beunruhigte.
Einige Neunmalkluge hingegen wiederholten die ewig richtige Einsicht,
dass man den Faschismus nicht per Wahlen stürzt. Stimmt. Nur, was
hatte das mit der politischen Realität vor Ort zu tun? Es waren
spontan Zehntausende auf den Straßen, die die Legitimität der Wahl
anzweifelten (und aus exakt diesem Grund inhaftiert wurden, aufgrund
„Anzweiflung der Legitimität des Referendums“!). Die Gegenseite
konnte keine Initiative ergreifen und bis heute keine populare
Massendynamik mehr entfalten. Es waren jene entscheidenden Stunden in
den ersten paar Tagen nach dem Referendum, die eine mit viel mehr
Massenbasis gefestigtere Macht Erdoğans verhinderten, ihn auf
Repression beschränkten und die Quelle des bis heute fortdauernden
Widerstandes bildeten – und eine Massendemoralisierung auf Seiten
des Widerstands verhinderten. Bis auf die Zähne bewaffnete
Guerillatruppen mit Massenmilizen und organisierten Revolutionsmassen
auf den Straßen mit Sturmlauf auf Ankara, das gab’s aber nicht.
Außer vielleicht in der Phantasie von einigen wenigen, die sich in
just dem Moment, in dem sich eine Massendynamik des Widerstandes
entwickelte, von der Massendynamik abwandten, um abgekoppelt und
elitär über jener Massendynamik stehend irgendwelche Projektionen
zu verkünden.</p><p>
</p><p>Die CHP verstand die
Sachlage viel besser – beziehungsweise, sie hatte schlicht mehr
Macht und Hegemonie. Sie schloss sich der Forderung nach einer
Neuauszählung beziehungsweise Annullierung der Wahl an. Neben
einigen sehr großen Worten beschränkte sie sich aber darauf, eine
Klage bei der Wahlbehörde (<i>Yüksek Seçim Kurulu</i>, YSK)
einzureichen und auf deren Entscheidung zu warten. Die Klage wurde
natürlich abgelehnt. Es war Kemal Kılıçdaroğlu selbst, der sich
von der Straßendynamik <a href="http://m.t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-chp-kurumsal-kimligiyle-sokak-protestolarina-destek-vermiyor,400466">distanzierte</a>
und betonte, dass sie als Partei nicht zur Straße aufriefen. Klar:
Sie dominierten nämlich das Geschehen auf der Straße nicht und
hätten es damals nicht in „geordnete Bahnen“ lenken können, wie
sie es dann später mit dem Gerechtigkeitsmarsch und dem
Gerechtigkeitskongress versuchten. Das kam überhaupt nicht gut an:
<a href="http://sendika34.org/2017/04/chp-uskudar-gencligi-referandumu-da-cesur-olamayan-yonetimi-de-tanimiyoruz/">Teile</a>
<a href="http://sendika34.org/2017/04/chp-gaziosmanpasa-genclik-kollari-genel-merkezi-cesur-adimlar-atmaya-cagirdi/">der
CHP-Jugend</a> forderten die Führung zu „mehr mutigen Schritten“
auf und auch gestandene Kader aus dem linken Flügel innerhalb der
CHP kritisierten nicht nur Kılıçdaroğlu, sondern die gesamte
Linie der CHP. So betonte zum Beispiel <a href="http://www.demokrathaber.org/siyaset/fikri-saglar-dokunulmazliklari-aym-ye-goturrseniz-partiden-h83264.html">Fikri
Sağlar</a> aus dem CHP-internen linken Flügel, dass Kılıçdaroğlu
autoritär innerhalb der Partei regiere und sie selbst am Debakel
Schuld seien. Er wies darauf hin, dass sie selbst daran mitgewirkt
hätten das Parlament abzuschaffen, indem sie der Aufhebung der
Immunität von HDP-Abgeordneten im Mai 2016 zustimmten. Nur knapp
entging Sağlar einem Rauswurf aus der Partei. <a href="http://t24.com.tr/haber/chpli-tekin-arkadaslarimiz-tuzaga-dustu-mykda-degisiklikler-olabilir,403349%20">Letztlich</a>
<a href="http://www.hurriyetdailynews.com/main-opposition-chp-leader-urges-his-party-to-work-as-if-polls-are-tomorrow.aspx?pageID=238&nID=113930&NewsCatID=338">verkündeten</a>
der alte rechtsnationalistische CHP-Vorsitze Baykal und der
derzeitige Vorsitzende Kılıçdaroğlu, was das strategische Ziel
der CHP ist: Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahre
2019 zu gewinnen. Das heißt natürlich, dass die grundlegende
Änderung des politischen Systems der Türkei hin zu einer
Präsidialdiktatur hingenommen und darauf hingearbeitet wird, dass
eben die CHP – eventuell mit einem etwas liberaleren Anstrich als
Erdoğan – die Macht übernehmen soll. Eine Radikalisierung der
Opposition und des gesellschaftlichen Widerstandes, um die
Implementierung und Normalisierung eben jener Präsidialdiktatur zu
verhindern, ist somit nicht vorhergesehen. Das entspricht der
klassischen Ausrichtung der CHP als Staatspartei: Sie kann mit allen
politischen Systemen und Formen und ebenfalls mit dem extremsten
Autoritarismus – solange es eben eine stabile Ordnung garantiert
und die Akkumulationsinteressen der führenden Fraktionen des
Finanzkapitals wahrt.</p><p>
</p><p>Begünstigt durch die
sich Bahn brechenden Widerstandsdynamiken, die sich aber in ihrem
autonomen Agieren nach wenigen Tagen aufgrund fehlender Organisation
und greifbarer Ergebnisse wieder zurückzogen, sowie einer vom Staat
betriebenen Lahmlegung der pro-kurdischen linken HDP mittels
Repression, ging die CHP am 15. Juni 2017 in die Offensive. Die
Inhaftierung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu wegen grotesken
Spionagevorwürfen war nicht der Grund, sondern nur Auslöser für
die Umsetzung eines Plans, der schon länger bereit war: Unter
Führung von Kılıçdaroğlu lancierte die CHP den über 400
Kilometer langen Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul. Die
Forderung des Marsches war die nach „Gerechtigkeit“ und es waren
nur Plakate mit der Aufschrift „ADALET“ (Gerechtigkeit) erlaubt.
Das Ziel war es, durch einen einigenden Slogan eine Plattform zu
schaffen, die offen war auch für nicht-CHPler, aber dennoch
eindeutig von der CHP dominiert wurde. So drehten sich die ersten
vier von zwölf <a href="http://www.gazeteemek.com/siyaset/chp-adalet-yuruyusunun-kurallarini-genelge-ile-h828.html">Regeln</a>,
nach denen der Gerechtigkeitsmarsch vorgehen sollte, darum, dass und
wie Kılıçdaroğlu den Marsch anführen sollte. Das <a href="http://haber.sol.org.tr/toplum/aydin-dogandan-adalet-yuruyusu-aciklamasi-202173">Großkapital</a>
<a href="http://www.hurriyet.com.tr/tusiad-baskanindan-adalet-mitingi-yorumu-40514820">unterstützte</a>
den Marsch. Während eine <a href="http://www.birgun.net/haber-detay/study-in-turkey-suggests-60-of-public-support-the-justice-march-170099.html">CHP-nahe
Umfrage</a> ergab, dass 60 Prozent der Bevölkerung den Marsch
unterstützen, kam eine <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/ruling-akp-issues-surveys-on-april-16-referendum-results-justice-march-support.aspx?pageID=238&nID=115719&NewsCatID=338">AKP-nahe
Umfrage</a> zwar nur auf 35 Prozent Zustimmung. Zugleich fand diese
aber heraus, dass eine Verhinderung des Marsches negative Effekte
gehabt hätte und knapp 50 Prozent der Bevölkerung nicht mehr an die
Justiz glaubten. Nach dem Marsch und einer Abschlusskundgebung mit
etwa 1,5 Millionen Menschen zeigte sich Kılıçdaroğlu <a href="http://sendika62.org/2017/08/kilicdaroglu-sivil-darbe-yasiyoruz-devletin-butun-kurumlari-isgal-edildi/">zufrieden</a>:
Er meinte, das Volk habe nun Kemal, einen normalen Menschen aus
Anatolien, kennengelernt. Seine Partei stilisierte ihn zu „Gandi
Kemal“ wegen seiner Ausdauer und seines Pazifismus. Ein zehn Punkte
umfassendes <a href="http://sendika62.org/2017/07/chpden-10-maddelik-tutum-belgesi-ile-adalet-cagrisi/">Grundsatzpapier</a>,
das Forderungen nach Aufhebung des Ausnahmezustandes, ein Ende der
Repression gegenüber der Opposition und der Journalist*innen, eine
unabhängige Justiz und viele andere sehr vernünftige Dinge
enthielt, wurde veröffentlicht und alle gesellschaftlichen Schichten
dazu aufgerufen, für die Umsetzung der Forderungen zu kämpfen. Der
Parteisprecher Bülent Tezcan meinte, sie seien <a href="http://sendika57.org/2017/07/chpden-adalet-kurultayi-karari-26-30-agustosda-canakkalede-yapilacak/">jederzeit
bereit</a> für Wahlen, eine Änderung wäre nur mit einem
Regierungswechsel möglich. Es war klar, dass sich ab jetzt die CHP
unter Führung von Kılıçdaroğlu dazu berufen fühlte, mit sehr
bodenständigen und umfassenden, aber weder die grundlegenden
gesellschaftlichen Verhältnisse noch so wirklich die
Präsidialdiktatur an sich hinterfragenden Forderungen zu einem der zwei
Hauptoppositionspole mit Massenunterstützung und
Regierungsperspektive zu avancieren.</p><p>
</p><p>Es steht außer Frage,
dass der Gerechtigkeitsmarsch sowie der darauf folgende
Gerechtigkeitskongress der CHP die unterschiedlichsten Kämpfe
zusammengeführt und manifestiert hat: Von HDP über Alevit*innen,
Feminist*innen, Werktätige und konservativ-liberale islamische
Intellektuelle bis hin zu Sozialist*innen nahmen alle die zentralen
Widerstandsdynamiken der türkischen Gesellschaft teil. Sie hatten
nur auf die nächste Gelegenheit gewartet, um ihren Widerstand wieder
zu Hunderttausenden auf die Straße zu tragen. Insofern war der
Gerechtigkeitsmarsch selbstverständlich zu begrüßen und es war
unabdingbar, dass sich auch revolutionäre Linke daran zu beteiligen
hatten – gerade auch um nicht ausschließlich der CHP die
Initiative zu überlassen. Während allerdings <a href="http://sendika51.org/2017/07/adalet-yuruyusunden-adalet-hareketine-oya-ersoy/">ein</a>
<a href="http://gazetehayir.com/sosyalist-sol-chpnin-gerceklestirdigi-adalet-kurultayi-hakkinda-ne-dusunuyor/">Teil</a>
der revolutionären Linken die CHP-Initiative abfeierte oder
lediglich einige Mängel hervorhob, hielt sich <a href="http://umutgazetesi2.org/ufuk-gollu-yazdi-adalet-yuruyusu-ama-hangi-yoldan/">ein
anderer Teil</a> vom Marsch sowie vom Kongress fern. Sie begründeten
das damit, da sich darin sonst die Unterstützung für die CHP
ausdrücken würde. Der erstere verstand dadurch nicht konsequent
genug, dass die CHP aktiv den Widerstand einzuhegen plante und es die
Aufgabe der revolutionären Linken gewesen wäre, ideologisch wie
organisatorisch unabhängig teilzunehmen, um selbst organisierend auf
die Widerstandsdynamiken zu wirken; der andere Teil hingegen sah
seine Unabhängigkeit nur dadurch garantiert, dass er sich gleich
ganz von der Massendynamik in einen entkoppelten Linksradikalismus
verabschiedete.</p><p>
</p><p>Der andere, dem
Großkapital ebenfalls konforme oppositionelle Pol mit
Massenunterstützung – im Gegensatz zu den oben erwähnten Cliquen
aus Militär, Perinçek sowie Bahçeli – soll offensichtlich die
von Meral Akşener neu zu gründende Partei werden. Einer der
hochrangigsten Überläufer zu Akşeners Seite, Koray Aydın, <a href="http://www.yenicaggazetesi.com.tr/koray-aydin-yeni-partinin-ismini-acikladi-171509h.htm">wies
darauf hin</a>, dass die neue Partei vermutlich „Demokratische
Zentrumspartei“ (<i>Merkez Demokrat Partisi</i>) heißen und alle
gesellschaftlichen Schichten ansprechen will. Es wird gemunkelt, dass
die neue Partei auf den für türkische Ultranationalisten und
Faschisten unerlässlichen Wolfsgruß als Begrüßungsritual
verzichten wird, um eine größere Reichweite zu haben. Bei den
Vorgeschichten von Akşener, Aydın und Rest kann man allerdings kaum
davon ausgehen, dass diese Clique real von ihrem Ultranationalismus
und ihren faschistoiden Zügen Abschied nehmen wird.</p><p>
</p><p>Die Haupttaktiken der
beiden bürgerlichen Pole um CHP und Akşener zeichnen sich jetzt
schon ab: Sie werden für eine oberflächliche Liberalisierung
optieren, die sich von der Polarisierung abwendet und die Repression
auf bestimmte „Antiterrormaßnahmen“ beschränkt; gleichzeitig
werden sie die relative Autonomie, die das Präsidialamt besitzt,
nicht überreizen, sondern im Sinne einer Stabilisierung der
Hegemonie nutzen wollen. Denn das Problem, das sie mit Erdoğan
haben, beschränkt sich auf seine Willkürlichkeit. Gegen das
Präsidialsystem sind sie nicht prinzipiell. Die Hoffnung des
Großkapitals sowie dieser beiden Pole ist zugleich, dass sich die
HDP von den massiven Repressionsschlägen nicht erholt und sich die
verbleibenden Strukturen gemeinsam mit allen anderen
Widerstandsdynamiken in die von der CHP und Akşener geführte Front
einreiht.</p><p>
</p><h2><b>Krise der despotischen
Staatstradition und Perspektiven der Widerstandsfront. Ausblick und
Schluss</b></h2><p>
</p><p>Ob sich diese Hoffnung
des Großkapitals bewahrheitet, bleibt ungewiss. Zu instabil ist die
Lage, die despotische Staatstradition in der Türkei befindet sich in
ihrer tiefsten Krise. Die AKP konnte im Laufe ihrer Alleinherrschaft
den Staat noch immer nicht final umorganisieren und die sich
zuspitzende Hegemoniekrise führte nach dem Putsch zu einem heillosen
Chaos innerhalb der unterschiedlichen Staatsapparate. Während sich
die innere Einheit des Militärs zersetzt und sich unterschiedliche
ex-AKP-Gegner aus dem rechtsaußen Lager im Rahmen eines instabilen
Bündnisses im Staat einnisten, befördern die zahllosen
undurchsichtigen „FETÖ“-Verfahren Misstrauen und Unsicherheit
innerhalb aller Staatsapparate. Es ist mittlerweile gar nicht mehr
klar, ob es wirklich ausschließlich der zentrale Kern um die
Erdoğan-Clique ist, der die politische Justiz innerhalb des Staates
so ausufern lässt, oder ob sich da nicht auch andere Cliquen oder
persönliche Auseinandersetzungen hineinmengen. Letztlich ist die
Führung seitens der AKP prekär. Sie wird zwar immer militanter und
einheitlicher, dafür verliert sie aber Umfang und Reichweite. Das
Kapital ist beunruhigt über so viel Chaos innerhalb des Staates aber
vor allem über die internationale Isolation, die schwierige
Wirtschaftslage und darüber, dass sich in etwa die Hälfte der
Bevölkerung nicht mehr in die Hegemonie einbinden lässt. Es ist
deshalb daran interessiert, dass die Widersprüche der türkischen
Gesellschaftsformation, aber auch die Reibungen mit den
internationalen Kräften, eingehegt und in ihrem Sinne kanalisiert
werden. Hierfür bieten sich ihr die beiden Hauptoppositionspole um
Kılıçdaroğlu und Akşener an, die gewisse Massenunterstützung
genießen. Dabei trägt das zaghafte Vorgehen von Großkapital und
CHP nicht gerade dazu bei, die erwünschte kapitalfreundliche Wende
herbeizuführen. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-leading-business-group-tusiad-denies-silent-passive-criticism-120859">Mittlerweile</a>
beschuldigen sie sich wechselseitig in aller Öffentlichkeit, nicht
effizient genug zu kämpfen. Die Nerven liegen blank; jede*r weiß,
dass es jetzt um alles geht.</p>
<p>Indes sind die
gesellschaftlichen Widerstände bei weitem nicht abgeebbt. Selbst
diejenigen, von denen die AKP meinte, sie mit dem Ausnahmezustand am
effektivsten unterdrücken zu können, sind so vital wie zuvor:
Obwohl Streiks nicht mehr erlaubt werden, kämpfen Arbeiter*innen in
ihren Betrieben um bessere Arbeitsbedingungen und Löhne sowie freie
Gewerkschaftswahl und für die Gründung von Betriebskomitees. Sie
verweigern dann eben zum Teil auf rechtswidrige Art ihre Arbeit und
können, wie das Beispiel die Kämpfe der <a href="http://www.industriall-union.org/turkish-glassworkers-fight-strike-ban-by-remaining-in-factories">Arbeiter*innen
von Şişecam</a> oder von <a href="http://sendika48.org/2017/06/petkimde-anlasma-saglandi-uc-yillik-toplu-sozlesme-imzalandi/">Petkim</a>
zeigen, tatsächlich auch größere Siege einfahren. Nicht zuletzt
ist das Todesfasten von Nuriye Gülmen und Semih Özakça nur die
Spitze eines an vielen kleinen Mikrofronten geführten Kampfes von
zumeist linken Lehrtätigen gegen ihre Massenentlassungen im Rahmen
des Gegenputsches. Auch die HDP lässt sich nicht unterkriegen: Es
stimmt, dass die Verhaftungsfurie gegenüber HDP-Parlamentarier*innen
und -Basisaktivist*innen die organisatorische Kraft der HDP enorm
schwächte. Der von der HDP geplante, monatelange <a href="http://sendika61.org/2017/08/hdpden-iki-aylik-kitlesel-eylem-takvimi-120-merkezde-halkla-bulusacak/">Kundgebungsserie</a>
im ganzen Land war auch deshalb – zumindest im Westen – kein
großer Erfolg beschienen. In den kurdischen Teilen der Türkei sieht
das aber anders aus. Nach wie vor beteiligen sich bis zu Zehntausende
von Menschen an Kundgebungen, <a href="http://sendika62.org/2017/09/hdp-diyarbakir-mitingi-fasizmin-panzehiri-cesarettir-cesareti-bulastiralim/">zum
Beispiel</a> in der HDP-Hochburg Diyarbakır. Es ist die militärische
Pattsituation mit der PKK und die Fortschritte der PKK-nahen Kräfte
in Rojava, gekoppelt mit dem ineffektiven Abenteurertum des
türkischen Staates in Syrien und im Irak, die nach wie vor eines der
größten Schwachstellen des derzeitigen Blocks an der Macht sind.
Die ganze Zeit wird so vorgeführt, dass der türkische Staat eine
auf militärischen Widerstand aufgebaute alternative Kraft nicht
zerstören oder stoppen kann.</p>
<p>Und dann gibt es noch die
anderen klassischen demokratischen (Widerstands-)Bewegungen in der
Türkei. Da wäre zum einen die feministische Bewegung. Sie gehört
weiterhin zu den kämpferischsten und zahlenstärksten, nachdem sie
vor wenigen Jahren erfolgreich ein geplantes Abtreibungsverbot
verhindern konnte. Seitdem dominieren Kämpfe um (körperliche)
Selbstbestimmung und gegen Gewalt an Frauen. Sie wenden sich auch
dagegen, dass Übergriffe gegen Frauen und LGBT* durch sexistische
Äußerungen hoher Würdenträger legitimiert werden. Das
indifferente bis täterschützende Handeln der Gerichte und Polizei
wird ebenfalls angeprangert. Ende Juli gab es eine Reihe an Protesten
gegen Gewalt an Frauen und für das Recht auf freie Kleidungswahl.
Derzeit kämpfen sie gegen ein Gesetz, das religiöse Eheschließungen
erlaubt.</p>
<p>Und auch die Alevit*innen
kämpfen seit ehedem gegen die Diskriminierung ihrer Religion und
sind deshalb ganz besonders gegen die Sunnitisierung des
Religionsunterrichts in den Schulen. Sie waren es, die am 17.
September die <a href="http://sendika62.org/2017/09/sendika-org-objektifinden-laik-bilimsel-egitim-mitingi-foto-haber/">Demonstration</a>
für eine „laizistische und wissenschaftliche Bildung“ in
Reaktion auf den oben erwähnten neuen Lehrplan für Schulen
hauptsächlich organisierten. Tausende besuchten die Demonstration.
Und nicht zuletzt hat sich in den „Nein“-Komitees vor dem
Referendum und während den Massenprotesten gegen den Wahlbetrug in
Tradition des Gezi-Aufstandes die Forderung einer demokratischen
Alternative zur Präsidialdiktatur aus der Perspektive
unterschiedlicher Gesellschaftsschichten manifestiert.</p>
<p>Es sind diese
Massenkämpfe und ihre Forderungen nach einer Demokratisierung der
Türkei, welche die Ansatzpunkte der revolutionären Linken sein
müssen. Sie gehen über die Forderung des schlichten Personal- und
Methodenwechsels im Präsidialamt hinaus. Nicht nur formieren sie
sich in einer Form, in der sich die Autonomie der Werktätigen und
widerständigen Massen gegenüber Staat und Kapital am stärksten
ausbilden können: In eigenen partizipativen Organen wie
Basiskomitees und -foren oder Betriebskoordinationen der Werktätigen
usw. Sie formieren sich zudem inhaltlich und strategisch betrachtet
an den antagonistischen Punkten des türkischen Kapitalismus, der
historisch betrachtet einher geht mit einer nicht vollendeten
demokratischen Revolution. In diese Kämpfen organisierend
und radikalisierend zu intervenieren, um eine geeinte Perspektive der demokratischen
Republik als Etappenziel zu formulieren, welche die despotische
Staatstradition des türkischen Kapitalismus als solche angreift –
dies ist die Aufgabe, die der revolutionären Linken derzeit
bevorsteht. Erst hierdurch wird es ihr auch (wieder) möglich sein,
den Kontakt zu den sunnitisch-islamischen Teilen der Werktätigen
herzustellen. Umso tiefer sich der von der AKP organisierte
Neoliberalismus in Widersprüche und Hegemoniekrisen verstrickt, umso
mehr bröckelt der Konsens auch seitens der AKP-Basis. Auf Grundlage
einer solidarischen gemeinsamen Praxis mit der Perspektive einer
demokratischen Republik werden auch größere Teile der bisherigen
AKP-Basis in die Widerstandsfront im aktiven Kampf gegen den
Faschismus integriert werden können. Und umso stärker und
kämpferischer diese Front auftritt, umso mehr können die
Kommunist*innen darin um eine Verschiebung der sozioökonomischen
Beziehungen in Richtung einer Stärkung der Arbeiter*innen kämpfen.
Letztlich sind es die Kämpfe zwischen den heute dominierenden
Akteuren, den bürgerlichen Oppositionspolen sowie der bisher
diffusen demokratischen Widerstandsfront, die bestimmen werden, welche Art von
Republik entstehen und was die Situation der Arbeiter*innenklasse in
ihr sein wird – und ob diese gemeinsam mit den Revolutionär*innen den
Kampf über den Rahmen der demokratischen Republik hinaustreiben
können wird. Auf 2019 kann die Widerstandsfront jedenfalls nicht
warten; bis dorthin hat ansonsten längst irgendein Teil der
Bourgeoisie die Kontrolle inne – oder die nächste Krise regiert.</p><hr/><p><b>Anmerkungen:</b></p><p>
</p><p>[1]<i> Bâb-ı Âli</i>,
die Hohe Pforte, ist der Sultanspalast im Herzen der historischen
Altstadt Istanbuls gewesen. Im konkreten bezeichnet sie die
Eingangspforte desselben.</p></div>
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