re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2642020-06-18T17:09:49.809180+00:00Infektion der Ökonomie2020-03-13T12:20:50.618324+00:002020-06-18T17:09:49.809180+00:00Jens Benickeredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/infektion-der-%C3%B6konomie/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Infektion der Ökonomie</h1>
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<div class="rich-text"><p>Wie hängen Kapitalismus, Krise und Krieg zusammen? Als im Jahr 2008 die globale Krise ihren Höhepunkt erlebte, war selbst dem bürgerlichen Feuilleton die bange Frage zu entnehmen, ob sich denn die Weltwirtschaftskrise, wie Anno 1929, zu einem neuen Weltkrieg entwickeln könne – ein Szenario, das von Linken und Aktivist*innen der Friedensbewegung schon viele Jahre <a href="https://www.rosalux.de/publikation/id/897/kapitalismus-krise-und-krieg/">diskutiert</a> wurde. Doch die ökonomische Struktur des globalisierten Kapitalismus und das abgestimmte Handeln des politischen Personals schienen diesen Befürchtungen zu widersprechen. Mehrere G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer bekräftigten die internationale Zusammenarbeit und erteilten dem Protektionismus eine Absage. Konzertierte Aktionen der wichtigsten Zentralbanken, die die Märkte mit billigem Geld zu beruhigen suchten und gewaltige Konjukturprogramme konnten eine „Kernschmelze des Finanzsystems“, wie sie nicht nur der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück befürchtete, gerade noch einmal verhindern.</p><h2><b>Austeritätsprogramme aus der Schäubleschmiede</b></h2><p>Doch die proklamierte Einigkeit der doch eigentlich konkurrierenden Nationalökonomien hielt nicht lange vor. Selbst innerhalb der Staatenbünde kam es zu handfesten Differenzen. So kam es innerhalb der Europäischen Union, während der Phase der Krise, die als „Eurokrise“ bekannt wurde, zum Streit darüber, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommen könne. Während vor allem Deutschland auf einem harten Sparkurs und Austeritätsprogrammen gegenüber den, vor allem südeuropäischen, Krisenstaaten beharrte, forderten andere einen Schuldenschnitt und eine nachfrageorientierte Politik, um die Konjunktur wieder anzuheizen. Das deutsche Erfolgsmodell, das auf einer exportorientierten Wirtschaft mit niedrigen Löhnen basiert, konnte dies natürlich nicht zulassen. Und so setzte der als rigoroser Sparkommissar auftretende Nachfolger Steinbrücks, Wolfgang Schäuble, gemeinsam mit der so genannten Troika äußerst schmerzhafte Austeritätsmaßnahmen in den von der Krise besonders betroffenen Staaten durch.</p><p>Der Widerstand gegen eine „deutsche EU der Austerität“ und die schier endlose Krise, die sich mit den neoliberalen Rezepten ganz offensichtlich nicht überwinden ließ, brachten nicht nur linke Parteien, wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien an die Macht, sondern stärkten auch populistische und autoritäre Parteien und Bewegungen. Diese beklagten vor allem die Eingriffe in die nationale Souveränität und den Einfluss supranationaler Organisationen. Auch weltweit bekamen souveränistische und protektionistische Strömungen immer mehr Zulauf. Statt gemeinsam den globalen Kapitalismus retten zu wollen, besannen sich die Staatenlenker zunehmend auf ihr nationales Interesse. So propagierte Donald Trump die Parole „America first“ und kündigte Freihandelsabkommen auf, mit dem erklärten Ziel Industriearbeitsplätze in die USA zurückzuholen und die bedrohte Führungsrolle der Vereinigten Staaten zu verteidigen. Und in Großbritannien trat sogar, wider aller ökonomischen Vernunft aus der EU aus, um in Zukunft ihre wirtschaftlichen Interessen nur noch nationalstaatlich vertreten zu können und keine Rücksicht mehr auf die anderen Mitgliedsstaaten nehmen zu müssen. Die ökonomische Krise führte auf dem politischen Parkett also zu einem verstärkten Rückzug auf vermeintlich eigene Interessen und zu einer schärferen Abgrenzung gegen die Konkurrenz.</p><h2><b>Eine neue Krise bahnt sich an…</b></h2><p>Und jetzt auch noch Corona! Der Ausbruch der Corona-Epidemie Ende vergangenen Jahres in China und dessen schnelle Verbreitung über die ganze Welt, zeigt die <a href="https://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/">Verwundbarkeit des globalisierten Kapitalismus</a>. Wenn Städte abgeriegelt und Fabriken geschlossen werden, trifft dies – neben allen Auswirkungen auf die Menschen, die Lohnabhängigen und so weiter – eng getaktete Lieferketten. Dies kann dann dazu führen, dass am anderen Ende der Welt Produktionsanlagen stillstehen, wenn Teile nicht angeliefert werden. Der Ausbruch der Epidemie in China trifft die Weltwirtschaft besonders hart. Zum einen ist China inzwischen die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und die aufsteigende Kraft im Weltsystem und zum anderen immer noch die „Werkbank der Welt“. Hier werden viele der Produkte hergestellt, die dann in den Vereinigten Staaten oder in Europa verkauft werden. Beispielhaft dafür steht der US-Elektronikkonzern Apple, der wie kaum ein anderes Unternehmen auf die Produktion in China <a href="https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/lieferketten-im-corona-stress-samsung-hui-apple-pfui/25606394.html">setzt</a>. Bereits im Januar musste Apple aufgrund der zwischenzeitlich als „Pandemie“ deklarierten Krankheit eine <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-apple-101.html">Umsatzwarnung</a> herausgeben.</p><p>Dazu kam noch das anfänglich verheerende Krisenmanagement der autoritären Staatsführung in China, die die Informationen über die neuartige Lungeninfektion zurückhalten wollte und erst viel zu spät mit drastischen Quarantänemaßnahmen versuchte, eine Ausbreitung zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber schon Millionen Menschen Wuhan, den mutmaßlichen Ursprungsort der Epidemie, verlassen, um zu ihren Verwandten zu fahren und mit diesen das Neujahrsfest zu feiern. Das Virus wurde verbreitete sich immer weiter. Durch die enge Einbindung der chinesischen Wirtschaft in die globalen Verwertungsketten, durch Treffen von internationalen Manager_innen oder Konzernmitarbeiter_innen, aber auch durch Touristinnen und Touristen, wurde das Virus schnell über die ganze Welt verteilt.</p><p>Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft werden deutlich stärker ausfallen als noch 2003, als der durchaus vergleichbare SARS-Virus ebenfalls in China ausbrach und sich dann weiterverbreitete. Zum einen war 2003 die Weltwirtschaft in keinem so geschwächten Zustand wie heute, nach der immer noch nicht bewältigten großen Krise. Zum anderen ist seitdem die Bedeutung und die Einbindung Chinas in der Weltwirtschaft deutlich gewachsen. Lag der Anteil der globalen Wirtschaftsleistung Chinas <a href="https://www.tagesschau.de/wirtschaft/corona-wirtschaft-103.html">damals</a> bei nur vier Prozent, sind es heute bereits 17 Prozent. In Folge der SARS-Epidemie 2003 schwächte sich das Wachstum der chinesischen Wirtschaft um ein Prozent ab. Dies wiederrum hatte auch damals Folgewirkungen auf die Nationalökonomien anderer Staaten, aber noch im überschaubaren Rahmen: Es soll etwa das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik damals um weniger als 0,1 Prozent <a href="https://www.zeit.de/2020/07/corona-virus-epidemie-pandemie-weltwirtschaft/seite-2">gesenkt</a> haben.</p><p>Dieses Mal werden sowohl die Auswirkung auf das chinesische Wachstum als auch auf die mit China verbundenen Handelspartner deutlich größer werden. Anfang März schätzte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass sich das ursprünglich für 2020 erwartete Wachstum aufgrund der Corona-Epidemie halbieren könnte. Am stärksten betroffen wäre natürlich die chinesische Wirtschaft, der die OECD nur noch eine für ihre Verhältnisse erschrecken schwaches Wachstum von 4,9 Prozent vorhersagt. Doch selbst diese düstere Prognose könnte sich nach den Entwicklungen der letzten Tage (Börsencrash, Ölpreiseinbruch und weitere weltweite Verbreitung des Virus) noch als zu optimistisch herausstellen.</p><h2><b>Wird die Globalisierung rückgängig gemacht?</b></h2><p>Die aktuellen Entwicklungen dürften auch den Trend verstärken, Produktionsstandorte aus China zu verlegen. Bereits in den vergangenen Jahren kam es vor allem in der Textilindustrie zu Verlagerungen, etwa nach Vietnam oder Bangladesch. Gründe dafür waren unter anderem das gestiegene Lohnniveau, dass sich die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter erkämpfen konnten. Die Kolumnistin der <i>Financial Times,</i> Rana Foroohar, <a href="https://www.capital.de/wirtschaft-politik/das-coronavirus-beschleunigt-die-entkopplung-der-weltwirtschaft?article_onepage=true">sieht deshalb</a> im Corona-Virus einen wichtigen Faktor, der die Entkopplung der Weltwirtschaft weiter vorantreibt. Sie sieht den Beginn einer neuen Ära, die die Globalisierung durch eine zunehmend regionale und lokaler ausgerichtete Produktion ablöst. Anzeichen dafür seien schon seit einiger Zeit zu beobachten, etwa wenn US-Konzerne ihre Lieferketten aus Asien abziehen und in Mexiko und damit näher an den USA aufbauen. Foroohar zitiert dazu den Blackrock-Investmentstrategen Mike Pyle, der vorhersagt, dass die Lieferketten der Zukunft etwas weniger effizient, dafür aber aber widerstandsfähiger seien müssen und dies bedeute eben auch eine stärkere Anbindung an die Heimatmärkte.</p><p>Diese ökonomische Entwicklung zurück zu den Nationalstaaten bzw. geographischen Großräumen stärkt wiederum genau diejenigen, die auch einen politischen Bezug auf die eigene Nation und die Nationalökonomie fordern. Die rechten Parteien und Bewegungen erhalten dadurch eine materielle Basis für ihr politisches Handeln. Handelskriege, wie die, die momentan schon von US-Präsident Donald Trump ausgelöst wurden, werden wohl keine Ausnahme mehr bleiben. Der Kampf um die wirtschaftliche und geopolitische Vorherrschaft zwischen den einzelnen Blöcken wird dadurch noch offener und aggressiver ausgetragen werden und dies erhöht auch die Gefahr größerer Kriege. Etwas mehr als zehn Jahre nach Beginn der großen Krise kann damit die Frage nach dem Weltkrieg nicht mehr so leicht wegewischt werden.</p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
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Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
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Video: Interview mit Max Zirngast zur aktuellen Lage in der Türkei2019-12-17T18:29:00+00:002020-04-19T10:19:06.998105+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/video-max-zirngast-zur-lage-in-der-tuerkei/
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<h1>Video: Interview mit Max Zirngast zur aktuellen Lage in der Türkei</h1>
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<div class="rich-text"><p>Etwa seit 2013 steckt die türkische Gesellschaft in einer sich verschärfenden Hegemoniekrise. Aber auch in der Region selbst werden im Poker um Macht und Herrschaft die Karten neu verteilt. Innerstaatlich trifft der Versuch, ein konservatives bis faschistisches Gesellschaftsmodell zu installieren, auf zunehmenden Widerstand. Noch ist unklar, was am Ende des Entwicklungsprozesses stehen wird, auch deshalb, weil die internationalen Machtverschiebungen einen erheblichen Einfluss auf die internen Entwicklungen haben. Der schleichende Rückzug der USA aus dem Nahen Osten, die Zunahme des regionalen Einflusses Russlands und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas sind dabei Teilaspekte einer komplexen politischen Neuausrichtung, die von sozialen Kämpfen begleitet wird.</p><p>Das Interview ist Teil der ausführlichen Türkei-Berichterstattung des <i>re:volt magazine</i>.<br/> Zum Weiterlesen: <a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-stärkung-des-faschismus/">Ein Krieg zur Stärkung des Faschismus</a><br/></p></div>
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<div class="rich-text"><p></p><hr/><p></p></div>
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<div class="rich-text"><p>Video in Kooperation mit Left Report <a href="https://leftreport.org/">leftreport.org</a></p></div>
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Deutsch-türkische Untiefen2019-10-30T17:01:22.635721+00:002019-10-30T17:04:41.057009+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/deutsch-t%C3%BCrkische-untiefen/
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<h1>Deutsch-türkische Untiefen</h1>
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<div class="rich-text"><p><i>Auch in diesem Jahr sind wir als Medienpartner*innen an einem Broschürenprojekt aus Berlin beteiligt. In der zum 30. Jahr des „Mauerfalls“ erscheinenden Broschüre</i> <a href="https://antifa-nordost.org/8948/broschuere-veranstaltungsreihe-deutschland-ist-brandstifter/">„Deutschland ist Brandstifter! Gegen den BRD-Imperialismus und den Mythos Friedliche Revolution“</a> <i>steuern wir als re:volt magazine unter anderem den nachfolgenden Text zum Verhältnis zwischen BRD-Imperialismus und Türkei bei. Release der Broschüre ist am Donnerstag, den 7. November 2019 um 19:30 Uhr im Zielona Góra (Grünberger Straße 73 / Friedrichshain).</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Noch vorletztes Jahr lieferten sich die türkische Regierung und die EU spektakuläre Wortgefechte. Anlass waren die Absagen von Wahlauftritten für AKP-Minister*innen und andere hochrangige AKP-Mitglieder in den Niederlanden und in Deutschland seitens der jeweiligen staatlichen Institutionen. Daraufhin hielt es Erdoğan für nötig, der Niederlande eine „neonazistische Gesinnung“, Staatsterrorismus und Beteiligung an Völkermord vorzuwerfen, Merkel hielt er entgegen: „Du benutzt gerade Nazi-Methoden“. Den Niederlanden wurde mit Sanktionen gedroht, die AKP-Jugend erstach unter „faschistisches Holland!“-Rufen <a href="http://www.diken.com.tr/akpli-genclerden-hollanda-protestosu-portakal-orada-kal">Orangen mit Buttermessern</a> und trank rachedürstend den mit wahrlich beeindruckender Kraft ausgepressten Saft, die <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2017/03/16/sabah-avrupadan-bilde-almanca-cevap">Revolverpresse</a> titelte: „Ihr kämpft umsonst. Eure Macht reicht nicht, um die Türkei aufzuhalten“.</p><p>Die Reaktionen auf europäischer Seite waren ungleich schärfer, als bisher gewohnt: Der niederländische Premier Rutte lehnte rigoros eine Entschuldigung und die Aufnahme von Verhandlungen bei Fortsetzung der Beleidigungen von seitens der Türkei ab, Gabriel und Steinmeier forderten ein sofortiges Ende der unsäglichen Nazi-Vergleiche, Merkel kündigte weitere Auftrittsverbote an. Dänemark sagte einen Auftritt des türkischen Premiers Yıldırım ab, der EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen Johannes Hahn strich einen Teil der EU-Fonds für die Türkei und äußerte Zweifel an der Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.</p><p>Auf diese Reaktionen der europäischen Seite reagierten wiederum hochrangige AKP-Mitglieder und Minister*innen in der von ihnen gewohnten Manier. Und so ging es eine Zeit lang munter weiter.</p><h3><b>Die Propaganda und Taten des</b> <b><i>Führers</i></b></h3><p>Diese letztlich weitestgehend auf verbaler Ebene gebliebene Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU war nichts Neues. Ihr Beginn lässt sich auf spätestens 2013 datieren. <a href="https://www.edition-assemblage.de/buecher/die-tuerkei-am-scheideweg/">Wie bekannt</a>, gingen damals mit dem Juni- oder Gezi-Aufstand Millionen von Menschen gegen das autoritäre Regime in der Türkei auf die Straßen. Die AKP-Herrschaft geriet ordentlich ins Wanken, ihr gesamter Zauber, ihr Glanz und ihre Überzeugungskraft verflogen wie ein vorübergehendes Schattenspiel. Es zeigte sich offen das hässliche Gesicht (und die Keule) der Gewaltherrschaft. Die Ereignisse der darauffolgenden Jahre zeigten zur Genüge, dass die AKP die türkische Gesellschaft nicht mehr mit demokratischen Mitteln führen konnte und dass ihr die durch demokratische Mittel hervorgebrachte Legitimation wegbrach.</p><p>Das Ende der AKP-Herrschaft war absehbar, sollten weiterhin die Spielregeln der Demokratie gelten. Ergo wurden diese von Seiten der AKP abgeschafft. Im zumeist kurdischen Südosten der Türkei wurde ein unglaublich brutaler Vernichtungskrieg gegenüber der kurdischen Bevölkerung und kurdischen Militanten entfesselt. Am Ende waren über ein Dutzend Städte großteils dem Erdboden gleichgemacht. Eine Furie der Repression und eine rasante Schließung des öffentlichen Raumes für oppositionelle Politik und Meinung, also eine<i> Faschisierung,</i> setzten ein. Und spätestens seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wird ganz offen nach dem Schmittschen Paradigma regiert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Und zum absoluten Souverän, dazu hält sich Erdoğan berufen, der von seinen Anhängern mittlerweile offen als FÜHRER, REIS im Türkischen, verehrt wird (Großschreibung im Original).</p><p>Auf der diskursiven Ebene der politischen Propaganda wurden die mittlerweile klassischen Begriffe moderner Feindbildung lanciert: Der Terrorismus, die Zinslobby, die Auslandsmächte, die dunklen Kräfte und andere ähnliche Begriffe. Das bundesdeutsche Feindstrafrecht und der US-amerikanische<i> War on Terror</i> hatten ja vorgemacht, wie man den Gebrauch solcher Begriffe institutionalisieren und damit Angriffskriege und rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen konnte. Je nach politischer Konjunktur fielen, auf die Außenpolitik bezogen, mal China, mal Russland und vor allem recht oft die Bundesrepublik in die Kategorie der dunklen Kräfte/Auslandsmächte. Mal hieß es, Deutschland habe Gezi angefacht, das nächste Mal hieß es, Deutschland beschütze Terroristen, die der Türkei schädigen würden. Nun hieß es zur Abwechslung mal, Deutschland würde „Nazi-Methoden“ anwenden.</p><p>Aus europäischer Perspektive stellten hingegen die Ereignisse ab 2013 und vor allem seit 2016 gewissermaßen endgültig klar, dass die Türkei nicht wirklich zu Europa gehörte, zumindest die europäischen Werte nicht genügend vertrete, ja sogar mit Füßen trete.</p><h3><b>Strategische Zusammenarbeit...</b></h3><p>In den zwei Jahren seit dem medialen und spektakulären Hochkochen des Türkei-EU-Konfliktes ist nicht viel übriggeblieben, außer der ab und an geäußerten „Besorgnis“ über die erodierenden Demokratiestandards in der Türkei. Zwischenzeitlich hat Sigmar Gabriel in unterwürfiger Manier Tee getrunken mit seinem türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu; der damalige Ministerpräsident der Türkei, Yıldırım, hat die Normalisierungen der Beziehungen zur BRD nach einem Treffen mit Merkel angekündigt und Erdoğan ist doch wieder in Deutschland aufgetreten, hat sich mit Merkel getroffen und lächelnd vor Kameras Hände geschüttelt trotz „tiefgehender Differenzen“.</p><p>Warum aber ist die EU und insbesondere Deutschland so zaghaft im Umgang mit der Türkei, wenn die Türkei doch angeblich alle „demokratischen Werte“ mit den Füßen tritt?</p><p>Es gibt sehr reale Interessen seitens europäischer Staaten und insbesondere der BRD an einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Und bisher entsprach das Handeln der Türkei beziehungsweise der türkischen Regierung auch weitestgehend diesen Interessen. Wenn man sich Publikationen und Äußerungen deutscher Eliten in Wirtschaft und Politik anschaut – zum Beispiel in Publikationen der regierungsnahen SWP und der christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) oder vonseiten der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) – kann man <a href="https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dverbund_doc_pdf_438_1.pdf/eef2114c-83aa-5300-184f-bd9b98d362c4?version=1.0&t=1539623935375">resümierend festhalten</a>: Die Türkei wird als langfristig erfolgsversprechender Investitionsort und Exportmarkt gesehen, von dem Deutschland als Handelspartner Nummer Eins insbesondere durch Milliarden-Investitionen im Verkehrs- und Energiesektor profitieren könne (KAS). Die deutsche Wirtschaft ist in der Tat seit den 1970ern in der Türkei aktiv und mittlerweile operieren dort über 6000 deutsche Firmen und erfreuen sich der wirtschaftsfreundlichen Politik der AKP – „ein klarer Beweis unseres starken Interesses an einem guten Verhältnis unserer beider Länder“, so DIHK-Chef Martin Wansleben <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-germany-considers-economic-sanctions.html">2017</a>. Die sich verschlechternden Beziehungen auf oberflächlicher politischer Ebene standen trotz der Erwähnung von deutschen Unternehmen auf einer semi-offiziellen Terrorliste nicht im Wege, als Siemens gemeinsam mit türkischen Partnern einen der <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/siemens-and-turkish-partners-win-billion-dollar-wind-energy-tender%E2%80%94116296">größten Aufträge</a> für Windenergie mit einem Investitionsumfang von einer Milliarde US-Dollar gewann. Im Jahr darauf profitierte erneut Siemens von einer geschichtsträchtigen Kontinuität:</p><p>Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) <a href="https://www.spiegel.de/wirtschaft/tuerkei-peter-altmaier-und-joe-kaeser-werben-fuer-bahnprojekt-a-1234836.html">reiste extra in die Türkei</a>, um den Auftrag für die Modernisierung der zu Zeiten der Baghdad-Bahn gebauten Eisenbahnschienen mit einem Investitionsumfang von sagenhaften 35 Milliarden Euro für Siemens zu garantieren. Schon vor über hundert Jahren war Siemens am Bau der Baghdad-Bahn mit tatkräftiger Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. beteiligt, alles im damals noch sehr unverblümt geäußerten Interesse des deutschen Imperialismus: „Einzig und allein eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird“. So 1902 der <a href="http://raeterepublik.de/Strategische_Partnerschaft.htm">deutsche Kolonialstratege</a> Paul Rohrbach in seinem Buch<i> Die Baghdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung</i>.</p><p>Osmanischer Kriegseintritt unter deutschem Oberkommando und deutsche Toleranz und in Teilen aktive Zuarbeit beim Armenischen Genozid folgten. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU, hält in der oben zitierten KAS-Broschüre – bei weitem nicht mehr so unverblümt wie einst, sondern zivilisierter, das heißt verschleierter – fest, dass 100-jährige politische und wirtschaftliche Banden die Türkei und Deutschland zusammenhielten und dass die Türkei ein zentraler Akteur und Stabilitätsanker sowie „unser verlässlichster Partner in der Region“ nach Israel sei, sowie die Diversifizierung der Energielieferungen an Deutschland ermögliche. [1] Die Türkei ist also <a href="https://ipc.sabanciuniv.edu/wp-content/uploads/2018/07/NATO-Report-Kirchner.pdf">aus europäischer Perspektive</a> eine „Brücke in den Nahen Osten, in den Kaukasus und indirekt auch nach Zentralasien“. Die NATO und die EU sind dabei die zwei hauptsächlichen internationalen Institutionen, die die Türkei an den Westen binden, so <a href="https://www.zeit.de/2016/31/tuerkei-nato-putschversuch-militaer">ganz richtig</a> der außenpolitische Hauptstadtkorrespondent von <i>Die Zeit</i>, Michael Thumann.</p><p>Bei dieser Interessenlage und einer solchen strategischen Zusammenarbeit ist man natürlich auch gern zu Zugeständnissen bereit, wo es um Demokratie, Menschenrechte und ähnliche profane Dinge geht. Der Bundesinnenminister de Maizière verewigte sich in dieser Angelegenheit am 25. Januar 2016 <a href="https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/schmusekurs-mit-erdogan-106.html">mit folgenden Worten</a>: „Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessensausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt“. Der Türkei-Korrespondent der FAZ, Michael Martens, brachte die Konsequenzen einer solchen Haltung in einem Artikel vom 8. November 2016 viel direkter und ehrlicher <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/europas-notwendigkeit-mit-der-tuerkei-zu-verhandeln-14517389.html">auf den Punkt</a>: „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten“. Darauf, dass auch dies eine <a href="https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2017/maerz-april/abschied-von-europa">historische Tradition</a> hat, verwies der oben erwähnte Thumann: „Die NATO hat der Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür gewiesen [...] und sie muss heute wegen Erdogan nicht die Nerven verlieren.“</p><p>Es sind aber nicht nur Zugeständnisse, die an eine sich faschisierende Türkei gemacht werden. Es findet auch schlicht die Fortsetzung strategischer Zusammenarbeit im sicherheitsdienstlichen und militärischen Bereich statt; diese wurde von den Wortgeplänkeln auf politischer Ebene überhaupt nicht nachteilig berührt – im Gegenteil: sie verstärkte sich. Das Vorgehen der BRD gegen die PKK oder vermeintliche PKK-Unterstützer*innen ist, entgegen der Propaganda des Regimes in der Türkei, schon seit dem PKK-Verbot 1993 kontinuierlich beinhart, wie sogar ein FAZ-Artikel festhält: Seit 1992/93 wurden 52 „der PKK zurechenbare“ Organisationen in der BRD verboten, 90 „PKK-Funktionäre“ verurteilt und seit 2011 nach einer Gesetzesverschärfung noch einmal 180 <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/geht-deutschland-ausreichend-gegen-die-pkk-vor-14934050.html">Ermittlungsverfahren</a> gegen 241 Beschuldigte aufgenommen. Unter Innenminister Seehofer wurde dem nur die Krone aufgesetzt: vermehrte Razzien bei kurdischen Organisationen wie Civaka Azad und NAV-DEM, eine Zunahme der PKK-Verfahren <a href="https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/arbeiterpartei-kurdistans-pkk-ermittlungsverfahren-deutschland">um das Dreifache</a> innerhalb eines Jahres, Fahnenverbote auch für die der YPG sowie letztlich die Verbote des <i>Mezopotamien</i> Verlages und <i>Mir-Musik</i>, um nur die krassesten Beispiele aufzuzählen. Gleichzeitig befinden sich Tausende Regime-Spitzel in der BRD, werden <a href="https://taz.de/Agent-des-tuerkischen-Geheimdienstes/!5382128">Todeslisten</a> oppositioneller Politiker*innen angestellt und Mordtaten geplant. Auch die Rüstungsgüterexporte schnellten, entgegen aller Lügen Sigmar Gabriels, in die Höhe: Im Jahre 2018 war die Türkei mit Abstand an erster Stelle, was deutsche Waffenexporte angeht, und diese machten <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutschland-verkauft-fuer-184-millionen-euro-waffen-an-die-tuerkei-16287033.html">fast 33 Prozent</a> der gesamten bundesdeutschen Waffenexporte aus. Trotz einer umfassenden Militäroffensive der Türkei auf Nordostsyrien („<a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-st%C3%A4rkung-des-faschismus/">Operation Friedensquelle</a>“ seit 9. Oktober 2019), mit der die Türkei beabsichtigt, ein sehr großes Gebiet de facto zu besetzen und zu kolonialisieren, gingen die deutschen Waffenexporte in die Türkei nicht nur munter weiter, sie erreichten sogar Rekordhöhen! <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-deutschland-waffenexporte-2019-1.4644309">Allein</a> die Waffenexporte der ersten acht Monate diesen Jahres an die Türkei sind mit 250,4 Millionen Euro größer als im gesamten Jahr 2018 und schon jetzt der höchste Wert seit 2005; Die Neugenehmigungen von Waffenexporten waren bis zum 9. Oktober mit 28,5 Millionen Euro doppelt so viel (!) wie im gesamten letzten Jahr. Ganz ohne Scham konnte Außenminister Heiko Maas (SPD) die türkische Regierung für ihr immens brutales und völkerrechtswidriges Vorgehen in Nordostsyrien kritisieren und von einer „<a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/waffenembargo-exportstopp-tuerkei-offensive-heiko-maas-russland-syrien">Beschränkung</a>“ der Rüstungsgüterexporte an die Türkei sprechen, während gleichzeitig durchsickerte, dass es – wie zu erwarten – die bundesdeutsche Regierung war, die ein EU-weites Waffenembargo an die Türkei <a href="https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/bild-bundesregierung-blockiert-schaerfere-tuerkei-massnahmen-a3034311.html">verhinderte</a>. Die <i>Süddeutsche</i> <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-deutschland-waffenexporte-2019-1.4644309">meint</a> dazu: „Die praktischen Auswirkungen des teilweisen Exportstopps der Bundesregierung dürften daher relativ gering sein.“ Same shit, different day.</p><p>Auch dieses Vorgehen weist Kontinuität auf: Schon in den 1980ern und 1990ern bekam die Türkei ganze 397 Leopard-1-Panzer; allein in den Jahren von 2006 bis 2011 hingegen 354 Leopard-2-Panzer, womit die türkische Armee derzeit mehr Leopard-2-Panzer besitzt, als die Bundeswehr, wobei diese Panzerlieferungen explizit von Artikel 5 des NATO-Vertrages – Einsatz nur zur kollektiven Verteidigung – <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/bodenoffensive-afrin-kurden-tuerkei-syrien-eu-staaten-besorgnis">ausgenommen</a> wurden. Konsequenterweise waren diese Panzer beim Angriff auf Afrin im Frühjahr 2018 im Einsatz – einem Angriff, den sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im März 2018 als <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/militaeroffensive-afrin-tuerkei-bundestag-voelkerrecht">nicht dem Völkerrecht entsprechend</a> einstufte. Derselbe Wissenschaftliche Dienst fügte Ende 2018 in einem separaten Gutachten hinzu, dass die Präsenz der Türkei in Syrien „die <a href="https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-12/bundestagsgutachten-besatzungsmacht-tuerkei-syrien">Kriterien einer militärischen Besatzung</a>“ erfülle. Die Bundesregierung hingegen zeigte sich <a href="https://www.welt.de/politik/ausland/article172805011/Syrien-Einsatz-Bundesregierung-sieht-legitime-Sicherheitsinteressen-der-Tuerkei.html">besorgt</a>, sprach aber gleichzeitig von „legitime[n] türkische[n] Sicherheitsinteressen“. Jetzt, mit der „Operation Friedensquelle“, legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages noch einmal nach und betonte noch einmal, dass auch diese Militärinvasion im „<a href="https://www.tagesschau.de/inland/tuerkei-wissensch-dienst-101.html">Widerspruch zum Völkerrecht</a>“ stehe. Trotz alldem hat die deutsche Rheinmetall<i>,</i> gemeinsam mit dem türkischen Waffenhersteller BMC und einem malaysischen Partner und tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung, ein Waffengroßunternehmen mit dem Namen Rheinmetall BMC Defence Industry (RBSS) mit Sitz in Ankara gegründet, das laut <a href="https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2017/08/11/was-hat-rheinmetall-in-der-tuerkei-zu-verbergen">internen</a> Papieren <a href="https://www.stern.de/politik/deutschland/rheinmetall-will-doch-keine-panzer-fuer-erdogan-bauen-8526166.html">einst beabsichtigte</a>, bis zu 1000 Panzer zu einem Preis von sieben Milliarden Euro zu bauen – wobei das ganze Unternehmen derzeit in Mysterien eingehüllt ist. Ob mit Produktionsfabrik vor Ort oder Lizenzvergaben oder Exporten: Rheinmetall, Daimler AG, Heckler und Koch, VW/Renk, MTU Friedrichshafen, ThyssenKrupp Marine Systems und <a href="http://www.imi-online.de/2019/10/18/deutsche-waffen-beim-tuerkischen-militaer/">viele andere deutsche Unternehmen</a> verdienen Millionen über Millionen an den Blutbädern des türkischen Militarismus.</p><h3>… <b>und ihre Widersprüche</b></h3><p>Erdoğan und die AKP wissen nur zu gut, dass es diese sehr realen europäischen Interessen an der Türkei gibt und dass sich die etablierten Mächte in Europa für Demokratie, Menschenrechte und dergleichen offensichtlich nur dann interessieren, wenn es ihnen wirtschaftlich und geostrategisch etwas bringt. Solange Stabilität herrscht und Erdoğan im weitesten Sinne des Wortes mit den europäischen Interessen konform geht, lässt man ihm freie Hand. Die rote Linie für EU und insbesondere Deutschland ist genau dann erreicht, wenn jenen Interessen geschadet wird.</p><p>Auf keinen Fall können westliche Großmächte, so sie denn noch etwas auf ihre eigenen weltpolitischen Machtambitionen geben, tolerieren, dass von türkischer Seite aus versucht wird, ein Programm zu verfolgen, das zuerst der einstige Außenminister, später Premierminister und derzeitige Renegat Ahmet Davutoğlu Anfang der 2000er Jahre entwarf. [2] Davutoğlu glaubte, wie so viele andere, dass nach dem Ende der Sowjetunion ein Machtvakuum in der Weltordnung entstanden sei, welches die USA durch einen Alleinherrschaftsanspruch auszufüllen versuchten. Da dies nicht geklappt habe, sei die Welt nun in einem Übergang hin zu einer multipolaren Ordnung begriffen. Länder wie die Türkei könnten in dieser Übergangsperiode aufgrund ihrer <i>strategischen Tiefe</i> (historische, geographische und kulturelle Ressourcen) zu einer Regionalmacht, ja gar zur Weltmacht aufsteigen. Die ehemals wegen Putschplänen gegen die AKP inhaftierten ultranationalistischen Militärs, mit denen sich die AKP im Kampf gegen die neuen Putschmilitärs verbünden musste, beschreiben die dabei idealerweise zu verfolgende geostrategische Taktik mit solch <a href="https://t24.com.tr/haber/emekli-tumamiral-cem-gurdeniz-tanki-durdurana-sahip-cikarim,351771">imposanten Begriffen</a> wie „dynamisches Gleichgewicht“: Die Türkei könne eine relative Autonomie und Bestimmungsmacht im geostrategischen Machtgefüge erlangen, indem sie sich im Gleichgewicht zwischen den Interessen von Russland und der USA bewege, somit von keiner der beiden Parteien abhängig sei, sondern im Gegenteil beide Parteien gegeneinander für die eigene Autonomie ausspiele. Letztlich hat auch diese Haltung eine hundertjährige Tradition: Noch wenige Tage vor dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg verhandelte die jungtürkische Führung mit Russland, um einer zu starken Abhängigkeit vom deutschen Imperialismus zu entgehen.</p><p>Zwar sprechen die Fakten eine andere Sprache, als das beabsichtigte „dynamische Gleichgewicht“: Das türkische Militär ist vollständig in die NATO integriert und von ihr abhängig, 80 Prozent des Auslandsdirektinvestitionsbestands in der Türkei kommen aus der EU und die meisten Exporte der Türkei gehen in die EU. Sprich, die Türkei ist derart in die westliche Ordnung integriert, dass sich von einem dynamischen Gleichgewicht nicht reden lässt; eine Loslösung vom Westen scheint dementsprechend nicht im nationalen Interesse der Herrschenden in der Türkei zu liegen. „Doch kann sich“, so Günther Seufert von der SWP, „der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird“. Er <a href="https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A06_srt.pdf">empfiehlt</a> deshalb Zugeständnisse. Diese haben jedoch, wie oben ausgeführt, ihre Grenze am Eigeninteresse der EU als globalem Machtakteur und der BRD als deren Hauptmotor. Erdoğan und das derzeitige Regime in der Türkei hingegen können nicht mehr so einfach wie früher garantieren, dass sie diesen Interessen entsprechend handeln. Dafür sind sie einerseits zu sehr in die Ecke gedrängt; andererseits beschert ihnen erfolgreiche aggressive Außenpolitik große Zustimmung im Inland und bei den Eliten des Landes und entspricht bei Erfolg tatsächlich den Interessen derselben. Auch Seufert <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-amerikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald-trump-usa-nato-mitgliedschaft/komplettansicht">weiß oder ahnt natürlich</a>, genauso wie der oben erwähnte Davutoğlu aus türkisch-imperialistischer Perspektive, dass das erratische und aufmüpfige Verhalten der Türkei nicht allein der Konjunktur nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 entspringt, sondern seinen Grund in der veränderten Konstellation innerhalb des imperialistischen Weltsystems nach dem Ende der Sowjetunion hat: „Das Ende des Kalten Krieges hat der Türkei nicht nur in Zentralasien und auf dem Balkan neue Aktionsräume eröffnet, sondern auch im Nahen Osten. Seit dieser Zeit sucht die Türkei einerseits ihre Stellung im Nahen Osten zu stärken. Andererseits fürchtet das Land die Folgen amerikanischer Nahostpolitik, die aus seiner Perspektive die Destabilisierung nahöstlicher Staaten zur Folge hat und dadurch den Kurden des Irak, Syriens und damit auch denen der Türkei Freiräume schafft“. Die Hinwendung zu Russland und Iran sieht Seufert darin <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/tuerkisch-amerikanische-beziehung-reccep-tayyip-erdogan-donald-trump-usa-nato-mitgliedschaft/komplettansicht">begründet</a>, die fehlgeschlagenen außenpolitischen Offensiven in Ägypten, Tunesien und Syrien mit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 zumindest in einen Teilerfolg bezüglich der Verhinderung eines kurdischen Staates im Norden Syriens umzumünzen. Ist also die Türkei – noch – unentwirrbar in das westlich-imperialistische System eingebunden, so auch umgekehrt: Bei einer strategischen Hinwendung der Türkei hin zu Russland – so unwahrscheinlich das heute noch klingen mag – würde sich „das globale Machtgleichgewicht verändern“; „[o]hne oder gar gegen Ankara“ kann Europa im Nahen Osten kaum agieren. Gerade deshalb ist es den politischen Eliten in Deutschland bis hinauf zur Bundeskanzlerin Merkel [3] so wichtig, die Widersprüche beider Länder nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Andererseits bleibt auch die Aufmüpfigkeit und Abwendung der Türkei vom Westen aus eben denselben Gründen der strategischen Zusammenarbeit beschränkt: Erst kürzlich wurden wieder Militärs gesäubert, die keine Zusammenarbeit mit den USA in Syrien wollten, da dies ihrer Meinung nach eine Invasion in Rojava erst einmal verunmöglichen würde; und erst daraufhin wurde ein sehr vages Einverständnis zwischen der Türkei und den USA bezüglich der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/08/turkey-united-states-syria-safe-zone-deal-divided-public.html">Errichtung einer Sicherheitszone</a> in Nordsyrien beschlossen, obwohl die Türkei noch Anfang August kurz davor stand, eine Großoffensive in Rojava zu beginnen. In der Zwischenzeit aber konnte sich die Türkei im internationalen Parkett durchsetzen und eine erneute Militärinvasion in Nordostsyrien unter dem zynischen Namen „<a href="https://revoltmag.org/articles/ein-krieg-zur-st%C3%A4rkung-des-faschismus/">Operation Friedensquelle</a>“ lancieren – trotz fehlender internationaler Unterstützung.</p><p>Die Widersprüche zwischen der BRD und der Türkei gründen also in Widersprüchen zwischen einer größeren imperialistischen Macht und einer kleineren, in der Region subimperialistisch agierenden Macht, die zudem innenpolitische Probleme teils per außenpolitischer Offensive in den Griff zu bekommen versucht. Weil es diese Widersprüche gibt, wird auf der Oberfläche der Politik – das heißt ohne irgendetwas an der strategischen Zusammenarbeit zu ändern – auch die Erdoğan-Kritik seitens der BRD aufrechterhalten, werden verfolgte Akademiker*innen mit offenen Armen aufgenommen und sogar mutmaßliche Gülen-Anhänger*innen toleriert. Diese eher auf der unmittelbaren Oberfläche des Politischen verankerte Herangehensweise dient der BRD nicht nur dazu, sich auf oberflächliche Art die Weste rein zu halten – denn immerhin kritisiere man ja den bösen Diktator. Sie wird von der BRD selbstverständlich auch als Instrument dazu genutzt, einerseits das derzeitige Regime in der Türkei in bundesdeutschem Interesse und im Sinne der westlich orientierten Verbündeten innerhalb der Türkei zu disziplinieren; andererseits auch dazu, Teile der Eliten-internen Opposition, ob nun links oder rechts, staatlich oder zivilgesellschaftlich für sich nutzbar zu machen – im Hier und Heute, für das eigene Image wie auch für die Disziplinierung des Regimes in der Türkei; aber auch in Hinblick auf eine mögliche post-Erdoğan Türkei. Aus anderen konkreten Gründen – aus innenpolitischem Interesse und aus subimperialistischer Perspektive heraus – aber prinzipiell mit derselben Motivation, wird die Frontstellung gegenüber BRD, EU, NATO und allgemein dem Westen gegenüber vom Regime in der Türkei aufrechterhalten. Revolutionäre Linke, insbesondere diejenigen antiimperialistischer Einstellung, sollten sich über die Interessenlage zwischen der BRD und der Türkei sowie der Natur ihrer Widersprüche keine Illusionen machen und stattdessen eine eigenständige Position entwickeln.</p><p></p><p></p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b> </h3><p><i>Die erneute Invasion der Türkei in Nordostsyrien/Rojava („Operations Friedensquelle, seit 9. Oktober 2019) erfolgte nach Fertigstellung des Artikels für die Broschüre; die Online-Version wurde deshalb entsprechend ergänzt.</i></p><p><br/><b>[1]</b> Hardt, Jürgen: „Gemeinsame Verantwortung. Die wachsende Bedeutung der deutsch-türkischen Beziehungen“, in:<i> Die Politische Meinung</i>, Nr. 537, März/April 2016, S. 90–95.</p><p><b>[2]</b> Hierzu vgl. Birdal, Mehmet Sinan: „The Davutoğlu Doctrine: The Populist Construction of the Strategic Subject“, in: Akça, Bekmen, Özden (Hrsg.), <i>Turkey</i> <i>Reframed. Constituting Neoliberal Hegemony</i>, London, S. 92–106.</p><p><b>[3] </b>Vgl. <a href="https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-806392">Regierungserklärung</a> von Angela Merkel, 9. März 2017: „Es gibt also einerseits umfassende gemeinsame europäisch-türkische Interessen. Es gibt andererseits – wir spüren das in diesen Tagen einmal mehr überdeutlich – tiefgreifende Differenzen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, zwischen Deutschland und der Türkei. […] Und deshalb ergänze ich: So schwierig das alles derzeit auch ist, so unzumutbar manches ist: Unser außen-, sicherheits- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt.“</p><p></p></div>
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Ein antifaschistischer Wind weht2018-06-21T23:00:47.337019+00:002018-06-22T07:45:28.635328+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-antifaschistischer-wind-weht/
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<h1>Ein antifaschistischer Wind weht</h1>
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<img alt="Diyarbakir feiert die Abschlusskundgebung der HDP vor den Wahlen" height="420" src="/media/images/diyarbakir.6d5f84c8.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Sertaç Kayar</span>
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<div class="rich-text"><p>Diyarbakır ist keine Stadt des Sultans. Bei der
Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakır am vorgestrigen Tag schwappen die
Straßen fast über vor euphorischen HDP-Anhänger*innen. Ein nicht endender Strom
an Menschen bewegt sich sternförmig auf den Kundgebungsort, den Bahnhofsplatz,
zu. Unter ihnen auch wir, eine Wahlbeobachtungsdelegation aus der Region
Köln-Bonn. Eine Frau drängelt sich an mir vorbei und entschuldigt sich im
Vorbeigehen strahlend: „Ich bin soooo aufgeregt!“ Ich nehme es ihr nicht übel,
genauso wenig wie die unzähligen Menschen um mich, mit denen ich eine gefühlte
Ewigkeit lang Körper an Körper dicht gedrängt an der Eingangskontrolle zur Demo
warte. Wo die Menschen vor überquellenden Straßen nicht mehr zur Kundgebung
kommen, halten sie einfach ihre eigene spontane Kundgebung ab. Das Fahnenmeer
wogt und als Pervin Buldan, Co-Vorsitzende der HDP und Rednerin, die
„Cliquenmentalität der Barbaren in Suruç“ verflucht, geht eine Welle der
Entrüstung durch die Menge. Als sie Selahattin Demirtas grüßt, jubeln die
Tausenden noch lauter. Sertac Kayar, langjähriger Profifotograf in der Region,
redet davon, dass er so etwas noch nie gesehen hat. Auch die anderen
Beobachter*innen reden von einer Energie und einer Menge an Menschen, die die
Größenordnung der HDP-Abschlusskundgebung vom 5. Juni 2015 übertrifft, welche
als bisheriger Höhepunkt der HDP galt.
</p>
<h2><b>Inmitten von
Sturmwinden</b></h2>
<p>Ein Tag zuvor: Als wir das Büro des Menschenrechtsvereins
IHD in Diyarbakır betreten, sind diese gerade damit beschäftigt, Strafanzeige
gegen den Innenminister Süleyman Soylu zu stellen. Der hatte zwei Tage vor
unserer Ankunft in Diyarbakır zu verstehen gegeben, dass im Prinzip alle
wichtigen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Diyarbakır
PKK-Organisationen oder Unterstützer der PKK seien. Grund dafür war der Versuch
einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Diyarbakır, inklusive der
Ärzte- und der Industrie- und Handelskammer, gemeinsam nach Suruç zu fahren. In
der HDP-Hochburg hatten am 14. Juni zwei schwerbewaffnete Securities des
lokalen AKP-Parlamentskandidaten İbrahim Halil Yıldız das
Feuer auf den Laden von Hacı Esvet Şenyaşar eröffnet. Dieser hatte dem AKP-Mann
zuvor zu verstehen gegeben, dass die AKP von dort keine Stimmen bekäme. Im daran
anschließenden Gefecht sterben zwei Menschen, weitere müssen schwerverletzt ins
Krankenhaus gebracht werden. Dort geht das Massaker weiter. Der Ladenbesitzer
Hacı Esvet und seine Familienangehörigen Adil und Celal Şenyaşar werden von den
AKP-Männern auf <a href="http://www.mezopotamyaajansi12.com/tum-haberler/content/view/27261">brutale
Weise angegriffen</a>, gefoltert und an Ort und Stelle erschossen
beziehungsweise erstochen. Mehmet Şenyaşar, ein anderes Familienmitglied, überlebt
<a href="http://sendika62.org/2018/06/suructa-akplilerin-elinden-canli-kurtulabilen-mehmet-senyasar-bicakladilar-kursun-siktilar-olu-taklidi-yaptim-498237">durch
Glück</a>. Er hatte sich totgestellt. Einen Tag vor diesem brutalen Angriff wurde
ein Video von Erdoğan geleakt, in dem er gegenüber Ortsvorstehern betont, dass diese
„besondere Maßnahmen“ gegenüber der HDP anwenden müssten, weil deren Scheitern an
der Wahlhürde ein entscheidender Moment für die AKP wäre.</p>
<p>Obgleich die Situation vor Ort oberflächlich viel ruhiger
und entspannter ist als Anfang 2016, als ich das letzte Mal vor Ort war –
mitten im Krieg –, zeigen alleine diese aufeinanderfolgenden Ereignisse als Spitze
einer Reihe von Eskalationen, wie angespannt und extrem polarisiert die
Situation wirklich ist. Der faschistoide <i>rollback</i>
setzte zwar mit der militärischen Niederschlagung der
Selbstverwaltungsstrukturen in den Jahren 2015-16 ein, verschärfte sich aber
dramatisch mit dem Ausnahmezustand, der im Zuge des Militärputsches im Juli
2016 quasi in Permanenz verhängt wurde. Seitdem sind alle bis auf zwei der über
100 kurdischen Bürgermeister*innen per Gesetzesdekret (KHK) ihres Amtes
entfernt und durch von Ankara eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt worden. Diese
revidierten alle Errungenschaften der letzten Jahre: Sehr oft wurden
mehrsprachige Schilder mit rein türkischsprachigen Schildern ersetzt oder in
nationalistischer Manier Orte umbenannt; Dutzende Vereine, darunter über 40
Vereine, die auf die Stärkung und Gleichstellung von Frauen zielen, wurden
geschlossen und ihre Vereinsräume samt Mobiliar und Archiven geleert oder für
niemanden mehr zugänglich abgesperrt. In den verbliebenen Frauenvereinen werden
nun Korankurse abgehalten und am 8. März dozierte der Mufti Diyarbakırs im
Kongresszentrum der Stadt darüber, was die Stellung der Frau im Islam ist. Hinzu
kommen Tausende Entlassungen und Schließungen von Presse- und Medienorganen. Die
„frei“ werdenden Stellen werden ersetzt durch eigene Leute – manchmal gar durch
Familienmitglieder. Zieht man noch in Betracht, dass auch Erinnerungsorte wie
zum Beispiel das Monument zur Erinnerung an das Massaker von Roboski entfernt
wurden, dann lässt sich mit Fug und Recht von einem Versuch der „Auslöschung
kollektiver Erinnerung und kollektiven Gedächtnisses“ sprechen, wie es die
Kolleg*innen im IHD tun. Anstelle dessen schmückt das Konterfei Erdoğans seit
dem Referendum 2017 das – ohne Übertreibung – gesamte Stadtbild. An jeder
Laterne hängt ein Bild von ihm als Präsidenten – trotz, dass der Hohe Wahlrat
YSK entschieden hat, dass die Plakate abgehängt gehören. „Es gibt keine
Institutionen, die diese Entscheidung des Wahlrats umsetzen“, so erzählen uns die
IHD-Vorstandsmitglieder trocken.</p>
<h2><b>Das Repressionsregime
der „Sicherheit“</b></h2>
<p>Im Namen der Ordnung und der Wahrung der „Sicherheit“ herrscht
hier ein Repressionsregime. Öffentliche Veranstaltungen, Treffen,
Versammlungen, Demonstrationen sowieso sind fast durchgehend verboten – außer
sie findet aus Regierungskreisen heraus organisiert statt. Als die HDP Diyarbakır
wegen der Invasion Afrins eine Demo machen will, verhindern Polizisten sie
daran, überhaupt das Büro zu verlassen. Sogar die Samstagsmütter, die für die
Aufklärung der „Morde unbekannter Täter“ in den 1990ern, denen ihre Kinder zum
Opfer fielen, kämpfen, dürfen nicht mehr im Freien demonstrieren – seit über 90
Wochen demonstrieren sie drinnen. „Es gibt keine Vorstandsperson in
demokratischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen in Diyarbakır, die
nicht im Zuge dieser Entwicklungen mal kürzer, mal länger in Untersuchungshaft
saß“, so Yüksel Aslan Acer, Sekretärin des IHD Diyarbakır und ehemalige
Angestellte der Stadt, bis sie ebenfalls per KHK gefeuert wurde. Sie selbst saß
20 Tage in U-Haft, bis ihre Aussage aufgenommen wurde. Danach erhielt sie eine
wöchentliche Meldeauflage. Beim ersten Gerichtsverfahren wurde sie
freigesprochen. „Pure Willkür, um zu zermürben“, so ihr Kommentar. In der Tat:
Gegen fast jede Person, die wir treffen und die auch nur entfernt pro-kurdisch
und oppositionell eingestellt ist, wurde oder wird weiterhin zumindest
ermittelt, Personen in höheren Funktionen von zivilgesellschaftlichen
Organisationen werden ihres Amtes per Gesetzesdekret enthoben. Das heißt dann
nicht nur, dass sie kein öffentliches Amt mehr bekleiden können, sondern dass
sie auch in keinem privaten Verein oder Unternehmen mehr leitende Funktionen
übernehmen können. Dermaßen Entlassene wechseln, wo sie Glück haben, zu viel
schlechteren Bedingungen in private Anstellungen. Oder, was relativ oft
geschieht, sie machen kleine, zum Teil kooperative Läden auf, verkaufen
Eigentum, verlassen sich auf Freunde und Familie.</p>
<p>Der Rundumschlag trifft alle. In einer sehr sicheren,
ruhigen und etwas ab vom Schuss gelegenen Siedlung treffe ich zwei alte
Bekannte von mir. Die Siedlung wird bevölkert von
Mittelklassen-Professionellen: Anwält*innen, Ärzt*innen, Lehrer*innen und so
weiter. 38 von 40 Haushalten sind pro-HDP, zwei isolierte, nicht in die
Siedlungskommune eingebundene Haushalte sind pro-AKP eingestellt. Mindestens
fünf Personen aus den pro-HDP Haushalten wurden ihres Amtes entfernt, gegen
zahlreiche andere wurden Ermittlungen aufgenommen. Einer sitzt immer noch in
Haft, eine ganze Familie flieht in die Schweiz, mehrere Haushalte überlegen es
ihnen gleich zu tun und ihre Koffer stehen quasi täglich bereit. Denn über
Monate hinweg findet eine nächtliche Großrazzia des Militärs nach der anderen
statt. Nachdem ein Großteil ihres Freundeskreises zumindest einmal in
Untersuchungshaft landet, warten meine beiden Bekannten darauf, dass sie dran
sind. Bisher sind sie „verschont“ geblieben, was heißt: Er wurde für 3,5 Monate
suspendiert (und dann wieder zurückgeführt), sie wurde entlassen. „Aber beim
nächsten KHK kann es uns wieder treffen“, meinen sie beide trocken. Ein pro-HDP
türkischer Lehrer redet davon, dass sich „für uns die Frage stellt, ob
überhaupt noch eine einigende Politik möglich ist“. Sein „uns“ bezieht sich
hier offensichtlich nicht auf die ethnische Kategorie „Kurd*in“: Sie bezieht
alle mit ein, die sich wie er Diyarbakır und der Region zugehörig fühlen, dem
Regime oppositionell eingestellt sind und die demokratischen Rechte der Kurd*innen
anerkennen. Die gesellschaftliche Polarisierung verschärft sich und durchkreuzt
mittlerweile Klassen- und zum Teil eben auch ethnische Unterschiede. Die
Mittelklassen machen sich Sorgen um ihre Zukunft und vor allem die ihrer Kinder,
Säkulare bangen um ihren Lebensstil, islamische Kleineigentümer um ihre extrem
schwierigen wirtschaftlichen Perspektiven. Meinungsumfragen innerhalb der
AKP-Klientel konstatieren ein „schweigsames Ressentiment“. Ein Phänomen, das
fast durchgehend alle großen Meinungsumfrageinstitute bestätigen, ist, dass die
Menschen auf Fragen gar nicht mehr reagieren: vor Misstrauen und Angst in
Anbetracht der allseitigen Repression und Denunziation.</p>
<h2><b>Bröckelnde Fassaden</b></h2>
<p>In Sur, der historischen Altstadt Diyarbakırs, herrscht eine
mit aller Macht herbeigezwungene, deshalb überhaupt nicht normale Normalität.
Nichts passt zusammen: Auf der Gazi Caddesi, der Hauptstraße zwischen Norden
und Süden, herrscht reger Handelsbetrieb, alle großen Innenhöfe und
Frühstückscafés haben offen und boomen, es wird rege geshoppt – ein paar Meter
daneben bei der Dört Ayaklı Minare, an welcher der Vorsitzende der Anwaltskammer
von Diyarbakır, Tahir Elçi am 28. November 2015 unter bis heute nicht ganz
geklärten Umständen erschossen wurde, hört Sur künstlich auf. Werbebanner, die
den Weg weiter ins Viertel versperren, zeigen, wie der Rest von Sur irgendwann
in Zukunft aussehen soll. Was dort einmal war, wurde kaputtgeschossen oder nach
den Auseinandersetzungen in den Jahren 2015-16 vollständig abgerissen.
Mittlerweile ist über die Hälfte der historischen Altstadt plattgewalzt. Um den
Bereich von Alipaşa herum, in dem es gar keine Gefechte gab, wurde ebenfalls
Wellblech hochgezogen; auch dort wird alles abgerissen und modernisiert und
dementsprechend viel kostspieliger neu hochgezogen. Die Familien sind
vertrieben und geht der „Modernisierungsplan“ auf, werden sie aufgrund der
Preise auch nicht wieder zurückkehren können. Der kaum getarnte Zivilpolizist am
Dört AyaklI Minare observiert uns und eine Gruppe Jugendlicher, die das in der
Türkei eigentlich immer pro-kurdisch konnotierte Victory-Zeichen machen, prüfenden
Blickes. Aber keiner interveniert. Unvorstellbar im Sur des Jahres 2016, damals
eine schwermilitarisierte Hochsicherheitszone. „Die Polizei und das Militär
haben getan, was sie tun wollten, deshalb können sie jetzt so scheinbar locker
sein“, meint zynisch unser Begleiter Talat, ein entlassener Lehrer. Von der
Nordmauer aus kann man weitflächig auf die betreffenden Teile der Viertel Savaş,
Dabanoğlu und Cevatpaşa blicken. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken,
das friedlich vor sich hin wachsende Gras auf dieser riesigen Brachfläche
wächst dort schon immer. Nur die im Bau befindliche doppelspurige Asphaltstraße,
die so gar nicht zum restlichen Sur passt, könnte diesen Gedanken irritieren. „Es
ist egal, ob sie in Sur das Paradies aufbauen, die Leute interessiert das nicht
mehr, nach all dem was sie erleben mussten“, so die Bekannte aus der Siedlung. Die
erzwungene Normalität ist nur der schlechte Versuch zur Wahrung des Scheins. Hinter
den Fassaden brodelt die unterdrückte Gesellschaft.</p>
<p>Im Vorlauf zu den Wahlen gelten andere Gesetze, deshalb
lässt sich auch wieder mehr auf der Straße machen. Aber die grundlegende
Spannung, Polarisierung und Repression schlägt sich auch hier nieder. Vor einem
HDP-Wahlbüro trinken wir später am Nachmittag <a href="https://twitter.com/KBDiyarbakir/status/1009122949612359680">einen Tee im
Freien, tanzen Halay</a>, unterhalten uns mit den zumeist sehr jungen HDP-Wahlkämpfer*innen.
Ein eher schweigender, hin und wieder HDP-Fahnen schwingender Teil von älteren
Männern und Frauen sitzt hinter uns. Später erfahren wir, dass sich unter ihnen
viele Familien aus Sur befinden. Der Jugendliche, mit dem ich spreche, ist erst
vor einem Monat nach 1,5 Jahren Haft entlassen worden. Er erzählt davon, wie
sie tagtäglich von der Polizei schikaniert werden, die versucht, ihr
öffentliches Auftreten zu verhindern oder sie gar festzunehmen. „Wir machen
aber dennoch weiter, gehen von Haustür zu Haustür. Es weht ein
antifaschistischer Wind“, so sein Kommentar. Die Gruppe und wir werden aus der
Entfernung von missmutigen Personen – manchmal aus dem Auto gezielt langsam
vorbeifahrend, manchmal vorbeilaufend – grimmig beobachtet, oft gefilmt. Wir verabschieden
uns höflich, bevor die Polizei unseren Besuch zum Anlass nimmt, die nächste
Razzia durchzuführen. </p>
<p>„Mindestens 14 Prozent!“ an Stimmen bei den Wahlen am
kommenden Sonntag – das ist nicht zuletzt das, wovon vom ehemaligen Sekretär des
Vorsitzenden der Kommunalverwaltung von Sur bis hin zum bewegungsnahen, aber
unabhängigen Journalisten alle hier überzeugt sind. Ob aber dieselben
Stimmzettel wieder aus den Urnen herausgeholt werden, die eingeworfen wurden,
darüber haben alle Zweifel. Der Ausgang des Wahltages ist alles andere als
sicher. Es ist aber so dermaßen offensichtlich, dass die Leute am politischen
Klima ersticken und nach Luft verlangen, dass sogar die AKP-Wahlwerbungen im
Fernsehen in ihrer Ästhetik mit Hoffnung spielen. „Nein, nein, der wird schon
gehen“, meint belustigt der HDP-Abgeordnetenkandidat für Diyarbakır Hişyar Özsoy
auf die Frage, ob denn Erdoğan nicht einfach das Ergebnis nicht anerkennen
wird, falls es zu seinen Ungunsten ausgeht. „Auch im Staat gibt es größeren Unmut.
Falls er verliert, werden seine Alliierten reihenweise desertieren. Was soll er
dann noch tun, außer eventuell schon in der Nacht seiner Niederlage zu
fliehen?“ Nicht zuletzt die heutige HDP-Abschlusskundgebung zeigt eindrucksvoll,
welches politisches Potenzial und welche freudenvolle Energie weiterhin im Land
vorhanden sind, die bei der nächstbesten Gelegenheit aus den angelegten Fesseln
herausbersten wird, sollte der autoritäre Griff auf die Gesellschaft auch nur
teilweise gelockert werden oder gar an Kraft abnehmen. Von der Entfesselung
dieser Energie wird es abhängen, ob das Land grundlegend umgewälzt wird.</p><hr/><p>Folgt der Wahlbeobachtungsdelegation für aktuelle Informationen bei <a href="https://twitter.com/KBDiyarbakir">Twitter</a>.<br/></p><hr/></div>
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Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
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<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
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<img alt="Afrind wird bombardiert" height="420" src="/media/images/Afrin.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
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