re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2702020-04-19T10:19:06.998105+00:00Video: Interview mit Max Zirngast zur aktuellen Lage in der Türkei2019-12-17T18:29:00+00:002020-04-19T10:19:06.998105+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/video-max-zirngast-zur-lage-in-der-tuerkei/
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<h1>Video: Interview mit Max Zirngast zur aktuellen Lage in der Türkei</h1>
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<div class="rich-text"><p>Etwa seit 2013 steckt die türkische Gesellschaft in einer sich verschärfenden Hegemoniekrise. Aber auch in der Region selbst werden im Poker um Macht und Herrschaft die Karten neu verteilt. Innerstaatlich trifft der Versuch, ein konservatives bis faschistisches Gesellschaftsmodell zu installieren, auf zunehmenden Widerstand. Noch ist unklar, was am Ende des Entwicklungsprozesses stehen wird, auch deshalb, weil die internationalen Machtverschiebungen einen erheblichen Einfluss auf die internen Entwicklungen haben. Der schleichende Rückzug der USA aus dem Nahen Osten, die Zunahme des regionalen Einflusses Russlands und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas sind dabei Teilaspekte einer komplexen politischen Neuausrichtung, die von sozialen Kämpfen begleitet wird.</p><p>Das Interview ist Teil der ausführlichen Türkei-Berichterstattung des <i>re:volt magazine</i>.<br/> Zum Weiterlesen: <a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-stärkung-des-faschismus/">Ein Krieg zur Stärkung des Faschismus</a><br/></p></div>
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<div class="rich-text"><p>Video in Kooperation mit Left Report <a href="https://leftreport.org/">leftreport.org</a></p></div>
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Deutsch-türkische Untiefen2019-10-30T17:01:22.635721+00:002019-10-30T17:04:41.057009+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/deutsch-t%C3%BCrkische-untiefen/
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<h1>Deutsch-türkische Untiefen</h1>
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<div class="rich-text"><p><i>Auch in diesem Jahr sind wir als Medienpartner*innen an einem Broschürenprojekt aus Berlin beteiligt. In der zum 30. Jahr des „Mauerfalls“ erscheinenden Broschüre</i> <a href="https://antifa-nordost.org/8948/broschuere-veranstaltungsreihe-deutschland-ist-brandstifter/">„Deutschland ist Brandstifter! Gegen den BRD-Imperialismus und den Mythos Friedliche Revolution“</a> <i>steuern wir als re:volt magazine unter anderem den nachfolgenden Text zum Verhältnis zwischen BRD-Imperialismus und Türkei bei. Release der Broschüre ist am Donnerstag, den 7. November 2019 um 19:30 Uhr im Zielona Góra (Grünberger Straße 73 / Friedrichshain).</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Noch vorletztes Jahr lieferten sich die türkische Regierung und die EU spektakuläre Wortgefechte. Anlass waren die Absagen von Wahlauftritten für AKP-Minister*innen und andere hochrangige AKP-Mitglieder in den Niederlanden und in Deutschland seitens der jeweiligen staatlichen Institutionen. Daraufhin hielt es Erdoğan für nötig, der Niederlande eine „neonazistische Gesinnung“, Staatsterrorismus und Beteiligung an Völkermord vorzuwerfen, Merkel hielt er entgegen: „Du benutzt gerade Nazi-Methoden“. Den Niederlanden wurde mit Sanktionen gedroht, die AKP-Jugend erstach unter „faschistisches Holland!“-Rufen <a href="http://www.diken.com.tr/akpli-genclerden-hollanda-protestosu-portakal-orada-kal">Orangen mit Buttermessern</a> und trank rachedürstend den mit wahrlich beeindruckender Kraft ausgepressten Saft, die <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2017/03/16/sabah-avrupadan-bilde-almanca-cevap">Revolverpresse</a> titelte: „Ihr kämpft umsonst. Eure Macht reicht nicht, um die Türkei aufzuhalten“.</p><p>Die Reaktionen auf europäischer Seite waren ungleich schärfer, als bisher gewohnt: Der niederländische Premier Rutte lehnte rigoros eine Entschuldigung und die Aufnahme von Verhandlungen bei Fortsetzung der Beleidigungen von seitens der Türkei ab, Gabriel und Steinmeier forderten ein sofortiges Ende der unsäglichen Nazi-Vergleiche, Merkel kündigte weitere Auftrittsverbote an. Dänemark sagte einen Auftritt des türkischen Premiers Yıldırım ab, der EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen Johannes Hahn strich einen Teil der EU-Fonds für die Türkei und äußerte Zweifel an der Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.</p><p>Auf diese Reaktionen der europäischen Seite reagierten wiederum hochrangige AKP-Mitglieder und Minister*innen in der von ihnen gewohnten Manier. Und so ging es eine Zeit lang munter weiter.</p><h3><b>Die Propaganda und Taten des</b> <b><i>Führers</i></b></h3><p>Diese letztlich weitestgehend auf verbaler Ebene gebliebene Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU war nichts Neues. Ihr Beginn lässt sich auf spätestens 2013 datieren. <a href="https://www.edition-assemblage.de/buecher/die-tuerkei-am-scheideweg/">Wie bekannt</a>, gingen damals mit dem Juni- oder Gezi-Aufstand Millionen von Menschen gegen das autoritäre Regime in der Türkei auf die Straßen. Die AKP-Herrschaft geriet ordentlich ins Wanken, ihr gesamter Zauber, ihr Glanz und ihre Überzeugungskraft verflogen wie ein vorübergehendes Schattenspiel. Es zeigte sich offen das hässliche Gesicht (und die Keule) der Gewaltherrschaft. Die Ereignisse der darauffolgenden Jahre zeigten zur Genüge, dass die AKP die türkische Gesellschaft nicht mehr mit demokratischen Mitteln führen konnte und dass ihr die durch demokratische Mittel hervorgebrachte Legitimation wegbrach.</p><p>Das Ende der AKP-Herrschaft war absehbar, sollten weiterhin die Spielregeln der Demokratie gelten. Ergo wurden diese von Seiten der AKP abgeschafft. Im zumeist kurdischen Südosten der Türkei wurde ein unglaublich brutaler Vernichtungskrieg gegenüber der kurdischen Bevölkerung und kurdischen Militanten entfesselt. Am Ende waren über ein Dutzend Städte großteils dem Erdboden gleichgemacht. Eine Furie der Repression und eine rasante Schließung des öffentlichen Raumes für oppositionelle Politik und Meinung, also eine<i> Faschisierung,</i> setzten ein. Und spätestens seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wird ganz offen nach dem Schmittschen Paradigma regiert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Und zum absoluten Souverän, dazu hält sich Erdoğan berufen, der von seinen Anhängern mittlerweile offen als FÜHRER, REIS im Türkischen, verehrt wird (Großschreibung im Original).</p><p>Auf der diskursiven Ebene der politischen Propaganda wurden die mittlerweile klassischen Begriffe moderner Feindbildung lanciert: Der Terrorismus, die Zinslobby, die Auslandsmächte, die dunklen Kräfte und andere ähnliche Begriffe. Das bundesdeutsche Feindstrafrecht und der US-amerikanische<i> War on Terror</i> hatten ja vorgemacht, wie man den Gebrauch solcher Begriffe institutionalisieren und damit Angriffskriege und rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen konnte. Je nach politischer Konjunktur fielen, auf die Außenpolitik bezogen, mal China, mal Russland und vor allem recht oft die Bundesrepublik in die Kategorie der dunklen Kräfte/Auslandsmächte. Mal hieß es, Deutschland habe Gezi angefacht, das nächste Mal hieß es, Deutschland beschütze Terroristen, die der Türkei schädigen würden. Nun hieß es zur Abwechslung mal, Deutschland würde „Nazi-Methoden“ anwenden.</p><p>Aus europäischer Perspektive stellten hingegen die Ereignisse ab 2013 und vor allem seit 2016 gewissermaßen endgültig klar, dass die Türkei nicht wirklich zu Europa gehörte, zumindest die europäischen Werte nicht genügend vertrete, ja sogar mit Füßen trete.</p><h3><b>Strategische Zusammenarbeit...</b></h3><p>In den zwei Jahren seit dem medialen und spektakulären Hochkochen des Türkei-EU-Konfliktes ist nicht viel übriggeblieben, außer der ab und an geäußerten „Besorgnis“ über die erodierenden Demokratiestandards in der Türkei. Zwischenzeitlich hat Sigmar Gabriel in unterwürfiger Manier Tee getrunken mit seinem türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu; der damalige Ministerpräsident der Türkei, Yıldırım, hat die Normalisierungen der Beziehungen zur BRD nach einem Treffen mit Merkel angekündigt und Erdoğan ist doch wieder in Deutschland aufgetreten, hat sich mit Merkel getroffen und lächelnd vor Kameras Hände geschüttelt trotz „tiefgehender Differenzen“.</p><p>Warum aber ist die EU und insbesondere Deutschland so zaghaft im Umgang mit der Türkei, wenn die Türkei doch angeblich alle „demokratischen Werte“ mit den Füßen tritt?</p><p>Es gibt sehr reale Interessen seitens europäischer Staaten und insbesondere der BRD an einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Und bisher entsprach das Handeln der Türkei beziehungsweise der türkischen Regierung auch weitestgehend diesen Interessen. Wenn man sich Publikationen und Äußerungen deutscher Eliten in Wirtschaft und Politik anschaut – zum Beispiel in Publikationen der regierungsnahen SWP und der christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) oder vonseiten der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) – kann man <a href="https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dverbund_doc_pdf_438_1.pdf/eef2114c-83aa-5300-184f-bd9b98d362c4?version=1.0&t=1539623935375">resümierend festhalten</a>: Die Türkei wird als langfristig erfolgsversprechender Investitionsort und Exportmarkt gesehen, von dem Deutschland als Handelspartner Nummer Eins insbesondere durch Milliarden-Investitionen im Verkehrs- und Energiesektor profitieren könne (KAS). Die deutsche Wirtschaft ist in der Tat seit den 1970ern in der Türkei aktiv und mittlerweile operieren dort über 6000 deutsche Firmen und erfreuen sich der wirtschaftsfreundlichen Politik der AKP – „ein klarer Beweis unseres starken Interesses an einem guten Verhältnis unserer beider Länder“, so DIHK-Chef Martin Wansleben <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-germany-considers-economic-sanctions.html">2017</a>. Die sich verschlechternden Beziehungen auf oberflächlicher politischer Ebene standen trotz der Erwähnung von deutschen Unternehmen auf einer semi-offiziellen Terrorliste nicht im Wege, als Siemens gemeinsam mit türkischen Partnern einen der <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/siemens-and-turkish-partners-win-billion-dollar-wind-energy-tender%E2%80%94116296">größten Aufträge</a> für Windenergie mit einem Investitionsumfang von einer Milliarde US-Dollar gewann. Im Jahr darauf profitierte erneut Siemens von einer geschichtsträchtigen Kontinuität:</p><p>Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) <a href="https://www.spiegel.de/wirtschaft/tuerkei-peter-altmaier-und-joe-kaeser-werben-fuer-bahnprojekt-a-1234836.html">reiste extra in die Türkei</a>, um den Auftrag für die Modernisierung der zu Zeiten der Baghdad-Bahn gebauten Eisenbahnschienen mit einem Investitionsumfang von sagenhaften 35 Milliarden Euro für Siemens zu garantieren. Schon vor über hundert Jahren war Siemens am Bau der Baghdad-Bahn mit tatkräftiger Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. beteiligt, alles im damals noch sehr unverblümt geäußerten Interesse des deutschen Imperialismus: „Einzig und allein eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird“. So 1902 der <a href="http://raeterepublik.de/Strategische_Partnerschaft.htm">deutsche Kolonialstratege</a> Paul Rohrbach in seinem Buch<i> Die Baghdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung</i>.</p><p>Osmanischer Kriegseintritt unter deutschem Oberkommando und deutsche Toleranz und in Teilen aktive Zuarbeit beim Armenischen Genozid folgten. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU, hält in der oben zitierten KAS-Broschüre – bei weitem nicht mehr so unverblümt wie einst, sondern zivilisierter, das heißt verschleierter – fest, dass 100-jährige politische und wirtschaftliche Banden die Türkei und Deutschland zusammenhielten und dass die Türkei ein zentraler Akteur und Stabilitätsanker sowie „unser verlässlichster Partner in der Region“ nach Israel sei, sowie die Diversifizierung der Energielieferungen an Deutschland ermögliche. [1] Die Türkei ist also <a href="https://ipc.sabanciuniv.edu/wp-content/uploads/2018/07/NATO-Report-Kirchner.pdf">aus europäischer Perspektive</a> eine „Brücke in den Nahen Osten, in den Kaukasus und indirekt auch nach Zentralasien“. Die NATO und die EU sind dabei die zwei hauptsächlichen internationalen Institutionen, die die Türkei an den Westen binden, so <a href="https://www.zeit.de/2016/31/tuerkei-nato-putschversuch-militaer">ganz richtig</a> der außenpolitische Hauptstadtkorrespondent von <i>Die Zeit</i>, Michael Thumann.</p><p>Bei dieser Interessenlage und einer solchen strategischen Zusammenarbeit ist man natürlich auch gern zu Zugeständnissen bereit, wo es um Demokratie, Menschenrechte und ähnliche profane Dinge geht. Der Bundesinnenminister de Maizière verewigte sich in dieser Angelegenheit am 25. Januar 2016 <a href="https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-106.html">mit folgenden Worten</a>: „Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessensausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt“. Der Türkei-Korrespondent der FAZ, Michael Martens, brachte die Konsequenzen einer solchen Haltung in einem Artikel vom 8. November 2016 viel direkter und ehrlicher <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/europas-notwendigkeit-mit-der-tuerkei-zu-verhandeln-14517389.html">auf den Punkt</a>: „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten“. Darauf, dass auch dies eine <a href="https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2017/maerz-april/abschied-von-europa">historische Tradition</a> hat, verwies der oben erwähnte Thumann: „Die NATO hat der Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür gewiesen [...] und sie muss heute wegen Erdogan nicht die Nerven verlieren.“</p><p>Es sind aber nicht nur Zugeständnisse, die an eine sich faschisierende Türkei gemacht werden. Es findet auch schlicht die Fortsetzung strategischer Zusammenarbeit im sicherheitsdienstlichen und militärischen Bereich statt; diese wurde von den Wortgeplänkeln auf politischer Ebene überhaupt nicht nachteilig berührt – im Gegenteil: sie verstärkte sich. Das Vorgehen der BRD gegen die PKK oder vermeintliche PKK-Unterstützer*innen ist, entgegen der Propaganda des Regimes in der Türkei, schon seit dem PKK-Verbot 1993 kontinuierlich beinhart, wie sogar ein FAZ-Artikel festhält: Seit 1992/93 wurden 52 „der PKK zurechenbare“ Organisationen in der BRD verboten, 90 „PKK-Funktionäre“ verurteilt und seit 2011 nach einer Gesetzesverschärfung noch einmal 180 <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/geht-deutschland-ausreichend-gegen-die-pkk-vor-14934050.html">Ermittlungsverfahren</a> gegen 241 Beschuldigte aufgenommen. Unter Innenminister Seehofer wurde dem nur die Krone aufgesetzt: vermehrte Razzien bei kurdischen Organisationen wie Civaka Azad und NAV-DEM, eine Zunahme der PKK-Verfahren <a href="https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/arbeiterpartei-kurdistans-pkk-ermittlungsverfahren-deutschland">um das Dreifache</a> innerhalb eines Jahres, Fahnenverbote auch für die der YPG sowie letztlich die Verbote des <i>Mezopotamien</i> Verlages und <i>Mir-Musik</i>, um nur die krassesten Beispiele aufzuzählen. Gleichzeitig befinden sich Tausende Regime-Spitzel in der BRD, werden <a href="https://taz.de/Agent-des-tuerkischen-Geheimdienstes/!5382128">Todeslisten</a> oppositioneller Politiker*innen angestellt und Mordtaten geplant. Auch die Rüstungsgüterexporte schnellten, entgegen aller Lügen Sigmar Gabriels, in die Höhe: Im Jahre 2018 war die Türkei mit Abstand an erster Stelle, was deutsche Waffenexporte angeht, und diese machten <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutschland-verkauft-fuer-184-millionen-euro-waffen-an-die-tuerkei-16287033.html">fast 33 Prozent</a> der gesamten bundesdeutschen Waffenexporte aus. Trotz einer umfassenden Militäroffensive der Türkei auf Nordostsyrien („<a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-st%C3%A4rkung-des-faschismus/">Operation Friedensquelle</a>“ seit 9. Oktober 2019), mit der die Türkei beabsichtigt, ein sehr großes Gebiet de facto zu besetzen und zu kolonialisieren, gingen die deutschen Waffenexporte in die Türkei nicht nur munter weiter, sie erreichten sogar Rekordhöhen! <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-deutschland-waffenexporte-2019-1.4644309">Allein</a> die Waffenexporte der ersten acht Monate diesen Jahres an die Türkei sind mit 250,4 Millionen Euro größer als im gesamten Jahr 2018 und schon jetzt der höchste Wert seit 2005; Die Neugenehmigungen von Waffenexporten waren bis zum 9. Oktober mit 28,5 Millionen Euro doppelt so viel (!) wie im gesamten letzten Jahr. Ganz ohne Scham konnte Außenminister Heiko Maas (SPD) die türkische Regierung für ihr immens brutales und völkerrechtswidriges Vorgehen in Nordostsyrien kritisieren und von einer „<a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/waffenembargo-exportstopp-tuerkei-offensive-heiko-maas-russland-syrien">Beschränkung</a>“ der Rüstungsgüterexporte an die Türkei sprechen, während gleichzeitig durchsickerte, dass es – wie zu erwarten – die bundesdeutsche Regierung war, die ein EU-weites Waffenembargo an die Türkei <a href="https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/bild-bundesregierung-blockiert-schaerfere-tuerkei-massnahmen-a3034311.html">verhinderte</a>. Die <i>Süddeutsche</i> <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-deutschland-waffenexporte-2019-1.4644309">meint</a> dazu: „Die praktischen Auswirkungen des teilweisen Exportstopps der Bundesregierung dürften daher relativ gering sein.“ Same shit, different day.</p><p>Auch dieses Vorgehen weist Kontinuität auf: Schon in den 1980ern und 1990ern bekam die Türkei ganze 397 Leopard-1-Panzer; allein in den Jahren von 2006 bis 2011 hingegen 354 Leopard-2-Panzer, womit die türkische Armee derzeit mehr Leopard-2-Panzer besitzt, als die Bundeswehr, wobei diese Panzerlieferungen explizit von Artikel 5 des NATO-Vertrages – Einsatz nur zur kollektiven Verteidigung – <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/bodenoffensive-afrin-kurden-tuerkei-syrien-eu-staaten-besorgnis">ausgenommen</a> wurden. Konsequenterweise waren diese Panzer beim Angriff auf Afrin im Frühjahr 2018 im Einsatz – einem Angriff, den sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im März 2018 als <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/militaeroffensive-afrin-tuerkei-bundestag-voelkerrecht">nicht dem Völkerrecht entsprechend</a> einstufte. Derselbe Wissenschaftliche Dienst fügte Ende 2018 in einem separaten Gutachten hinzu, dass die Präsenz der Türkei in Syrien „die <a href="https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-12/bundestagsgutachten-besatzungsmacht-tuerkei-syrien">Kriterien einer militärischen Besatzung</a>“ erfülle. Die Bundesregierung hingegen zeigte sich <a href="https://www.welt.de/politik/ausland/article172805011/Syrien-Einsatz-Bundesregierung-sieht-legitime-Sicherheitsinteressen-der-Tuerkei.html">besorgt</a>, sprach aber gleichzeitig von „legitime[n] türkische[n] Sicherheitsinteressen“. Jetzt, mit der „Operation Friedensquelle“, legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages noch einmal nach und betonte noch einmal, dass auch diese Militärinvasion im „<a href="https://www.tagesschau.de/inland/tuerkei-wissensch-dienst-101.html">Widerspruch zum Völkerrecht</a>“ stehe. Trotz alldem hat die deutsche Rheinmetall<i>,</i> gemeinsam mit dem türkischen Waffenhersteller BMC und einem malaysischen Partner und tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung, ein Waffengroßunternehmen mit dem Namen Rheinmetall BMC Defence Industry (RBSS) mit Sitz in Ankara gegründet, das laut <a href="https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2017/08/11/was-hat-rheinmetall-in-der-tuerkei-zu-verbergen">internen</a> Papieren <a href="https://www.stern.de/politik/deutschland/rheinmetall-will-doch-keine-panzer-fuer-erdogan-bauen-8526166.html">einst beabsichtigte</a>, bis zu 1000 Panzer zu einem Preis von sieben Milliarden Euro zu bauen – wobei das ganze Unternehmen derzeit in Mysterien eingehüllt ist. Ob mit Produktionsfabrik vor Ort oder Lizenzvergaben oder Exporten: Rheinmetall, Daimler AG, Heckler und Koch, VW/Renk, MTU Friedrichshafen, ThyssenKrupp Marine Systems und <a href="http://www.imi-online.de/2019/10/18/deutsche-waffen-beim-tuerkischen-militaer/">viele andere deutsche Unternehmen</a> verdienen Millionen über Millionen an den Blutbädern des türkischen Militarismus.</p><h3>… <b>und ihre Widersprüche</b></h3><p>Erdoğan und die AKP wissen nur zu gut, dass es diese sehr realen europäischen Interessen an der Türkei gibt und dass sich die etablierten Mächte in Europa für Demokratie, Menschenrechte und dergleichen offensichtlich nur dann interessieren, wenn es ihnen wirtschaftlich und geostrategisch etwas bringt. Solange Stabilität herrscht und Erdoğan im weitesten Sinne des Wortes mit den europäischen Interessen konform geht, lässt man ihm freie Hand. Die rote Linie für EU und insbesondere Deutschland ist genau dann erreicht, wenn jenen Interessen geschadet wird.</p><p>Auf keinen Fall können westliche Großmächte, so sie denn noch etwas auf ihre eigenen weltpolitischen Machtambitionen geben, tolerieren, dass von türkischer Seite aus versucht wird, ein Programm zu verfolgen, das zuerst der einstige Außenminister, später Premierminister und derzeitige Renegat Ahmet Davutoğlu Anfang der 2000er Jahre entwarf. [2] Davutoğlu glaubte, wie so viele andere, dass nach dem Ende der Sowjetunion ein Machtvakuum in der Weltordnung entstanden sei, welches die USA durch einen Alleinherrschaftsanspruch auszufüllen versuchten. Da dies nicht geklappt habe, sei die Welt nun in einem Übergang hin zu einer multipolaren Ordnung begriffen. Länder wie die Türkei könnten in dieser Übergangsperiode aufgrund ihrer <i>strategischen Tiefe</i> (historische, geographische und kulturelle Ressourcen) zu einer Regionalmacht, ja gar zur Weltmacht aufsteigen. Die ehemals wegen Putschplänen gegen die AKP inhaftierten ultranationalistischen Militärs, mit denen sich die AKP im Kampf gegen die neuen Putschmilitärs verbünden musste, beschreiben die dabei idealerweise zu verfolgende geostrategische Taktik mit solch <a href="https://t24.com.tr/haber/emekli-tumamiral-cem-gurdeniz-tanki-durdurana-sahip-cikarim,351771">imposanten Begriffen</a> wie „dynamisches Gleichgewicht“: Die Türkei könne eine relative Autonomie und Bestimmungsmacht im geostrategischen Machtgefüge erlangen, indem sie sich im Gleichgewicht zwischen den Interessen von Russland und der USA bewege, somit von keiner der beiden Parteien abhängig sei, sondern im Gegenteil beide Parteien gegeneinander für die eigene Autonomie ausspiele. Letztlich hat auch diese Haltung eine hundertjährige Tradition: Noch wenige Tage vor dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg verhandelte die jungtürkische Führung mit Russland, um einer zu starken Abhängigkeit vom deutschen Imperialismus zu entgehen.</p><p>Zwar sprechen die Fakten eine andere Sprache, als das beabsichtigte „dynamische Gleichgewicht“: Das türkische Militär ist vollständig in die NATO integriert und von ihr abhängig, 80 Prozent des Auslandsdirektinvestitionsbestands in der Türkei kommen aus der EU und die meisten Exporte der Türkei gehen in die EU. Sprich, die Türkei ist derart in die westliche Ordnung integriert, dass sich von einem dynamischen Gleichgewicht nicht reden lässt; eine Loslösung vom Westen scheint dementsprechend nicht im nationalen Interesse der Herrschenden in der Türkei zu liegen. „Doch kann sich“, so Günther Seufert von der SWP, „der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird“. Er <a href="https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A06_srt.pdf">empfiehlt</a> deshalb Zugeständnisse. Diese haben jedoch, wie oben ausgeführt, ihre Grenze am Eigeninteresse der EU als globalem Machtakteur und der BRD als deren Hauptmotor. Erdoğan und das derzeitige Regime in der Türkei hingegen können nicht mehr so einfach wie früher garantieren, dass sie diesen Interessen entsprechend handeln. Dafür sind sie einerseits zu sehr in die Ecke gedrängt; andererseits beschert ihnen erfolgreiche aggressive Außenpolitik große Zustimmung im Inland und bei den Eliten des Landes und entspricht bei Erfolg tatsächlich den Interessen derselben. Auch Seufert <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-amerikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald-trump-usa-nato-mitgliedschaft/komplettansicht">weiß oder ahnt natürlich</a>, genauso wie der oben erwähnte Davutoğlu aus türkisch-imperialistischer Perspektive, dass das erratische und aufmüpfige Verhalten der Türkei nicht allein der Konjunktur nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 entspringt, sondern seinen Grund in der veränderten Konstellation innerhalb des imperialistischen Weltsystems nach dem Ende der Sowjetunion hat: „Das Ende des Kalten Krieges hat der Türkei nicht nur in Zentralasien und auf dem Balkan neue Aktionsräume eröffnet, sondern auch im Nahen Osten. Seit dieser Zeit sucht die Türkei einerseits ihre Stellung im Nahen Osten zu stärken. Andererseits fürchtet das Land die Folgen amerikanischer Nahostpolitik, die aus seiner Perspektive die Destabilisierung nahöstlicher Staaten zur Folge hat und dadurch den Kurden des Irak, Syriens und damit auch denen der Türkei Freiräume schafft“. Die Hinwendung zu Russland und Iran sieht Seufert darin <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-amerikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald-trump-usa-nato-mitgliedschaft/komplettansicht">begründet</a>, die fehlgeschlagenen außenpolitischen Offensiven in Ägypten, Tunesien und Syrien mit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 zumindest in einen Teilerfolg bezüglich der Verhinderung eines kurdischen Staates im Norden Syriens umzumünzen. Ist also die Türkei – noch – unentwirrbar in das westlich-imperialistische System eingebunden, so auch umgekehrt: Bei einer strategischen Hinwendung der Türkei hin zu Russland – so unwahrscheinlich das heute noch klingen mag – würde sich „das globale Machtgleichgewicht verändern“; „[o]hne oder gar gegen Ankara“ kann Europa im Nahen Osten kaum agieren. Gerade deshalb ist es den politischen Eliten in Deutschland bis hinauf zur Bundeskanzlerin Merkel [3] so wichtig, die Widersprüche beider Länder nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Andererseits bleibt auch die Aufmüpfigkeit und Abwendung der Türkei vom Westen aus eben denselben Gründen der strategischen Zusammenarbeit beschränkt: Erst kürzlich wurden wieder Militärs gesäubert, die keine Zusammenarbeit mit den USA in Syrien wollten, da dies ihrer Meinung nach eine Invasion in Rojava erst einmal verunmöglichen würde; und erst daraufhin wurde ein sehr vages Einverständnis zwischen der Türkei und den USA bezüglich der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/08/turkey-united-states-syria-safe-zone-deal-divided-public.html">Errichtung einer Sicherheitszone</a> in Nordsyrien beschlossen, obwohl die Türkei noch Anfang August kurz davor stand, eine Großoffensive in Rojava zu beginnen. In der Zwischenzeit aber konnte sich die Türkei im internationalen Parkett durchsetzen und eine erneute Militärinvasion in Nordostsyrien unter dem zynischen Namen „<a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-st%C3%A4rkung-des-faschismus/">Operation Friedensquelle</a>“ lancieren – trotz fehlender internationaler Unterstützung.</p><p>Die Widersprüche zwischen der BRD und der Türkei gründen also in Widersprüchen zwischen einer größeren imperialistischen Macht und einer kleineren, in der Region subimperialistisch agierenden Macht, die zudem innenpolitische Probleme teils per außenpolitischer Offensive in den Griff zu bekommen versucht. Weil es diese Widersprüche gibt, wird auf der Oberfläche der Politik – das heißt ohne irgendetwas an der strategischen Zusammenarbeit zu ändern – auch die Erdoğan-Kritik seitens der BRD aufrechterhalten, werden verfolgte Akademiker*innen mit offenen Armen aufgenommen und sogar mutmaßliche Gülen-Anhänger*innen toleriert. Diese eher auf der unmittelbaren Oberfläche des Politischen verankerte Herangehensweise dient der BRD nicht nur dazu, sich auf oberflächliche Art die Weste rein zu halten – denn immerhin kritisiere man ja den bösen Diktator. Sie wird von der BRD selbstverständlich auch als Instrument dazu genutzt, einerseits das derzeitige Regime in der Türkei in bundesdeutschem Interesse und im Sinne der westlich orientierten Verbündeten innerhalb der Türkei zu disziplinieren; andererseits auch dazu, Teile der Eliten-internen Opposition, ob nun links oder rechts, staatlich oder zivilgesellschaftlich für sich nutzbar zu machen – im Hier und Heute, für das eigene Image wie auch für die Disziplinierung des Regimes in der Türkei; aber auch in Hinblick auf eine mögliche post-Erdoğan Türkei. Aus anderen konkreten Gründen – aus innenpolitischem Interesse und aus subimperialistischer Perspektive heraus – aber prinzipiell mit derselben Motivation, wird die Frontstellung gegenüber BRD, EU, NATO und allgemein dem Westen gegenüber vom Regime in der Türkei aufrechterhalten. Revolutionäre Linke, insbesondere diejenigen antiimperialistischer Einstellung, sollten sich über die Interessenlage zwischen der BRD und der Türkei sowie der Natur ihrer Widersprüche keine Illusionen machen und stattdessen eine eigenständige Position entwickeln.</p><p></p><p></p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b> </h3><p><i>Die erneute Invasion der Türkei in Nordostsyrien/Rojava („Operations Friedensquelle, seit 9. Oktober 2019) erfolgte nach Fertigstellung des Artikels für die Broschüre; die Online-Version wurde deshalb entsprechend ergänzt.</i></p><p><br/><b>[1]</b> Hardt, Jürgen: „Gemeinsame Verantwortung. Die wachsende Bedeutung der deutsch-türkischen Beziehungen“, in:<i> Die Politische Meinung</i>, Nr. 537, März/April 2016, S. 90–95.</p><p><b>[2]</b> Hierzu vgl. Birdal, Mehmet Sinan: „The Davutoğlu Doctrine: The Populist Construction of the Strategic Subject“, in: Akça, Bekmen, Özden (Hrsg.), <i>Turkey</i> <i>Reframed. Constituting Neoliberal Hegemony</i>, London, S. 92–106.</p><p><b>[3] </b>Vgl. <a href="https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-806392">Regierungserklärung</a> von Angela Merkel, 9. März 2017: „Es gibt also einerseits umfassende gemeinsame europäisch-türkische Interessen. Es gibt andererseits – wir spüren das in diesen Tagen einmal mehr überdeutlich – tiefgreifende Differenzen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, zwischen Deutschland und der Türkei. […] Und deshalb ergänze ich: So schwierig das alles derzeit auch ist, so unzumutbar manches ist: Unser außen-, sicherheits- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt.“</p><p></p></div>
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Abschiebung ins Kriegsgebiet2019-08-11T10:05:39.167719+00:002019-08-11T10:05:39.167719+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/abschiebung-ins-kriegsgebiet/
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<div class="rich-text"><p>Die türkische Regierung hat <a href="https://www.middleeasteye.net/news/hundreds-syrian-refugees-deported-idlib-turkey">angekündigt</a>, in den nächsten Wochen zahlreiche syrische Geflüchtete abzuschieben. „Das ist ganz einfach ein Staatsverbrechen“, sagt Zeki Öztürk, Aktivist der Parteiinitiative Toplumsal Özgürlük (Soziale Freiheit), als wir uns in Istanbul treffen. Seine Organisation ist unter anderem in der Peripherie von Istanbul aktiv, in der ein Großteil der syrischen Geflüchteten lebt.</p><p>Vor zwei Wochen begannen die türkischen Behörden, in einigen Quartieren von Istanbul Razzien durchzuführen. Sie richteten sich gegen Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis, aber auch gegen jene, deren Aufenthaltserlaubnis in einer anderen Stadt ausgestellt wurde. So registrierten sich viele Syrer*innen bei der Einreise zunächst in einer der südlichen Städte der Türkei, um von dort aus – vor allem aufgrund der Arbeitsmöglichkeiten – in die großen Städte im Westen zu ziehen. Die Bewegungen der Geflüchteten innerhalb der Türkei hängen auch mit den Abkommen und bilateralen Absprachen mit der Europäischen Union zusammen. Die EU hatte die Türkei dafür benutzt, die Einreise syrischer Geflüchteter in Europa nach seinen Bedürfnissen zu regulieren.</p><p>„Die türkische Regierung der AKP hat seit Beginn des syrischen Konflikts die Rhetorik der Solidarität mit den Geflüchteten dazu benutzt, um eine zentrale Rolle im Konflikt und somit in der ganzen geographischen Zone einzunehmen“ sagt Öztürk. In anderen Worten: Die syrischen Geflüchteten wurden dazu benutzt, um eine strategische Position im Konflikt einzunehmen, sowohl in Bezug auf die Versorgung mit Rohstoffen als auch in Bezug auf die „Sicherung der nationalen Grenzen“ besonders im Gebiet des kurdischen Syriens. Dafür wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, <a href="https://www.ilfattoquotidiano.it/2019/08/07/siria-erdogan-pronto-a-eliminare-i-curdi-ma-nellarea-la-turchia-e-supportata-da-gruppi-jihadisti-hanno-commesso-crimini-di-guerra/5368891/">mit dschihadistische Kräfte zu kollaborieren</a> – während sich Europa komplett still dazu verhält. Diese Politik bestätigt Präsident Erdoğan in der Frage um die syrische Stadt Idlib, die Bahar al-Assad mit russischer Hilfe wieder übernehmen will. Der türkische Präsident scheint bereit zu sein, Idlib aufzugeben und das Schicksal von drei Millionen Menschen gegen die ihm vom syrischen Regime erteilte Erlaubnis einzutauschen, eine neue Offensive gegen die kurdische Bevölkerung östlich des Euphrats zu starten und somit die YPG zu schwächen. Verhandlungen zwischen der Türkei und Syrien zu diesem Thema sind im Gange.</p><h2><b>Debatten um die syrischen Geflüchteten</b></h2><p>In der Debatte um die aktuelle Politik der türkischen Regierung gegen die Syrer*innen müssen nun aber laut dem Aktivisten in erster Linie vier Themen berücksichtigt werden. Erstens geht es um die Diversität der syrischen Gemeinschaft, von denen viele schon seit rund sieben Jahren in der Türkei leben. Unter den dreieinhalb Millionen Syrer*innen in der Türkei gibt es arabische Sunnit*innen, Kurd*innen, Schiit*innen, arabische Alevit*innen, nomadische/fahrende Gemeinschaften und so weiter. Es handelt sich um ein Mosaik von Ethnien und religiösen Gemeinschaften, welches das Verständnis für die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Geflüchteten verkompliziert. Historische Konflikte und soziale Vorurteile werden politisch dazu instrumentalisiert, um die Konflikte innerhalb der türkischen Gesellschaft anzufeuern. Die türkische Geflüchtetenpolitik ist dabei eindeutig: „Wenn die Politik überhaupt die realen Probleme der Syrer*innen angegangen ist, dann ausschließlich für arabisch-sunnitische Männer“, erklärt Öztürk. Bei fast der Hälfte der syrischen Geflüchteten in der Türkei handelt es sich jedoch um Kinder und Frauen, die sehr spezifischen Gefahren ausgesetzt sind. Öztürk berichtet davon, dass es deshalb beispielsweise in einem von seiner Organisation aufgebauten Kulturhaus im Quartier Alibeyköy, rund einer Stunde Busfahrt vom Istanbuler Stadtzentrum in Richtung Norden entfernt, seit nun fast drei Jahren soziale Aktivitäten gibt, welche in erster Linie diesen beiden sozialen Gruppen dienen.</p><p>Ein zweites Thema betrifft die Arbeits- und Lebensbedingungen der syrischen Geflüchteten im Kontext einer tiefgreifender Krise des <a href="https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-tuerkei.pdf">türkischen Akkumulationsregimes</a>: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 wurde einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, der Importe und des Privatkonsums gemessen. Die türkische Wirtschaft war im Vorjahr noch um sieben Prozentpunkte gewachsen, nun weist alles auf eine größere Rezession hin. Gleichzeitig stiegen die <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/opinion/guven-sak/how-to-make-syrians-more-invisible-in-turkey-145102">Anträge für Arbeitslosengeld</a> von Mai 2018 bis Mai 2019 um 52 Prozent an, im Vorjahr waren sie noch um 1,6 Prozent gesunken. Im 2018 hat die Inflation fast die 20 Prozent-Marke erreicht.</p><p>Die Regulierung der syrischen Migrationsflüsse hat faktisch zu einer Verteilung der Arbeitskraft zwischen der Europäischen Union und der Türkei geführt: Auf der einen Seite „rekrutieren“ die europäischen Staaten gut ausgebildete Syrer*innen; als Paradebeispiel fungiert dabei <a href="https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/syrische-fluechtlinge.html">Deutschland</a> mit einem großen Anteil an Fachärzt*innen bei rund 770.000 niedergelassenen syrischen Geflüchteten. Auf der anderen Seite hingegen bleiben niedrig qualifizierte Geflüchtete in der Türkei. Laut einer <a href="https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2019/07/18/syrian-refugees-in-turkey-need-better-access-to-formal-jobs/">Studie aus dem Jahr 2018</a>, welche vom türkischen Roten Halbmond durchgeführt wurde, sind rund eine Million Syrer*innen auf dem türkischen Arbeitsmarkt aktiv. Sie arbeiten in der Abfalltrennung – einer Tätigkeit, die vollständig der Informalität überlassen wird, aber ohne die das Recycling-System gar nicht funktionieren würde – im Bausektor und vor allem im Textilsektor und in der Landwirtschaft. In letzterem wird von 92 Prozent irregulärer Arbeit ohne Vertrag und soziale Absicherung gesprochen. „Die Syrer*innen sind billige Arbeitskräfte. Wenn der türkische Durchschnittslohn bei rund 2200 türkischen Lira [derzeit rund 350 Euro] liegt, verdienen Syrer*innen 500 bis 700 TL. Wir haben sogar syrische Kinder angetroffen, die 5 TL pro Tag erhielten, also nicht einmal ein Euro. Ohne die syrische Arbeitskraft würde die türkische Wirtschaft in eine noch tiefere Krise stürzen“, so Öztürk.</p><p>Das dritte Thema betrifft das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, welches im Jahr 2016 unterzeichnet wurde. Das Abkommen sah unter anderem die Überweisung von sechs Milliarden Euro <a href="https://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-4189_en.htm">Wirtschaftshilfe</a> für die Verwaltung der syrischen Geflüchteten vor. Bisher wurden drei Millionen Euro bezahlt, aber laut Öztürk ist nur ein kleiner Anteil tatsächlich in den Empfangsstrukturen syrischer Geflüchteter investiert worden. „Die europäischen Finanzierungen flossen direkt in die Taschen des türkischen Staates und der Regierungsfunktionär*innen. Anstatt in den Empfangsstrukturen und in den sozialen Dienstleistungen zu investieren, welche die tatsächlichen Bedürfnisse der Geflüchteten befriedigen würden, hat der türkische Staat drei Geflüchtetencamps auf syrischem Boden eröffnet.“</p><p>Das vierte Thema bezieht sich schließlich auf die autoritäre Zuspitzung, die unter Präsident Erdoğan insbesondere nach dem (kurzfristigen) Verlust der Parlamentsmehrheit bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 und nach dem Staatsstreichversuch vom 15. Juli 2016 vorangetrieben wurde. Seither wurden die sogenannten „Antiterroroperationen“ in den kurdischen Gebieten der Türkei, des Iraks und Syriens erhöht. Der Präsident lässt zum einen in immer wieder anschwellender Intensität sozialistische Aktivist*innen und Mitglieder der linken (bis sozialdemokratischen) Partei der Völker (HDP) festnehmen. Dasselbe gilt für die sogenannten „Neutralisierungen“ der kurdischen PKK-Kämpfer*innen im Nordirak und der YPG-Kämpfer*innen in Nordsyrien – ein ganz und gar orwellscher Begriff, der schlicht die Tötung von Kurd*innen bezeichnet. „Seit dem zunehmenden Autoritarismus der AKP-Regierung finden täglich bewaffnete Gefechte und Festnahmen statt“, erklärt Öztürk. Diese zunehmende Faschisierung habe, so der Aktivist weiter, dazu gedient, wieder die konservativen Sektoren der türkischen Gesellschaft während einer ersten Phase der Governance-Krise zu gewinnen. Nun wird sie gegen Migrant*innen angewendet.</p><h2><b>Antwort auf die ökonomische Krise</b></h2><p>Doch die Angriffe gegen die Rechte der Migrant*innen beschränken sich bei weitem nicht auf die Syrer*innen. Vor einem Monat kündete der Minister für interne Angelegenheiten Süleyman Soylu an, im Namen der Legalität und des städtischen Prestiges Razzien gegen die <a href="https://ahvalnews.com/refugee-crisis/stuck-istanbul-african-migrants-suffer-mistreatment">afrikanischen Migrant*innen in Istanbul</a> vornehmen zu wollen. Laut Forscher*innen des Migrationsforschungszentrums der Universität Koç leben zwischen 50.000 und 200.000 Afrikaner*innen in Istanbul. Sie leben vorwiegend im Stadtteil Beyoğlu und arbeiten entweder als Straßenverkäufer*innen in den stark von Tourist*innen besuchten Straßen des Zentrums oder in der Textilindustrie – ohne Versicherungen, mit Arbeitstagen von bis zu 15 Stunden und mit einem Durchschnittslohn, der mit rund 1000 TL rund der Hälfte von dem entspricht, was ein*e türkische*r Arbeiter*in durchschnittlich verdient. So ist die türkische Governance gerade daran, ihren Charakter zu verändern: „Der Autoritarismus von Erdoğan kombiniert den traditionellen türkischen Despotismus mit Formen des Neofaschismus, wie er auch in Westeuropa zu beobachten ist“, kommt Öztürk zum Schluss.</p><p>Die Auseinandersetzung um das „Problem“ der syrischen Geflüchteten deckt somit die immer weiter zunehmenden sozialen und ökonomischen Widersprüche der Türkei auf. Inmitten einer ökonomischen Krise und einer Zunahme der Erwerbslosigkeit startet die Regierung Erdoğans einen Angriff auf die schwächsten Sektoren der Gesellschaft, um damit auf wachsende Existenzängste der türkischen Arbeiter*innen zu reagieren. In einer solchen Rhetorik finden sich die CHP, welche den neuen Bürgermeister von Istanbul Ekrem İmamoğlu stellt, und die Zentralregierung der AKP zusammen. Mitte Juni kündete in der von der CHP regierten Stadt Antalya der Bürgermeister an, die <a href="https://www.dailysabah.com/politics/2019/06/11/chp-led-municipality-councils-beach-ban-for-syrians-in-antalyas-gazipasa-vetoed-by-mayor">Strände der südtürkischen Tourist*innenstadt für Syrer*innen zu verbieten</a>.</p><p>Gleichzeitig jedoch sind breite Sektoren der türkischen Ökonomie von der billigen und hyperausbeutbaren Arbeitskraft abhängig, um in der aktuellen Rezessionsphase ihre Profite garantieren zu können. Es zeichnet sich also ein nicht unbedeutender Konflikt zwischen den türkischen und internationalen Kapitalfraktionen, die in diesen Sektoren tätig sind, und der türkischen Regierung ab. Inwiefern dadurch die Dominanz der AKP und des Präsidenten Erdoğan in Frage gestellt wird, ist noch unklar. Eines jedoch ist klar: Der Kochtopf dampft und der Deckel wird nicht ewig halten können.</p><hr/><h2>Anmerkung:</h2><p>Die Angriffe des türkischen Staates auf die Geflüchteten bleibt indes nicht unbeantwortet: Es formiert sich zivilgesellschaftlicher Protest, etwa in der neu gegründeten Initiative Birlikte Yaşamak İstiyoruz (Wir wollen zusammen leben). Sie rief zu einer Kundegebung am vergangenen Wochenenende im Istanbuler Stadtteil Kadıköy auf. Das Titelbild des Artikels zeigt die Protestierenden.</p></div>
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Faschismus im Trikont: Ist der IS faschistisch?2018-04-09T04:41:21.465367+00:002018-04-26T11:56:24.172667+00:00Alp Kayserilioğlu und Geronimo Marulandaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/faschismus-im-trikont-ist-der-faschistisch/
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<div class="rich-text"><p>In
einem Punkt scheinen sich weite Teile der radikalen Linken in puncto
Syrien einig zu sein: Der Islamische Staat (IS), die
Djihadistenmiliz, deren Wurzeln im Al-Qaida Netzwerk des Irak liegen
und die bis vor ein, zwei Jahren weite Teile des Irak und Syriens
kontrollierte, muss weg. Die Motivation dahinter ist sicherlich
unterschiedlich. Ein Motiv taucht jedoch schon seit längerer Zeit
immer wieder auf, ohne dass es in der Regel hinreichend begründet
wird: Der Islamische Staat müsse bekämpft werden, denn er sei eine
faschistische Bewegung. Die kurdische Befreiungsbewegung spricht vom
Faschismus, weite Teile der türkischen Linken sprechen vom
Faschismus und auch in Deutschland ist das Argument von einem
<i>islamischen Faschismus</i> in
Bezug zur Türkei Erdoğans oder eben den zahlreichen
Djihadistenmilizen weltweit zunehmend populär – nicht nur in der
Linken, sondern gerade auch in der <i>Neuen Rechten</i>.
Warum ist die Frage also relevant? Weil an der Frage, ob etwas
faschistisch ist oder nicht, die Frage dranhängt, wie ein Gegner zu
bekämpfen ist, auf welche historische Strategien zurückgegriffen
werden kann oder eben nicht: ,,Know your Enemy“ ist eben auch für
eine Linke zentral, die den Kampf aufnehmen will.</p>
<h3>
<b>Was ist Faschismus?</b></h3>
<p>
Doch rekapitulieren wir nochmal: Was ist klassischerweise Faschismus?
Der Faschismus ist erstmal eine politische Bewegung und eine
autoritäre und staatsterroristische Variante bürgerlicher
Herrschaft, das heißt ein modernes Phänomen, das sich auf den
Kapitalismus als ökonomische Basis und den bürgerlichen Staat als
politischer Form bezieht. Er beinhaltet ein jeweils verschiedenes
Ideologiekonglomerat, das im Groben aus Versatzstücken eines
völkischen Nationalismus, verschiedenen Spielarten des Rassismus,
Militarismus, Autoritarismus, Antifeminismus und Antikommunismus
besteht. Einer seiner Hauptfunktionen – unabhängig von, aber
meistens deckungsgleich mit seinem eigenen Selbstverständnis – war
und ist die Eliminierung jeder fortschrittlichen Bewegung und
Organisation. Zur Macht gekommen war sein Regime stets in einem
Herrschaftsbündnis der rückständigsten und autoritärsten Teile
der Gesellschaft: Kirche, Krone, Militär, Geheimdienste, völkische
Konservative und Anhang, zusammen mit dem großen Kapital und dem
Großgrundbesitz. In seinem Klassenhintergrund und Standpunkt als
Bewegung ist er im Prinzip großbürgerlich mit kleinbürgerlicher
Massenbasis, versucht aber durch seine vermeintlich
antikapitalistische, faktisch völkische Rhetorik auch die unteren
Klassen unter sich zu vereinen. Ein zentrales Moment seiner
Herrschaftsmethode ist die Massenmobilisierung. Wenn wir diesen
Zusammenhang betrachten, müssen wir zunächst eines festhalten: Die
Mehrheit der Bewegungen und Regime, die klassischerweise als
faschistisch bezeichnet werden, waren europäisch. Das Konzept
Faschismus selbst kommt aus Italien.</p>
<h3>
<b>Die Ähnlichkeiten</b></h3>
<p>Kann
also auf diesem Hintergrund davon gesprochen werden, dass der IS
faschistisch ist? Zweifellos hat der IS ein reaktionäres Programm
mit entsprechender autoritärer Ideologie. Wie der historische
Faschismus, ist auch der IS die Nemesis jeder progressiven Bewegung.
Mit einer vermeintlich antiimperialistischen Rhetorik und sozialer
Demagogie versucht der IS eine klassenübergreifende
Unterstützungsbasis herzustellen. Der IS tastet
Eigentumsverhältnisse nicht an, sondern verbündet sich mit dem
jeweils lokal ansässigen Kapital und dem internationalen Kapital
seiner Unterstützer in der Türkei, Saudi-Arabien und so weiter.
Darüber hinaus verfolgt er ein strikt genozidales Programm der
Liquidierung von Minderheiten beziehungsweise deren Gleichschaltung
in ein totales theokratisches System. Ähnlichkeiten liegen also auf
der Hand.</p>
<h3>
<b>Die Unterschiede</b></h3>
<p>Kommen
wir zu den Unterschieden. Der IS baut seine Herrschaft in
nicht-europäischen Gesellschaften auf, die von Mischformen
bürgerlicher, feudaler und semi-feudaler Produktionsweisen und
Gesellschaftsformen oder zumindest transformierten Überresten
hiervon geprägt sind. Zumeist auch in solchen Ländern, in denen das
bürgerliche Staatsverständnis durch den westlichen Kolonialismus
erst importiert wurde und mehr auf Aushandlungen und Machtteilung mit
lokalen Eliten basierte als auf einer zentralstaatlichen Autorität.
Das sind ganz grundlegend andere Voraussetzungen, die andere Folgen
zeitigt: Der IS bezieht sich weder auf das moderne Konzept <i>Nation,
</i>noch auf das Konzept<i>
Volk, </i>noch auf das Konzept
<i>bürgerlicher Staat. </i>Stattdessen
begründet er seine Herrschaft religiös und verfolgt ein
Staatskonzept, in dem es keine Grenzen, nur Fronten gibt. Das Kalifat
ist im Prinzip ein weltumfassendes Konzept – etwas, das dem
Faschismus, der ja gerade eine Identität von (National-)Staat und
Volk herstellen möchte, schon im Prinzip widerspricht.</p>
<p>
Der größte Unterschied zum IS
zeigt sich jedoch in seiner ökonomischen Basis und damit seiner
politischen Perspektive: Der IS stellt keine durch Terror
stabilisierte Herrschaft des expansiven Großkapitals in einem
imperialistischen Land dar, sondern ist eine instabile
kapitalistische Kriegsökonomie, in der unterschiedliche
großkapitalistische Gruppen und politische Interessen der Welt (z.B.
Russland, USA, Saudi-Arabien, Türkei usw.) mitmischen. Dem IS fehlt
es somit an eigenständiger Perspektive, weil an eigenständiger
entwickelter ökonomischer Basis. Insofern ist und wird der IS
niemals derart von Bedeutung und Umfang sein, wie klassische
faschistische Herrschaften und Regime in Europa es waren, die durch
faschistische Stabilität und ihre ökonomische Potenz in die Lage
versetzt wurden, Weltkriege im Interesse ihrer Großkapitalisten zu
führen. Der IS ist demgegenüber rein ökonomisch ein
Übergangsregime, das bei aller zur Schau gestellter Brutalität ein
im Vergleich und strukturell betrachtet harmloses Ventil darstellt
für Möchtegernkalifen aber auch Unzufriedene, sowie der Neuordnung
der Kräfteverhältnisse im Nahost-Raum dient – unabhängig davon,
dass er selbst aktiv „das Kalifat“ anstrebt. Und deshalb ist er
zwar auch in der Lage, eines der brutalsten Schreckensregime der
letzten Jahre zu installieren – aber innerhalb von wenigen Jahren
auch wieder erst mal von der Bildfläche zu verschwinden.
</p><h3>
<b>Offene Fragen</b></h3>
<p>
Also alles Unsinn mit dem Faschismusbegriff? Nach der engeren
Definition sicher ja. Denn wir reden offensichtlich von einem System,
das sich in wesentlichen Punkten grundlegend vom historischen,
europäischen Faschismus unterscheidet. Wenn Begriffe nicht das
bezeichnen, was sie meinen, dann verlieren sie aber jeden Sinn. Der
wichtigste Punkt ist aber die Frage, ob die Konzepte
Faschismus/Antifaschismus für die linken Kräfte vor Ort eine Hilfe
darstellen: Ob sie helfen, den Gegner zu verstehen, ob die
historischen Strategien gegen den Faschismus helfen, ihn zu besiegen.
Das mag bezweifelt werden. Wie der Faschismus im Westen stets im
Zusammenhang mit Kapitalinteressen und Staatsinteressen begriffen
werden musste, da die führenden Eliten aller Länder stets in sein
Regime integriert und an vorderster Front an seiner Exekution
beteiligt waren, so muss die Herrschaft des IS in seinem historischen
und gesellschaftlichen Kontext gelesen und interpretiert werden.
</p>
<p>
Was
bedeutet es etwa für die Region und für eine progressive
Perspektive, dass Stammesverbände zunächst dem IS und nun wieder
der<i> Syrisch Arabischen Armee</i>
(SAA) von Präsident Assad die Treue schwören? Was sagen uns die
lokalen Herrschaftsbündnisse des IS über den syrischen und
irakischen Staat? Was sagen uns die Netzwerke mit Mäzenen in
Saudi-Arabien und Katar über die regionale Interessenlage? Wie
lässt sich die Wirkmächtigkeit von Religion im derzeitigen Konflikt
abseits kulturrassistischer Erklärungsmuster aufklären? Und:
Stellen wir dabei eine Hilfe für fortschrittliche Kräfte vor Ort
wie hierzulande dar, wenn wir den Faschismusbegriff in diesem Kontext
und in unserem Diskursraum nutzen? Man sollte zumindest zur Zeit
hierzulande zur Kenntnis nehmen, dass sich insbesondere solche
Strömungen auf den Begriff<i> islamischer Faschismus</i>
stützen, die damit vor allem eine antimuslimisch-rassistische,
kulturkriegerische und offen neo-koloniale Politik befördern wollen
und sich um Fragen von Kapitalismus und Imperialismus nicht oder nur
wenig kümmern.
</p></div>
</section>
</article>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Metropolenchauvinismus und Projektion2018-04-02T04:05:56.609534+00:002018-04-04T10:13:51.853365+00:00Geronimo Marulandaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/metropolenchauvinismus-und-projektion/
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<h1>Metropolenchauvinismus und Projektion</h1>
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<div class="rich-text"><p>
</p>
<p>
Während
die Türkei <a href="https://revoltmag.org/articles/die-besetzung-afr%C3%AEns/">den
nord-syrischen Kanton Afrin besetzt</a> und damit
droht, auch die restlichen Kantone Rojavas und damit die
fortschrittliche kurdische Selbstverwaltung militärisch zu
zerschlagen, wird in und außerhalb der deutschen Linken weiter über
den Charakter des gesellschaftlichen Projekts in Rojava und die
Haltung der deutschen Solidaritätsbewegung diskutiert. In diesem
Zusammenhang erschien vergangenen Oktober <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">ein
</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">A</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">r</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">t</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">i</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">k</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">e</a><a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/">l</a>
von mir, in dem eine kritische Reflexion der Positionen der hiesigen
Solidaritätsbewegung mit Rojava eingefordert wurde. Daraufhin
meldete sich der kurdische Genosse Erdal Firaz mit einem <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-den-metropolenchauvinismus-eurem-kopf/">Replik</a>,
in dem er seine Erfahrungen in der deutsch-kurdischen Zusammenarbeit
darlegte und sie mit dem Stichwort des Metropolenchauvinismus
zusammenfasste. Meine nachfolgende Antwort stimmt diesem Befund
einerseits zu. Allerdings, so meine ich, ist dieser als Vorwurf
gegenüber eines dringend notwendigen Debattenstarts der deutschen
Solidaritätsbewegung über die Bedeutung des gesellschaftlichen
Projekts in Rojava für den deutschen Kontext problematisch und kann
schlussendlich auch nicht im Interesse der kurdischen
Befreiungsbewegung sein.</p>
<h3><b>Das unreflektierte Privileg der Metropole</b></h3>
<p>
Der
existierende Metropolenchauvinismus – die eurozentristische Haltung
von Linken in Deutschland, Kämpfe in anderen Teilen der Welt an der
eigenen Bewegungsgeschichte messen zu wollen – ist gleich in
mehrfacher Hinsicht problematisch und falsch. Zum einen wird dabei
davon abgesehen, dass der gesellschaftliche und ökonomische Kontext
in anderen Ländern grundsätzlich anders ist, sich etwa in
verschiedenen gesellschaftlichen Räumen auch verschiedene
Widersprüche herausbilden. In der Konsequenz heißt das, dass Kämpfe
zwangsläufig sowohl andere Formen annehmen, als auch andere Inhalte
formulieren als in Deutschland. Zum anderen wird davon abgesehen,
dass in den neoliberalen, imperialistischen Zentren aufgrund der
relativen Freiheit von Repression [1] andere Kämpfe um rechtliche
Fortschritte möglich und für das Kapital schlussendlich akzeptabel
waren, da zum Beispiel die partielle Integration ehemals
„abweichender“ Identitäten ohne Widerspruch zur Auspressung der
Werktätigen vollzogen werden konnte. Daraus erklärt sich unter
anderem der relative rechtliche und gesellschaftliche Fortschritt in
den europäischen Ländern in puncto Frauen-, Kinder- und
Homosexuellenrechten. [2] Das gleiche gilt für das Recht auf
nationale Selbstbestimmung: Es umfasst etwa den Luxus der Reise- und
Bewegungsfreiheit als StaatsbürgerIn. Für viele (linke) Menschen in
der Bundesrepublik ist dies alltäglich und selbstverständlich,
während es zeitgleich für viele Menschen weltweit aufgrund der
Unterdrückung ihrer Nationalität nicht oder nur eingeschränkt
existiert. [3] Und auch die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat ist
kein Garant für die Aufhebung nationaler Unterdrückung. Wie wir
anhand des EU-Grenzregimes und der unterschiedlichen Behandlung der
Geflüchteten im Asylverfahren aufgrund des Herkunftslandes sehen
können, ist Pass eben nicht gleich Pass.</p>
<p>
Summa
Sumarum: Das Problem des Metropolenchauvinimus entsteht aus dem
unzulässigen Voraussetzen der eigenen Privilegien in anderen Ländern
und zugleich aus der Ignoranz gegenüber den grundlegend
verschiedenen gesellschaftlichen Ausgangspositionen. Aus dieser
Haltung heraus werden oft genug progressive Bewegungen außerhalb der
imperialistischen Metropolen als nationalistisch, religiös oder
reaktionär gebrandmarkt. [4] Der Metropolenchauvinismus besorgt
durch das Gegeneinanderausspielen von Widersprüchen in progressiven
Bewegungen die „links“ kostümierte Legitimation zur
Aufrechterhaltung globaler imperialistischer Herrschaft und
Ungleichheit, da entsprechende Positionen zwangsläufig immer zur
Entsolidarisierung und damit zur Schwächung dieser Bewegungen
führen. Siehe die <a href="https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5492091&s=&SuchRahmen=Print/">neuesten
Auswüchse</a> der deutschen <a href="http://antideutscheaktionberlin.blogsport.de/2018/03/14/kein-applaus-fuer-scheisse/">NATO-Linken</a>
im Zuge der brutalen Besetzung Afrîns durch den untergeordneten
türkischen Imperialismus.
</p><h3><b>Der Wunsch nach der Utopie in der Fremde</b></h3>
<p>
Die
Kehrseite des Metropolenchauvinismus ist die Projektionsfläche. Sie
setzt die Privilegien ebenfalls unreflektiert voraus, spielt diese
aber im Zuge dessen nicht gegen die jeweilige Bewegung außerhalb der
Metropole aus, sondern macht die Widersprüche, in denen sich jene
bewegt, schlicht unsichtbar. Diese Perspektive vollzieht sich in der
kritiklosen Übernahme von Informationen und Propaganda der
jeweiligen Bewegung und in der Glorifizierung der jeweiligen
Ideologie, Organisation und Praxis. Widersprüche in der Bewegung,
die dem Bild vom revolutionären Befreiungsmoment widersprechen,
werden ausgeklammert. Lediglich die genehmen, da mit den europäischen
Privilegien übereinstimmenden, Aspekte der jeweiligen Bewegung
werden aufgeschnappt und überhöht. Gleichzeitig wird von Bewegungen
und Organisationen eine moralische Reinheit und Abstinenz von
,,Menschenrechtsverbrechen“ [5] gefordert – insbesondere von
Gruppen, die sich in bewaffneten Konflikten mit hohem
Brutalisierungsgrad befinden. Eine kritische Auseinandersetzung mit
dieser Position wird oft in den Verdacht der Sympathie für den
Gegner gestellt oder gleich zum Verrat erklärt. Es gibt nur ganz
oder gar nicht, schwarz oder weiß, Solidarität oder Verrat. Das
geht so meistens eine Zeit lang gut, findet jedoch spätestens dann
abrupt sein Ende, sollte die so verklärte Bewegung sich dann der
,,moralischen Unreinheit“ (zum Beispiel der
Menschenrechtsverletzungen oder des Aufgebens der Revolution)
schuldig machen, oder sich in Widersprüche hineinbegeben, die nicht
mehr den westlichen Maßstäben, die ihren Ausgang in zur
Voraussetzung gemachten Privilegien haben, entsprechen. Die Reaktion
seitens der deutschen Linken ist immer gleich: Wie viele zeigten
Solidarität mit dem sozialistischen Vietnam nach dem Sieg des
Vietcong? Wie viele zeigten Solidarität mit dem sozialistischen Kuba
nach dem Sieg gegen Batista? Wie viele blieben in El Salvador oder
Nicaragua bei der Stange? Oder bei den beiden ältesten
Guerillagruppen in Kolumbien FARC-EP und ELN? Es waren und sind nicht
viele. Die Übriggebliebenen sehen sich den Denunziationen ihrer
ehemaligen GesinnungsgenossInnen ausgesetzt, eine korrumpierte
Bewegung oder Regierung zu unterstützen.</p>
<p>
Summa
Summarum: Die Projektionsfläche ist der Zwillingsbruder des
Metropolenchauvinismus, indem sie den gleichen Maßstab, nämlich die
europäischen Privilegien, zum Ausgangspunkt der Haltung macht. Beide
Haltungen verweisen aufeinander und sind wesentlich eurozentristisch.
Sie führen zugleich zu dem Effekt, dass sich weder mit den Inhalten
der Bewegung befasst, noch diese unabhängig von ihrem eigenen
Narrativ organisatorisch und in ihrer sozialen Zusammensetzung
untersucht werden. Beide Haltungen nivellieren jede kritische
Auseinandersetzung. Im einen Fall in der kategorischen Delegitimation
von Anfang an, im anderen Fall im Glattschleifen von
gesellschaftlichen Prozessen, die eben auch schmutzig sein können
und nicht immer in eine perfekte Praxis münden.</p>
<h3><b>Die Voraussetzungen eines seriösen
Internationalismus</b></h3>
<p>
Internationalismus
steht zweifelsohne immer in der Gefahr, in die Falle von
Metropolenchauvinismus oder Projektionsfläche zu geraten. Da ist die
Schwierigkeit der Sprache, die Entfernung, die oftmals fremde
politische Kultur, oft kann die Region nicht aufgesucht, sich ein
eigenes Bild nicht erarbeitet werden. Dennoch gibt es die
Möglichkeit, eine seriöse Perspektive und Praxis zu entwickeln. Das
würde jedoch für den oder die AktivistIn bedeuten:</p>
<p>
1)
Von Bewegungen in nicht-europäischen Ländern nicht zu erwarten,
dass sie eine Politik durchführen können oder wollen, die nach
europäischen oder deutschen Maßstäben funktioniert. Das heißt,
die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Koordinaten des
jeweiligen Landes kennen zu lernen und das Programm beziehungsweise
die Praxis einer Bewegung an diesen und nicht an den hiesigen zu
messen.
</p><p>
2)
Positionen und Haltungen der Bewegungen solidarisch aufzunehmen und
zu unterstützen, gleichzeitig aber nicht unkritisch zu
glorifizieren, sondern gemessen an den Maßstäben des Landes
kritisch-solidarisch zu begleiten. [6]
</p><p>
3)
Die internationalistische Praxis nicht als einseitigen Lernprozess
aufzufassen – nach dem Motto ,,Was können wir von dort lernen?“
– , sondern als gegenseitigen Austausch und Lernprozess, der in der
gegenseitigen Stärkung von sozialen Bewegungen in beiden Ländern
mündet. In diesem Prozess wird nicht nur aufgenommen, sondern auch
vermittelt.
</p><p>
4)
Das im eigenen politischen Kontext nicht vorfindbare revolutionäre
Element nicht woanders finden zu wollen, sondern alles daran zu
setzen, die Voraussetzung für revolutionäre Politik in Deutschland
auch in Deutschland zu schaffen. Die Praxis kann dabei durchaus von
anderen Bewegungen inspiriert sein, wenngleich sie aufgrund der
Ungleichzeitigkeit globaler gesellschaftlicher Prozesse nie dieselbe
Form annehmen wird.
</p><h3><b>Warum Rojava?</b></h3>
<p>
Dass
der vergangene Artikel sich insbesondere an der Rojava-Thematik
abarbeitet, ist der Tatsache geschuldet, dass das Thema neben der
Griechenland-Solidarität der zentrale Bezugspunkt in der deutschen
Linken in puncto Internationalismus in den vergangenen zehn Jahren
darstellte und auch aktuell außerordentlich präsent ist. Die
kurdische Bewegung wäre gut beraten, kritische und reflektierte
Debatten in der bundesdeutschen Linken etwa in Bezug zur Funktion der
Kaderpartei, zu den verschiedenen revolutionären und
nicht-revolutionären Strömungen in der kurdischen
Befreiungsbewegung, zur Möglichkeit eines kurdischen Nationalstaats
oder der Wiedereingliederung als föderales Gebiet in ein
demokratisches Syrien, das Verhältnis zum US- und russischen
Imperialismus und so weiter nicht als metropolenchauvinistisch zu
denunzieren, sondern diese gemeinsam mit den GenossInnen zu
gestalten.<br/></p><p>Das
falsche, beziehungsweise zu einfache, Bild von Rojava als rein
basisdemokratischer Räteverwaltung mit ,,antinationalen“ und
genuin ,,antiautoritären“ Prinzipien ist Teil der hiesigen
Projektionsfläche der deutschen Linken. Diese will die Konzepte von
revolutionären Organisierungen nach dem Ende des Realsozialismus
nicht mehr diskutieren, die gesellschaftlichen Schwierigkeiten im
Bürgerkrieg und unter imperialistischem Druck nicht sehen und
klammert deshalb die Kaderpartei und alles, was das oben skizzierte
Bild in Frage stellt, schlicht und einfach aus. Es ist notwendig,
klarzumachen, dass es im Angesicht eines brutalisierten
Kriegsszenarios nicht möglich ist, allen demokratischen,
feministischen und ökologischen Standards des revolutionären
Programms gerecht zu werden, auch wenn man alle Anstrengungen dort
hineinsetzt. Wir – als deutschsprachige Linke – sollten unsere
kurdischen GenossInnen nicht als ,,Jesus Christus mit der Knarre“
[7] verklären, sondern als GenossInnen, die trotz einer unglaublich
schwierigen Situation versuchen, einen demokratischen Aufbau zu
gestalten. Mit Fehlern, mit Menschenrechtsverletzungen, mit zum Teil
autoritären Maßnahmen. Das frühzeitig zu benennen schwächt nicht,
sondern stärkt eine solidarische Haltung. Und es könnte verhindern,
dass die bundesdeutsche Linke eine erneute Episode der abgebrochenen
internationalen Solidarität erlebt – zum Beispiel wenn es eines
Tages in Rojava nicht mehr so „perfekt“ laufen sollte oder eben
im Rückblick erst gar nie ,,perfekt‘‘ lief, wie man sich das von
der heimischen Warte zurechtgelegt hatte.
</p>
<p>
______________________________</p>
<h3><b>Anmerkungen:</b></h3>
<p>
<b>[1]
</b>Hier
soll nicht verniedlicht werden, dass es auch in der BRD Repression
bis hin zu politischen Morden gab. Dennoch war der Grad an Repression
in nicht-europäischen Ländern mitunter auch aufgrund der von
westlichen Regierungen installierten Terrorregimes dermaßen hoch,
dass zumeist schon nur die Forderung nach bürgerlichen Freiheiten
und gemäßigten Sozialprogrammen zu massenhafter Verfolgung und
Massakern führten. Als Beispiel können hier die
Befreiungsbewegungen Lateinamerikas genannt werden.
</p><p>
<b>[2]</b>
Diese
wurden natürlich von einer starken feministischen und radikalen
Bewegung erkämpft, sind jedoch heute in Deutschland weitestgehend
integriert in den bürgerlichen Mainstream.
</p><p>
<b>[3]
</b>Beispielhaft
ist es vielen PalästinenserInnen nur unter den Schikanen der
israelischen Besatzung möglich, sich in andere Teile des Landes zu
bewegen.
</p><p>
<b>[4]
</b>Ein
gutes Beispiel war die soziale Bewegung in Brasilien 2013, die
stellenweise aufgrund der Benutzung brasilianischer Fahnen auf den
Demonstrationen durch Protestierende als nationalistisch verunglimpft
wurde. Hier wurde ein vermeintlicher Nationalismus gegen das soziale
Anliegen der Proteste gegen Polizeigewalt, miserable Bildung und
Preiserhöhungen, gewandt. Ein aktuelleres Beispiel wäre die
<a href="https://revoltmag.org/articles/entsolidarisierung-im-zentrum/">katalanische
Unabhängigkeitsbewegung</a>.
</p><p>
<b>[5]</b>
Hier
soll nicht das legitime Anliegen denunziert werden, dass
revolutionäre und linke Bewegungen auch an moralischen Maßstäben,
zum Beispiel der Achtung der Würde der Ausgebeuteten gemessen
werden. Gleichzeitig ist eine kriegerische Auseinandersetzung, ein
bewaffneter Aufstand, eine Revolution oder sogar nur
Selbstverteidigung gar nicht denkbar ohne Menschenrechtsverletzungen.
Und der liberale Begriff nivelliert grundsätzlich den Unterschied
zwischen legitimer befreiender Gewalt gegen Unrecht und
unterdrückender Gewalt zur Aufrechterhaltung von Herrschaft – er
hat angeblich keinen Klassenstandpunkt und damit den Standpunkt der
im konkreten bestehenden Ordnung, also den Klassenstandpunkt der
herrschenden Klasse.
</p><p>
<b>[6]</b>
Besonders
zynisch empfand ich in diesem Zusammenhang die Glorifizierung von
(häufig minderjährigen) YPJ-Kämpferinnen. Die Tatsache, dass junge
Frauen sich, um sich überhaupt noch gegen die endgültige
Degradierung zum Objekt wehren zu können, bewaffnen müssen, ist
nichts, was zu glorifizieren wäre.
</p><p>
<b>[7]
</b>Anschließend
an die historische Verklärung Che Guevaras.
</p></div>
</section>
</article>
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Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
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<header class="content">
<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
</header>
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<img alt="Afrind wird bombardiert" height="420" src="/media/images/Afrin.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
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Tötet die Projektionsflächen in eurem Kopf!2017-10-19T14:10:09.358442+00:002018-01-20T23:22:40.773658+00:00Geronimo Marulandaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%B6tet-die-projektionsfl%C3%A4chen-eurem-kopf/
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<div class="rich-text"><p>Internationalismus
ist wieder en vogue. Seit die kurdische, im Norden Syriens gelegene
Stadt Kobanê 2014 von den Djihadisten des sogenannten <i>Islamischen
Staats</i> (IS) bedroht wurde, ist auch in Deutschland wieder
spektrenübergreifend von Internationalismus die Rede. Das ist
bemerkenswert. Denn bis vor wenigen Jahren suchte man vergebenseine
weiterführende Beschäftigung mit internationalen Themen,
insbesondere mit der jetzt so abgehypten kurdischen Bewegung. Im
Gegenteil: WortführerInnen eines überwiegenden Teils der radikalen
Linken galt die kurdische Bewegung als suspekt: nationalistisch, gar
völkisch und reaktionär soll die PKK noch Mitte der 00er Jahre
gewesen sein. [1] Eine Zeit, in der Öcalan und die PKK bereits ihren
Paradigmenwechsel vollzogen hatten.</p><p>
</p><p>Ich
persönlich begann im Jahr 2011 Interesse an der kurdischen Bewegung
und ihrem neuen Paradigma des „Demokratischen Konföderalismus“
zu gewinnen. Ich sprach vermehrt mit kurdischen GenossInnen zum Thema
und schloss mich schließlich einer YXK-Delegation in die
Südost-Türkei, also Nordkurdistan an. Die konkreten Erfahrungen,
die ich dort machte, wie zum Beispiel der Besuch selbstverwalteter
Frauenhäuser, war so beeindruckend, dass ich dem Hype um den
Prozess, der in Rojava stattfand, wohlwollend gegenüber stand.
Allerdings hatte dieser Hype für mich von Anfang an einen bitteren
Beigeschmack. Sauer stieß mir unter anderem auf, was mir hierzulande
mit dem Elan des frisch entbrannten Internationalismus über die
kurdische Bewegung dargelegt wurde: Ökologisch, frauenbefreit,
rätedemokratisch solle es dort in Kurdistan zugehen – manche
redeten von Sozialismus. Antinational gar sollte das Projekt laut
anderer sein. Doch nicht nur solche Äußerungen wollten so gar nicht
zu meiner Erfahrung vor Ort passen. So fragte ich mich darüber
hinaus, warum ausgerechnet eine radikale Linke, die knapp 20 Jahre
nichts anderes getan hatte, als ihre Wurzeln im Internationalismus
der 68er Bewegung und seiner Fortführung in dem der K-Gruppen der
70er und den Antiimps der 80er Jahre zu kappen, nun auf die Idee
kommt, eine nationale Befreiungsbewegung zu unterstützen.
</p>
<p>Ja ihr
habt richtig gelesen: Nationale Befreiungsbewegung. Denn es ist eben
mitnichten so, dass das Konzept von Nation in Rojava und erst Recht
nicht in der kurdischen Exillinken dekonstruiert wird. Es wird im
Gegenteil ganz real kultiviert und das hat auch eine nachvollziehbare
Ursache: die jahrhundertelange Unterdrückung der kurdischen Kultur,
Sprache und Identität. „Aber, aber“, sagen jetzt diejenigen von
euch, die Öcalans <i>Jenseits von Staat, Macht und Gewalt</i>
gelesen haben. Es gehe doch beim Demokratischen Konföderalismus um
eine anti-nationalstaatliche Bewegung. Wo wir bei einer begrifflichen
Unschärfe der sogenannten „Antinationalen“ angelangt wären:
Denn Nationalstaat ist eben nicht gleich Staat, ist eben nicht gleich
Nation. Nation bezeichnet eine Gemeinschaft, die sich über
gemeinsame Prägung in einem kulturellen Raum, Sprache, Territorium,
geschichtliches Narrativ und ökonomischem Verkehr, der erstere
Facetten grundsätzlich bedingt, definiert. Historisch ist Konzept
wie Realität der Nation parallel zu bürgerlicher Staatlichkeit
entstanden und löste Religion als dominante Herrschaftsideologie und
-praxis ab. Staaten gab es auch schon vor der amerikanischen und
französischen Revolution, deshalb ist das, was wir heute im
Durchschnitt haben, eben auch Nationalstaat, das heißt ein
bürgerlicher Staat, der sich durch die Ideologie seiner herrschenden
Klasse auszeichnet – eben die der Nation und ihrem Verwandten, die
des Nationalismus.</p>
<p>Also
was jetzt: Alles Scheiße oder wie in Rojava? Nein sicher nicht, nur
komplizierter als es ideologisch bei Öcalan geschrieben steht und
tausendfach über kurdische Propagandakanäle gejagt wird. Denn ganz
so einfach ist das eben nicht mit dem „antinational“ in der
Praxis. Während Nation insbesondere in unseren Ländern kein
fortschrittliches Konzept mehr ist, weil es sich hier in einer
aggressiven imperialistischen Machtpolitik und aggressiven
Nationalismen äußert, ist es für Völker, die schon immer kolonial
beherrscht wurden oder sogar von Vernichtungspolitik betroffen waren,
überhaupt erst eine Möglichkeit, sichtbar zu werden und eine Stimme
zu bekommen. Bestes Beispiel: die Aborigines in Australien. Anderes
Beispiel: die Sahauris in der West-Sahara. Noch eines: die Indigenen
in Mexiko. Oder exemplarisch zuletzt: eben die Kurden, oder die
Yeziden, oder die Aleviten in der Türkei. Auf letztere beiden, die
eigentlich so etwas wie eine Mischung aus Religionsgemeinschaft und
kultureller Gemeinschaft sind, wendet die kurdische Bewegung eben
auch das Nationskonzept an. Es wird nicht umsonst von ,,Völkern“
im Plural gesprochen.
</p>
<p>Und
auch der Begriff ,,Volk“ wird von der kurdischen Bewegung ganz
liberal gebraucht: nicht marxistisch-leninistisch als Chifre für
„unterdrückte Klassen“, auch nicht völkisch im Sinne von einer
Erbgemeinschaft, aber ganz sicher im bürgerlichen Sinne als
Bevölkerung. Die kurdische Bewegung ist so, nicht nur in ihrer
Praxis, sondern auch in ihrer sozialen Zusammensetzung eine primär
nationale Befreiungsbewegung: eben eine Mischung aus bürgerlichen,
links-bürgerlichen und revolutionären Elementen und
klassenübergreifend statt genuin klassenkämpferisch. Da ändert
auch der Demokratische Konföderalismus als neue Leitlinie nichts
daran, der das Narrativ lediglich von nationalistisch (das heißt
pro-nationalstaatlich) auf multi-national (theoretisch
anti-nationalstaatlich föderal) verschoben hat. Man könnte es
herunterbrechen auf: Nicht das, was jemand sagt, ist das, was zählt,
sondern das, was jemand tut. Und man müsste ergänzen: das, was
jemand im Kern ist.</p>
<p>Und was
die kurdische Bewegung im Kern sicher nicht ist, ist zum Beispiel
genuin antiimperialistisch zu sein, denn Imperialismus ist ein
ökonomisches Konzept der international organisierten
Klassenunterdrückung und Antiimperialismus hat dementsprechend eine
Analyse durch den internationalen Klassenkampf zum Ausgangspunkt. [2]
Auch wenn die Ideologie des Demokratischen Konföderalismus ein
solches Potenzial in sich besitzt, da zum Beispiel die Idee der
Selbstverwaltung der Völker im Nahen Osten dem<i> Greater Middle
East Project</i> der US-Außenpolitik ebenso wie dem russisch
gestützten Assad-Regime diametral gegenübersteht, zeigt die Praxis
der kurdischen Führung in Syrien doch ganz klar, dass die Bekämpfung
des westlichen und/oder russischen Imperialismus nicht unbedingt ganz
oben auf der Agenda der kurdischen Befreiungsbewegung steht, sondern
diese vielmehr versucht, mit den verschiedenen Playern zu spielen.
Dieses Spiel, das die kurdische Bewegung spielt, ist aber eben keine
antiimperialistische Politik, sondern bürgerliche Machtpolitik, die
verständlich ist, da es eben ums Überleben geht, aber nicht allein
als „Widersprüche gegeneinander ausspielen“ verklärt werden
darf. Es bleibt abzuwarten, ob im Falle des Sieges der YPG/J eine
Emanzipation von russischer und/oder amerikanischer Politik
stattfinden wird, oder ob USA und Russland über ihre militärische
Präsenz in Rojava den Daumen draufhalten werden. Eine Politik, der
es darum ginge mehr zu befreien als die kurdischen Gebiete, das
heißt eine wirkliche klassenkämpferische, internationalistische
und damit antiimperialistische Politik, sollte darüber hinaus zum
Beispiel auch Europa nicht nur als ruhiges Hinterland betrachten,
sondern auch dort die demokratische Autonomie aufbauen und eine
dortige antiimperialistische Linke stärken. Wie wir wissen, ist das
mitnichten der Fall.</p>
<p>Was die
kurdische Bewegung sicher auch nicht ist, ist rein basisdemokratisch
oder rätedemokratisch organisiert zu sein. Sicherlich ist es so,
dass es diese Elemente gibt und auch, dass sie im Alltag der Menschen
eine Rolle spielen. So sicher ist aber auch, dass die gut
organisierten Kader der PKK ihre Rolle spielen, die eben nie
aufgehört hat, nach den Prinzipien einer Kaderpartei zu arbeiten.
Genauer gesagt vereint die kurdische Bewegung gleich mehrere
Organisationsmodelle: Die Guerilla als kollektivistische militärische
Einheit mit Kommandostruktur, die Räte, die Basiseinheiten, die
Kaderpartei und die Vorfeld-Massenorganisationen, zu denen sicherlich
auch partiell die HDP gezählt werden kann. Das Interessante an der
kurdischen Bewegung ist ja gerade nicht, dass sie eine reine
Graswurzelbewegung wäre, sondern dass sie verschiedene
Organisationsmodelle in Scharnieren miteinander verbindet und es
damit schafft, im Alltag der Menschen auf unterschiedlichste Weise
präsent zu sein.Wenn man das, was da in Rojava passiert, schon mit
einem Modell vergleichen will, dann vielleicht mit der frühen
Sowjetunion, in der es eine Doppelmacht von Kaderpartei und Räten
gegeben hat – bevor letztere entmachtet wurden.</p>
<p>Dazu
kommt: Ein Modell wie der Demokratische Konföderalismus ist ein
Modell, das für eine Gesellschaft entwickelt wurde, die zu einem
großen Teil aus BäuerInnen und Kleinhandeltreibenden besteht, also
weder über eine organisierte Staatsmacht verfügt, die wesentliche
Teile des Alltags der Menschen reguliert, noch über eine starke
Konzentration der Bevölkerung in Städten und/oder Betrieben. Die
Selbstorganisation der Menschen in der Kommune ist hier bereits
Alltag, weil sie überlebensnotwendig ist – eben weil der Staat
keine Sozialprogramme organisiert. Im Gegenzug dazu leben wir in
einer hochgradig zentralisierten Gesellschaft, in der sich der
Nationalstaat in jedem Winkel unseres Lebens vollends durchgesetzt
hat. Selbstorganisation muss hier erst wieder gelernt werden.
Offensichtlich wird das Modell Übertragungsschwierigkeiten
aufweisen. Die Kämpfe sind in ihrer Form, wie sie geführt werden,
nicht vergleichbar und können auch nicht zu ähnlichen Resultaten
führen. Die Frage, was wir von der kurdischen Bewegung lernen
können, ist so gesehen schon falsch gestellt, wenn sie außer Acht
lässt, dass zum Lernen eben zwei Instanzen mit sehr
unterschiedlichen Hintergründen gehören. Dann geht es nämlich
nicht mehr ums Kopieren und Übertragen von Konzepten, sondern um das
gegenseitige Stärken durch Austausch von Erfahrungen.
</p>
<p>Also
ist es alles nichts mit der Idee des Demokratischen Konföderalismus?
Entsolidarisierung mit den Kurden? Sicher nicht! Entsprechende
Beiträge, die unter anderem in antiimperialistischen Strömungen
populär sind [3], haben eine mechanische oder puristische Weltsicht,
in der es keine Widersprüche und Prozesse gibt und deshalb nur die
Kiste revisionistisch oder revolutionär, schwarz oder weiß,
Verräter oder Verbündeter übrig bleibt. So wollen wir gar nicht
erst anfangen: Die kurdische Bewegung ist fraglos die wichtigste
demokratische und soziale Kraft im Nahen und Mittleren Osten. Sie hat
das Potenzial, eine ganze Generation junger Menschen, die historisch
in vielen Ländern bislang nur vor die Wahl säkulare Diktatur oder
islamistischer Widerstand gestellt wurden, in demokratischen,
massenhaften Prozessen zu sozialisieren. Und: In dieser Bewegung
kämpfen verschiedenste radikale Linke, die dem Prozess und den
beteiligten Menschen ihren Stempel aufdrücken. Vielleicht
unterstützen wir gerade ein Projekt, das am Ende einen liberalen
kurdischen Nationalstaat hervorbringen wird. Wir sollten aber nicht
unterschätzen, dass die Generation, die diesen erkämpft hat,
bleibt, genau so wie die Ideen, die den Kampf angetrieben haben,
womit auch die Voraussetzungen für weitere progressive Bewegungen in
der Region gelegt sind.</p>
<p>
</p>
<p>Warum
eigentlich dann dieser Text? Warum nicht weiter so in der Solidarität
mit der kurdischen Bewegung? Weil ich der Meinung bin, dass ein
Internationalismus, der sich in falschen romantisierenden
Vorstellungen von der Sache ergeht und die Widersprüche in der
Bewegung nicht sieht, am Ende enttäuscht werden muss. Weil ein
Internationalismus, der ständig woanders hin schaut, weil es da
angeblich toller, actionreicher, revolutionärer und so weiter ist,
eine Einbahnstraße ist, die der revolutionären Bewegung hierzulande
nichts bringt. Weil ein deutscher Internationalismus, der in
Projektionen anderswo Lösungen für Probleme hier finden will,
besser beraten wäre, sich endlich solidarisch mit seiner eigenen
Geschichte zu befassen und sie nicht komplett zu negieren oder für
gescheitert zu erklären. Und nicht zuletzt: Weil genau diese Aspekte
die Fehler des Internationalismus der 1970er Jahre waren, dessen
ProtagonistInnen dann – aus Enttäuschung und Flucht vor der
kritischen Auseinandersetzung mit ihren romantizistischen
Vorstellungen über die nationalen Befreiungsbewegungen des Trikonts
– am Ende ganz woanders landeten: nämlich in den Chefetagen der
imperialistischen Länder oder doch zumindest bei ihren liberalen
Ideologien. Töten wir endlich die Projektionsflächen in unserem
Kopf - Lasst uns nicht unsere Fehler wiederholen, sondern
selbstkritisch fragend voran schreiten!</p>
<p><b>Anmerkungen:</b></p>
<p>[1]
Diese Position vor allem der antinationalen und antideutschen Linken
basierte vor allem auf: Gruppe Demontage:<i> Postfordistische
Guerilla - Vom Mythos nationaler Befreiung</i>, Münster, 1998.„Der
emanzipative Gehalt völkischer Ansätze tendiert gegen Null ... Als
Beispiel für ein tendenziell völkisches Modell bietet sich die PKK
an.“</p>
<p>[2]
Dazu Lenin: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des
Kapitalismus“ (1916/17).</p>
<p>[3]
Beispielhaft anhand zweier Strömungen: Einmal die stalinistische
Position von <a href="https://www.unsere-zeit.de/de/4836/29/3475/Krach-in-der-imperialistischen-Pyramide.htm">Hans-Christoph
Stood</a>t und zum anderen die maoistische Position
des Onlineportals <a href="http://www.demvolkedienen.org/index.php/de/t-theorie/t-dokumente/1167-ueber-die-haltung-der-antiimperialisten-zur-pkk"><i>Dem
Volke Dienen</i></a>.</p>
<p><br/>
</p></div>
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</article>
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