re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2612021-02-12T17:28:11.505156+00:00Der Irak vor den Wahlen – eine politische Einschätzung aus linker Perspektive2021-02-12T11:20:12.466229+00:002021-02-12T17:28:11.505156+00:00Maja Tschumi und Workers against Sectarianismredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-irak-vor-den-wahlen-eine-politische-einsch%C3%A4tzung-aus-linker-perspektive/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Der Irak vor den Wahlen – eine politische Einschätzung aus linker Perspektive</h1>
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<span class="content-copyright">Ziyad Matti</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Grundlage dieses Artikels ist der monatliche „Iraq Report“ von Workers Against Sectarianism (WAS) aus dem Irak. Der Kontakt des re:volt magazine (Berlin) zu Aktivist*innen von WAS ist an einer Marx-Herbst-Schule Ende 2019 in Berlin entstanden, als im Irak gerade die Proteste ausgebrochen sind. Es folgte ein intensiver politischer Austausch mit dem Anspruch, das Verständnis und die Solidarität mit den irakischen Protesten in Europa zu stärken. Ende 2020 traf Maja Tschumi WAS-Aktivist*innen aus Bagdad in Kurdistan/Irak.</i></p><hr/><p></p><p>Am 21. Januar 2021 erschütterte ein doppeltes Bombenattentat Bagdad und forderte laut offiziellen <a href="https://www.aljazeera.com/news/2021/1/22/islamic-state-claims-deadly-baghdad-twin-suicide-bombing">Zahlen 32 Tote und 100 Verletzte</a> (inoffiziell wird von 100 Toten gesprochen). Zwei Männer sprengten sich inmitten eines belebten Marktes in die Luft. Es war nach drei relativ ruhigen Jahren das erste Attentat dieses Ausmaßes in Bagdad. Ohne konkrete <a href="https://edition.cnn.com/2021/01/21/middleeast/iraq-baghdad-explosion-intl/index.html">Beweise</a> vorzulegen, erklärte sich der Islamische Staat (IS) für die Anschläge verantwortlich und ein Großteil der europäischen Presse übernahmen diese Behauptung, meist ohne die Anschläge in einen größeren Kontext der aktuellen Lage im Irak zu stellen. Im Irak gibt es zahlreiche bewaffnete Gruppen. So waren zum Beispiel die vom Iran unterstützen Milizen massgeblich beteiligt an der brutalen Niederschlagung der Proteste seit Oktober 2019 (mindestens 700 Tote und 30.000 Verletzte). Ihnen werden Anschläge auf US-Stellungen im Irak und zahlreiche gezielte Tötungen und Entführungen von Aktivist*innen nachgesagt. Doch der irakische Staat ist nicht in der Lage, diese Milizen dafür zur Rechenschaft zu ziehen und sie fungieren zunehmend als eine Art Staat im Staat. Diese pro-iranischen Milizen („Hashd al-Shaabi“) entstanden auf Geheiss des irakischen Großayatollah 2014 im Kampf gegen den IS. Sie wurden finanziell vor allem vom Iran unterstützt (zu Beginn auch von den USA). Nach dem Sieg über den IS wurden sie ins irakische Militär integriert, von diesem aber nie wirklich unter Kontrolle gebracht. Auch weil sie schiitisch-islamistischen Parteien und dem Iran dazu dienen, ihren politischen Einfluss im Irak auszuweiten.</p><p>Hierzulande lösten die Bombenanschläge in Bagdad Befürchtungen eines Wiedererstarkens des IS im Irak aus. Laut der Einschätzung von Aktivist*innen der klassenkämpferischen Basisorganisation <a href="http://was-iraq.org/">WAS</a> aus Bagdad müssen die Bombenanschläge jedoch mehr im Zusammenhang mit den anstehenden, vorgezogenen Wahlen betrachtet werden. Sie waren eine zentrale Forderung der <a href="https://revoltmag.org/articles/die-stimme-der-frauen-ist-in-dieser-revolution-deutlich-pr%C3%A4sent/">Massenproteste 2019/2020</a>. [1] Denn aufgrund der zahlreichen Checkpoints und Sicherheitskräfte in Bagdad zweifeln die Aktivist*innen daran, dass die IS-Attentäter so unbemerkt ins Zentrum der Stadt vordringen konnten. Auch wenn dies schwer zu bestätigende Vermutungen einer Komplizenschaft mit der Regierung sind, weisen sie doch auf eine zentrale Gefahr hin: Schiitisch-islamistische Parteien in der Regierung könnten von einem Terror-Anschlag des IS insofern profitieren, als es ihnen das Argument liefert, schiitisch-islamistischen Kräfte stärken zu müssen, um die Bevölkerung vor dem IS zu schützen. Das ist ein Narrativ, welches im Krieg gegen den Islamischen Staat 2014 bis 2017 entstanden ist. Unterdessen sind die pro-iranischen Milizen selbst eine Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung geworden. Und tatsächlich stellte in der Nacht vom 9. Februar 2021 eine Miliz der Sadr-Bewegung in Bagdad, Najaf und Kerbala ihre Waffen zur Schau. [2] Sie sperrten Straßen und besetzten sunnitische Stadtviertel. Erneut scheinen sich also die konfessionellen Spannungen im Vorfeld der Wahlen zuzuspitzen.</p><h2>„We want a homeland!“</h2><p>Im Oktober 2019 ging die junge Generation in Bagdad und in südlichen Provinzen des Irak unter dem Slogan „We want a homeland“ massenhaft auf die Straße, besetzte Plätze und organisierte sich gegen mangelnde wirtschaftliche Möglichkeiten, ausufernde Korruption, ein sektiererische Parteiensystem und die imperiale Einmischung in die irakische Politik und Wirtschaft. [3] Zentrale Forderungen zu Beginn der Proteste 2019 waren: stabile Elektrizität und Wasser, weniger Korruption und mehr Arbeit (ca. 30 Prozent der Männer und ca. 60 Prozent der Frauen* unter 24 Jahren sind arbeitslos). Aufgrund der Repression eskalierte der Protest zu einem nationalen Aufstand mit der umfassenden Forderung, die Regierung zu stürzen und den iranischen Einfluss im Irak zu stoppen.</p><p>Trotz massiver und brutalster Repression gelang es dem sogenannten October Uprising eine große Sicherheit auf den besetzten Plätzen zu erreichen. Die Platzbesetzungen wie z.B. auf dem Tahrir Platz in Bagdad waren ein wesentliches Merkmal und eine wesentliche Errungenschaft der Protestierenden. Schließlich gelang es ihnen, den seit 2018 amtierenden Premierminister Adil Ab al-Mahdi (seit 2017 unabhängiger schiitischer Politiker, zuvor Mitglieder der iranfreundlichen, schiitisch islamistisch Partei „Oberster Islamischer Rat im Irak") im <a href="https://revoltmag.org/articles/die-krise-des-politischen-schiitentums-und-der-kampf-f%C3%BCr-das-recht-auf-hoffnung/">November 2019 zum Rücktritt</a> zu zwingen. Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen abzuhalten, wurde dann von der Regierung unter Premierminister Mustafa Al-Kadhimi (ein USA- und Kapital-freundlicher, parteiloser Schiit und Ex-Geheimdienstchef) getroffen, der im Mai als Übergangpräsident eingesetzt wurde. Damit antwortete er auf eine zentrale Forderung der Proteste in der Hoffnung, diese damit zu deeskalieren und ihre Wut auf das sektiererische Politik- und Parteiensystem zu besänftigen.</p><p>Seit 2011 hat der Irak in regelmässigen Abständen Proteste erlebt. Die Proteste 2019/2020 gingen allerdings in ihrer Quantität und in ihrer Qualität über alle Proteste seit 2003 hinaus. Zum einen lehnte der Großteil der Protestierenden den Fokus auf Identitätspolitik mit ihren konfessionelle Spaltungen ab und betonten stattdessen die ökonomischen, sozialen und politischen Missstände. Zum anderen war die <a href="https://revoltmag.org/articles/die-stimme-der-frauen-ist-in-dieser-revolution-deutlich-pr%C3%A4sent/">Beteiligung von Frauen*</a> am October Uprising bemerkenswert. Während die protestierenden Männer vor allem der Arbeiterklasse und den unteren Schichten angehörten, waren Frauen* verschiedener Schichten und Klassen auf der Straße. Unter den Frauen* konnte man, so berichten WAS, eine klassenübergreifende Solidarität feststellen. Dies würde daran liegen, dass der Kampf für Frauen*rechte und politischer Mitbestimmung im sehr patriarchalen Irak Frauen* verschiedener Klassen zusammenschweisst.</p><p>Die Forderungen der Demonstranten liefen von Anfang an unter dem Slogan „We want a Homeland" zusammen. Er drückt das Gefühl einer Post-US-Invasion-Generation aus, keine Heimat zu haben – und zwar im doppelten Sinne: 1. kein lebenswertes Leben führen zu können und 2. in einem Land zu leben, das seit langem mehr von äußeren – den USA und dem Iran – als von inneren Kräften gelenkt wird. So wurde die irakische Flagge während den Protesten zu einem Symbol. Sie sollte ausdrücken, dass die Menschen im Irak unabhängig von imperialen Interventionen und Einflüssen selber über die Zukunft des Iraks entscheiden wollen. Es gab aber auch eine kritische Debatte unter den Protestierenden über die Flagge, ob man sie zum Beispiel verändern soll und wie man sie inklusiver gestalten könnte. Denn im Namen der irakischen Flagge wurde in der Geschichte des Iraks sehr viel konfessionell und ethnisch begründetes Unrecht von Seiten des Staates begangen. Die Überwindung sektiererischer und ethnischer Spaltungen war aber gerade ein zentrales Anliegen der Protestierenden, dem sich die meisten Bewegungen unterordneten. So betonten zum Beispiel auch Frauen*organisationen, die an den Protesten und den Platzbesetzungen teilnahmen, dass sie nicht in erster Linie eine Frauen*revolution forderten, sondern sich als Teil der gesamten Bewegung verstehen. Dies zeigt aber – gerade in Bezug auf Frauen*bewegungen – auch auf, in welchem Verhandlungsspielraum sie sich befinden und dass für sie die Strategie der Solidarisierung im heutigen Irak vielversprechender ist als eine Strategie der Spaltung.</p><h2>Eine flache Organisationstruktur und große Partizipation von Frauen*</h2><p>Der Irak blickt auf eine reiche Geschichte kommunistischer Organisationen und einer lebendigen Frauen*bewegung zurück. Unter Saddam Hussein wurde nicht nur eine sehr mächtige kommunistische Partei zerschlagen, sondern auch die Frauen*bewegung und die Gewerkschaften auf je eine staatliche Organisation zusammengeschrumpft. Nach 2003 kamen viel Aktivist*innen, die unter Saddam das Land verlassen hatten mit dem Anspruch zurück, neue politische Projekte zu initiieren. Es entstanden auch zahlreiche Projekte. Die in der Geschichte des Irak sehr wichtige Arbeiter*innenbewegung sah sich allerdings mit einer schwierigen Lage konfrontiert. So wurden interessanterweise nach dem Sturz Saddams fast <a href="https://www.rosalux.de/publikation/id/43223?pk_campaign=NewsletterWestasien&pk_medium=Herbst%2FWinter%202020&cHash=2ac34b22efa9debda3a59564e3906968">alle Gesetze aus der Zeit vor 2003 abgeschafft</a>, aber diejenigen, die sich auf Arbeitnehmer*innenrechte und Gewerkschaften bezogen, überlebten und blieben in Kraft. Trotz der widrigen Umstände wurden nach 2003 mehrere neue Gewerkschaften und Verbände v.a. im Ölsektor aufgebaut. Heute sind politische Aktivist*innen aber zunehmend starker Repression durch die Milizen ausgesetzt. Politische Aktivist*innen oder auch Journalist*innen, die die Regierung und v.a. pro-iranische Parteien kritisieren, müssen mit Drohungen, Entführungen, Folter und Tötung rechnen.</p><p>Darüber hinaus ist zum Beispiel die Organisation eines Zufluchtsortes für Frauen*, die häusliche Gewalt erlebt haben, nach wie vor illegal und deshalb für Aktivistinnen gefährlich. Trotz dieser bestehenden Organisationen und Bewegungen, ging der erste Funke der Proteste im Oktober 2019 von einer jungen Generation aus, die nicht besonders politisiert oder organisiert war. Vielmehr waren diese Proteste ein Auflehnen gegen soziale und ökonomische Missstände, die den Alltag der Jugendlichen erschwert und ihnen keine Zukunftsperspektive gibt. So waren denn anfänglich die Forderungen so banal wie: wir wollen ein gutes Leben! Mit der weiteren Entwicklung der Proteste schlossen sich zahlreiche – schon etablierte – Organisationen an. Für die junge – noch unpolitische – Generation spielte das Internet eine grosse Rolle. Wie viele Jugendliche überall auf der Welt verbringen sie einen Großteil ihrer Freizeit im Netz – was durch Arbeitslosigkeit noch verstärkt wird. In den sozialen Medien sind sie nicht nur mit verschiedenen Lebensentwürfen konfrontiert, sondern können sich politisch auch bilden und austauschen. Die Virtualität spielt aber auch noch auf einer anderen Ebene eine wichtige Rolle. So war zu beobachten, dass Jugendliche im Kampf gegen die Sicherheitskräfte und die Milizen Strategien aus Videospielen (v.a. PlayerUnknown's Battleground) anwenden und sich mit Kostümen aus Videospielen und Filmen verkleideten.</p><p>Während der Proteste gelang es keiner etablierten Organisation, die Führung der Protestbewegung an sich zu reissen. Dies ist sicher auch ein Effekt der Erfahrung von 2018, als die Sadr-Bewegung sich als Verteidigerin der Proteste damals aufspielte, damit die Wahlen gewann, aber letztlich kaum Forderungen der Protestierenden umsetzte. So blieben die Proteste 2019/20 in ihrer Organisationsstruktur flach und heterogen. Übergreifend war allerdings die Idee eines säkularen Staates und die Offenheit gegenüber neuen Geschlechter- und Lebensmodelle. Auch wenn mehrheitlich junge Männer an den Protesten beteiligt waren, gab es auf dem Tahrir Platz in Bagdad kaum sexuelle Belästigung, wie Aktivistinnen berichteten (wie es etwa 2011 auf dem Tahrir Platz in Ägypten geschah). Im Gegenteil: sie fühlten sich dort oft sicherer als zuhause und es hätte sogar Frauen* gegeben, die auf dem Tahrir Platz übernachtet hätten. So etwas sei vorher im Irak undenkbar gewesen. Auch queere Organisationen beteiligten sich an den Protesten.</p><h2><b>Die Regierung verspricht Neuwahlen</b></h2><p>Die Regierung reagierte – nach dem Vorbild der Niederschlagung der Proteste im November 2019 im Iran (und vermutlich auch auf Rat von Qassem Soleimani) mit einem Internet-Shutdown. Dadurch sollten die Organisierung und die Verbreitung von Videos der brutalen Repression auf den sozialen Media für einige Wochen verhindert werden. Schnelles Internet ist aber auch in normalen Zeiten nur für Reiche im Irak zugänglich. Ein Monat langsames W-lan kostet 30 Dollar im Monat, schnelles kostet 100 Dollar. Die Aktivist*innen wussten sich auch so zu organisieren. Ihre Forderungen trugen sie – neben den sozialen Medien – in Form von Transparenten, Graffitis, Kundgebungen und Platzbesetzungen auf die Straße.</p><p>Vor dem Hintergrund vorgezogener Neuwahlen entschlossen sich einige Protestierende, mit neuen Parteien an den Wahlen teilzunehmen. Das October Uprising hat bisher drei Parteien hervorgebracht: die Bewegung Emtedad („Erweiterung"), die Bewegung Bidaya („Anfang") und die Bewegung Al bait al Iraqi („Irakisches Haus"). Weitere Parteien befinden sich noch im Entstehungsprozess. Für sie bedeutete das Zugeständnis der Regierung, Neuwahlen vorzuziehen, ein kleiner Sieg. Nach Einschätzung der Aktivist*innen von WAS könnte die Zustimmung zu vorgezogenen Wahlen auch an der Schwächung der Protestbewegung liegen: aufgrund der organisatorischen Schwäche, Corona und der gezielten Ermordungen von Aktivist*innen durch pro-iranische Milizen im <a href="https://revoltmag.org/articles/das-virus-der-sozialen-ungleichheit/">Sommer und Herbst 2020</a> haben viele die Hoffnung verloren.</p><p>Doch die meisten Demonstrant*innen lehnen das Versöhnungsangebot der Regierung kategorisch ab und kritisieren auch die neuen aus den Protesten entstandenen Parteien für ihre Kompromissbereitschaft, am sektiererischen Machtapparat teilzunehmen. Sie glaubten nicht daran, dass Neuwahlen die für sie notwendigen Verbesserung der Lebensumstände bringen werden. Sie bestehen weiterhin auf einen radikalen Wandel und den Sturz des gesamten irakischen Regimes. Auch WAS schliesst sich dieser Sicht der Dinge an. Sie sehen die Bedingungen, um faire und transparente Wahlen abzuhalten, als nicht erfüllt. Darum boykottieren sie die Wahlen mit der Begründung, die Ergebnisse würden so oder so bereits feststehen. Die erneute Verschiebung der Neuwahlen von Juli auf Oktober verstimmte jedoch alle Demonstranten und verbreitete das Gefühl, hingehalten und nicht ernst genommen zu werden. Gut möglich, dass es im Vorfeld oder spätestens im Nachgang der Neuwahlen im Irak zu einer neuen Protestwelle kommen wird. Auch wenn die Proteste bisher auf politischer Ebene wenig verändern konnten, haben sie doch mit den Forderungen nach einem Säkularen Staat, der Überwindung sektiererischer Gräben und konservativer/tribalistischer Gender-Vorstellungen und <a href="https://www.rosalux.de/news/id/41281/irak-ein-land-erschafft-sich-neu?cHash=cdd2626208987b094a2590752112139d">den monatelangen Platzbesetzungen</a> eine soziale Revolution angestoßen, die noch lange nicht zu Ende ist.</p><h2><b>Die finanzielle und politische Krise im Irak spitzt sich zu</b></h2><p>Den in der irakischen Bevölkerung weit verbreiteten Verdacht, dass die irakische Regierung hinter den Terroranschlägen vom 21. Januar 2021 stecken könnte, wird auch von WAS geteilt. Man kenne diese Art von „Bombenpolitik" aus der Vergangenheit, die von sektiererischen Parteien vor Wahlen oder wichtigen politischen Ereignissen im Irak nach 2003 eingesetzt wurde. Über diese Politik der Angst würden Parteien die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen. In der Folge des Anschlags in Bagdad sicherten die USA in einer offiziellen Mitteilung durch ihre Botschaft in Bagdad dem Irak – neben der üblichen Lieferung von Militärfahrzeugen – einen erneuten finanziellen Zuschuss in Höhe von 20 Millionen Dollar zu, um das Regierungsviertel („Green Zone“) zu schützen. Damit zeigen die USA, dass sie kein Interesse an den Forderungen der Demonstrant*innen haben und das sektiererische Regime in Bagdad beibehalten wollen.</p><p>Doch die irakische Regierung befindet sich in einer tiefen finanziellen Krise. Und 20 Millionen US-Dollar sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die irakische Rentier-Ökonomie ist zu 90 Prozent von ihren Öl-Einnahmen abhängig. Nach 2003 vermochte der Irak aufgrund der harten imperial-neoliberalen Gesetzte und den sektiererischen Kriegen keine Industrie und Landwirtschaft wiederaufzubauen, die den Irak von der Ölabhängigkeit entlastet hätte. Der Ölpreiszerfall seit 2020 stürzte den Irak dann in eine tiefe Finanzierungskrise. Zusätzlich zu alles durchdringenden Korruption und den hohen irakischen Staatsschulden bei der Weltbank, gerät die irakische Regierung an den Rand eines finanziellen Kollapses. So hat sie in der Region Kurdistan mehr als 6 Monate und im restlichen Irak mehr als zwei Monate lang keine Gehälter mehr ausgezahlt. Das verschärft den Unmut und die Not in der Bevölkerung massiv und hat langfristige katastrophale Auswirkungen auf die unteren Klassen der Gesellschaft.</p><p>So kam es zu Beginn 2021 erneut zu Protesten – diesmal vor allem in der autonomen Region Kurdistan. Die Proteste wurden von der kurdischen Regierung mit scharfer Munition schnell niedergeschlagen. Die Regierung hat dann einen Kredit beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen, um die Gehaltszahlung für ein Jahr sicherzustellen. Zudem senkte die Regierung den Kurs des irakischen Dinars im Verhältnis zum US-Dollar, um mehr Geld für die Auszahlung der Gehälter zu haben. 2019 entsprachen 100 US Dollar noch 120.000 irakischen Dinar. Heute sind es 145.000 Dinar und es wird erwartet, dass sich der Währungszerfall im Laufe des Jahres weiter zuspitzt. Die Preise für Gemüse, Obst und andere Waren, die der Irak aus dem Ausland importiert, sind dadurch drastisch gestiegen. Arbeiter*innen, insbesondere diejenigen, deren Einkommen zwischen 8 und 5 Dollar pro Tag liegt, Arbeitslosen und Staatsangestellte verlieren durch dieses Fiskalpolitik Geld und kommen in existenzielle Not.</p><h2><b>Internationale Solidarität – auch mit dem irakischen Klassenkampf</b></h2><p>Aus all diesen Gründen ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis die nächste Protestwelle ausbrechen wird. Es ist aber zu erwarten, dass nicht nur die Protestierenden dazugelernt haben, sondern auch die konterrevolutionären Kräfte (u.a. die Sadristen) und die Repressionsapparate. Doch der jungen Generation fehlt es nach wie vor an Perspektive, an Jobs und an Selbstbestimmung. In den Protesten 2019/20 hat sie – trotz Repression – an Selbstvertrauen und Radikalität gewonnen. Angesichts der politischen und ökonomischen Krise, in die das Land schlittert, wird der Kampf um eine bessere Zukunft noch einige Runden dauern.</p><p>Gegenwärtig wird hier viel geschrieben zum 10-jährigen Geburtstag der sogenannten „arabischen Revolutionen". Auch im Irak gab es 2011 Proteste. Doch der Irak wurde schon damals fälschlicherweise als ein Land wahrgenommen, das – zwar tragischerweise durch eine Invasion, aber dennoch – bereits 2003 „vom Diktator befreit“ worden sei. Die darauffolgende sektiererische Gewalt wurde hierzulande überwiegend als vom Irak selbstverschuldet angesehen und eine breite, anhaltende Solidarisierung mit den linken Kämpfen im Irak blieb verhalten. Der Diskurs des „arabischen Frühlings" war zu dieser Zeit vor allem ein politischer Diskurs im Sinne „das Volk gegen den bösen Diktator". In dieser Perspektive lässt sich der Irak zu leicht abhacken. Nimmt man allerdings die ökonomische und soziale Lage dieser Länder in den Blick, gibt es viele Gemeinsamkeiten mit den anderen arabischen Ländern, die einen „arabischen Frühling" durchgemacht haben. Gerade, wenn man 10 Jahre später darüber nachdenkt. Die US-Invasion hat die Lebensbedingungen der Iraker*innen nicht verbessert. Die Menschen haben immer noch existenzielle sozio-ökonomische Probleme, die jenen in Ägypten, Tunesien oder Syrien gleichen.</p><p>Die Proteste 2019/20 im Irak drückten ihre Solidarität gegenüber den gleichzeitig stattfindenden Protesten im Iran, im Libanon und in Hong Kong aus. Nicht immer war der Irak so verbunden mit dem Rest der („arabischen") Welt. Das scheint sich allmählich zu ändern, meinen die Aktivist*innen von WAS. Die Protestierenden im Irak würden mehr und mehr wahrnehmen, dass sie zu einem gemeinsamen geopolitischen Raum gehören, in dem verschiedene Länder mit ähnlichen Problemen kämpfen. Probleme, die verursacht wurden durch Neoliberalismus, Korruption, repressive Regierungen, fehlende Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und einer schwierigen bzw. stark vom westlichen Kapital abhängigen Wirtschaft. WAS haben sich neben der Organisation von arbeitslosen Jugendlichen ebendiesen Aufbau eines internationalen Solidaritätsnetzwerks auf die <a href="https://was-iraq.org/category/our-reports/">Fahne</a> geschrieben. Die Gruppe entstand im Oktober 2019, sie ist also – wie viele andere politische Gruppen – ein Kind des October Uprisings.</p><p>Es ist wichtig, die klassenkämpferische Linke im Irak auch hier wieder mehr in den Fokus zu bekommen. Der Irak ist zu einem <a href="https://revoltmag.org/articles/die-eskalation-des-usa-iran-konflikts/">geostrategischen und ökonomischen Schlachtfeld</a> geworden zwischen imperialen Mächten. Aus der Distanz droht die Bevölkerung vor dem Hintergrund der Kritik am Imperialismus vergessen zu gehen. Darum ist es wichtig, als klässenkämpferische Linke, wieder in einen Dialog zu kommen, der seit Jahren abgebrochen zu sein scheint. Um zu verstehen, welche Solidarität hier für die Kämpfe dort wichtig ist, müssen wir im Austausch die gegenseitigen politischen Projekte und Möglichkeiten kennen lernen. Umso wichtiger ist es, mit klassenkämpferischen linken Organisationen und Aktivist*innen vor Ort Kontakt aufzunehmen und zusammen zu wachsen. Eine andere Möglichkeit ist eine grössere Anteilnahme der deutschen ausserparlamentarischen Linken an den zahlreichen Initiativen und Projekten der irakischen Diaspora in Deutschland.</p><h3><b>Es bleibt nur die revolutionäre Option</b></h3><p>Die Corona-Einschränkungen haben auch die irakische Protestbewegung seit letztem Sommer lahmgelegt. Doch die ökonomische und politische Situation hat sich in dieser Zeit eher verschlechtert und über die sozialen Media wird bereits für nächste Proteste motiviert. In Bezug auf die Wahlen bleibt die Protestbewegung gespalten. Heute befinden sich viele Iraker*innen laut den Aktivist*innen von WAS wegen dieses Konflikts zwischen den beiden imperialen Mächten USA und Iran in einem Zustand der Panik. Sie wollen einen Irak ohne Gewalt und beschwören auch eine gewaltlose Protestform. Die vorgezogenen Neuwahlen haben eine Spaltung unter den Demonstrant*innen hervorgerufen. Für die klassenkämpferische Bewegung WAS, die sich ebenso gegen die USA als auch den Iran wendet, gibt es zwei mögliche Wege für einen politischen Wandel im Irak.</p><p>Der erste Weg wäre für sie die revolutionäre Option: die popularen Massen in den Wohngebieten und an den Arbeitsplätzen zu organisieren und dadurch eine politische Partei mit einer Massenbasis zu bilden, durch die sie die politische Macht ergreifen und die neue irakische Republik errichten kann.</p><p>Der zweite Weg wäre der demokratische Weg: die Bildung einer politischen Partei durch Demonstrant*innen. Diese Partei könnte dann die Bedingungen für die Teilnahme an den Wahlen festlegen, zum Beispiel: 1. Lösen Sie alle Milizen auf. 2. Ein Prozess für die Mörder der Demonstrant*innen. 3. Internationaler Schutz und Überwachung der Wahlen. 4. Ein faires Wahlgesetz. 5. Ein faires Parteiengesetz. 6. Faire Finanz- und Medienfinanzierung zwischen den Parteien für den Wahlkampf.</p><p>Dass die Regierung auf diese Forderungen eingehen wird und tatsächlich eine Situation erschaffen kann, unter denen faire Wahlen stattfinden können, bezweifeln die Aktivist*innen von WAS. Daher bleibt für sie nur der Boykott der Wahlen und eine Revolution die einzige Option für die irakische Gesellschaft, sich von diesem modernden, korrupten und sektiererischen System zu befreien.</p><p></p><hr/><h2>Anmerkungen</h2><p>[1] Die Basis-Organisation <a href="http://was-iraq.org/">Workers Against Sectarianism</a> ist ein 2019 gegründeter Zusammenschluss junger, arbeitsloser Menschen in verschiedenen Städten und Regionen des Irak (inklusive der autonomen Region Kurdistan/Irak). Sie organisieren sich, um gegen Arbeitslosigkeit, gegen Sektierertum, Korruption und für eine revolutionäre Perspektive im Irak zu kämpfen. Dabei sprechen sie sich ebenso gegen den Einfluss des Irans wie auch jener der USA im Irak aus. Sie versuchen, eine Perspektive von unten auf die Proteste im Land zu geben und ein internationales Solidaritätsnetzwerk von Aktivist*innen aufzubauen. Sie gehören zur klassenkämpferischen Linken im Irak.<br/></p><p>[2] Sadr-Bewegung: Ist eine irakische islamistisch nationale Bewegung um den Kleriker Muqtada al Sadr. Die schiitische religiös-populistische Bewegung mit engen Verbindungen zum Iran hat eine breite Unterstützung in der jungen schiitischen Bevölkerung im Iraker. Ihr Ziel ist eine durch eine Kombination von religiösen Gesetzen und Stammesbräuchen geordnete Gesellschaft. 2018 gelang es ihnen, sich zur Stimme der Straßenproteste aufzuschwingen. Darauf erzielten sie in der Koalition mit u.a. der Kommunistischen Partei den Sieg in den Parlamentswahlen. In den Protesten 2019 war die „Mahdi-Armee", eine von Sadrs Vater begründete paramilitärische Streitkraft, als konterrevolutionäre Kraft an der Repression der Proteste beteiligt, nachdem es der Sadr-Bewegung nicht gelungen ist, die Proteste 2019/20 für sich zu instrumentalisieren.<br/></p><p>[3] Sektiererisches Parteiensystem: Die Verfassung von 2005 bindet gewisse politischen Ämter im Irak an konfessionelle Zugehörigkeiten. Dies ging aus einem ethno-konfessionellen, und föderalistischen Post-Invasions-Plan der USA (u.a. Joe Biden) für den Irak hervor. Ziel war es, ein konfessionelles Gleichgewicht zu schaffen, indem man den jahrzehntelang unterdrückten Schiiten den mächtigsten Posten des Ministerpräsidenten gab. Die Kurden bekamen das Amt des Staatspräsidenten und die Sunniten bekamen vor dem Hintergrund einer Entbaathisierung den eher symbolischen Posten des Parlamentssprechers. Aufgrund des nach wie vor bestehenden riesigen Beamtenapparats als einem der immer noch wichtigsten Arbeitgeber im Irak, entstand vor diesem Hintergrund ein korrupter Klientelismus.<br/></p></div>
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Rätedemokratie und Sozialismus: Das Beispiel Kuba2021-02-10T09:25:41.093455+00:002021-02-11T12:09:17.183988+00:00Geronimo Marulanda und Meas Tintenwolfredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/r%C3%A4tedemokratie-und-sozialismus-das-beispiel-kuba/
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<span class="content-copyright">Lorenzo Crespo Silveira</span>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Vorbemerkung der Redaktion:<br/> Am 23. Januar 2021 verabschiedete der Parteivorstand der Linken einen Beschluss der Parteiströmung „Emanzipatorische Linke (Ema.Li)“. Unter dem Titel „Solidarität mit Kuba“ wird nicht nur gegen die anhaltende und völkerrechtswidrige, jahrzehntelange Blocke Kubas durch den US-Imperialismus protestiert. Zugleich wird auf antikommunistische Kräfte anerkennend Bezug genommen, die die kubanische Gesellschaft von innen heraus „demokratisieren“ sollen. Dies stellt in der Geschichte der Linkspartei einen Tabubruch dar.<br/>Angesichts der fortwährenden wirtschaftlichen, sozialen sowie politischen Destabilisierungsversuche Kubas durch US-amerikanische Sanktionen und ihre Förderung rechter Terrornetzwerke in Miami und auf Kuba, sind die Bezugnahmen auf die in der Resolution erwähnten „demokratischen Akteure“ gefährlich. Diese bergen die Gefahr, mit und trotz solidarischer Lippenbekenntnisse zu Kuba den US-Kurs der Isolation der sozialistischen Insel sowie den rechten Bemühungen um einen „regime change“ das Wort zu reden.<br/> Dagegen regt sich innerhalb der internationalistischen Teile der Linkspartei</i> <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/396034.linkspartei-vergiftete-solidarit%C3%A4t.html"><i>Widerstand</i></a><i>. Im Zuge der Tendenzen der Entsolidarisierung mit dem sozialistischen Kuba ist ein genauerer Blick auf das politische System notwendig, um nicht auf imperialistische und antikommunistische Lügen hereinzufallen. Die nachfolgende Debatte dient der revolutionären Linken auch hierzulande, fortschrittliche Tendenzen für die Suche nach brauchbaren gesellschaftlichen Gegenmodellen zur bürgerlichen Herrschaft diskutieren und finden zu können.</i></p><p></p><p><br/>Wir Autoren teilen eine gemeinsame Geschichte in der autonomen Antifa-Bewegung. Lange Jahre definierten wir uns als „Antiautoritäre“ und „libertäre Sozialisten“. Wir taten dies in Abgrenzung zum Realsozialismus, und folgten damit dem Mainstream der deutschen Linken. Aber: Wir verhielten uns auch in diesen Jahren unserer politischen Biografie bereits solidarisch gegenüber Bewegungen, Organisationen und Ländern, die wir aus unserem damaligen Standpunkt heraus als „autoritär-sozialistisch“ ansahen. So sahen wir in der Revolution Kubas zum Beispiel ein politisch unterstützenswertes Projekt. Für das antiautoritäre Spektrum waren wir damit schon recht aufgeschlossen, wird Kuba in diesem Spektrum doch in eine Reihe mit allen möglichen anderen realsozialistischen Projekten gestellt und für gescheitert erklärt. Dass nicht alles an der antikommunistischen, antikubanischen Propaganda stimmt, konnten wir nicht zuletzt aufgrund mehrfacher Reisen und verbrachter Zeit vor Ort feststellen.</p><p>Heute feiert das kubanische Projekt auch 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sein Weiterbestehen. Das Überleben des kubanischen Modells gegen alle Widrigkeiten zeigt, abseits der persönlichen Erfahrung, auch objektiv auf, dass das Modell in einem anderen gesellschaftlichen Kontext entstanden ist und weiterentwickelt wurde, als etwa die ehemalige DDR. Es war damit schlussendlich nicht den gleichen Abwärtsdynamiken wie der sozialistische Ostblock erlegen. Auch von den Präfixen „libertär“ und „autoritär“ haben wir uns heute gelöst. Ebenso, wie uns der mit viel Bücherwissen vorgetragene Dogmatismus vieler marxistisch-leninistischer Deutungen nach wie vor nicht überzeugen vermag. Das kubanische Projekt soll hier dem rein ideologischen Kriterium von „Wissenschaftlichem Sozialismus oder Revisionismus/Utopismus“ unterworfen werden. Gerade anhand des kubanischen Projekts lässt sich aber gut zu erkennen, wie unzureichend solche Ideologie-reduktionistischen Auffassungen in der Realität eines sozialistischen Aufbaus sind, da sie von den konkreten Umständen abstrahieren. Diese lassen in aller Regel keine theoretischen 1:1 Schablonen zu. Wir sind daher der Meinung, dass aus dem Erfahrungsschatz des kubanischen Modells vieles gelernt und aufgearbeitet werden kann.</p><h3><b>Die Grenzen eines schematischen marxistischen Schubladen-Denkens</b></h3><p>Der Sieg der Kubanischen Revolution über die Batista-Diktatur am 01. Januar 1959 bedeutete ein Befreiungsschlag vom halbkolonialen Joch. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von der landwirtschaftlichen Produktion jedoch blieb. Die UdSSR begann, Kuba den Zucker abzukaufen und versorgte den jungen sozialistischen Staat im Gegenzug mit Maschinen. Die ökonomischen Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus waren aufgrund der zu beseitigenden halbfeudalen Strukturen, unter anderem ausgedrückt durch landlose Bäuer*innen, Wanderarbeiter*innen und einer mafiösen Oligarchie, die Industrie und Boden fest in ihrer Hand hielt, denkbar schlecht. Das Land war stark von Exporten abhängig, produzierende industrielle Sektoren fehlten weitgehend. Eine objektive, ökonomische Basis für eine sozialistische Revolution sieht in einer allzu schematischen und orthodoxen marxistischen Revolutionstheorie also ohnehin anders aus. Entsprechend ökonomistische Strömungen argumentieren daher, trotz aller historischer Gegenbeweise, bis heute gegen das kubanische Modell.</p><p>Nach subjektiven Faktoren bemessen war Kuba jedoch reif für diesen Schritt. Mit dem Movimiento 26 de Julio (deutsch: Bewegung des 26. Juli; kurz: M-26-7) um Fidel Castro, seinem Bruder Raúl, Camilo Cienfuegos sowie Ernesto »Che« Guevara, gab es eine in der Bevölkerung verankerte, starke revolutionäre Organisation, die zumindest linksnationalistisch antikolonial, aber eben damals schon auch marxistisch geprägt war. Die Bevölkerung litt zum Einen unter der Tyrannei der Diktatur, zum Anderen war die Schaffung sozialistischen/revolutionären Bewusstseins in der Bevölkerung aufgrund der langen antikolonialen Kämpfe von José Martí bis hin zu den Kämpfen kommunistischer Gruppen ab 1923 vorangeschritten.</p><p>Die Frage, ob die Revolution angesichts des Fehlens der objektiven ökonomischen Bedingungen einer entwickelten Industrie für einen sozialistischen Aufbau voluntaristisch gewesen sei, wird in Kuba, wie auch im Mehrheits-Leninismus, an dem Kuba sich nach wie vor orientiert, weitestgehend verneint. Sie ist auch nach allen bisherigen historischen Erfahrungen als zumindest kurzsichtig zu begreifen, auch wenn sie bestimmte real-existente Schwierigkeiten fasst. Wenn die kubanische Erfahrung etwas zeigt, dann dass der Sozialismus eben „als Bruch am schwächsten Glied der imperialistischen Kette“ (Lenin) in einem begrenzten Territorium unter ökonomisch widrigsten Bedingungen aufgebaut werden kann. Er unterliegt dann aber realen politischen und ökonomischen Beschränkungen, solange er einem starken kapitalistischen Gegner gegenübersteht (z.B. im Kalten Krieg). Er muss dann sogar objektive Rückschritte in Kauf nehmen, wenn er alleine und zunehmend ohne Verbündete gegen eine kapitalistische Weltordnung steht.</p><p>In Kuba muss er andere Voraussetzungen haben, als zum Beispiel in einer EU – dort wäre der Aufbau schon widrig genug. Die kubanische Erfahrung zeigt, dass ein allzu schematisches marxistisches Schubladendenken als theoretischer Maßstab die politische Realität nur unzureichend zu fassen vermag. Nur weil ein ökonomisch schwach entwickeltes, post-koloniales Land also bestimmte Beschränkungen im sozialistischen Aufbau zwangsläufig aufweist, ist das Eintreten der Kubaner*innen für ihre Revolution noch lange nicht „unmarxistisch“. Das zu behaupten ist allzu euro-chauvinistisch.</p><h3><b>Sozialistischer Staat, Poder Popular und die kubanische Rätedemokratie</b></h3><p>Nun wird Kuba aber immer wieder unterstellt, eine „Einparteien-Diktatur“ im Zuschnitt entsprechender realsozialistischer Projekte zu sein. Ist es dann nicht eventuell richtig, wenn im deutschen linken Mainstream vom „autoritären Sozialismus“ in Kuba gesprochen wird? Fakt ist, bei Kuba handelt es sich um einen Staat, unter den derzeitigen politischen Verhältnissen der Welt, sogar um einen Nationalstaat. Und Staaten als bürgerliches Konzept sind etwas, dass es im Laufe eines historischen Prozesses im Sinne einer sozialistischen Weltrepublik zu überwinden gilt. Die ultraradikale Ansicht vieler Anarchist*innen und Antiautoritären jedoch, der Staat sei bereits im revolutionären Kampf zu überwinden, lässt sich zumindest in Bezug auf Kuba allerdings durchaus in Frage stellen. Umringt durch imperialistische Staaten wäre das kleine Kuba als unzusammenhängende Konföderation anarchistischer Kommunen, beispielsweise im Sinne eines Michail Bakunin, längst zerfleischt worden.</p><p>Schon das staatlich organisierte, militärisch wehrhafte Kuba hatte es in diesem Punkt nicht immer leicht, sich gegen eingeschleuste Contra-Partisanen, wirtschaftliche Blockaden und den Terrorismus durch Alpha 66 und andere faschistisch gesinnte, exilkubanische Organisationen zur Wehr zu setzen. Es ist bekannt, dass letztere politisch, militärisch und finanziell durch den US-Imperialismus unterstützt werden. Zu glauben, die Staatlichkeit könne sofort mit der Revolution überwunden werden, bedeutet die Augen vor den gesellschaftlichen Realitäten eines aggressiven Weltkapitalismus und seiner staatlichen, bis an die Zähne bewaffneten, Exekutor*innen zu verschließen. In einer Welt, deren wirtschaftliche Basis der Kapitalismus ist, verschwindet der nationalstaatliche Überbau nicht nur aus Wunschdenken heraus. Die Theorie der „Diktatur des Proletariats,“ verstanden als Selbstverteidigungsorganisation gegen koloniale, kapitalistische Restauration und externe Aggression, beweist hier ihre Berechtigung gegen utopistische Verklärungen.</p><p>Die Existenz dieser Selbstverteidigungsorgane und ihre häufig unpopuläre repressive Funktion ist es, die in Kuba nach wie vor gegen antikommunistische Aktivist*innen geltend gemacht wird, und das kubanische Projekt für viele deutsche Internationalist*innen ohne Wissen über die kubanische Wirklichkeit als rein repressiv erscheinen lässt. Falsch hingegen ist die Behauptung, bei Kuba handele es sich angesichts dieser notwendigen Selbstverteidigungsmechanismen um eine repressive „Einparteien-Diktatur“. Richtig ist es vielmehr, von einer Doppelmacht von demokratisch-zentralistischer Kommunistischer Partei und klassischer Rätedemokratie zu sprechen. So wird sich seitens der kubanischen Kommunist*innen wenig um gesellschaftlichen Ausschluss aus öffentlichen Ämtern bemüht. So gibt es zum Beispiel nicht die Voraussetzung einer Parteizugehörigkeit zur Partido Comunista de Cuba (deutsch: Kommunistische Partei Kubas; kurz: PCC), um in die Asamblea Nacional del Poder Popular (deutsch: Nationalversammlung der Volksmacht), das kubanische Parlament und höchster Rat, gewählt zu werden. Gewählt wird – anders als in der BRD – nicht nach der Zugehörigkeit zu einer Partei, sondern lediglich im Direktmandat. Wahlwerbung ist verboten.</p><p>Die kleinsten, lokalen Einheiten der kubanischen Räte, die Barrios (deutsch: Nachbarschaften), wählen ihre Abgeordneten danach, wie sie sich für die Interessen der Menschen in ihrem Wahlkreis einsetzen. Einmal im halben Jahr müssen die Mandatierten Rechenschaft ablegen. Wer einmal Zeuge einer entsprechenden Versammlung geworden ist, wird feststellen, dass die Abgeordneten mitnichten geschont werden. Die Möglichkeit einer Abwahl, also des Entzugs des Mandates, steht jederzeit zur Verfügung. Es handelt sich um ein sogenanntes Imperatives Mandat. Ähnlich wurden auch historisch die Mandate in Rätedemokratien, und heute noch in anarchosyndikalistischen Organisationen, wie zum Beispiel der Freien ArbeiterInnen-Union (kurz: FAU) in Deutschland, erteilt oder entzogen.</p><p>Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen werden politische Entscheidungen nicht einfach „autoritär“ von oben herab, sondern „von unten“ durch die gesellschaftliche Basis mit gefällt. Ein Beispiel hierfür ist der verfassungsgebende Prozess von 2018 bis 2019, in dessen Rahmen große Teile der kubanischen Verfassung überarbeitet wurden. Im August 2018 war ein erster Entwurf durch eine imperativ mandatierte Kommission erarbeitet und im Parlament verabschiedet worden. Dieser Entwurf wurde anschließend mit den verschiedenen Tageszeitungen verteilt, das heißt in den Stadtvierteln, Betrieben, Universitäten, Altersheimen und so weiter begannen dann Diskussionen über den Entwurf. Im Rahmen von 133.681 öffentlichen Versammlungen, den sogenannten consultas populares (deutsch: Volksbefragungen), konnten Änderungsanträge eingebracht werden. In den Versammlungen wurde der Entwurf Kapitel für Kapitel durchgegangen und alle Ideen, Bedenken, Streichungen, Modifizierungen, Ergänzungen und so weiter notiert. Insgesamt nahmen mehr als sieben Millionen Kubaner*innen an den Versammlungen teil. Auch Kubaner*innen mit Wohnsitz im Ausland, das heißt selbst jene exilkubanischen Dissident*innen in den USA, konnten digital an dieser Etappe des Verfassungsreformprozesses partizipieren.</p><p>Der Entwurf wurde durch die Kommission nun zu 40 Prozent überarbeitet. Das Ergebnis ging noch ein weiteres mal durch das Parlament und wurde, nachdem er erneut in der Bevölkerung verteilt und diskutiert worden war, am 24.02.2019 im Rahmen einer Volksabstimmung angenommen. An dieser nahmen 7.848.343 Personen teil und mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für die neue Verfassung. Dass es im Rahmen solcher demokratischer Prozesse in Kuba teilweise auch zu heftigen Diskussionen und sogar zu Rückschlägen für die PCC kommen kann, zeigte nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in die Verfassung. Hier stand eine dies befürwortende PCC gegen die Mehrheit der Bevölkerung sowie der Kirche und musste schließlich klein bei geben.</p><h3><b>Die Losung lautet: Unidad y Solidaridad – Einheit und Solidarität!</b></h3><p>Angesichts der aktuellen objektiven Bedingungen, welche für eine einzelne sozialistische Insel direkt im Vorhof eines der mächtigsten imperialistischen Staaten der Erde nicht unbedingt die besten sind, ist das partizipative System Kubas schon vergleichsweise radikaldemokratisch. Nur von einer staatenlosen Welt zu träumen und vorbei an der kapitalistischen Realität eine abstrakt „antinationale“, statt einer realistisch „internationalen Solidarität“ zu fordern, wird den Kapitalismus genauso wenig überwinden, wie sich gegenseitig zur Abgrenzung zu kategorisieren. Die kubanische Erfahrung lehrt, dass dogmatische und schematische politische und theoretische Verständnisse begrenzt sind und sich an der Praxis eines widrigen Aufbaus beweisen und aktualisieren lassen müssen. Seit mehreren Jahren ist es in Deutschland wieder en vogue über Räteorganisation ins Gespräch zu kommen.</p><p>Diesbezüglich weist Kuba nahezu ein archetypisches Beispiel mit Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten der Praxis auf, die reflektiert und zumindest partiell rezipiert werden könnten. Die Kubaner*innen sind sich übrigens auch darüber einig, dass ihr Weg nicht einfach kopiert werden kann. Es ist der Weg, der zu den Bedingungen auf Kuba passt. Wichtig ist nicht, wie wir uns genau definieren, oder dass wir uns zu einem Einheitsbrei vermengen. Unsere Wege können unterschiedliche sein, solange wir sie doch als Einheit gehen, wenn uns der gleiche Klassenfeind gegenüber steht. In diesem Sinne das kubanische Unidad (Einheit) als politische Widerstandsbewegung, aber auch als Aufruf zu einem solidarischen und auch kritischen Austausch zwischen verschiedenen revolutionären Linken mit verschiedenen Strategien im gemeinsamen Kampf zu verstehen, kann jedenfalls als Inspiration bleiben.</p><p>Ob der neuerliche Aufbau einer kommunistischen Partei in Deutschland, Graswurzelkommunen, anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderationen oder Gegenmacht im Sinne eines Demokratischen Konföderalismus die erfolgversprechende Strategie sein kann, wird uns – ganz marxistisch gesprochen – die Praxis im revolutionären Kampf und kein abstraktes Bücherwissen zeigen.</p></div>
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,,Nicaragua steht vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt“2018-07-08T18:43:23.458912+00:002018-07-08T19:29:13.737824+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/nicaragua-steht-vor-der-gefahr-einer-versch%C3%A4rfung-der-gewalt/
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<div class="rich-text"><p>
<i><br/>Die Situation in Nicaragua ist unverändert explosiv. re:volt-Redakteur
Jan Schwab spricht mit dem italienischen Journalisten und
Lateinamerikaaktivisten Giorgio Trucchi, der seit Beginn des militanten
Aufstands im Land ist und über die Auseinandersetzungen zwischen
Opposition und Ortega-Regierung berichtet, über die aktuellen
Entwicklungen im mittelamerikanischen Land.</i></p><p><b>Jan [re:volt]: Guten Tag Herr Trucchi. Sie
berichten seit Beginn der Krise am 18. April aus dem
mittelamerikanischen Land. Wie stellt sich die aktuelle
Konfliktsituation aus Ihrer Perspektive dar?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Die
Situation hier ist um einiges komplizierter, als sie in den
internationalen Medien erscheint. Diese berichten über die
politische Situation als spontanem Protest gegen die Reform des
Sozialsystems (INSS), der durch die staatliche Repression in einen
Volksaufstand umschlug. Man muss aber viel mehr Elemente des
Konflikts berücksichtigen, sowohl seitens der Regierung als auch der
Opposition. Dieser Konflikt weist zwei zentrale Dimensionen auf:
Einmal die Situation im Land, und dann die internationale
Konstellation, in der Nicaragua sich befindet. Sicherlich wiesen die
Proteste gegen die Reform des Sozialsystems zu Beginn einen spontanen
Charakter auf. Es handelte sich um Proteste, die von den
Universitäten ausgingen und die durch militante Gruppen der
Regierung, aber auch von den Polizeistreitkräften, mit Gewalt und
Repression überzogen wurden. Gegenüber dieser Repression antwortete
ein Teil der Protestierenden auf militante Art und Weise. Das war
auch der Moment, an dem die Proteste von politischen Strömungen
infiltriert wurden, die ein Interesse an der Erhöhung des
Konfliktniveaus hatten. Diese Infiltration war insbesondere aufgrund
der ungerechtfertigten Brutalität der Polizeieinheiten möglich. Zur
selben Zeit startete eine mediale Kampagne, die unter anderem
Nachrichten über angebliche Massaker der Polizeikräfte in den
sozialen Netzwerken verbreitete. Auch das diente dazu, das
Konfliktniveau zu erhöhen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese
Kampagne von zahlreichen NGOs betrieben wurde, die von den USA und
ihren Stiftungen, wie der NED, der IRI oder der NDI, finanziert
werden. Diese zwei Momente, die Infiltration der Proteste und die
mediale Kampagne erzeugte eine heftige Reaktion in der Bevölkerung
Nicaraguas. In den Straßen fanden sich so zunächst nicht nur
AnhängerInnen der Opposition oder Studierende, sondern auch Teile
der sandinistischen Basis wieder. Letztere protestierten vor allem
deshalb mit, weil die Regierung Ortega-Murillo (bezieht sich auf das
Regierungshandeln von Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin
Rosario Murillo, Anm. Redaktion) in den vergangenen Jahren immer
autoritärer und vertikaler durchregiert – bei gleichzeitiger
Machtkonzentration im Staatsapparat. Das erzeugt auch ein massives
Unbehagen in der eigenen AnhängerInnenschaft. Die Zusammensetzung
der Proteste in den ersten Tagen war also sehr vielfältig. In der
derzeitigen Situation kann man sagen, dass die ursprünglich
spontanen Proteste sich über die Einmischung militanter Sektoren in
durchweg gewalttätige Proteste gewandelt haben.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Und die internationale
Dimension….</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Die
Situation in Nicaragua weist einige Aspekte auf, die der Krise in
Venezuela gleichen und die mit der Rolle der USA im Konflikt zu tun
haben. Es ist allerdings nicht das Ziel der USA, Nicaragua an den
Rand eines Bürgerkriegs zu manövrieren, weil Nicaragua aufgrund
seiner zentralen Position einen hohen strategischen Wert hat.
Aufgrund seiner Lage in Mittelamerika ist Nicaragua eine lukrative
Basis für das organisierte Verbrechen, wie den Drogenhandel. Eine
anhaltende chaotische Situation würde zudem die Migrationswelle aus
Nicaragua in die USA intensivieren – ein Szenario, das nicht im
Interesse der aktuellen US-Administration ist. Es geht den USA also
nicht um eine konstante Destabilisierungssituation in Nicaragua. Aber
natürlich versucht die US-Administration, ihren Vorteil aus der
politischen Krise zu ziehen, um möglicherweise die FSLN-Regierung
(die FSLN ist die sandinistische Regierungspartei Ortegas, Anm.
Redaktion) loszuwerden. Was die internationale Dimension angeht,
versuchen sie natürlich auch, die sich in den vergangenen Jahren
verstärkende russische Präsenz in Nicaragua zurückzudrängen. Und
natürlich auch die chinesische Präsenz, die sich im umstrittenen
Interozeanischen Kanalprojekt widerspiegelt. Wir dürfen hierbei
zudem nicht vergessen, dass die Regierung Ortega seit Jahren alle
Linkregierungen des Kontinents unterstützt hat, in Venezuela,
Bolivien, Kuba und so weiter. Das sind allesamt Regierungen, die für
einen Widerstand gegen den US-Einfluss in Lateinamerika stehen. Also
haben die USA über Jahre hinweg den NGO-Sektor der Opposition in
Nicaragua finanziert und mit ihr den medialen Komplex, der nun die
sozialen Netzwerke mit Falschinformationen flutet. Sie ergreifen nun
lediglich eine sich bietende Chance.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Es gibt in der internationalen
Presselandschaft viele Stimmen, welche die Regierung Ortega-Morillo
als autoritär und neoliberal bezeichnen. Würden Sie dieser
Charakterisierung zustimmen?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Man
kann das derzeitige Modell in Nicaragua in jedem Fall nicht mit
anderen ökonomischen und politischen Modellen in Zentralamerika oder
Europa vergleichen. Um ein genaueres Bild zu erhalten, muss man sich
die Widersprüche anschauen. Zunächst einmal zu den offensichtlichen
Fortschritten, welche die Regierung durchsetzte: Unter Ortega kam es
zu Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen, die Umverteilung
des Reichtums wurde vorangetrieben, ebenso die makroökonomische
Kontrolle, der Ausbau der Infrastruktur, die Verringerung der Armut
und der Ausbau der öffentlichen Mindestversorgung. Das alles geschah
in einem beeindruckenden Ausmaß. Um das politische System zu
verstehen, muss man wissen, dass der historische
revolutionär-sandinistische Prozess in den 1980er Jahren von zwei
Mächten sabotiert wurde: Von der katholischen Kirche und der
Privatwirtschaft. Daher war das erste, was die neo-sandinistische
Regierung machte, als sie 2007 an die Macht kam, mit genau diesen
Sektoren ein Bündnis einzugehen. Das Abtreibungsverbot ist eines der
Resultate dieses Bündnisses. Es erzeugte einen Bruch der FSLN mit
den sozialen Bewegungen in Nicaragua, vor allem aber mit der
internationalen Solidaritätsbewegung. Das Resultat des Bündnisses
mit der Privatwirtschaft war der sogenannte ,,Nationale Konsens“,
der in den vergangenen Jahren erstaunlich gut funktionierte. Unter
diesem Konsens transformierte sich Nicaragua in eines der sichersten
Länder Zentralamerikas, was sozialen Sicherheit und
Wirtschaftswachstum anbelangte. Die Regierung war dennoch
gleichzeitig von einem steigenden Autoritarismus geprägt. Das zeigte
sich etwa dadurch, dass die Zugänge zu unabhängiger Information
immer weiter eingeschränkt wurden. Die Maßnahmen nährten die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Es gab zwar Presse- und
Meinungsfreiheit, es wurden auch keine JournalistInnen getötet, aber
es gab immer weniger Möglichkeiten, den Beruf auszuüben.
Gleichzeitig gab es auch eine Integration der Gewerkschaften, die
dadurch ihre Unabhängigkeit verloren. Aber: Für eine Regierung mit
derart starkem sozialen Profil, die den Forderungen sowohl der
Privatwirtschaft, als auch des Internationalen Währungsfonds in
Bezug auf die Reform der Sozialgesetzgebung widerstand – beide
Institutionen schlugen viel schärfere Maßnahmen vor – ist das
Etikett ,,neoliberal“ wenig zutreffend und nichtssagend.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Laut der parlamentarischen
Wahrheitskommission sind bislang ca. 200 Personen im Rahmen der
Proteste ums Leben gekommen. Wer ist für diese immense Todeszahl
verantwortlich?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Es
gibt hier viele NGOS und auch internationale
Untersuchungsinstitutionen, wie zum Beispiel das CIDH (Die
Menschenrechtskomission der OAS – Anm. Redaktion),
die die Schuld einseitig der Regierung zuweisen. Aber das kann man so
nicht machen. Die Kalkulation von ungefähr 200 Toten umfasst neben
toten Oppositionellen alle weiteren Opfer der vergangenen Monate, das
heißt, auch tote PolizistInnen und RegierungsanhängerInnen. Meiner
Meinung nach sind beide Seiten gleichermaßen verantwortlich für das
Gewaltszenario und die Todeszahlen, weil beide Seiten bewaffnet und
in gewalttätige Auseinandersetzungen verstrickt sind. Die Regierung
befindet sich zur Zeit in einer Defensivposition und wird von
bewaffneten Gruppen der Opposition attackiert. Andererseits gibt es
auch irreguläre regierungsnahe Milizen, die die Polizei bei ihren
Streifzügen begleiten.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Welche dominanten Kräfte machen
Sie in der Opposition gegen die sandinistische Regierung nach zwei
Monaten Auseinandersetzungen aus?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>In
der Opposition lassen sich zwei unterscheidbare Fraktionen
identifizieren. Eine moderatere Fraktion, die von der
Privatwirtschaft, einigen Teilen der katholischen Kirche, einigen
Teilen der Studierenden und zu kleinem Teil von der Zivilgesellschaft
gestellt wird. Und eine radikale Fraktion, die aus den
konservativsten Teilen all dieser Institutionen zuzüglich des
NGO-Sektors besteht. Beide Fraktionen eint das Ziel, die Regierung zu
stürzen. Der moderate Teil der Opposition genießt den Rückhalt der
USA und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten, Anmerkung
Redaktion) für die Verhandlungen mit der sandinistischen Regierung.
Sie nehmen an den Verhandlungen teil, um eine Verfassungsreform sowie
eine Reform des Wahlrechts zu erreichen und Neuwahlen anberaumen zu
können. Der radikalere Teil der Opposition will die Regierung und
die FSLN auf gewalttätige Art und Weise loswerden. Man interessiert
sich nicht für Wahlen oder einen Nationalen Dialog. Das Ziel der
Fraktion ist nicht nur der Rücktritt von Ortega und Murillo, sondern
der aller derzeitigen staatlichen Autoritäten. Sie planen, eine
provisorische Junta an ihre Stelle zu setzen und eine
verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dieses Ziel ist
vollkommen abseits jeder Verfassungsmäßigkeit und speist sich aus
einem vorgeblichen politischen Szenario, dass es so nicht gibt;
nämlich, dass der Präsident mit der Verfassung und den staatlichen
Gewalten aufgeräumt habe. Glücklicherweise genießt dieser Teil der
Opposition keine internationale Unterstützung. Sämtliche
internationalen Institutionen, die in den Konflikt in Nicaragua
involviert sind, inklusive der USA, bevorzugen eine demokratische und
verfassungskonforme Lösung. Nur wenige ultrakonservative Sektoren
der US-Politik unterstützen die radikalere Lösung.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Und in der
Opposition finden sich keine Kräfte links der FSLN?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Es
gibt keine bedeutende außerparlamentarische Linke in Nicaragua. Was
es gibt, ist eine fragmentierte soziale Bewegung, die sich eine
gewisse Radikalität gegenüber neoliberalen und spezifischen
nationalökonomischen Modellen in Nicaragua bewahrt hat. Die
AktivistInnen werfen der FSLN zum Beispiel vor, dass sie dem gängigen
neo-extraktivistischen Modell (Rohstoff-Export und Raubbau der
nationalen Ressourcen, Anm. Redaktion) folge. Sie haben damit bis zu
einem bestimmten Grad Recht, vor allem, wenn es um die Ausbeutung
natürlicher Ressourcen geht oder den Ausbau von
Monokulturanbauflächen. Zugleich kann eingewendet werden, dass diese
Entwicklungen in keinem Vergleich zu ökonomischen Modellen in den
anderen Ländern Zentralamerikas stehen. Hier in Nicaragua gibt es
massive soziale Investitionen in ländliche Regionen als Folge der
Umverteilung des Reichtums. Die Gruppen, die für sich in Anspruch
nehmen, die ,,wahre Linke“ zu sein, sind eigentlich Konservative,
wie zum Beispiel das Movimiento Renovador Sandinista (MRS), das in
den 1990er Jahren als Abspaltung aus der FSLN hervorging. Um ihre
zugrundeliegende konservative ideologische Position zu erkennen,
reicht es aus, ihre FührerInnen über ihre Meinung bezüglich der
bolivarischen Allianz ALBA, bezüglich Ländern wie Venezuela, Kuba,
Bolivien oder Parteien, die mit der FSLN verbündet sind, wie der
FMLN in El Salvador, LIBRE in Honduras oder der PT in Brasilien, zu
befragen.
Die wird nicht gut ausfallen. Exakt diese Strömungen der Opposition
sind in der derzeitigen Krise Teil der radikalsten Kräfte.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Sie haben
bereits zuvor die mediale Dimension des Konflikts in Nicaragua
angesprochen. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die
internationalen Medien?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Wenn
wir über die sozialen Medien sprechen, sprechen wir nicht über
Informationen, sondern über Informationsmüll. Die Übereinstimmungen
zwischen Nicaragua und Venezuela sind in diesem Punkt frappierend. In
beiden Fällen geht es hier um bezahlte Oppositions-Trolle, die
falsche Berichterstattungen online platzieren und diese unter
Hashtags wie #SOSNicaragua wiederholen. Diese Oppositions-Trolle
erfinden Vorfälle, die so nicht stattgefunden haben, und erschaffen
durch stetige Wiederholung eine Art virtuelle Wahrheit, die sich im
Denken der Menschen in Realität übersetzt. Dieser Informationskrieg
wurde durch die Opposition sehr gut vorbereitet und auch durch die
starke Einschränkung von unabhängiger Berichterstattung seitens die
Ortega-Regierung befeuert. In Bezug auf die internationale
Berichterstattung merke ich, wie schnell man der einen oder der
anderen Seite zugeordnet wird, sobald man eine Analyse zur Situation
in Nicaragua verfasst. Dabei fällt unter den Tisch, dass es auf
beiden Seiten problematische Tendenzen gibt. Wenn ich zum Beispiel
veröffentliche, dass die Regierung den Aufstand durch ihr
autoritäres Durchregieren provozierte, bin ich der Verteidiger der
Opposition. Wenn ich darauf hinweise, dass es in der Opposition
extrem gewalttätige Tendenzen gibt, bin ich ein Verteidiger der
Regierung. Die Polarisierung geht ungezügelt weiter und es gibt kein
Interesse an einer ausgeglichenen Position. Die internationalen
Medien folgen damit der Tendenz, die derzeit die Gesellschaft in
Nicaragua spaltet. Sie analysieren nicht den Kontext, sondern
betreiben selbst Polarisierung. Und deshalb folgen 90 Prozent der
internationalen Medien den fabrizierten Nachrichten von angeblichen
Massakern, Genoziden, Diktaturen oder einer friedlichen und
unabhängigen StudentInnenrevolution. Aber so ist es nicht und es
bedarf mehr Analyse, um das zu verstehen.
</p><p>
<br/>
</p>
<p>
<b>Jan [re:volt]: Wie kann
Ihrer Meinung nach der Konflikt im Land beigelegt werden? Sind die
Gräben schon zu tief - Droht dem Land jahrelange Unruhe?</b></p>
<p>
<b>Giorgio Trucchi: </b>Um
die derzeitige Situation zu überwinden, müssen beide Seiten einen
Schritt zurücktreten. Sie müssen zurück an den Verhandlungstisch,
um die Krise demokratisch und verfassungsgemäß beizulegen. Sowohl
internationale Untersuchungsausschüsse der OAS, als auch die
nationale Wahrheitskommission haben die wichtige Aufgabe, zur
Aufklärung der mörderischen Taten beizutragen, Frieden und Ruhe in
die Lager zu bringen und damit die Situation im Land zu
normalisieren. Das könnte die gewalttätigen Teile auf beiden Seiten
isolieren und einen Friedensdialog befördern. Die radikalsten Teile
der Opposition tun ihr Möglichstes, um die Gewaltschraube weiter
nach oben zu drehen, um Kapital für ihre eigene politische Agenda
herauszuholen. Das
ist ein Teil der Protestierenden, dem es egal ist, ob es noch mehr
Tote und Chaos gibt. Wenn es keine Lösung am Verhandlungstisch gibt,
steht Nicaragua vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt oder
sogar einem Bürgerkrieg
</p></div>
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Entscheidungsschlacht um Afrîn?2018-01-20T20:55:14.534052+00:002018-01-20T23:20:06.542092+00:00Kader Yıldırımredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/entscheidungsschlacht-um-afr%C3%AEn/
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<h1>Entscheidungsschlacht um Afrîn?</h1>
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<img alt="Afrind wird bombardiert" height="420" src="/media/images/Afrin.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text">Es ist soweit, die Schlacht um den
Kanton Afrîn in Rojava/Nordsyrische Föderation hat begonnen. Auf
tagelange Artilleriebombardements aus türkischen Stellungen im
Grenzgebiet folgten heute die Luftbombardements. <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-military-operation-into-afrin-begins-manbij-to-follow-erdogan-126030">Erdoğan</a>
verkündete am Mittag, der Angriff auf Afrîn habe „de facto auf
dem Feld“ begonnen, danach gehe es weiter in Richtung Manbidsch.
Einer Aussage von Ministerpräsident <a href="http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-jets-hit-ypg-in-syrias-afrin-ahead-of-possible-land-operation-126031">Binali
Yıldırım</a> zufolge sollen die Bodentruppen schon am morgigen
Sonntag eingesetzt werden.<p>
</p><p>
</p><p>Der türkische Staat handelt dabei
nicht allein aus einer tiefsitzenden Kurdenphobie heraus, wie manche meinen. Vielmehr geschieht es aus einer
Position der Krise heraus, die Erdoğan mit Gewalt zu lösen
versucht. Seit dem Jahre 2013 platzen von „unten“ und „oben“
permanent die antagonistischen Widersprüche in Gesellschaft und
Staat auf, das Land wird erschüttert von einer schweren politischen
Krise nach der anderen. Um den Laden zusammenzuhalten, verfolgt
Erdoğan seitdem einen Gang der rasenden Faschisierung. Dabei geht es
eben nicht nur darum, alle demokratische und sozialistische
Opposition zu zertrümmern. Sondern genauso auch darum, im gesamten
rechten und reaktionären Lager in Staat und Gesellschaft die
einbrechende Legitimation wieder herzustellen, um weiter an der Macht
bleiben zu können. Es gibt für Erdoğan und seine Handlanger keine
andere Option mehr.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
die Faschisierung klappt einfach nicht. Immer noch ist die Hälfte
der Gesellschaft gegen die sich anbahnende Diktatur, immer noch
kämpfen die Unterdrückten und Marginalisierten unermüdlich weiter
und immer noch erheben sich auch aus dem rechten und liberalen
bürgerlichen Lager Stimmen gegen die Faschisierung. Aber das
vielleicht größte Problem für Erdoğan ist die hartnäckige,
militante Präsenz der PKK und die Revolution in
Rojava. Die gesamte faschistoide Kriegskoalition, die den türkischen
Staat gerade mit Ach und Krach noch zusammenhält, wird von diesen
Kräften permanent herausgefordert. Denn am (für die Verhältnisse)
militärisch erfolgreichen Kampf der PKK und an der vorwärts
schreitenden Revolution in Rojava zeigt sich, dass der türkische
Faschismus nicht absolut ist, dass man militärisch und politisch
erfolgreich gegen ihn ankämpfen kann und dass unter anderem die
Befreiung der Kurd*innen von nationaler Unterdrückung mit
revolutionären Mitteln möglich ist. Das rüttelt an den
reaktionären Grundfundamenten des despotischen türkischen Staates.
Erdoğan und seine Bagage erhalten seit zwei, drei Jahren nur deshalb
Unterstützung von den erzreaktionären,
nationalistisch-faschistoiden und bisher AKP-feindlichen Cliquen im
Staat, weil die AKP offensiv Krieg gegen die Kurd*innen führt und
die totale Macht des Staates gegen jedwelche Opposition absolut
setzt. Übrigens ist es nicht nur das erzreaktionäre,
nationalistisch-faschistoide Unterstützerlager von Erdoğan, das der
Invasion zustimmt, sondern auch der quasi AKP-interne
Oppositionsführer und Partei-Mitbegründer <a href="https://twitter.com/cbabdullahgul/status/954777886841556992">Abdullah
Gül</a> sowie die <a href="https://twitter.com/ATuncayOzkan/status/954715917967089665">Hauptoppositionspartei</a>
<a href="https://www.dunya.com/gundem/hava-destegi-alinmazsa-maliyeti-buyuk-olur-haberi-399333">CHP</a>.
So viel zur bürgerlich-„demokratischen“ Opposition in der
Türkei, auf die im Ausland immer so viel Wert gelegt wird.</p><p>Jedenfalls: Die Kriegskoalition kann sehr gewalttätig
auseinander fliegen, sollte die bisherige Taktik Erdoğans nicht
aufgehen und der Faschisierungsschub an die Wand fahren.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Alleine zwischen Imperialisten</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit und tief die militärische
Kampagne gehen soll, ist noch nicht klar abzusehen. Es hängt aktuell
insbesondere davon ab, was die größeren Imperialisten für richtig
erachten. Bekanntermaßen haben die USA und Russland seit Jahren kein
grünes Licht gegeben für eine türkische Invasion von Rojava. Da
nun aber zum ersten Mal türkische Bomberjets nordsyrische Gebiete
bombardieren, darauf keine Reaktion von syrischen und russischen
Luftabwehrsystemen erfolgt und seitens der Türkei eine
Bodenoffensive angekündigt wird, muss damit gerechnet werden, dass
zumindest Russland das Ganze toleriert. Da die USA den Angriff zwar
halbherzig „<a href="http://www.hurriyet.com.tr/abdden-ilk-tepki-turkiyenin-pkk-ile-ilgili-guvenlik-kaygilarini-anliyoruz-40716735">verurteilen</a>“,
aber nichts dagegen unternehmen, kann auch hier davon ausgegangen
werden, dass der Angriff geduldet wird.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dem russischen wie auch dem
us-amerikanischen Imperialismus – und den mit ihnen jeweils
kooperierenden regionalimperialistischen Kräften – ging es bei der
Kooperation mit den Kurden und der SDF von Anfang nicht darum, das Projekt einer
popular-revolutionären Demokratisierung Syriens oder gar des Nahen
Ostens voranzutreiben. Im Gegenteil: Dieser Perspektive sind sie, wie
alle Imperialisten, spinnefeind. Von Anfang an ging es den
Imperialisten darum, die Kurden und die SDF in Rojava als Machtfaktor gegen die
zu hohen und vor allem zu selbständigen regionalimperialistischen
Ambitionen der Türkei zu nutzen und gleichzeitig darum, zu
verhindern, dass sich die Kurden und die SDF auf die Seite einer einzigen
imperialistischen Macht schlagen. Die Führungsriegen der kurdischen
Bewegung hingegen wussten dies sehr genau und versuchten, aus einer
Position relativer ökonomischer und geopolitischer Schwäche und
Isolation heraus, die imperialistischen Widersprüche für ihr
eigenes Vorwärtskommen zu nutzen. Das klappte bisher recht gut, von
Anfang an war jedoch klar, dass das Mächtegleichgewicht sehr
instabil ist. Offensichtlich ist nun der Punkt erreicht, an dem die
Imperialisten der Meinung sind, dass die Kurden zu eigenständig und
mächtig sind.</p><p>
</p><p>
</p><p>Wie weit die
türkische Militäroffensive gegen Afrîn aus der Perspektive der
Imperialisten gehen soll, ist noch nicht abzusehen. Aus Moskau kommen
dazu <a href="https://www.heise.de/tp/features/Moskau-laesst-die-Kurden-in-Afrin-fallen-3947206.html">widersprüchliche
Signale</a>: Einerseits heißt es, man werde bei der UN ein Ende der
türkischen Offensive erwirken, andererseits werden russische
Soldaten aus Afrîn zurückgezogen. Zugleich <a href="http://sendika62.org/2018/01/canli-blog-afrine-hava-saldirisi-basladi-469124/">behauptet</a>
Russland, dass Waffenlieferungen der USA an die YPG/J Schuld seien an der türkischen Invasion, was den Einmarsch
de facto legitimiert.</p><p>
</p><p>
</p><p>Eventuell stimmt Russland zu, dass die
Türkei zu einem Vernichtungsfeldzug gegen Rojava zieht und riskiert
damit, dass sich die Kurden und die SDF vollends den USA zuwenden. <a href="https://twitter.com/Metin4020/status/954743198051721222">Oder
aber</a> Russland und die USA werden eine Teiloffensive der Türkei
und verbündeter „FSA“-Einheiten erlauben, um diese wieder näher
an sich zu binden und gleichzeitig die eigenen Verhandlungspositionen
gegenüber der PYD/SDF zu verstärken. Was auch immer sie sich dabei
denken mögen: Die PKK, Rojava und der populare Widerstand haben in
diesem Spiel noch einiges mitzureden.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Afrîn zum Grab des Faschismus
machen!</b></h2><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://twitter.com/ayhanbilgen/status/952231689614438400">Vor
einigen Tagen</a> hat der Parteisprecher der HDP und
Parlamentsabgeordnete Ayhan Bilgen ganz richtig festgehalten: „Wenn
eine Operation gegen Afrîn gestartet wird, ohne dass von Afrîn aus
Angriffe auf die Türkei ausgehen, dann wird der Erfolg einer solchen
Operation die Grundlagen eines Bürgerkriegs, der Misserfolg hingegen
die Grundlagen für einen Putsch schaffen.“ Die faschistoide
Kriegskoalition in der Türkei befindet sich in ihrer instabilsten
Lage. Um die Krisenhaftigkeit ein für alle Mal zu lösen, wird jetzt
dieser militärische Gewaltakt vollzogen. Das große Risiko für den
türkischen Faschismus birgt zugleich eine große Chance für die
demokratischen und revolutionären Kräfte: Bricht die Invasion in
Afrîn oder wird der Staat in einen Krieg verwickelt, in dem er
versumpft und zermürbt wird, wird die Kriegskoalition im Lande
kollabieren. Es geht jetzt darum, den Speer in das Herz der Bestie zu
stoßen. Der <a href="https://twitter.com/PolatCanRojava/status/954799320573804546">YPG-Kommandant
Polat Can</a> hat schon einen Gegenangriff auf die von der Türkei
und „FSA“ gehaltenen Gebiete um Jarablus, Azez und al-Bab
angekündigt. Im Widerstand von Afrîn liegt derzeit die größte
Hoffnung auf Zerschlagung des Faschismus und Demokratisierung der
Türkei. Lasst uns weiterhin auf die Straße gehen, um unsere
Solidarität mit dem Kampf der Genoss*innen kund zu tun und den
BRD-Imperialismus für sein Mitwirken am türkischen Faschismus
anzuprangern!</p></div>
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