re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2292021-03-17T21:59:02.758548+00:00Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz2021-03-15T15:38:24.919544+00:002021-03-17T21:59:02.758548+00:00Meral Çınarredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/burkaverbot-und-sozialhilfedetektive-der-schweiz/
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<h1>Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz</h1>
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<span class="content-copyright">ROTA Migrantische Selbstorganisation</span>
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<div class="rich-text"><p>Am 7. März fanden in der Schweiz Volksabstimmungen auf Kantons- und Bundesebene statt. Einige von ihnen waren offen gegen Menschen- und Freiheitsrechte gerichtet. <a href="https://www.zh.ch/de/politik-staat/wahlen-abstimmungen/abstimmungen.html">Darunter folgende</a>:</p><ol><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob die staatsbürgerschaftlichen Informationen und die nationale Identität von Personen, die Straftaten begehen oder im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, veröffentlicht werden sollen. Diese von der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP) in Gang gesetzte Volksinitiative mit dem Titel „Bei Polizeimeldungen sind die Nationalitäten anzugeben“ wurde mit 43,76 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.</li><li>Eine Abstimmung im Kanton Zürich darüber, ob Sozialhilfeempfänger*innen, die im Verdacht stehen, Betrug oder Missbrauch mit der Sozialhilfe zu begehen, von Detektiven verfolgt werden dürfen/sollen. Die vom Kantonsrat Zürich vorgeschlagene Gesetzesänderung (Sozialhilfegesetz SHG Klare rechtliche Grundlage für Sozialdetektive) wurde mit 67,73 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li><li>Eine Schweiz-weite Volksinitiative mit dem Titel „Ja zum Verhüllungsverbot“, die ein Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum (Einkaufszentren, Schulen, Straßen usw.) forderte. Diese Initiative wurde mit 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.</li></ol><p>Das, was diese (Gesetzes-)Initiativen eint: Sie sind rassistisch und insbesondere gegen Migrant*innen gerichtet. Als ob die mangelhaften und unhygienischen Bedingungen nicht ausreichten, wurden <i>refugees</i>, die in Lagern lebten, während der Corona-Pandemie noch weiter isoliert. Besuche wurden verboten, Ein- und Ausgehen aus den Lagern penibel kontrolliert. Migrantische Arbeitskräfte befinden sich mitten in einer sich verschärfenden Armuts- und Arbeitslosigkeitsspirale, da die Pandemie diejenigen Wirtschaftssektoren besonders stark trifft, in denen Migrant*innen hauptsächlich arbeiten. Natürlich sind migrantische Frauen* von diesen Umständen gleich doppelt betroffen. Durch diese Initiativen bröckelt der Lebensstandard von Migrant*innen noch weiter und die Mauern, die sie umgeben, werden noch weiter hochgezogen – und das unter Umständen der Krise und Pandemie. Mit ihnen zeigt sich der rassistische und potenziell antidemokratische Charakter des schweizerischen Staates.</p><h2>Im Windschatten der Rechten</h2><p>Die erste Initiative wurde, wie gesagt, von der reaktionärsten und rassistischsten Partei der Schweiz, der SVP in Gang gesetzt. Die Logik ist klar: Ausländer*innen begehen viel mehr Straftaten als „Einheimische“. Daher ein Gesetz, das ihrer „sauberen, weißen Rasse und Hochkultur“ die Absolution erteilen soll. Außerdem soll die Veröffentlichung von Angaben über Herkunft rassistische Argumente und migrationsfeindliche Haltungen befeuern. Die Initiative wurde zwar nicht angenommen. Wird sie aber etwas besser organisiert (so wie die Initiative zum Verhüllungsverbot) und findet kein Widerstand dagegen statt, dann wird auch die SVP-Initiative beim nächsten Versuch durchkommen.</p><p>Und was soll man zur Gesetzesinitiative des Kantons Zürich sagen, die es ermöglicht, dass Sozialhilfeempfänger*innen durch Detektive nachspioniert werden kann? Die SVP ist eine klar rassistische Partei, aber warum hat der Züricher Kantonsrat das Bedürfnis, eine solche Gesetzesinitiative vorzuschlagen? Einige Politiker*innen sagen, das sei deshalb gemacht worden, um einer viel härteren Gesetzesinitiative der SVP zuvorzukommen und diese somit abzuwehren. Das ist eine wirklich interessante Argumentationsweise für die Politik in einem Land, das sich selbst zu den demokratischsten und liberal-freiheitlichsten der Welt zählt.</p><p>Es ist offensichtlich, dass dieses vage formulierte und daher in alle Richtungen dehnbare Gesetz einzig dafür gut sein wird, den Zugang zur Sozialhilfe, die angesichts der Pandemie-bedingten Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut der einzige Ausweg für viele Menschen ist, weiter zu erschweren. Wenn man sich vor Augen hält, wer in der Schweiz am meisten Sozialhilfe beantragen muss, erkennt man auch sofort den rassistischen Charakter des Gesetzes. Der Kanton Zürich, der in der Pandemie versagt hat, zwingt mit dieser Gesetzesinitiative Migrant*innen in den Niedriglohnsektor, in die Armut und letztlich dazu, das Land zu verlassen.</p><h2>Das Verhüllungsverbot</h2><p>Mag der rassistische und migrant*innenfeindliche Charakter der ersten beiden Abstimmungen unzweifelhaft erscheinen, so sind die Dinge etwas vertrackter, wenn es um das als Verhüllungsverbot deklarierte „Burkaverbot“ geht. Vor allem für Männer.</p><p>Die SVP hat <a href="https://www.svpag.ch/kampagne/verhuellungsverbot/">einige Begründungen</a> für diesen Gesetzesvorschlag ins Feld geführt. Zum einen wird der Islam mit Terrorismus gleichgesetzt und das Gesetz so auch als Maßnahme gegen Terror bezeichnet. Anscheinend sind wir Frauen* für den Terror verantwortlich, ohne davon zu wissen. Es würde mich wirklich interessieren, wie genau Terroranschläge verhindert werden, wenn es Frauen* untersagt wird mit einer Burka das Haus zu verlassen.</p><p>Aber damit nicht genug, sie erklären uns auch, dass sie die Freiheit der Frauen* für wichtig befinden und dieses Gesetz es den Frauen* erleichtern soll, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Weil jetzt natürlich ganz bestimmt alle betroffenen Frauen* plötzlich ihre Burka ablegen und nach draußen rennen werden…</p><p>Es wäre absurd anzunehmen, dass eine rassistische Partei wie die SVP tatsächlich auch nur einen einzigen Finger rührt für die Frauen*befreiung. Sie waren ja auch diejenigen, die sich am stärksten gegen den Frauen*streik gestellt und sogar dagegen organisiert haben. Sie haben kein anderes Ziel als Frauen*rechte zurückzunehmen und zwar beginnend mit den Rechten migrantischer Frauen*. Sie fürchten sich vor der Befreiung der Frau*. Sie fürchten sich vor der Befreiung und der Organisation der migrantischen Frauen*, die die prekären, am schlechtesten bezahlten Jobs ohne soziale Absicherung machen, die die Schweizer*innen nicht machen wollen und genau dadurch aber dafür sorgen, dass die Schweiz jeden Morgen erneut aufsteht und den Tag beginnt.</p><p>Wir dürfen auch nicht übersehen, dass mit dem Fokus auf die Burka gleichzeitig der in ganz Europa wachsende antiislamische Rassismus in der Schweiz seinen Ausdruck findet. Dadurch, dass muslimische Frauen* zur Zielscheibe erklärt werden, werden vermittelt alle Frauen* zur Zielscheibe erklärt.</p><p>Darüber hinaus fügt die SVP auch noch hinzu, dass ein Vermummungsverbot es der Polizei bei Demonstrationen erleichtert, „Straftäter“ schnell ausfindig zu machen. Obwohl die Initiative offiziell als Vermummungsverbot betitelt ist, lässt aber schon die Werbung der Initiator*innen, die eine Frau* mit Burka zeigt, keinen Zweifel daran, worum es wirklich geht: ein Verbot der Burka.</p><p>Jetzt ist aber die Fehlannahme, dass ein solches Gesetz die Frauen* befreien wird, nicht allein bei der SVP, rassistischen Parteien und konservativen Schweizer*innen verbreitet. Einige liberale, linke, ja sogar linksradikale Männer und Frauen* haben auch für das Gesetz gestimmt. Die dahingehende Argumentation von Frauen* deutet eher auf Angst und Manipulation im Zuge steigenden Drucks hin. Sie meinen, dass die Verhüllung der Frauen* ein Freiheitsproblem und der Islam eine Religion sei, die Frauen* unterdrückt und dieses Gesetz den Druck auf Frauen* vermindern würde. Hingegen denken viele Frauen* aus dem Mittleren Osten, dass der Islam eingeschränkt werden muss, nicht zuletzt deshalb, weil sie unter dessen repressiven Charakter leiden und sich davon befreien wollen. Daher stimmten auch sie dem Gesetz zu. Diese Argumente mögen richtig oder falsch sein, ich kann sie jedenfalls nachvollziehen. Frauen*, die über dieses Gesetz abstimmen, denken zugleich auch an sich. Sie treffen eine Entscheidung hinsichtlich ihrer eigenen Kleidung. Sie kommentieren dadurch ihre Geschlechtsgenoss*innen. Aber diese Argumentation muss man strikt von der Argumentation der weißen europäischen bürgerlich-patriarchalen Männer trennen, die eine sowohl in Form wie auch Inhalt rassistische Argumentation vorbringen.</p><h2>Und die Männer?</h2><p>Männer, denen – mit Ausnahme von gewissen Institutionen und LGBTIQ+-Erfahrungen – noch nie in ihrem Leben in ihre Kleidung hineingeredet wurde, haben keinen Begriff davon, was es heißt, aufgrund einer bestimmten Kleidung nicht auf die Straße oder ins Einkaufszentrum gehen zu können beziehungsweise sich dafür umziehen, ein Kleidungsstück aus- oder anziehen zu müssen. Und wie sie keinen Unterschied zwischen der freien Wahl eines Kleidungsstücks aus religiösen Gründen und dem erzwungenen Tragen eines Kleidungsstücks sehen, so sehen sie auch nicht, dass das erzwungene Ablegen eines Kleidungsstücks eben auch nur ein weiterer Zwang ist.</p><p>Nun gut, Männer, die für die Frauen*befreiung eintreten und mit denen wir in vielen Bereichen gemeinsamen marschieren, hinterfragen also religiös konnotierte Kleidungsstücke und wollen sie im Namen der Frauen*befreiung verbieten. Aber hinterfragen sie auch ihre eigene Männlichkeit, die vom Patriarchat beherrschten Religionen, oder das bürgerliche Verständnis von Mode, das oft stark vom Geschmack der Männer beeinflusst ist?</p><p>Das Einzige, was Männer hinsichtlich dieser Abstimmung verstehen sollten, ist Folgendes: Es ist überhaupt nichts Emanzipierendes daran, wenn die Kleidung von Frauen* zum Politikum wird und eine Abstimmung darüber auch Männern offen steht. Dieses Recht gibt ihnen der patriarchale Schweizer Staat. Dass nun vor allem Männer, die in vielen politischen Initiativen mit uns Seite an Seite stehen, diesen Unsinn im Namen der Befreiung der Frauen* verteidigen und dafür stimmen, ist eine inakzeptable linke Männerkrankheit. Es ist zugleich der Versuch das zu verschleiern, was die Frauen* wirklich unterdrückt und ausbeutet.</p><h2>Was Frauen* wirklich gefangen hält</h2><p>Aus meiner Sicht ist es zentral zu hinterfragen, was es denn nun wirklich ist, das Frauen* so unterdrückt und gefangen hält, dass sie nicht einmal ihre Kleidung frei wählen können. Die islamische Religion, die einige gesellschaftliche Regeln zusammenfasst und gewisse Glaubenswerte zum Ausdruck bringt? Oder ist es doch eher die Tatsache, dass diese Religion von patriarchalen Strukturen geprägt wurde und dass sich Männer das Recht herausnehmen ihre Regeln zu bestimmen, die dann wiederum das Leben der Frauen* in ein Gefängnis verwandeln?</p><p>Es ist eine Realität, dass der Islam, wie alle Religionen, unter starkem patriarchalen Druck geprägt wurde und deshalb der freie Wille der Frauen* immer beiseite geschoben wurde. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, wo Frauen* nicht nur über ihre Kleidung nicht frei entscheiden können, sondern auch ihren Glauben nicht frei leben können. Was hier die Freiheit der Frauen* wirklich beschränkt, ist also nicht ein Stück Stoff, sondern das Patriarchat. Patriarchale Strukturen haben sich in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphären festgesetzt und über Arbeit und Körper der Frauen* ein Herrschaftssystem errichtet.</p><p>Wenn es aber um die Frauen*emanzipation geht, dann können wir erst dann von einer wirklichen Freiheit sprechen, wenn Frauen* einzig und allein selbst darüber entscheiden können wie sie ihren Körper verhüllen. Wir sind nicht allein dadurch freier, dass wir Kleidung tragen, die mehr von unserem Körper zeigt. Wir sind frei, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen selbst und ohne Manipulation treffen können. Erst in einer Situation, wo wir also völlig selbstständig und frei von Manipulation entscheiden können, was wir tragen wollen, sind Shorts und Burka gleichermaßen tatsächlich nur mehr Stoffstücke.</p><p>Kurz gefasst: Sich für die Emanzipation der Frauen* einzusetzen heißt, sich für die Entwicklung des freien Willens der Frauen* und für die Aufhebung des patriarchalen Drucks auf Frauen* zu kämpfen. Ein solches Gesetz zu entwerfen und zur Abstimmung zu bringen heißt jedoch, ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten der Frauen* als Menschen (was nicht selten vergessen wird und unbedingt betont werden muss) zu lancieren.</p><p>Leider konnten die linken, feministischen Gruppen in der Schweiz, die den Gesetzesentwurf abgelehnt haben, vor der Abstimmung keine starke Initiative dagegen organisieren. Aber wenn wir Frauen* nicht wollen, dass sich Männer (oder ein von Männern beherrschtes System) das Recht herausnehmen, sich in die Kleidung von Frauen* einzumischen und irgendwann auch gegen unsere Shorts wettern, dann müssen wir uns klar gegen diese patriarchale Haltung stellen und einen Gegenstandpunkt organisieren.</p><hr/><p>Meral Çınar ist eine feministische Aktivistin aus der Schweiz. Sie ist auch eine Mibegründerin der migrantischen Selbstorganisation <a href="https://revoltmag.org/articles/unsere-lebensbedingungen-m%C3%BCssen-sich-grundlegend-%C3%A4ndern/">ROTA</a>.</p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p>Der Text erschien zu erst am 11. März auf Türkisch im feministischen Onlinemagazin <a href="http://feminerva.com/2021/03/isvicrede-burka-yasagi/"><i>feminerva</i></a>. Aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Alp Kayserilioğlu und Max Zirngast.</p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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„Jeglicher Reformismus ist zum Scheitern verurteilt“2020-04-10T08:37:20.919947+00:002020-04-10T08:37:20.919947+00:00Alexander Gorskiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/jeglicher-reformismus-ist-zum-scheitern-verurteilt/
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<span class="content-copyright">Interbrigadas e.V.</span>
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<div class="rich-text"><p> <br/><i>Die Region rund um die andalusische Stadt Almería ist als „Plastikmeer“ bekannt. Zehntausende migrantische Arbeiter*innen aus Afrika, Lateinamerika und Osteuropa schuften dort unter widrigsten Bedingungen in zahllosen Plastikgewächshäusern, um den europäischen Markt ganzjährig mit Gemüse zu beliefern. Seit 20 Jahren kämpft die traditionsreiche andalusische Basisgewerkschaft </i><a href="http://socsatalmeria.org/">SAT</a><i> an der Seite der Beschäftigten für ein Ende der Ausbeutung in der Region. José García Cuevas ist seit den 1990er-Jahren in der SAT aktiv und arbeitet als deren Funktionär im Gewerkschaftsbüro in Almería. Alexander Gorski hat mit ihm über den alltäglichen Ausnahmezustand in Almería, gewerkschaftliche Kämpfe in Zeiten von SARS-CoV-2 und die Perspektiven der revolutionären Linken in Andalusien und Spanien gesprochen.</i> <br/></p><p><b>Alex [revolt]: Gerade wird angesichts der Corona-Pandemie allerorten der Ausnahmezustand ausgerufen. Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass in der Landwirtschaft um Almería der Ausnahmezustand die Regel ist. Könntest du unseren Leser*innen die Bedingungen schildern, unter denen zehntausende migrantische Arbeiter*innen in den Gewächshäusern arbeiten und mit welchen Problemen sie sich konfrontiert sehen?</b> </p><p><b>José García Cuevas: </b>Die Ausbeutung ist im überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Betriebe in der Region Almería bittere Realität. Mehr als 92% der Arbeiter*innen hier sind Migrant*innen und ihre Rechte werden tagtäglich verletzt. Die Löhne liegen weit unter dem, was der Staat als Mindestlohn festgeschrieben hat. Existierende Tarifverträge werden nicht eingehalten. Doch nicht nur die Arbeitsrechte werden missachtet. Auch das Recht auf würdigen Wohnraum und eine angemessene Gesundheitsversorgung wird mit Füßen getreten. Viele der Arbeiter*innen haben keine Papiere und leben unter äußerst prekären Umständen in slumähnlichen Siedlungen, sogenannten c<i>habolas</i>. Wir gehen von etwa 7000 Menschen aus, die in solchen Verhältnissen leben. Sie verlassen diese Elendssiedlungen nur, um arbeiten und alle paar Tage im nächsten Ort einkaufen zu gehen. Andere Arbeiter*innen leben zwischen den Gewächshäusern, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen. Diese Arbeiter*innen leben im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre einzige Funktion ist es, unter elenden Bedingungen Gemüse für den europäischen Markt zu produzieren. Doch auch die Arbeiter*innen, die in den Dörfern der Region wohnen, haben häufig nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und teilen sich mit vielen anderen Personen kleine Zimmer. <br/> <br/><b>Als Gewerkschaft versucht ihr unter diesen Bedingungen die Arbeiter*innen zu organisieren. Was bedeutet das für euch im Alltag?</b> </p><p>Im Grunde versuchen wir an den Orten präsent zu sein, an denen die schamloseste Ausbeutung in der Region stattfindet. Meistens passiert dies, indem sich Arbeiter*innen aus Betrieben an uns wenden und uns ihre miserablen Arbeitsbedingungen schildern. Dann versuchen wir diesen Arbeiter*innen eine Stimme zu geben. Das heißt für uns viel mehr, als juristisch gegen die Missstände vorzugehen. Unser Ziel ist es stets, die Arbeiter*innen dazu zu bringen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, denn es ist klar, dass die Lösung von individuellen Problemen nichts an der strukturellen Situation ändern kann. Daher versuchen wir die Arbeiter*innen dazu zu motivieren sich selbst zu organisieren und ihr politisches Bewusstsein zu schärfen. Im Alltag heißt das natürlich, dass wir oft mit den dringenden Fällen beschäftigt sind und alle Instrumente gewerkschaftlicher Arbeit nutzen, um konkrete Fälle extremen Missbrauchs anzuzeigen und die Situation der Arbeiter*innen materiell zu verbessern. Und dennoch bleibt es unser Anspruch, bei den Arbeiter*innen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Gewerkschaft ihr eigenes Kampfinstrument ist, dessen sie sich bei Problemen immer bedienen können. <br/><br/><b>Die SAT blickt als kämpferische Basisgewerkschaft auf eine jahrzehntelange Geschichte in Andalusien zurück. Seit mittlerweile 20 Jahren seid ihr auch in der Landwirtschaft Almerías vertreten. Wie fällt dein Fazit dieser Zeit aus?</b> </p><p>Wir begannen in Almería gewerkschaftlich zu arbeiten, nachdem es im Februar 2000 zu pogromartigen Übergriffen von Teilen der andalusischen Bevölkerung auf migrantische Arbeiter*innen gekommen war. Damals hatten die meisten Arbeiter*innen keine Papiere und lebten unter elenden Umständen außerhalb der Dörfer und Städte. Deshalb war der erste große Kampf unserer Gewerkschaft in der Region der Kampf um Papiere für alle. Damit wollten wir erreichen, dass die Arbeiter*innen in regulären Verhältnissen arbeiten und ihre sozialen Rechte in Anspruch nehmen können. Deshalb ging es bei der Arbeit der SAT in Almería nie nur um den Kampf um würdige Arbeitsbedingungen. Wir hatten von Anfang an auch die politischen und sozialen Rechte der Leute im Blick. Das macht uns aus: wir sind eine politisch-soziale Gewerkschaft. <br/><br/><b>Was waren in dieser Zeit die größten Erfolge der Gewerkschaft in Almería?</b> </p><p>Der größte Erfolg war wahrscheinlich die Legalisierung tausender Menschen in der Region. Das war das Ergebnis eines langen und erbitterten Kampfes. In letzter Zeit gab es eine Reihe kleinerer Erfolgserlebnisse, als wir gemeinsam mit kämpferischen Belegschaften die Arbeitsbedingungen in einigen Betrieben entscheidend verbessern und Betriebsräte installieren konnten. Natürlich besteht die Situation der brutalen Ausbeutung weiter fort, aber wir sind überzeugt, dass es Fortschritte gibt, solange wir nicht aufhören zu kämpfen. <br/><br/><b>Seit einigen Woche ist SARS-CoV-2 das Thema, das alles dominiert. Wie hat sich die Pandemie auf die Landwirtschaft in Almería ausgewirkt?</b> </p><p>Zunächst einmal müssen die Arbeiter*innen hier weiterarbeiten als wäre nichts gewesen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Aktionen durch das Coronavirus begrenzt. Wir können zum Beispiel zurzeit keine größeren Demonstrationen oder Kundgebungen vor den Betrieben durchführen. Hinzu kommt, dass die staatliche Arbeitsinspektion gerade deutlich weniger unterwegs ist als sonst. Und auch die Arbeiter*innen können nicht mehr so leicht mit ihren Problemen zur Gewerkschaft kommen, da auch sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. <br/><br/><b>Mit welchen Problemen sind die Arbeiter*innen jetzt konfrontiert?</b> </p><p>Sie werden gezwungen weiterzuarbeiten, obwohl sie die berechtigte Angst haben sich mit dem Coronavirus anzustecken. Die Ansteckungsgefahr besteht ja nicht nur in den Gewächshäusern, in denen oft viele dutzend Arbeiter*innen nebeneinander arbeiten. Auch auf dem Weg zur Arbeit und in den beengten Wohnverhältnissen besteht die ständige Gefahr sich mit dem Corona-Virus zu infizieren. Dazu kommt, dass bereits unter normalen Umständen Schutzkleidung bei der Arbeit mit den giftigen Pestiziden und ausreichende Sanitäranlagen in den Betrieben fehlen. Trotz der Corona-Krise sorgen weder der Staat noch die Unternehmen dafür, dass die Arbeiter*innen am Arbeitslatz wirksam vor Ansteckung geschützt werden. Wenn die Arbeiter*innen zur Aufrechterhaltung der Versorgung Europas mit Gemüse schon weiterarbeiten müssen, dann sollten sie wenigstens Schutzmasken und Handschuhe bekommen. Wir hören aber immer wieder Beschwerden von Arbeiter*innen, dass genau dies nicht passiert. Übrigens auch nicht in den Bio-Betrieben mit all ihren sozialen und ökologischen Siegeln. Das kann unter den aktuellen Umständen natürlich gravierende Folgen haben. Außerdem nutzen die Arbeitgeber*innen die Situation aus und entlassen Arbeiter*innen unter fadenscheinigen Gründen, weil ihnen klar ist, dass es unter den derzeitigen Bedingungen schwieriger ist, sich gegen solche Maßnahmen zur Wehr zu setzen. </p><p></p><p><b>Und wie wirkt sich das Coronavirus auf die Aktivitäten der Gewerkschaft aus?</b> </p><p>Natürlich sind auch wir als SAT durch das Coronavirus in unserer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Aber wir versuchen weiter vor Ort zu sein und an den Betriebstoren mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu treten. Aber die wirklich wirksamen Mittel, wie etwa Versammlungen und Kundgebungen direkt vor den Betrieben, sind aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht möglich. Das dämpft die Effektivität unserer gewerkschaftlichen Arbeit natürlich. </p><p></p><p><b>Was sind die Forderungen der Gewerkschaft SAT angesichts der Corona-Krise?</b> </p><p>Wir fordern einen Risikozuschlag für alle Landarbeiter*innen, die trotz der Ansteckungsgefahr in den Gewächshäusern arbeiten müssen, und ein sofortiges Verbot aller Entlassungen. Außerdem müssen alle Arbeitsverträge, die während der Corona-Krise auslaufen, automatisch verlängert werden. Und die Arbeiter*innen müssen alle mit der nötigen Schutzkleidung ausgerüstet werden. Für uns als Gewerkschaft ist es natürlich interessant zu sehen, dass es jetzt gerade die Arbeiter*innen sind, auf die unter normalen Umständen herabgeschaut und deren Ausbeutung einfach hingenommen wird, die jetzt dafür sorgen, dass Europa weiter mit Gemüse versorgt wird. Das zeigt auch, dass es so nicht weitergehen darf. <br/><br/><b>Die SAT ist ja nicht nur im Landwirtschaftssektor in Almería aktiv. In anderen Teilen Andalusiens ist sie im Gesundheitsbereich und im Tourismus verankert. Wie sieht dort die Situation der Beschäftigten aus?</b> </p><p>Ich habe eben mit einem Genossen aus Granada gesprochen, der im Tourismusbereich aktiv ist. Er hat mir erzählt, dass die Gewerkschaft sich vor Anzeigen und Beschwerden kaum retten kann. Seit Monaten gibt es in einigen Teilen Andalusiens harte Arbeitskämpfe in Restaurants und Hotels. In diesen Auseinandersetzungen war die SAT äußerst präsent und hat sich dadurch bei den Beschäftigten eine hohe Legitimität erarbeitet, vor allem weil es dort vorher wenige Versuche gewerkschaftlicher Organisierung gab. Da der Sektor von der Corona-Krise sehr stark betroffen ist, kommt es jetzt zu vielen Konflikten. Aber auch bei Essenslieferdiensten, in Krankenhäusern und in der Metallindustrie ist die SAT präsent und steht an der Seite der Beschäftigten. <br/></p><p><b>In Spanien gelten bis zum 25. April strenge Ausgangsbeschränkungen, Grund- und Freiheitsrechte werden extrem beschnitten. Wie beurteilt ihr diese Maßnahmen?</b> </p><p>Wir verstehen selbstverständlich, dass es gewisser Maßnahmen bedarf, um die Gesundheit aller zu schützen und die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen. Aber die Umsetzung durch die staatlichen Sicherheitskräfte erinnert dann doch sehr an einen Polizeistaat. Wir von der SAT plädieren für weniger repressive Maßnahmen und für mehr populare Bildung, um die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstorganisation zu stärken. Das kapitalistische System ist es, dass die Menschen im Stich lässt und das so viele Leute am Coronavirus sterben lässt. Militär und Polizei in den Straßen helfen dagegen wenig. Viel eher sollten wir uns als Gesellschaft daran machen, dass Gesundheitssystem umfassend zu verändern und die eklatanten Mängel in der medizinischen Grundversorgung der Mehrheit der Menschen zu beseitigen. <br/> <br/><b>Interessanterweise ist in Spanien ja seit Januar diesen Jahres eine Mitte-Links-Regierung an der Macht. Unter der Führung von Ministerpräsident Pedro Sánchez bildeten die Sozialdemokraten (PSOE) gemeinsam mit dem Linksbündnis</b><b><i> Unidas Podemos</i></b><b> (UP) eine Koalition. Wie steht ihr als Gewerkschaft zu dieser Regierung?</b> </p><p>Ich persönliche setzte wenig Erwartungen in die neue Regierung. Die Lösung der Probleme der Arbeiter*innenklasse kann nur aus der Klasse selbst kommen. Und da rede ich nicht von kleinen Reformen, sondern von einem anderen Gesellschaftsmodell. Das wird natürlich nicht kommen, solange das Kapital die beherrschende Kraft in der Gesellschaft ist und jeder Regierung nur ein gewisser Spielraum zukommt, vor allem was Maßnahmen ökonomischer Umverteilung betrifft. Allerdings kann man mit der aktuellen Regierung angesichts der Corona-Krise etwas optimistischer sein, als wenn die Rechten an der Macht wären. Denn der leichte wirtschaftliche Aufschwung in letzter Zeit hat dafür gesorgt, dass Mehrwert geschaffen wurde, den die Regierung jetzt zumindest ein wenig umverteilen kann. Aber gleichzeitig ist die gegenwärtige Koalition aus PSOE und UP durch den bestehenden kapitalistischen Rahmen limitiert. Für mich ist klar, dass wir als revolutionäre Linke mehr wollen müssen. Wir müssen eine andere Politik machen und dürfen nie vergessen, dass an die Macht kommen und die Macht haben zwei unterschiedliche Dinge sind. Denn auch wenn du in der Regierung bist, aber keine soziale und nachhaltige Massenbasis bei den arbeitenden Klassen hast, bringt das am Ende wieder nichts. Denn dann können die Kapitalisten dir nach Belieben in die Parade fahren. <br/><br/><b>Trotz der neuen Regierung kann in Spanien kaum von einem Linksruck gesprochen werden. Bei den letzten Wahlen holte die extrem rechte VOX 15 Prozent der Stimmen. Die</b><b><i> Partido Popular</i></b><b> (PP), langjährige Regierungspartei und Verwalterin des Franco-Erbes, kam auf 20,8 Prozent der Stimmen. In Andalusien kam die VOX sogar auf mehr als 20 Prozent der Stimmen. Könnte sich dieser Trend durch die Corona-Krise verstärken?</b> </p><p>Wir dürfen nicht vergessen, dass die extreme Rechte in Spanien immer präsent war. Nach dem Ende der Franco-Diktatur sammelte sie sich in der rechts-konservativen<i> Partido Popular</i> (PP). Es gibt also eine Kontinuität des Faschismus in Spanien. Nun kommt eben noch VOX hinzu. Die Alternative, die sie anbieten, basiert darauf, dass sie anderen die Schuld für die Missstände in der Gesellschaft geben: den Migrant*innen, den Linken und so weiter. Das kennen wir eigentlich aus allen Ländern Europas. Ihr Ziel ist die Destabilisierung des Systems, um selbst an die Macht zu gelangen und autoritär regieren zu können. Klar ist, dass sie versuchen werden, die Krise für sich zu nutzen. Vielleicht werden sie schon bald versuchen, die ihnen verhasste Mitte-Links-Regierung abzusägen und auf Neuwahlen zu drängen. Eine andere Möglichkeit ist, dass sich die Partido Popular mit der PSOE auf eine Art großer Koalition verständigt, um UP aus der Regierung zu drängen. Egal, was passiert, wir müssen angesichts dieser Entwicklungen äußerst wachsam bleiben. <br/><br/><b>Was sind die Perspektiven der revolutionären Linken in Andalusien und Spanien?</b> </p><p>Die revolutionäre Linke muss hier wie überall ihre Theorie zur Praxis machen. Denn ohne Praxis ist alles nur leere Luft. Doch ohne theoretische Einordnung unseres Handelns kommen wir auch nicht weit. Konkret heißt das, dass wir aus dem, was wir sagen, Konsequenzen für unser Handeln ziehen müssen. Als Grundlage dafür müssen wir nach der Überzeugung handeln, dass das kapitalistische System die Menschheit an den Abgrund führt. Dabei müssen wir Faktoren einbeziehen, die auch für uns als revolutionäre Linke neu sind, wie etwa den ökologischen Kollaps. Gleichzeitig gilt: Ohne das Ziel eine radikal andere Gesellschaft aufzubauen geht nichts. Jeglicher Reformismus ist angesichts der massiven Probleme, der wir uns als Menschheit gegenüber sehen, zum Scheitern verurteilt. Mehr denn je gilt: Sozialismus oder Barbarei. <br/></p><p></p><hr/><p></p><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Die SAT pflegt eine enge Partnerschaft mit dem Berliner Kollektiv </i><a href="https://www.interbrigadas.org/">INTERBRIGADAS</a><i>, das regelmäßig Brigaden nach Almería organisiert und Arbeitskämpfe vor Ort und von Berlin aus unterstützt. </i> <i>Mehr Informationen zu der transnationalen Vernetzung findet ihr in der neuen Broschüre von Interbrigadas: </i><a href="https://www.interbrigadas.org/broschuere-vom-anfang-und-ende-der-lieferkette/">„</a><a href="https://www.interbrigadas.org/broschuere-vom-anfang-und-ende-der-lieferkette/">Vom Anfang und Ende der Lieferkette”</a><i>. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstand 2017 auch der Dokumentarfilm „Días de lucha, días de luto“ von Aline Juárez Contreras, den ihr euch </i><a href="https://de.labournet.tv/unter-dem-plastik-der-strand">hier</a><i> ansehen könnt.</i> </p></div>
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Wir wollen unsere Rechte – kollektive Regularisierung jetzt!2020-04-06T08:32:34.377706+00:002020-04-06T09:32:01.810622+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wir-wollen-unsere-rechte-kollektive-regularisierung-jetzt/
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<div class="rich-text"><p>Während sich die Gesundheitskrise aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus immer mehr in eine tiefe soziale Krise verwandelt, wird uns klar, dass – sobald diese Notlage vorbei ist – viele Dinge nicht mehr so funktionieren können wie bisher.<br/> Der Abbau des Gesundheitssystems – vorangetrieben durch die in den letzten zwei Jahrzehnte durchgeboxten Spar- und Privatisierungmaßnahmen – hat dazu geführt, dass die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen heute ohne Spenden von Privatpersonen und ohne den freiwilligen Einsatz von Tausenden von Gesundheitsarbeiter*innen nicht funktionieren und die Notlage, in der wir uns befinden, nicht bewältigen können.</p><p>Aufgrund des Angriffs auf die Rechte und die Gesundheit der Arbeiter*innen und aufgrund des Primats der Unternehmen, unter allen Umständen produzieren zu müssen, sind es die Arbeiter*innen, die den Preis dieser Krise bezahlen – und das ist nicht selten ihr Leben. In dieser Notsituation hat der Mangel an individuellen Schutzdispositiven (<i>dispositivi di protezione individuale</i>) und Sicherheitsmaßnahmen die Ausbreitung des Virus an den Arbeitsplätzen beschleunigt und zu Toten geführt (Briefträger*innen, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen des öffentlichen Verkehrs, Supermarktkassierer*innen, Logistikarbeiter*innen, Arbeiter*innen in Call Center) – Tote, die zu den mehr als 1.200 Arbeitstoten hinzukommen, die Italien jedes Jahr auch in Zeiten der „Normalität“ zählt.</p><p>Dass nichts so sein kann, wie es bisher war, zeigen auch die Hunderttausenden von Migrant*innen und Geflüchteten, deren Rechte in den letzten Jahrzehnten zu Krümeln reduziert wurden; die Migrationspolitik hat Bürger*innen zweiter und gar dritter Klasse hervorgebracht. Die <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">offiziellen Daten</a> sprechen eine klare Sprache: In Italien leben heute schätzungsweise 611.000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung; eine Zahl, die seit der Einführung der Sicherheitsverordnungen des ehemaligen Innenministers und Lega-Chefs Matteo Salvini stark gestiegen ist. Heute treten diese Probleme mehr denn je an die Oberfläche, es ist Zeit zu handeln.</p><h2><b>Die Lebensmittelversorgung: Ohne migrantische Arbeiter*innen wird nicht gegessen</b></h2><p><a href="https://www.ilsole24ore.com/art/acquisti-gdo-rialzo-27percento-terza-settimana-quaratena-ma-si-teme-il-periodo-pasquale-ADXICxH">Nach Angaben</a> der Zeitung des Unternehmensverbandes <i>Confindustria, Il Sole 24 Ore</i>, erleben die Supermärkte derzeit einen Anstieg der Inlandsnachfrage von 20 Prozent, wobei auch die Nachfrage aus dem Ausland im selben Ausmaß zunimmt. Doch während die großen Einzelhandelsunternehmen inmitten der gesundheitlichen Notlage und der ökonomischen Krise ihre Gewinne steigern, zahlen die rund 350.000 Landarbeiter*innen den Preis dafür; <a href="https://mediciperidirittiumani.org/medu/wp-content/uploads/2019/10/rap_ottobre_medu_2019_web.pdf">nach Angaben</a> von <i>Ärzt*innen für Menschenrechte</i> arbeitet weniger als die Hälfte der Landarbeiter*innen mit einem regulären Arbeitsvertrag.</p><p>Die migrantischen Landarbeiter*innen – die sogenannten <i>braccianti</i> – lebten und arbeiteten schon vor der aktuellen Corona-Krise unter prekären Verhältnissen. Ihre Lage ist determiniert von einer Gesetzgebung, die den arbeitenden Migrant*innen keinen automatischen Zugang zur Aufenthaltsbewilligung und somit zu den nationalen Sozial- und Gesundheitsdiensten gewährt. Ihre papierlose Existenz hat sich nun jedoch aus mindestens zwei Gründen weiter prekarisiert:</p><ol><li>Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit verunmöglicht es ihnen, in die Regionen Italiens zu reisen, in denen die frühjährliche Obst- und Gemüseernte beginnt (in Apulien für Tomaten, im Piemont für Äpfel usw.);<br/></li><li>In den verschiedenen Zeltlagern entlang der Felder (Arbeitsorte) herrschen Unterbringungsbedingungen, die es ihnen nicht erlaubt, sich vor einer Covid-Ansteckung zu schützen: kein fließendes Wasser, infrastrukturelle Unmöglichkeit, sichere Abstände einzuhalten, und so weiter.</li></ol><h2><b>Care-Arbeiter*innen: Von einem Tag auf den anderen arbeits- und obdachlos</b></h2><p>Ähnliche Probleme haben die Care-Arbeiter*innen, die sich täglich um die Hausarbeiten und um die älteren Menschen unserer Gesellschaft kümmern. Die Alterung der Gesellschaft und die Entscheidung des Staates, die Last der Pflege, die die älteren Menschen benötigen, nach dem Diktat der liberalen Ideologie auf die Familien und nicht auf den öffentlichen Wohlfahrtsstaat zu verlagern, haben zur Bildung einer Armee von Care-Arbeiter*innen geführt: Nach den <a href="https://associazionedomina.it/wp-content/uploads/2020/02/Inps_lavoro-domestico_giugno2019.pdf">jüngsten Daten</a> gibt es etwa rund zwei Millionen Care-Arbeiter*innen, von denen weniger als die Hälfte (etwa 865.000) einen regulären Arbeitsvertrag besitzen und die große Mehrheit Frauen aus Osteuropa sind.</p><p>Die Blockade des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und die Angst vor der Verbreitung des Virus unter den älteren Menschen hat zur sofortigen Entlassung der Care-Arbeiter*innen geführt. Während die letzte Verordnung der Regierung einen sozialen Mindestschutz für einige reguläre Care-Arbeiter*innen vorsieht, wurden irreguläre Arbeiter*innen nicht nur von der Maßnahme ausgeschlossen, sie verloren auch von einem Tag auf den anderen Job und Unterkunftsmöglichkeiten.</p><h2><b>Eine globalisierte Wirtschaft: die Bedeutung der finanziellen Unterstützung ins Heimatland</b></h2><p>Die Auswirkungen dieser sozialen Krise beschränken sich nicht nur auf das tägliche Leben der Arbeiter*innen in Italien, sondern betreffen auch die Herkunftsländer der Migrant*innen. <a href="https://www.bancaditalia.it/statistiche/tematiche/rapporti-estero/rimesse-immigrati/">Nach Angaben</a> der italienischen Nationalbank <i>Banca d'Italia</i> belaufen sich die Geldüberweisungen der in Italien lebenden Migrant*innen an ihre Familien im Herkunftsland auf über sechs Milliarden Euro jährlich; in einigen Fällen können diese Beträge bis zu 35 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts der Länder ausmachen.<br/> Es ist kein Zufall, dass die ersten Zielländer dieser Überweisungen die Herkunftsländer derjenigen Migrant*innen sind, die Obst und Gemüse auf den Feldern sammeln und sich um die Hausarbeit und um die älteren Menschen kümmern: China, Bangladesch, Rumänien, Philippinen, Pakistan, Senegal, Marokko, Sri Lanka.</p><p>Die Schwierigkeiten, die die Wirtschaften und Familien in den Ländern des Südens bereits heute haben, werden sich somit verschärfen. Die Verlangsamung und sogar die völlige Schließung ganzer Wirtschaftszweige, in denen Migrant*innen einen wichtigen Teil der Arbeitskräfte ausmachen, wird direkte Auswirkungen auf die andere Seite der Welt haben. Dies beweist uns einerseits die unvermeidliche Vernetzung der globalisierten Wirtschaft, führt jedoch andererseits auch zu mehr Hunger und Armut im globalen Süden.</p><h2><b>Leben in den Asylcamps und Rückführungen</b></h2><p>Ebenso problematisch ist die gesundheitliche und soziale <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">Situation der offiziellen Asylsuchenden</a>. Heute befinden sich etwa 95.000 Geflüchtete in den Asylcamps und 50.000 warten auf den Asylentscheid. Die kollektiven Unterbringungsbedingungen in den Asylcamps entsprechen in den meisten Fällen nicht den Vorgaben der Regierung, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen: Kollektive Schlafräume von bis zu zehn Personen, infrastrukturelle Unmöglichkeit, positiv getestete Personen zu isolieren, unzureichende Wasser- und Sanitäranlagen.</p><p>Und obwohl die Europäische Union den freien Personenverkehr mit der Schließung der jeweiligen Landesgrenzen vorübergehend ausgesetzt hat, bleibt das System der Rückführungen in die Länder des Südens vorerst unberührt. Unter der aktuellen Regierung von Premierminister Giuseppe Conte werden monatlich 600 Rückführungen durchführt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, warnte die Mitgliedstaaten, <a href="https://www.agensir.it/quotidiano/2020/3/26/coronavirus-covid-19-consiglio-deuropa-migranti-e-rimpatri-richiesti-interventi-demergenza/">Rückführungen zu stoppen</a> und für die betroffenen Migrant*innen wegen des fehlenden Gesundheitsschutzes in den Abschiebungscamps eine Lösung zu finden. Bisher hat sich die italienische Regierung jedoch nicht um diese Problematik gekümmert.</p><h2><b>Kollektive Regularisierung jetzt!</b></h2><p>Die gesundheitliche und soziale Notlage, in der wir heute leben, erfordert wichtige politische Maßnahmen für Migrant*innen und Geflüchtete. Bisher wurden sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die Sicherung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, sondern auch um den Schutz der kollektiven Gesundheit. Deshalb fordern wir von der Politik:</p><p>1. Die kollektive Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten, die heute ohne Aufenthaltsbewilligung auf italienischem Territorium leben und arbeiten; diese soll durch ein vereinfachtes und außerordentliches Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltspapiere auf kommunaler Ebene erfolgen;</p><p>2. Außerordentliche sozialstaatliche Geldleistungen für alle migrantischen Arbeiter*innen (unabhängig vom rechtlichen Status), die aufgrund des Covid-19-Notstands ihre Arbeit verloren haben;</p><p>3. Die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit (freier Zugang zu ärztlichen Untersuchungen, Covid-Tests und medizinischen Behandlung) und Schutzmaßnahmen für migrantische Arbeiter*innen und Geflüchtete, die bei der Arbeit und in den Asylcamps am stärksten der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind;</p><p>4. Die Gewährleistung des Rechts auf Wohnung durch die Bereitstellung von Unterkünften, die aufgrund des Rückgangs des Tourismus leer stehen, von staatseigenem Eigentum und von leeren Häusern für Obdachlose und Migrant*innen, die bisher dazu verdammt sind, in überfüllten Zeltlagern und Asylcamps zu leben.</p><p>Die Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten ist die einzige Möglichkeit, heute die kollektive Gesundheit und morgen die Grundrechte aller Menschen zu garantieren.</p><p></p><hr/><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Dieser Text ist auf italienisch</i> <a href="https://poterealpopolo.org/e-tempo-di-diritti-regolarizzazione-ora/"><i>hier</i></a><i> erschienen. Übersetzung von der re:volt Redaktion.</i></p></div>
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Das Geschäft mit der Flucht2019-11-06T13:05:50.283311+00:002019-11-06T13:13:51.737258+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/das-gesch%C3%A4ft-mit-der-flucht/
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<div class="rich-text"><p></p><p><i>Auch in diesem Jahr sind wir als Medienpartner*innen an einem Broschürenprojekt aus Berlin beteiligt. In der zum 30. Jahr des „Mauerfalls“ erscheinenden Broschüre</i> <a href="https://antifa-nordost.org/8948/broschuere-veranstaltungsreihe-deutschland-ist-brandstifter/">„Deutschland ist Brandstifter! Gegen den BRD-Imperialismus und den Mythos Friedliche Revolution“</a> <i>steuern wir als re:volt magazine unter anderem den nachfolgenden Text zu BRD-Imperialismus und Migrationspolitik bei. Release der Broschüre ist am Donnerstag, den 7. November 2019 um 19:30 Uhr im Zielona Góra (Grünberger Straße 73 / Friedrichshain).</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Carola Rackete, Pia Klemp, Claus-Peter Reisch – die Namen einiger Kapitän_innen, deren Boote und Crewmitglieder in den letzten Jahren zehntausende Menschen auf dem Mittelmeer versorgten, kennt hierzulande fast jeder_r. Gegen sie wurden, zumeist seitens des italienischen Staats, Verfahren wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ eingeleitet. Neben einer – leider zu erwartenden – Wand an Hass und Drohungen von rechts erhalten die Angeklagten aber auch vielfältige politische und finanzielle Unterstützung. Im ganzen Diskurs um Fluchthilfe bleibt allerdings oft eines unbeachtet: Migrant_innen aus nicht-EU-Ländern sind nicht nur Opfer der europäischen Migrationspolitik, sondern werden auch als Fluchthelfer_innen massiv kriminalisiert. Während bislang kaum europäische Angeklagte rechtskräftig verurteilt wurden, werden wöchentlich Gerichtsprozesse gegen Personen aus anderen Ländern geführt, die wegen Schmuggel angeklagt sind. Diese werden zu Höchststrafen verurteilt. Die Organisation Border Monitoring hat im Frühsommer 2019 <a href="https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2019/07/15/the-war-against-smuggling-incarcerating-the-marginalized/?preview=true&_thumbnail_id=1454">Zahlen</a> zu den Verfahren auf der griechischen Insel Lesbos veröffentlicht. Anhand der Beobachtung von 41 Prozessen kommen sie zu folgenden Ergebnissen: Ein Gerichtsverfahren dauert im Durchschnitt 28 Minuten, die durchschnittliche Verurteilung beträgt 44 Jahre Gefängnis und über 370 000 Euro Strafe.</p><p>Die Organisation berichtet etwa von Jamil, der aus Afghanistan flüchtete. Er wurde zu 90 Jahren Haft verurteilt, von denen er 25 Jahre absitzen soll. Hinzu kommt eine Strafzahlung von 13 000 Euro. Jamil wurde festgenommen, weil er ein Boot mit Flüchtenden in Richtung Lesbos lenkte. Um die Überfahrt für seine Frau und ihn überhaupt bezahlen zu können, hatte er die Anfrage der Schmuggler angenommen, während der Überfahrt hinter der Pinne zu stehen – nicht wissend, dass dies eine Straftat darstellt. Während seine Frau zwischenzeitlich in Deutschland ist, wurde sein Gerichtsappeal erneut abgewiesen. Rûnbîr Serkepkanî von der Organisation CPT-Lesvos <a href="https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2019/07/15/the-war-against-smuggling-incarcerating-the-marginalized/?preview=true&_thumbnail_id=1454">beschreibt</a>: „Die meisten von ihnen sind arm, sie sind Studenten, sie sind Migranten, die es sich nicht leisten konnten, die Reise zu den Ägäischen Inseln zu bezahlen.“ Verurteilt werden – wie Jamil – zumeist diejenigen, die sich bereit erklärt haben (oder per Zwang dazu gebracht wurden), die Lenkpinne der Schlauchboote zu halten. Für manche Anklagen genügt es aber auch, diejenigen zu sein, die per Telefon Hilfe rufen, wenn das Boot kentert. Das eigentlich Perfide an diesen drakonischen Schauprozessen ist aber, dass dadurch die Menschen, die zumeist aus Zwang migrieren, als Bedrohung für Europa und seine Mitgliedstaaten inszeniert werden. Und dass die Agenturen und Konzerne, die sich die Abwehr der Flüchtenden und den Grenzschutz auf die Fahne geschrieben haben, von diesem Narrativ massiv profitieren.</p><p></p><h3><b>Im bundesdeutschen Laboratorium perfektioniert</b></h3><p>Menschen migrieren - schon immer. Wanderungsbewegungen sind ein zentraler Bestandteil der menschlichen Geschichte. Ein Beispiel: Zwischen 1850 und 1920 emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa. Das entsprach ungefähr 17 Prozent der Bevölkerung Europas im Jahre 1900. Einige Menschen wählten die Landroute, ließen sich im asiatischen Teil des damaligen russischen Zarenreichs nieder. Der Großteil bewegte sich allerdings in Richtung Nordamerika, viele davon aus prekären ökonomischen Gründen oder aufgrund von Verfolgung. Es waren also vielfach die Armen, die Überflüssiggemachten der kapitalistischen Industrialisierung in dieser Zeit, die den Weg über Land oder Meer antraten. „Würden heute anteilig so viele Menschen des Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären das 800 (!) Millionen Menschen“, fasst ein Artikel im re:volt magazine <a href="https://revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-humanismus-zur-linken-migrationsdebatte/">pointiert zusammen</a>. Während heutzutage kurz- oder mittelfristige Wanderungsbewegungen privilegierter Migrant_innen (damit sind Menschen gemeint, die <a href="https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/atlasofmigration2019_web_190614__1_.pdf">ohne VISA-Anträge</a> in die allermeisten Länder reisen können, etwa deutsche Staatsbürger_innen) als selbstverständlich wahrgenommen und vielfach begrüßt werden, wird gleichzeitig versucht, Migration aus anderen Teilen der Welt als „irregulär“ oder „gefährlich“ darzustellen und mit großem Aufwand zu verhindern. Die Regierungen und Bündnisse, die diese Unterscheidung betreiben, verfolgen damit offensichtlich spezifische Eigeninteressen. Darunter fällt die Bestrebung nach Einfluss darauf, wer das Recht hat, zu migrieren – oder passender: wer an welcher Stelle des Planeten von größtmöglichem ökonomischem oder strategischem Nutzen ist.</p><p>Der Blick auf die erweiterten Migrationsgründe von Menschen, die fast immer von Krieg, Konflikten, Überausbeutung und Gewalt, existenzieller Armut, Perspektivlosigkeit, Umweltzerstörung und so weiter geprägt sind, fällt dabei unter den Tisch. Nach Zahlen des UNHCR befinden sich derzeit rund 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht, davon über 40 Millionen Binnenvertriebene (die im Land selbst migrieren), und über 25 Millionen Personen, die sich über Staatsgrenzen hinweg bewegen. 80 Prozent der Refugees bleiben in den unmittelbaren Nachbarländern, nur wenige Prozent begeben sich überhaupt auf die Reise nach Europa. Es ist offensichtlich: Migrationsbewegungen haben in den vergangenen Jahren aufgrund der Kriege und Krisen in Syrien, im Irak, in Mali, in Libyen, in Afghanistan etc. zugenommen. Krisen und Konflikte im Übrigen, die oft genug durch die imperialistische Konkurrenz und das Wettrennen um Märkte und Handelsrouten befeuert wurden. Dass Menschen dennoch der Vorwurf gemacht wird, aus „wirtschaftlichen“ Gründen zu fliehen, müsste schon allein von dieser Warte aus völlig absurd erscheinen: Millionen superausgebeutete Arbeiter_innen des globalen Südens, die für westliche Großkonzerne ihre Gesundheit ruinieren; die Unmöglichkeit, mit den Produktivitätsvorteilen und den Subventionsketten der westlichen Länder konkurrieren zu können, das immer weiter intensivierte Landgrabbing großer Konzerne aus den imperialistischen Zentren und so weiter: die allermeisten Gründe, ein Land zu verlassen und nach besseren Lebensbedingungen Ausschau zu halten, sind also im Kern des imperialistischen Weltsystems zu finden.</p><p>Dass die Menschen, die migrieren, kaum Möglichkeiten haben, die erhofften besseren Perspektiven zu finden – daran haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, allen voran Deutschland, in den vergangenen Jahrzehnten einen wichtigen Anteil geleistet. Es gelang vor allem auf der Ebene der Normalisierung und Implementierung des restriktiven Migrationsmanagements in den kapitalistischen Zentren. Oftmals fungierte die Bundesrepublik als Laboratorium für Pläne, die gemeinsam in den europäischen Kommissionen diskutiert und weiterentwickelt wurden. So wurde in der BRD etwa zu Beginn der 1990er Jahre der „Asylkompromiss“ – ein Gesetzespaket mit Grundgesetzänderung zur Verschärfung von Asylbedingungen – verabschiedet. Das Paket etablierte die Drittstaatenklausel und ebnete den Weg für die bald darauffolgenden gesamteuropäischen Dublin-Regelungen zur weiteren Einschränkung der Bewegungsfreiheit von nichteuropäischen Migrant_innen. Dublin-Abkommen und Co. sorgten infolge dafür, dass die meisten Flüchtenden in Außengrenzen-Staaten wie Griechenland und Italien bleiben mussten. Seitdem die Migrationszahlen in der BRD wieder steigen, mischt die Bundesregierung ganz vorne bei der EU-weiten Grenz- und Migrationspolitik mit; auch, was die ideologischen Grenzziehungen zwischen einem „Europa der Werte“ und dem „Dort“, dem „Jenseits der Grenze“ angeht.</p><p></p><h3><b>Schutz der Außengrenzen</b></h3><p>An den Außengrenzen errichtet Europa, unter kräftigem Antrieb von Deutschland, immer schwerer überwindbare Sperrzäune und Grenzanlagen. Dass Menschen am Betreten anderer Länder gehindert werden dürfen, darüber besteht völkerrechtlich Einigkeit. Gewichtige Gründe für Flucht und Migration bügeln die dafür Verantwortlichen, wie 2013 der ehemalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), <a href="https://daserste.ndr.de/panorama/Wie-aus-Menschenrettern-Kriminelle-werden-,syrien481.html">in einem Interview</a> weg: „Wir haben Gesetze, die klipp und klar sagen, dass diejenigen, die kein Recht haben, keinen Anspruch, hierherzukommen, auch nicht hierherkommen dürfen.“ Wenig verwunderlich: Die Menschen versuchen es dennoch. Von Westafrika aus mit kleinen Booten zu den kanarischen Inseln, über die meterhohen Zäune rund um die spanischen Enklaven Mellila und Ceuta, durch die kalten Wälder der Balkanroute, über das Mittelmeer in Richtung Italien oder hin zu den griechischen Inseln - welcher Teil der europäischen Außengrenzen von Fliehenden und mit, neben, hinter ihnen von ihren hochgerüsteten Häschern besonders Beachtung findet, ist starken Konjunkturen unterworfen. Vor allem hängt es daran, wieviel Geld die EU wie schnell in die Hand nimmt, um die Bewegung flächendeckend zurückzudrängen. War die mittlere Mittelmeerroute noch bis zum Zerfall Libyens recht wenig genutzt, nahm sie nach 2013 rasch Fahrt auf: Das Schmuggel-Geschäft mit Migrant_innen war für libysche Milizen lange Zeit eine der wichtigsten Einnahmequellen, tausende Menschen wurden so über das Meer gelotst. Im Sommer 2017 änderte sich die Strategie, in die auch die libysche Regierung eingebunden war. Beigetrage dazu haben Druck durch die EU und UN-Sanktionen. Vor allem aber die lukrativen Angebote: Aus dem EU-Hilfsfond wurden beispielsweise im Jahr 2017 <a href="https://ec.europa.eu/germany/news/eu-hilfsfonds-f%C3%BCr-afrika-46-millionen-euro-f%C3%BCr-den-grenzschutz-libyen_de">46 Millionen Euro</a> an Tripolis weitergereicht – direkt zum Ausbau des Grenzschutzes. Weitere millionenschwere Abkommen folgen. Zwei Jahre später wird die Route von Tripolis aus kaum mehr genutzt, die Schmuggler haben sich auf weiter entfernte und gefährlichere Startpunkte verlagert. Die Kooperation mit der libyschen Küstenwache hat zudem <a href="https://www.globaldetentionproject.org/countries/africa/libya">zur Internierung</a> zehntausender geflüchteter Menschen in Lagern geführt, in denen sie Missbrauch, Folter und Ausbeutung erfahren. Die Menschenrechtsanwälte Omer Shatz und Juan Branco schätzen die Zahl auf diese Weise internierter Personen allein für die Jahre 2016 bis 2018 auf mehr als 40.000. Diese Entwicklung hat die Bundesregierung auch mit der Absage an Seerettungs-Programme wie „Mare Nostrum“ und der Unterstützung der libyschen Küstenwache forciert. In voller Kenntnis der mörderischen Folgen.</p><p>Das durch ein unabhängiges Journalist_innenkollektiv ins Leben gerufene Projekt <i>The Migrants‘ Files</i> fand vor wenigen Jahren medial große Beachtung: Es veröffentlichte die bisher umfassendste Studie zur Anzahl von Todesfällen und Vermisstenmeldungen von Migrant_innen auf dem Weg nach Europa. Die detaillierte Datenbank zählt über 30 000 Einträge und umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis Mitte 2016. Innerhalb weniger Jahre starben also über 30 000 Migrant_innen bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen oder dort zu bleiben. Leider wurde das wichtige Projekt danach nicht weiterfinanziert, weshalb es für alle weiteren Jahre nur unvollständige Daten gibt. Der Liste können also nochmals tausende Menschen hinzugerechnet werden, die bis heute den Tod fanden. Die Toten sind keiner „Schlepperbande“ und keinem „tragischen Unglück“ geschuldet, sondern Resultate einer bewusst gestalteten Politik.</p><p>Der maritime Raum zwischen Griechenland und der Türkei wird ebenfalls stark überwacht. Hier setzen in den letzten Jahren zahlreiche Menschen über, viele davon aus Syrien. Seit dem als „EU-Türkei-Deal“ bekanntgewordenen Abkommen, welches vor allem von Angela Merkel und ihrem damaligen Gesprächspartner Ahmet Davutoğlu eingetütet wurde, gingen die Ankunftszahlen fast vollständig zurück. Teil des millionenschweren Deals war die Vereinbarung, dass die Türkei ein Kontingent der bereits auf Lesbos angekommenen Refugees wieder zurücknehmen solle; im Gegenzug dürfe dieselbe Anzahl handselektierter Asylantragssteller_innen aus der Türkei in die EU einreisen. Es gleicht seitdem einem Schmierentheater, dass sich EU und Türkei immer wieder <a href="https://www.zeit.de/politik/2019-09/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-fluechtlinge-migranten-europa">wechselseitig den Deal aufkündigen wollen</a>. Er ist ein öffentlichkeitswirksamer Pappkamerad, der beiden Seiten nützt. Für die Partien ist und bleibt diese Partnerschaft gewinnbringend – die Drohgebärden sind Ablenkungsmanöver, die die jeweils kritische oder liberale Öffentlichkeit besänftigen sollen. Ein interner Bericht der EU-Kommission, <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/fluechtlingspolitik-abschiebungen-griechenland-eu-kommission-tuerkei">der jüngst öffentlich wurde</a>, fordert indes eine radikalere Abschiebung von Menschen aus den griechischen Lagern in die Türkei.</p><p></p><h3><b>Tote vor den Toren</b></h3><p>Noch tödlicher als die Mittelmeer-Route ist die Sahara. Es ist kaum zu ermitteln, wie viele Menschen genau auf ihrem Weg durch die Wüste jährlich ums Leben kommen, sie werden auch nicht in der Studie erfasst. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass es mindestens doppelt so viele sind wie im Mittelmeer – sie schätzt die Anzahl der in der Wüste verstorbenen auf über 30 000, <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/alarmphone-sahara-wie-private-retter-versuchen-migranten-aus-der-todeszone-zu-holen-a-1282608.html">alleine in den Jahren 2014 bis 2018</a>. Die Subsahara kam in den letzten Jahren ebenfalls zunehmend in den Blick der EU-Grenzschützer – mit verheerenden Folgen für die Flüchtenden.</p><p>Dass das EU-Projekt kein explizit demokratisches, sondern vielmehr ein auf ökonomischen und geostrategischen Interessen basierendes Projekt ist, dürfte klar sein. Ihm ist die Externalisierung der Grenzen von Anfang eingeschrieben. Bei den europäischen Bestrebungen, Grenzsicherung und Migrationsmanagement in Drittstaaten zu verlagern, geht Deutschland als Brandstifter voran. „Wir übernehmen Verantwortung in der Welt, und das mit einem vernetzten Handlungsansatz: Außenpolitik, Sicherheit und Entwicklung. (…) Entwicklungspolitik hat in der heutigen Zeit einen vollkommen neuen Stellenwert bekommen“, so <a href="https://www.kas.de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/fluchtursachenbekaempfung-in-subsahara-afrika">Bundesentwicklungsminister Müller</a> im vergangenen Jahr im Bundestag. In der afrikanischen Sahelzone soll weiterhin Einfluss auf die „illegale Migration“ nach Europa genommen werden. Dazu verstärkte Deutschland etwa seinen 2013 begonnenen militärischen Einsatz in Westafrika und sagte den beteiligten Staaten weitere Mittel zu.</p><p>Auch das Geld der EU fließt dorthin, wo die Migrationsbewegungen am effektivsten gestoppt werden können. 3000 Millionen Euro wurden im Jahr 2016 für solcherlei Projekte (Aufstockungen der Grenzpatrouillen, Kontrolle der Einreisewege, Verschärfung von Überwachungen und so weiter) bereitgestellt, so viel wie niemals zuvor. Für die Vergabe zentral: die Bereitschaft der Länder, als willfährige Türsteher Europas im repressiven Migrationsregime zu fungieren. Einen großen Anteil erhielten die für Migrationsbewegungen zentralen Länder wie Libyen (126 Millionen) und Senegal (162 Millionen), aber auch Niger (167 Millionen), Mali (152 Millionen) oder der Sudan (106 Millionen). Die EU nutzt die militärische, politische und ökonomische Abhängigkeit der Länder dazu, um Mitarbeit bei der Migrationskontrolle zu erzwingen.</p><p>Ein Beispiel der vielen Programme, unter denen dies geschieht: Das „Better Migration Management Programme Phase II“ des European Emercgency Trust Fund (EUTF) stellt seit Mitte 2019 für die Region rund um das Horn von Afrika <a href="https://ec.europa.eu/trustfundforafrica/region/horn-africa/regional/better-migration-management-programme-phase-ii_en">Gelder</a> in Höhe von 35 Millionen Euro (wieder kommen fünf Millionen davon direkt aus der BRD) bereit – ein Großteil davon dient der Verhinderung von irregulärer Migration in Richtung globaler Norden. Diese Summen sind nur einige kurze Einblicke in das Kontrollregime, welches – im Namen von Entwicklungszusammenarbeit und Marshallplänen für Afrika – den gesamen Kontinent zu überziehen sucht.</p><p>Ein Blick auf den <a href="https://migration-control.taz.de/#de/countries/sudan">Sudan</a>: Die Lage hier ist seit Jahren höchst instabil. Menschen fliehen von dort aus guten Gründen, gleichzeitig ist das Land Transitland für Fliehende aus Eritrea, dem Südsudan oder Somalia. Die jüngst beschlossene Entwicklungshilfe über 28 Millionen Euro (davon alleine 26 Millionen direkt aus Deutschland) soll natürlich die Infrastrukturen vor Ort stärken - man bemühe sich, den desaströsen Bedingungen in den Refugee-Camps Herr zu werden. Aber: Es geht vielmehr um den Verkauf von Sicherheitstechnologie und nicht zuletzt auch ganz offen um die Bekämpfung von „irregulärer Migration“. Dazu werden auch Soldaten und Sicherheitsbeamte in die Regionen geschickt, um den polizeilichen Strukturen vor Ort „effektive Grenzkontrollen“ beizubringen.</p><p>In Tunesien bilden deutsche Bundespolizist_innen Grenzpatrouillen aus, die Bundeswehr sendet Schnellboote und gepanzerte Lastwagen. 2017 lieferte Deutschland mobile Überwachungssysteme mit Bodenaufklärung, zuvor waren es schon Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, optische Sensoren und Radarvorrichtungen <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html">von</a><a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html"> Airbu</a><a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html">s</a>. Bezahlt wird die Hightech-Grenze von der deutschen Bundesregierung (im Jahr 2017 etwa 34 Millionen Euro). Im Dezember 2016 beschloss das deutsche Bundeskabinett, sich an der EU-Mission SAHEL-CAP („zur Bekämpfung von Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel“) im Niger zu beteiligen. Seither werden jährlich (Bundes)Polizist_innen nach Niger geschickt – dem wichtigsten Transitland für afrikanische Flüchtende auf dem Weg nach Europa. Ziel ist der „Aufbau und Erhalt von Sicherheitsstrukturen“ sowie der Ausbau von <a href="https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2019/bundespolizei-bericht2018.pdf?__blob=publicationFile&v=2">„Kapazitäten im Grenz- und Migrationsmanagement“</a>. Das Interpol-Projekt <a href="https://migration-control.taz.de/#de/countries/deutschland"><i>Adwenpa II</i></a> wurde ebenfalls von der Bundesregierung finanziert. Von 2016 bis 2018 wurden dabei in 14 westafrikanischen Staaten Grenzkontrolleur_innen ausgebildet. Interpol schulte in Mali, Marokko, Mauretanien, Niger, Tunesien, Burkina Faso und Tschad – finanziert von Deutschland. Neun Hightech-Grenzstationen zwischen Niger und Nigeria gab es gleich mit dazu. Davon bezahlte das Auswärtige Amt drei, die Europäische Union die übrigen sechs. In vielen afrikanischen Ländern wie Mali wurden Grenzübertritte massiv erschwert, ebenfalls auf „Bitte“ der EU.</p><p>Allerdings: Die Pläne der EU, in afrikanischen Ländern Lager zu errichten, in denen Migrant_innen noch vor dem Erreichen europäischen Bodens geprüft (und abgewiesen) werden sollen, scheiterten bislang. Nicht zuletzt, weil sich die Afrikanische Union (AU) dagegen wehrt, wie aus einem Papier von Februar 2019 hervorgeht: Darin wendet sie sich gegen die Pläne der EU, auf afrikanischem Boden „De-facto-Haftanstalten“ einzurichten, in denen die Rechte der Inhaftierten <a href="https://www.theguardian.com/world/2019/feb/24/african-union-seeks-to-kill-eu-plan-to-process-migrants-in-africa">mit Füßen getreten werden</a>.</p><p></p><h3><b>Neue und gestärkte Bündnisse</b></h3><p>370 Mitarbeiter_innen und ein Jahresbudget von 142 Millionen Euro, so sahen die Bedingungen für die „Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex) vor vier Jahren aus, zu dem Zeitpunkt, an dem die genannte Studie entstand. Heute sind es 1.500 Mitarbeitende und 330 Millionen Euro Budget, im Jahr 2020 soll es sogar 420 Millionen Euro betragen. Getragen wird Frontex von den Ländern der EU sowie Norwegen, Island, Liechtenstein und der Schweiz. Für den kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (Er trägt den vielversprechenden Namen „Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt“ – oder wird einfach mit MFR abgekürzt) schlug die Europäische Kommission im Herbst 2018 vor, für ein aktualisiertes Mandat von Frontex eine ständige Reserve von 10 000 Grenzschutzbeamten zu schaffen.</p><p>Auch die Mittel für den zentralen Bereich Migration und Grenzmanagement sollen mit 34,9 Milliarden Euro <a href="https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/02/20/european-border-and-coast-guard-council-agrees-negotiating-position/">beinahe verdreifach</a>t werden (gegenüber knapp 13 Milliarden Euro im laufenden Zeitraum 2014-2020). Dies solle dazu dienen, „gezielt auf die zunehmenden Herausforderungen in den Bereichen Migration, Mobilität und Sicherheit zu reagieren […] und eine wirksamere Migrationspolitik [zu] ermöglichen.“ Hier werden gestärkte Mandate für Frontex im Bereich der „wirksamen Rückführung“ und der Zusammenarbeit mit Drittländern genannt. Im Februar 2019 einigten sich die EU-Botschafter_innen, den Vorschlag als Grundlage für die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament aufzunehmen.</p><p>Wichtige Entscheidungen für die Arbeit von Frontex werden im Übrigen im Verwaltungsrat der Agentur getroffen. Die stellvertretende Leitung hat Ralf Göbel inne, ein früherer Vizepräsident des Bundespolizeipräsidiums. Auch der Leiter der Frontex-Operativabteilung Klaus Rösler ist Deutscher. Im August 2019 konfrontierte ein Rechercheteam Frontex damit, an den EU-Außengrenzen Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzpolizist_innen zugelassen zu haben oder gar <a href="https://correctiv.org/top-stories/2019/08/04/frontex-transparenz/">selbst daran beteiligt gewesen zu sein</a>. Man prüfe den Vorwurf, heißt es von Seiten der EU-Kommission. Im gleichen Atemzug wird aber seitens der Agentur der Vorwurf „kategorisch“ ausgeschlossen, die eigenen Beamten seien im Grenzeinsatz an „Verletzungen von Grundrechten“ beteiligt. Es habe sich über die Frontex-Beschwerdestellen schließlich keine_r diesbezüglich gemeldet.</p><p>Bezüglich einer neuen EU-Militärunion wird nicht zuletzt die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten immer zentraler, die Anfang 2018 <a href="https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/pesco_factsheet_05-03-2018.pdf">an den Start ging</a>. Faktisch kann die PESCO als eine von Deutschland und Frankreich dominierte Reorganisation der EU-Militärpolitik angesehen werden, die durch eine Aufstockung der Verteidigungshaushalte der teilnehmenden Staaten sowie eine Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte finanziert wird.<a href="http://www.lisbon-treaty.org/wcm/the-lisbon-treaty/treaty-on-european-union-and-comments/title-5-general-provisions-on-the-unions-external-action-and-specific-provisions/chapter-2-specific-provisions-on-the-common-foreign-and-security-policy/section-2-provisions-on-the-common-security-and-defence-policy/133-article-46.html"> Der Vertrag von Lissabon</a> mit seinen Artikeln für militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik macht es möglich. <a href="https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/europa-muss-handlungsfaehig-sein-1141498">Angela Merkel dazu</a>: „Nun sehe ich die Themen Grenzsicherung, gemeinsame Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen als wirkliche Existenzfragen für Europa. […] Das heißt, die europäische Grenzpolizei muss das Recht haben, an den Außengrenzen eigenständig zu agieren. […] Wir brauchen einen intelligenten Ansatz auf mehreren Ebenen. Unsere Datensysteme müssen in ganz Europa vernetzt werden, damit wir wissen, wer sich bei uns aufhält.“ Migrationspolitik wird zu Grenzpolitik und zu einer treibenden Kraft der europäischen Identität, powered by Germany.</p><p>Die Absicherung der eigenen Interessenspolitik, auch auf militärischem Wege, ist ein bewährtes Mittel, welches dem Imperialismus inhärent ist, ebenso wie der Rückgriff auf territorial ausgreifende Krisenbewältigungsstrategien. Dies dient nicht den vorgeblich moralisch-ethischen Begründungsmustern, sondern grundsätzlich immer der Absicherung von Verwertungsbedingungen, der Expansion, der Unterjochung.</p><p></p><h3><b>And the money goes to…</b></h3><p>Das bereits genannte Journalist_innenkollektiv lancierte im Übrigen noch ein weiteres Recherche-Projekt: <a href="http://www.themigrantsfiles.com/#/the-money-trails"><i>The Money Trails</i></a><i>.</i> Darin zeichnete das Team Geldströme nach, welche bei dem Geschäft mit Geflüchteten durch öffentliche und private Hände fließen. Es hat monatelang Dokumente analysiert und mit zahlreichen Vetreter_innen von Politik, NGOs und Privatunternehmen, aber auch mit Geflüchteten, „Schleppern“ und Grenzbeamten gesprochen. Das Ziel: „Manche der ökonomischen Profiteure der Abschottungspolitik Europas aufzudecken.“ Die Recherchen zeigen: Das Geschäft mit den Geflüchteten nach Europa generierte seit dem Jahr 2000 mindestens 1,6 Milliarden Euro Umsatz. Davon ging ein Großteil an organisierte „Schlepper“-Netzwerke, die damit Profite erzielen wollen; aber auch an Einzelpersonen, denen es konkret um Hilfestellung ging. Interessant ist aber auch die andere Seite: Zeitgleich wandte die Europäische Union <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge">mindestens genauso viel Geld auf</a>, um die Menschen von den EU-Außengrenzen fernzuhalten: „für jeden Euro, den ein Flüchtling ausgibt, um nach Europa zu gelangen, (geben) die Behörden Europas einen Euro aus (…), um ihn davon abzuhalten“. Von den Maßnahmen der restriktiven Migrationspolitik profitieren Konzerne wie Rheinmetall, Airbus, Finmeccanica und Thales oder Technologiefirmen wie Saab, Siemens oder Diehl. Oft tauchen sie als Tochterunternehmen in den Unterlagen auf. Sie stellen für die „Grenzschützer“ Equipment wie Drohnen, Schnellboote, Nachtsichtgeräte und Jeeps bereit. weitere hunderte Millionen Euro fließen in Projekte der Sicherheitsforschung und -Entwicklung. Und es sollen künftig Milliarden werden: Im März 2019 hat die EU-Kommission einen gestärkten „Europäischen Verteidigungsfonds“ bewilligt, dessen <a href="https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:c2bc7dbd-4fc3-11e8-be1d-01aa75ed71a1.0021.02/DOC_1&format=PDF">Zielsetzung</a> „darin bestehen wird, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie unionsweit zu fördern, indem gemeinsame Projekte vom Forschungsstadium über alle weiteren Phasen des industriellen Zyklus unterstützt werden.“ Direktes Geld für die Rüstungsindustrie also – und zwar laut MFR 2021-2017 rund 5,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damit die weltweiten Mordbanden aber nicht zu lange auf ihre Hightech-Gadgets warten müssen, wird in den kommenden beiden Jahren der Verteidigungsfonds schonmal mit „Vorläufern“ getestet, mit rund <a href="https://ec.europa.eu/germany/news/20190319-verteidigungsfonds-auf-kurs_de">einer halben Milliarde</a> Euro für die Entwicklung der Eurodrohne und vielem mehr.</p><p>Auch die Universitäten und Forschungseinrichtungen freuen sich. Eine Reihe von Forschungsprojekten widmen sich nun schon jahrelang unterschiedlichen Aspekten der Flüchtlingsabwehr. Auf die EU-Forschungsagenda kamen sie auf Empfehlung einer Arbeitsgruppe, die die EU-Kommission 2003 startete. 39 der Forschungsprojekte, die zwischen 2002 und 2013 von der EU oder der europäischen Weltraumagentur ESA gefördert wurden, hatten mit Migration, Grenzschutz oder -überwachung zu tun. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren neben Parlamentarier_innen und EU-Kommissar_innen auch Waffenproduzenten. Gerne werden die Projekte als zivile Grundlagenforschung ausgeben, wie etwa an der Uni Bremen. Die Liste der wehrtechnischen Auftraggeber in der Geschichte der „zivilen“ Forschung dort ist lang: vertreten ist Rheinmetall, aber auch Astrium (später Airbus Defense and Space) oder das US-Außenministerium. Selbst das Bildungsministerium fördert „zivile“ Forschungsprojekte mit Rüstungsunternehmen, wie 2017 herauskam: EADS, ThyssenKrupp und weitere erhielten in den Jahren 2015-2017 13 Millionen Euro aus dem Bildungsbudget.</p><p>Die erwähnte Vernetzung von Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik ist indes längst schon Realität. Es ist kein Zufall, dass der ehemalige Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), Mitglied des Bundessicherheitsrats, nach dem Ausscheiden seiner Partei aus dem Bundestag als Cheflobbiyst bei der Rheinmetall AG einstieg. Die Rheinmetall AG ist nicht nur irgendein Rüstungskonzern - er ist Europas Größter und der drittgrößte weltweit. Im Geschäftsjahr 2018 setzte der Konzern rund 6,1 Milliarden Euro um. Die Geschäftsentwicklung des Unternehmensbereichs <i>Defence</i>, so wird auf der Webseite des Konzerns stolz berichtet, zeige sich „zunehmend geprägt von der deutlich gestiegenen Nachfrage im militärischen Sektor und von Rheinmetalls erfolgreicher Positionierung in wichtigen Märkten rund um den Globus.“ Der Rüstungskonzern stellt unter anderem Kettenfahrzeuge, Panzer (auch den Leopard II), Waffen und Munition her und ist – ganz zufällig – auch im High-Tech-Zäune-Business und in der Grenzsicherungstechnologie sehr gewichtig aufgestellt. 2017 schon recherchierten Taz-Mitarbeitende und weitere Journalist_innen für das Rechercheprojekt <i>Schengen für Europa, Zäune für Afrika</i>. Daraus wird ersichtlich: EU-Gelder aus dem Entwicklungshilfe-Fond finanzieren vor allem Projekte von deutschen und europäischen Rüstungskonzernen. Ganz vorne dabei ist die Rheinmetall AG. Andere deutsche Firmen wie Veridos, das Gemeinschaftsunternehmen der Bundesdruckerei und der IT-Firma Giesecke + Devrient, die auf Biometrie, Kontrollschleusen und „Identifikationslösungen“ spezialisiert sind, haben in den letzten drei Jahren Aufträge in Milliardenhöhe erhalten. Lösungen der Migrations-„Problematik“ von Marokko bis Südafrika. Meist ohne Ausschreibung und ohne parlamentarische Kontrolle.</p><p></p><h3><b>Der Fluchthelfer von Nebenan</b></h3><p>Am „Tag des Peacekeepers“ am 6. Juni 2019 wurde unter anderem die „zivile Fachkraft“ Kerstin Bartsch durch Außenminister Heiko Maas ausgezeichnet. Seit Oktober 2017 schult die Juristin in der nigrischen Stadt Agadez die dortigen Repressionskräfte im Umgang mit „irregulären Migranten“. Ihre Definition von „Grenzkontrollmanagement“ und dementsprechend auch ihre Haltung gegenüber Menschen auf der Flucht macht Bartsch in einem <a href="https://www.nw.de/lokal/kreis_lippe/oerlinghausen/22474595_Hohe-Ehre-fuer-Kerstin-Bartsch.html">Interview</a> deutlich: „Der Menschenschmuggel ist ein krimineller Akt gegen die Souveränität eines Landes. Menschen ohne Legitimation werden von Schmugglern gegen Geld über Grenzen gebracht – und das passiert heute in großem Rahmen.“ Terroristische Bedrohungen, Migrationsdruck, Bevölkerungsdichte – Auch EU-Kommission, FRONTEX und Innenminister_innen werden nicht müde, davon zu sprechen, dass die Eindämmung kriminellen Menschenhandels eine Notwendigkeit sei, um Leben zu retten und Menschen zu schützen. Einen Atemzug weiter sind sie bei der Fluchthilfe angelangt, als sei es dasselbe Thema.</p><p>Um es ganz deutlich zu sagen: Menschenhandel und Schmuggel können sich zwar in einigen Fällen überschneiden, tatsächlich handelt es sich jedoch um zwei völlig unterschiedliche Themen. Menschenhandel ist ein erzwungener Transfer von Menschen, der mit Entführung, Ausbeutung und moderner Sklaverei verbunden ist, während Menschenschmuggel, also Fluchthilfe, eine Reaktion auf die restriktive Grenzpolitik darstellt, die den Flüchtenden das legale Überschreiten von Grenzen zu ihren eigenen Bedingungen unmöglich macht. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung gibt es keine sicheren Passagen und keine legale Möglichkeit, in ein EU-Land einzureisen, Asyl zu suchen oder gar ein Arbeitsvisum zu erhalten. Die Menschen sind gezwungen, sich auf illegalisierte, oftmals tödliche Wege zu begeben und haben kaum eine andere Wahl, als die Dienste von Vermittlern in Anspruch zu nehmen, die in vielen Fällen zu teuer und zu riskant sind. Die Zerstörung von Schmuggelnetzen rettet keine Leben, sondern geht auf Kosten der Sicherheit derjenigen, die man damit vorgeblich schützen will. Damit ist Deutschland nicht nur Brandstifter, sondern auch Mörder. Während Politiker_innen und Medien die „kriminellen Schleuser“ für das Leiden und Sterben an den Grenzen Europas verantwortlich machen, lenkt dies die Aufmerksamkeit von der Tatsache ab, dass der Schmuggel eine Reaktion auf die Militarisierung der Grenzkontrollen ist und nicht die Ursache irregulärer Migration.</p><p>Aktuell werden allerorts der „Mauerfall“ und die „Deutsche Einheit“ beschworen - die DDR darf dabei entweder als glücklicherweise überwundener Unrechtsstaat oder als Petrischale der erstarkenden rechten, faschistischen Kräfte im Land herhalten. Jene, die daran beteiligt waren, Menschen über die deutsch-deutsche Grenze zu bringen, gelten bis heute als Held_innen ohne Wenn und Aber. Fluchthelfer_in – das war etwas Ehrenvolles. Sie wurden, wie 2012 im Falle Burkhart Veigels, für das „Engagement für die Freiheit“ mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - während Menschen wie Jamil für Jahre ins Gefängnis müssen. „Fluchthelfer“ Veigel hat damals mit seiner Arbeit Geld verdient – bis zu 18.000 DM –, sogar Verträge dafür aufgesetzt. In einem <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge"><i>Das Erste</i></a> <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge"><i>Panorama</i></a><a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge">-Bericht</a> begründet er: „Es kommt darauf an, dass man seinen Job gut macht. Ein guter Arzt, ein guter Rechtsanwalt nimmt auch Geld von Menschen, die in Not sind.“ Er kritisiert, dass heute Fluchthelfer_innen durchweg als „Schlepper“ und „Schleuser“ verfolgt und kriminalisiert werden: „Es ist doch eine ehrenvolle Sache, einem Menschen in Not zu helfen. Da kann mich doch kein Gesetz daran hindern!“ Die Bundesregierung sieht das zwischenzeitlich anders. Sie stört sich nicht an dem Widerspruch zwischen der Kriminalisierung illegal Eingewanderter sowie ihrer „Schlepperbanden“ und der Glorifizierung von Fluchthelfer_innen in den 1960er und 1970er Jahren. Woher das kommt? Der Antikommunismus hat die Veigels der Welt zu Held_innen gemacht. Jede_r erfolgreich „den Roten“ entrissene war ein kleiner Sieg über das sozialistische System. Heute gibt es diese ideologische Klammer für Deutschland und die Europäische Union nicht mehr. Im Gegenteil: Fluchthilfe heute fordert die neoliberale Ordnung der Ungleichheit heraus, sie verschafft Schlupflöcher in einem globalen System, in dem Grenzen den klaren Zweck erfüllen, die Profiteure und Verursacher der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse vor den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) abzuschotten.</p><p>„Diese Union tötet; sie tötet durch Unterlassen, durch unterlassene Hilfeleistung.“ So kommentierte Heribert Prantl 2015 die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du-sollst-nicht-toeten-1.2439653">in der</a> <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du-sollst-nicht-toeten-1.2439653"><i>Süddeutschen Zeitung</i></a>. Bei aller Zustimmung macht es sich Prantl mit dieser Einschätzung zu leicht: Die EU tötet nicht nur durch „Unterlassen“ an den Grenzen. Sie tut weit mehr als das. Und sie profitiert von den Toten. Sie sorgt dafür, dass Geschäfte mit Geflüchteten und Fluchtgründen nicht weniger werden. Aus den Ländern, in denen EU-Mitgliedsstaaten Kriege führen oder an Einsätzen beteiligt sind, sind die meisten Menschen auf der Flucht. Auch die unerbittliche Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen der Länder des globalen Südens ist ein wesentlicher Grund für Flucht und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Die EU macht es sich zu leicht, den Schleusern Schuld an allem Elend an den Grenzen zu geben. Sie als die Gewinner dieser tödlichen Flüchtlingsmaschinerie zu begreifen, heißt, willentlich zu übersehen, wer die eigentlichen Profiteure des Elends sind.</p></div>
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Ein Jahr rechtskonservative Regierung in Italien – es braucht Linke Antworten!2019-01-25T13:21:36.476955+00:002019-01-25T13:28:10.968340+00:00Maja Tschumiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-jahr-rechtskonservative-regierung-in-italien-es-braucht-linke-antworten/
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<h1>Ein Jahr rechtskonservative Regierung in Italien – es braucht Linke Antworten!</h1>
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<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p><i>Ende November 2018 erließ die rechtskonservative Regierung Italiens ein Sicherheitsgesetz, das die Asylpolitik des südeuropäischen Landes umpflügte. Mit unerbittlicher Härte geht der neue Innenminister Matteo Salvini gegen Migrant*innen vor. Er schließt Häfen, schafft den humanitären Flüchtlingsstatus ab und schränkt die Aufenthaltsrechte ein. Europa soll bewiesen werden, dass Italien nicht mehr bereit ist, seine Rolle als Erstaufnahmeland im unausgewogenen Dublin-Abkommen zu übernehmen. Und die Migrant*innen zahlen den Preis dieser rassistischen Politik.</i></p><p><i>Für viele Arbeiter*innen war das Wahlversprechen eines Grundeinkommens des heute amtierenden Arbeitsministers Luigi Di Maio (Movimento Cinque Stelle, MS5) eine große Hoffnung. Er sicherte sich mit diesem Versprechen vor allem die Stimmen im armen Süden Italiens. Vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung und einem Budgetstreit mit der EU wird schnell klar, dass Di Maio sein Versprechen nicht halten kann und sich schon der nächste Angriff auf die Arbeitsbedingungen abzeichnet.</i></p><p><i>In dieser Gemengelage ist eine linke Opposition und die Verteidigung basaler Rechte der Migrant*innen und Arbeiter*innen unabdingbar. Doch auf parteipolitischer Ebene ist die Linke tot. Der Partito Democratico (PD) hat unter Matteo Renzis neoliberaler Agenda seine Glaubwürdigkeit bei der arbeitenden und jungen Bevölkerung seit langem verloren. Und weiter Links ist alles zersplittert. Deshalb war es in den letzten Wahlen der M5S, auf den die unteren Klassen setzten. Nach einem Jahr Koalitionsregierung von MS5 und LEGA ist aber auch diese Hoffnung enttäuscht. In dieser Wüste setzen einige auf die Bürgermeister aus Neapel, Palermo, Florenz und anderen Städten, die ihre oppositionelle Haltung gegen die Politik der Zentralregierung kundtun. Doch ihnen sind in vielen wichtigen Entscheidungen politisch und juristisch die Hände gebunden und ihre Opposition bleibt daher ein Lippenbekenntnis. Es sind vor allem die Basisbewegungen in den Städten, die für Veränderung kämpfen. Italien braucht eine neue Linke, das ist klar.</i></p><p><i>Bei den Wahlen am 4. März 2018 tauchte die neue kommunistische Bewegung Potere al Popolo (PaP) auf. Trotz magerem Wahlresultat ist sie unterdessen zu einer nationalen Bewegung angewachsen. Vor einem Jahr hat unsere Autorin Maja Tschumi mit dem Aktivisten Maurizio aus Neapel</i> <a href="https://revoltmag.org/articles/eine-radikale-linke-muss-im-sozialen-verankert-sein/"><i>über PaP gesprochen</i></a><i>.</i></p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Was ist unterdessen passiert? Wie sind die aktuellen politischen Verhältnisse in Italien aus linker und marxistischer Perspektive einzuschätzen und wie positioniert sich darin – strategisch und politisch – Potere al Popolo?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Das neue Sicherheitsdekret hat in Italien das Asylrecht stark angegriffen. Bisher gab es drei Wege für eine Person, in Italien Asyl zu beantragen: 1. der internationale Schutz, 2. der subsidiäre Schutz welcher dann vergeben wird, wenn zwar die persönlichen Verfolgungskriterien nach der Genfer Konvention nicht bestehen, jedoch dem*der Asylsuchenden im Herkunftsland ein schwerer Schaden drohen würde, und 3. der humanitäre Schutz. Der humanitäre Schutz wurde jenen gewährt, die zwar nicht beweisen konnten, dass sie persönlich verfolgt wurden, eine Rückführung in ihr Herkunftsland aber wegen Unzumutbarkeit der dortigen Lage oder eines fehlenden Rückführungsvertrages zwischen Italien und dem Herkunftsland unmöglich ist. Diesen humanitären Flüchtlingsstatus hat das neue Sicherheitsgesetz abgeschafft. Folglich werden rund 40'000 Geflüchtete diesen Status verlieren, und damit auch das Recht, in Notunterkünften zu wohnen und ihren Aufenthalt zu verlängern. Kurzum: sie werden obdachlos und illegalisiert.</p><p>Dem neuen Sicherheitsgesetz zufolge kann sich eine geflüchtete Person nur noch dann beim Einwohnermeldeamt einschreiben und also Residenz beantragen, wenn sie in einer Auffangstruktur lebt, den sogenannten SPRAR (Servizi Protezione Richiedenti Asilo e Rifugiati, deutsch: Dienste Schutz von Asylsuchenden und Geflüchtete) oder CAS (Centri di Accoglienza Straordinaria, deutsch: Zentren der außerordentlichen Zuflucht). Das schränkt den Bewegungsradius und den Handlungsspielraum dieser Menschen massiv ein.</p><p>Das Sicherheitsgesetz von Salvini betrifft aber nicht nur Migrant*innen, sondern auch die Rechte der italienischen Bevölkerung. So werden zum Beispiel Straßenblockaden im Rahmen politischer Demonstrationen künftig mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. Besetzungen von Häusern zu Wohnzwecken werden kriminalisiert.</p><p>Im Kontext der Schließung der Häfen für Flüchtlingsschiffe haben sich verschiedene Bürgermeister Italiens dem Sicherheitsgesetz politisch entgegengestellt und versuchen über gerichtliche Urteile das Gesetz auszuhebeln. Es sei verfassungswidrig und verstoße gegen die Menschenrechte. So zum Beispiel der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando vom PD und der Bürgermeister De Magistris von Neapel.</p><p>Das sind die Gründe, warum in linken Kreisen im Ausland das Bild der „rebellischen Bürgermeistern“ aufkommt, und dass die neue Opposition gegen die Zentralregierung also vor allem aus den Kommunen komme.</p><p>Natürlich sind die Bürgermeister auf diskursiver Ebene ein wichtiger Gegenpol zur rassistischen Rhetorik Salvinis. Doch Basisaktivist*innen in den jeweiligen Städten kämpfen schon seit Jahren gegen den politischen Unwillen der kommunalen Verwaltungen, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrant*innen und Geflüchteten zu verbessern. De Magistris aus Neapel hat schon zwei Mal mit der Ankündigung reagiert, den Hafen von Neapel für die Aquarius und die Sea Watch zu öffnen, doch konkret passierte nie etwas. Warum? Einerseits unterstehen die Häfen dem nationalen Infrastrukturministerium. Andererseits ist die Infrastruktur der Stadt heute nicht in der Lage, Geflüchtete aufzunehmen und ihnen eine Perspektive zu geben. De Magistris könnte allerdings mit einer einfachen kommunalen Weisung die Schwierigkeiten im Einwohnermeldeamt lösen, wo Migrant*innen immer noch diskriminierend behandelt werden und oft keine Residenz erhalten. Doch seine Politik hinkt auch hier weit hinterher. Die Glorifizierung des munizipalistischen Ansatzes der „rebellischen Bürgermeister“ macht deshalb meiner Meinung nach politisch wenig Sinn. Wichtiger ist es, die zivilgesellschaftliche Aktivierung, die eine solche Rhetorik tatsächlich ermöglicht, zu organisieren und gleichzeitig mit einer Kontrolle von unten die Missstände der kommunalen Politik und ihre Umsetzung in den öffentlichen Ämtern anzuprangern. Denn nach wie vor sind es in erster Linie die Basisbewegungen in den Städten, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Geflüchteten und Obdachlosen kämpfen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Kann man die Politik des Bürgermeisters Mimmo Lucano in Riace, der für seine Flüchtlingspolitik von der italienischen Regierung unter Hausarrest gestellt wurde, nicht als positives Beispiel verstehen?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In der Tat ist Riace ein Beispiel, dass die Möglichkeit einer anderen Migrations- und Zufluchtspolitik aufzeigt. Riace verfolgt allerdings ein Projekt in puncto Migrationspolitik, das bereits in den 90er Jahren entstanden ist. Mimmo Lucano ist ein Genosse, der seit Jahrzehnten die Flüchtlingspolitik anders prägte. Es begann mit der Aufnahme kurdischer Flüchtlinge. Aber auch die Politik Lucanos muss man in einem größeren Kontext verstehen. In vielen Dörfern Süditaliens gibt es praktisch keine Arbeit mehr und die Jungen wandern in den Norden des Landes aus. Viele Dörfer sind regelrecht vom Aussterben bedroht – so auch Riace. Diese andere Zuwanderungspolitik war und ist auch ein Weg, das Dorf wiederzubeleben. Das betrifft nicht nur eine andere Migrations- und Zufluchtspolitik, sondern auch die Frage der solidarischen Ökonomie. So hat Mimmo Lucano beispielsweise die lokale Müllabfuhr an eine lokale Kooperative vergeben – weit weg von krimineller Infiltration und multinationalen Interessen. Dafür wurde er dann auch gerichtlich verurteilt und kann zurzeit nicht in Riace leben. Es ist natürlich klar, dass es sich hier um einen Angriff auf das Modell Riace handelt.</p><p>In einem Interview hat Mimmo Lucano auch die Grenzen seiner Rebellion unterstrichen und ist in einer politischen Perspektive viel weitsichtiger als die meisten „rebellischen Bürgermeister“ und ihre Anhänger*innen. <a href="https://www.linkiesta.it/it/article/2019/01/07/mimmo-lucano-salvini-migranti-sea-watch-sea-eye-riace-sindaci-ribelli/40639/?fbclid=IwAR2dwcgE5gfFINv4icAjKfWAN3Tzfl1Xs2QrZAe5VKXLgo5Cc5T_R6Csel4">So äußerte Mimmo</a> unter anderem: „Die Unmenschlichkeit gewinnt immer mehr die Oberhand und Salvini ist nur die Spitze des Eisbergs einer abdriftenden Gesellschaft. Die rebellischen Bürgermeister repräsentieren einen Moment des Stolzes derjenigen, die sich weigern, Komplizen zu sein. Es reicht jedoch nicht, sich auf die Konfrontation zu beschränken: Wir müssen eine politische und soziale Opposition schaffen und uns nicht nur darauf beschränken, zu sagen, dass wir nicht einverstanden sind.“</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Potere al Popolo (PaP) ist ja gerade eine Organisation verschiedener Basisbewegungen, die in Neapel und anderen Städten Italiens aktiv sind. Am 4. März 2018 beteiligte sich PaP an den nationalen Wahlen. Wie hat sich die Bewegung seit dem März 2018 entwickelt? Was ist eure Antwort auf das Vakuum der Linken und die autoritäre Politik in Italien?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Nach dem 4. März dauerte es rund zwei Monate, bis die Regierung gebildet werden konnte. Sie war ein Kompromiss zwischen Di Maio (MS5, stärkste Partei) und Salvini (Lega, zweitstärkste Kraft). Meiner Meinung nach handelte es sich von Anfang an um einen wackligen Kompromiss: Die M5S war die Partei mit dem besten Wahlergebnis, doch Salvini und die Lega waren die tatsächlichen Gewinner, da sie von Beginn an den Takt vorgeben. Die anfängliche Dominanz des MS5 wurde durch eine zunehmende Dominanz der Lega und ihrem Aushängeschild, dem jetzigen Innenminister Salvini, abgelöst, der vor allem in Sachen Sicherheits- und Migrationspolitik die Stimmung anheizt. Die M5S wirkt dagegen wie ein Fähnchen im Wind und passt sich letztendlich sehr oft den Bedürfnissen der Lega an.</p><p>Das hat auch Konflikte innerhalb der M5S verstärkt, unter deren Banner auch „Linke“ organisiert sind und gewählt wurden. Tatsächlich hatten sich einige Parlamentarier*innen der M5S gegen das neue Sicherheitsgesetz aufgelehnt. Doch sie haben die parteiinterne Auseinandersetzung verloren und konnten nichts bewirken. Als dann aber nach langem Ringen im italienischen Parlament und auch zwischen der italienischen Regierung und der Europäischen Union Ende 2018 das Haushaltsbudget verabschiedet wurde, stellten sich erneut einige Parlamentarier*innen der M5S quer und stimmten dagegen. Fünf Senator*innen wurden aus dem MS5 ausgeschlossen und die Regierung hat im Senat nur noch eine knappe Mehrheit.</p><p>Die italienische Regierung ist also weit weniger stabil als sie nach außen den Eindruck vermitteln will. Es ist unklar, ob sie weitere vier Jahre durchhält.</p><p>Auch wenn PaP bei den nationalen Wahlen 2018 nur 1,1 Prozent geholt hat, ist dies in Anbetracht der jungen Existenz und des neuen Charakters von PaP ein zufriedenstellendes Resultat. PaP zeichnet sich durch einen doppelten Charakter aus. Das Projekt basiert auf den zahlreichen mutualistischen Solidarstrukturen in den italienischen Städten, in den Quartieren und Provinzen. Gleichzeitig versucht PaP ihr politischer Ausdruck und ihre politische Organisation auf nationaler Ebene zu sein. Eine Bewegung mit diesem Doppelcharakter aufzubauen ist eine große Herausforderung, aber in unseren Augen zurzeit die einzige Möglichkeit, in Italien eine legitime linke Alternative mit Klassencharakter aufzubauen. Das braucht Zeit, das braucht eine gute Verankerung in den Regionen, Gemeinden und Kommunen Italiens. Kurzum: es braucht eine stetige und langfristige Basisarbeit, eine „langsame Ungeduld“ wie das der verstorbene französische Philosoph und Kommunist Daniel Bensaïd bezeichnete.</p><p>Nachdem wir es am 4. März 2018 nicht ins Parlament geschafft haben – die Einstiegshürde liegt bei 3 Prozent – konzentrierten wir uns auf die Stärkung der territorialen Strukturen und auf den Aufbau einer handlungsfähigen politischen Organisation. Es gab es innerhalb von PaP zwei verschiedene Haltungen unserer „historischen Aufgabe“.</p><p>Auf der einen Seite gab es jene Kräfte, die PaP als Plattform oder Netzwerk ohne eigene Autonomie, sondern als Summe der bestehenden Organisationen (Ex Opg/Clash City Workers, Rete dei Comunisti/Eurostop, Rifondazione Comunista und Sinistra anticapitalista) verstanden. Dieser Position (Rifondazione Comunista, Sinistra Anticapitalista) zufolge sollten politische Entscheide weiterhin in den Organisationen diskutiert und unter dem Schirm von PaP zu einem Kompromiss gebracht werden. PaP dient ihnen zufolge als neues Sozialforum in der Tradition der globalisierungskritischen Bewegung.</p><p>Auf der anderen Seite gab es jene Kräfte (Ex Opg/Clash City Workers, Rete dei Communisti/Eurostop), die sich darauf beriefen, dass PaP vor allem durch den Aufruf von Basisaktivist*innen entstanden ist, die bis dahin kein „politisches zu Hause“ hatten, weil sie sich nicht in der alten linken Politik und den alten linken Parteien Italiens wiedererkennen konnten. Diese Position versteht PaP als breites Netzwerk von Basisaktivist*innen und Basisbewegungen, die in einer Organisation zusammenkommen. Es geht ihnen darum, ein eigenes neues politisches Projekt aufzubauen mit eigenen politischen Strukturen und eigenen Entscheidungsgremien.</p><p>Infolge dieses Konflikts kam es zum Austritt von Rifondazione Comunista und Sinistra Anticapitalista. Dieser Austritt ist politisch nicht einfach zu verarbeiten, hat PaP meiner Meinung nach aber in Sachen politischer Klarheit auch gestärkt.</p><p>Seit gut drei Monaten haben wir nun eine nationale Koordination von 80 Personen, 60 davon sind Repräsentant*innen der territorialen Versammlungen und 20 sind Aktivist*innen, die PaP von Anfang an mitgeprägt haben. Die nationale Koordination trifft sich einmal pro Monat und diskutiert grundsätzliche politische Themen, Kampagnen und Mobilisierungen. Die Diskussionen werden dann in die territorialen Versammlungen zurückgetragen. Über zentrale Entscheidungen wird schließlich auf einer digitalen Plattform abgestimmt, zu der alle Mitglieder von PaP Zugang haben. Trotz einer gewissen Zentralisierung der Organisation behalten die territorialen Versammlungen viel politische Entscheidungsmacht.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Worin liegt die gewonnene politische Klarheit?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In den letzten 30 Jahren wechselten sich Mitte-Rechts und Mitte-Links-Regierungen ab und lieferten sich einen „Wettstreit“, wer die schwerwiegenderen, neoliberalen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter*innen umsetzen konnte. Heute ist das Wort „sinistra“ (links) in Italien derart ausgehöhlt, dass man sich nicht mehr darauf berufen kann, ohne in die gleiche Ecke gedrängt zu werden wie der Partito Democratico (PD), der historisch aus der Kommunistischen Partei Italiens gewachsen ist. Wir wollen gerade nicht die Scherben einer ehemaligen Linken zusammenkehren. Wir wollen eine politische Kraft sein, die sich entschieden gegen die herrschende Politik stellt und wieder eine kommunistische Gesellschaftsperspektive eröffnet. Dafür müssen wir auch das historische Versagen der Linken betonen und auf diese Bezeichnung verzichten.</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Ihr macht also wieder unter dem Begriff „ Kommunismus“ Politik.</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Natürlich ist im Jahre 2019 auch dieser Begriff nicht unproblematisch, wenn er nicht kontextualisiert und genau definiert wird. Wir sind gezwungen, einen ideologischen Kampf zu führen und dem Begriff einen klaren Inhalt zu geben: Kampf gegen soziale Ungleichheit, für eine menschliche Migrationspolitik, für die Stärkung der Rechte der Arbeiter*innen etc. Wenn es also darum geht sich zu positionieren, bezeichnen wir uns auf jeden Fall viel eher als Kommunist*innen, denn als Linke. Offen gesagt arbeiten wir aber auch mit diesem Begriff wenig nach außen hin. Wir versuchen uns eher auf unsere Basisaktivitäten zu konzentrieren und das ins Zentrum zu rücken, was wir täglich in unserer sozialen und politischen Arbeit tun.</p><h3></h3><p><b>Maja [re:volt]: Was sind heute die zentralen politischen Themen von PaP?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Ausgehend von unserer alltäglichen Arbeit in den Regionen würde ich zusammenfassend drei Themen in den Vordergrund stellen.</p><p>Erstens die Umverteilung des Reichtums. Italien zeichnet sich durch eine unglaublich große Ungleichheit aus. Das gilt sowohl in Bezug auf soziale Klassen, als auch geografisch zwischen dem Norden und dem Süden. Umverteilungspolitik bedeutet in diesem Kontext z.B. eine progressivere Besteuerung von Kapitaleinkommen einzuführen, aber gleichzeitig auch Investitionen für den Ausbau sozialer Dienste, Infrastrukturen und ökologischen Industrien im Süden.</p><p>Zweitens die Stärkung der Arbeit und der Arbeiter*innenrechte. Seit Mitte der 80er Jahre hat die Arbeiter*innenklasse und ihre Organisationen fast tatenlos der Deregulierung der Arbeit zugesehen, z.B. bei der Einführung des Jobs Act, d.h. der Flexibilisierung der Anstellungsbedingungen. Neben den Forderungen, die in den von uns unterstützten einzelnen Arbeitskämpfen formuliert werden – z.B. Kampf gegen die Externalisierung von öffentlichen Jobs, die Einschränkung der befristeten Arbeit, etc. – ist in unseren Augen folgende Forderung zentral: Weniger Arbeit für jeden Einzelnen, dafür sichere Arbeit für alle. Das scheint uns die einzig realistische Maßnahme zu sein gegen die Arbeitslosigkeit der Jugend, gegen die weit verbreitete Prekarität und Irregularität der Arbeit und gegen die stetige Erhöhung des Rentenalters.</p><p>Drittens setzen wir uns für eine solidarische und menschliche Migrations- und Zufluchtspolitik ein. Das bedeutet neben Fürsorge, die migrantischen Arbeiter*innen als Teil der Klasse zu verstehen und sich mit ihnen zu organisieren. Immigration und Emigration muss in Italien zusammen gedacht werden. Denn gerade der Süden Italiens erlebt eine massive Auswanderung von jungen Arbeiter*innen. In den letzten 15 Jahren haben zwei Millionen Menschen den Süden des Landes verlassen. Das sind durchschnittliche Zahlen, welche sogar diejenigen der großen Auswanderungswellen der Nachkriegszeit übertreffen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Du sprichst von Umverteilungspolitik. Inwiefern folgt ihr dabei einer kommunistischen – und nicht vielmehr reformistischen – Agenda? Denn eine Umverteilungspolitik zielt ja nicht in erster Linie auf die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ab.</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzuschaffen ist ganz klar unser Ziel. Doch auf den Tag X zu warten scheint uns politisch wenig interessant und noch weniger realistisch. Wenn wir zum Beispiel einen Streik mit der Forderung begleiten, dass wir die Produktionsverhältnisse abschaffen wollen, dann klingt das zwar ganz nett, geht aber kaum auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Streikenden ein. Es braucht Zwischenschritte, also eine Art Minimalprogramm, welches rund um die großen sozialen und politischen Themen entwickelt wird. Sowohl für die Arbeiter*innenbewegung wie auch für eine politische Organisation wie PaP ist es fundamental, „kleinere“ Kämpfe zu kämpfen, um überhaupt wieder die Perspektive zu erreichen, die Produktionsverhältnisse umstoßen zu können.</p><p>Ganz in der Tradition von Rosa Luxemburg würde ich behaupten, dass beide Kämpfe notwendig sind. Mit dem Kampf um demokratische Rechte und mit ihrer Ausübung können die Arbeiter*innen zum Bewusstsein ihrer Klasseninteressen kommen. Wir kommen nicht schrittweise, Reform für Reform, zur Revolution. Vielmehr sind diese Kämpfe und Kampagnen für uns die Möglichkeit von materiellen Verbesserungen für die Arbeiter*innen im Hier und Jetzt. Darüber hinaus sind sie ein Übungsfeld hinsichtlich Solidarität mit den Kämpfenden, Untersuchung zur Lage des sozialen und politischen Subjekts, Organisierung der Arbeiter*innen und Massen. Erst wenn wir Kämpfe kämpfen und gewinnen, wird eine revolutionäre Perspektive allgemein wieder erkennbar.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Wie schätzt ihr die aktuellen Arbeitspolitik von Di Maio ein und was ist eure Antwort darauf?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]</b>: Der Arbeitsminister Di Maio stammt selbst aus der Region um Neapel, und zwar aus Pomigliano d’Arco, einer ehemaligen Fiat-Hochburg. In den 80er und 90er Jahren erlebte Süditalien, das der Industrialisierung im Norden bereits hinterherhinkte, eine massive Deindustrialisierung. Wichtige Fabriken wurden abgebaut – Fiat auf Sizilien, Italsider im neapolitanischen Bagnoli, zahlreiche kleinere Produktionsstätten etc. Bis heute stagniert im Süden die ökonomische Entwicklung, obwohl in vielen Gebieten die Industrie durch Dienstleistungsbetriebe ersetzt worden ist. Doch in Call Centern beispielsweise ist die Arbeitsproduktivität niedriger und somit die Ausbeutung der Arbeitskraft größer. Tatsächlich herrschen dort haarsträubende Arbeitsbedingungen: unbefristete Verträge à gogo, extrem tiefe Löhne, teilweise 600 Euro für eine Vollzeitstelle, lange Arbeitszeiten.</p><p>Di Maio und mit ihm die MS5 haben die politische Hegemonie vor allem in Süditalien aufgebaut, unter anderem mit dem Versprechen eines Grundeinkommens (reddito di cittadinanza). Während des Wahlkampfs hieß das noch: jede*r Bürger*in erhält 780 Euro im Monat, unabhängig, ob er*sie arbeitet oder nicht. In Italien leben rund 1,8 Millionen arme Familien, das sind über 5 Millionen Menschen. Nach den Wahlen wurde schnell klar, dass dieses Versprechen mit dem gegebenen Haushaltsbudget nicht umsetzbar ist. Der Streit um das Haushaltsbudget und das Austeritäts-Diktat der Europäischen Union kam verschärfend hinzu. Das dafür versprochene Budget ist viel zu klein. Außerdem fehlt die Infrastruktur, d.h. die Arbeitsämter sind technologisch unterversorgt und personell unterbesetzt. Das führte zu zahlreichen Anpassungen, die die Idee eines Grundeinkommens pervertierten. Das <b>„</b>Grundeinkommen“, wie es schlussendlich gesetzlich verankert wurde, ist nun eine Finanzierung von privaten Unternehmen, da diese bei Anstellung einer arbeitslosen Person bis zu 18 Monaten in den Genuss von Steuererleichterung kommen. Es ist eine Art workfare Armenhilfe, weil es in das System der Sozialhilfe (reddito d'inclusione) integriert wird und die Armutsbetroffenen zwingt, jegliche Arbeit anzunehmen. Schließlich ist es diskriminierend gegenüber Migrant*innen, da sie erst nach 10 Jahren regulärem Aufenthalt eine Anfrage für das „Grundeinkommen“ einreichen können. Das ist eine Politik fürs Kapital, nicht für die Arbeiter*innen.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Ein großes Problem im Süden ist auch die Schwarzarbeit. Gerade in der Landwirtschaft hören wir ja immer wieder von den sklavenartigen Arbeitsbedingungen für Migrant*innen...</b></p><p><b>Maurizio[PaP]:</b> Man muss differenzieren. In den urbanen Zentren und Städten sind es vor allem junge, gut ausgebildete italienische Arbeiter*innen in der Gastronomie und im Tourismus, die von Schwarzarbeit betroffen sind. Migrantischen Arbeiter*innen findet man eher im Bereich der privaten Hausarbeit (Arbeiter*innen aus Osteuropa, Bangladesch, Sri Lanka) und der Landwirtschaft (Arbeiter*innen aus Schwarzafrika). Schwarzarbeit ist in Italien also nicht ein spezifisch migrantisches Problem, sie betrifft alle Proletarisierten. Doch auf dem ausdifferenzierten und segregierten Arbeitsmarkt gibt es kaum Begegnungsmomente zwischen italienischen und migrantischen Arbeiter*innen im Produktionsprozess selbst – besonders im Süden. Für die Erarbeitung einer neuen solidarischen und antirassistischen Klassenpolitik und die Verbindung verschiedener Kämpfe ist das eine hohe Hürde. Wir sind überzeugt, dass es neue gewerkschaftliche Strukturen braucht, die nicht nur betrieblich, sondern territorial organisiert sind. Als politischen Organisation müssen wir Kämpfe verbinden und Orte schaffen, an denen sich Schwarzarbeiter aus verschiedenen Sektoren treffen und organisieren können.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Ist das nicht eben klassischerweise die Aufgabe von Gewerkschaften?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> In Italien haben die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL, wie fast überall in Europa, an Legitimität verloren. Die verbleibenden Mitglieder sind mehrheitlich Rentner*innen. Das entspricht zwar dem Bild einer alternden Gesellschaft in Italien, es zeigt aber auch die Unfähigkeit der traditionellen Gewerkschaften, auf die aktuellen Probleme der Arbeiter*innen eine Antwort zu geben. In den letzten zehn Jahren sind daher die Basisgewerkschaften, wie beispielsweise die S.I. Cobas im Logistiksektor Norditaliens und die Unione sindacale di base USB auf den Feldern Süditaliens stärker geworden. Sie sind heute der eigentliche Ort der Organisierung der migrantischen Arbeiter*innen.</p><p>Junge Arbeiter*innen, die schwarz arbeiten, organisieren sich über die Strukturen von Basisbewegungen wie PaP. Die Anlaufstelle für Arbeiter*innen Camera Popolare del Lavoro z.B. verfolgt einen ähnlichen Ansatz, wie die Basisgewerkschaften. Im letzten Jahr wurde eine Kampagne gegen Schwarzarbeit (v.a. in Tourismus und Gastronomie) gefahren. Diese erstreckte sich von Demonstrationen bis Arbeitsklagen. Die Forderungen drehten sich dabei meist um eine bessere Entlohnung, die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die Ausstellung eines Arbeitsvertrages und die systematische Bestrafung von Unternehmen, die Arbeiter*innen schwarz anstellen. Es handelt sich um wichtige Momente der Organisierung dieser neuen Formen der Arbeit.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Du hast vorhin die Klassenspaltung durch Rassismus angesprochen. Eine andere große Spaltung unter rechtskonservativen Regierungen ist der Angriff auf die Rechte, die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit von Frauen* in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz. Das Erstarken feministischer Bewegungen in den letzten Jahren zeigt, dass den feministischen Kämpfen im Kampf gegen rechtskonservative und autoritäre Tendenzen eine zentrale Rolle zukommt. Gibt es ein feministisches Programm bei PaP?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> PaP konzentriert sich im politischen Kampf stark auf die Rolle der Frauen*. PaP beteiligt sich an der Bewegung <i>Non una die meno</i> (dt. „Nicht eine weniger“), die neben Argentinien und Spanien auch in Italien sehr stark ist. <i>Non una di meno</i> ist keine homogene Bewegung. Unterschiedliche Sensibilitäten und theoretische Perspektiven sind darin enthalten. Wir versuchen die Perspektive zu stärken, die den feministischen Kampf mit dem Klassenkampf verbindet.</p><p>Politisch geht es darum, grundlegende Rechte der Frauen zu verteidigen, so beispielsweise das Abtreibungsrecht. Obwohl von Gesetzes wegen die öffentlichen Krankenhäuser eine Abtreibung vornehmen müssen, gibt es heute noch zahlreiche Ärzte, die sich aus moralischen Gründen weigern. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass solche medizinischen Eingriffe illegal und unkontrolliert gemacht werden – mit erhöhtem Risiko für die betroffenen Frauen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, da Italien im internationalen Vergleich bezüglich Lohnunterschieden zwischen Frauen* und Männern laut Gender Gab Report 2017 auf Platz 82 von 144 liegt. Im Jahr 2015 stand Italien noch auf Platz 50.</p><p>Die aktuelle Regierung betreibt eine Politik, die ideologisch das Bild der Frau* als Produzentin von Kindern und als dem Mann unterstellt stärkt. Es wurde mit dieser Regierung ein Ministerium für Familienpolitik gegründet und ein Gesetz verabschiedet, welches verheirateten Frauen* beim dritten Kind ein Stück Land zuweist. Diese sexistische und patriarchale Politik ist kaum zu übertreffen. Auch innerhalb der Organisation von PaP sollen Frauen* im politischen Prozess stärker werden. Frauen* sind nicht nur verschiedentlich ausgebeutet, sondern auch zunehmend Protagonist*innen von Kämpfen. Das ist wichtig zu betonen und sichtbar zu machen. Darum ist es für uns auch wichtig, dass Viola Carofalo als prekär arbeitende junge Frau aus dem Süden offizielle Sprecherin von PaP ist. Junge Frauen* sollen sich in unserer Organisation wiedererkennen können.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Habt ihr auch Kämpfe im Bereich Care-Arbeit?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Care-Arbeit ist nicht nur weiblich, sondern vorwiegend auch migrantisch. Die Kämpfe in diesem Bereich konzentrieren sich vorwiegend auf den Erhalt eines regulären Arbeitsvertrages, der Zugang zu einer geregelten Aufenthaltsbewilligung ermöglicht. Es handelt sich hier allerdings meist um individuelle Kämpfe, die keinen kollektiven Charakter haben. Eine Ausweitung der staatliche Alterspflege ist für uns Grundvoraussetzung, um die Rechte der Frauen* innerhalb der Familie und der Arbeit zu stärken. Denn in einem Land, in dem der „social welfare“ vorwiegend Familiensache ist, ist die Forderung nach geregelter Arbeit in diesem Bereich nicht nur eine soziale, sondern auch eine feministische Forderung.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Zu einem anderen Thema. PaP will sich an den kommenden Europawahlen am 26. Mai 2019 beteiligen. Warum? Wird dadurch nicht das Gewicht von der Basisarbeit erneut auf die politische Organisation verlagert?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Wir befinden uns zurzeit noch im Entscheidungsprozess über die Form, wie wir an den Europawahlen teilnehmen wollen. Zur Debatte steht, ob wir das als eigenständige politische Kraft, oder auf der Basis eines klaren politischen Programms in Koalition mit anderen politischen Gruppierungen und Personen machen. Dass wir kandidieren steht fest, auch wenn die Hürde hoch ist. In Italien müssen über 150'000 Unterschriften gesammelt werden, um zu den EU-Wahlen antreten zu können. Eine Wahlkampagne stellt für uns aber in erster Linie eine Möglichkeit dar, PaP in weiteren Kreisen bekannt zu machen und unsere Themen zu platzieren. Wir stellen fest, dass die Debatte um das Haushaltsbudget und die soziale Frage auch innerhalb der Arbeiter*innenschaft in Zusammenhang mit den Richtlinien der EU und ihrer Austeritätspolitik geführt wird.</p><p>Der aktuell herrschende Ultraliberalismus ruft nach autoritären Staaten, um seine Profitinteressen zu verteidigen. Der Europäismus, wie er von Merkel und Macron propagiert wird und der Souveränismus von Orban und Salvini sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich in dieser historischen Phase gegenseitig bedingen und befruchten. Die Dynamiken innerhalb der Konstituierung der Vereinigten Staaten Europas sind nicht linear, wir müssen ihre Komplexität fassen und daraus resultierend unsere Position formulieren. Drei Themen könnten dafür zentral sein:</p><p><i>Die Frage der Verschuldung und der Rückzahlung der Schulden.</i> Aus linker Perspektive gibt es auch in Italien die populistische Forderung des Italexit und der Schaffung einer Union der mediterranen Länder gegen das Diktat der starken Ökonomie Deutschland innerhalb der EU. Meiner Meinung nach wird aber das propagandistische Potential der Forderung nach einem EU-Austritt überbewertet. Die EU ist ein institutioneller Kontext, den Italien nicht einfach mit einem Nein umgehen kann. Wenn es nicht die EU-Institutionen sind, die Austeritätsprogramme durchboxen wollen, um die Schulden gegenüber den Banken zu zahlen, dann werden es andere internationale Institutionen wie der Internationalen Währungsfonds (IWF) sein. Ich finde es viel wichtiger den Slogan „Wir zahlen eure Schulden nicht“ stark zu machen und notfalls die EU zu zwingen, Italien aus der Union zu werfen. Das alles ist aber abhängig von der Kraft von progressiven sozialen und politischen Kräften innerhalb Italiens und Europas.</p><p><i>Die Fragen der Arbeit und der sozialen Rechte.</i> Der Arbeitsmarkt ist nicht mehr national, sondern zunehmend europäisch organisiert. Der Schengen-Raum ist jedoch kein homogener, sondern ein stark differenzierter Arbeitsmarkt, in dem unterschiedliche Grade der Ausbeutung vorherrschen. Das ist im Interesse aller Kapitalfraktionen innerhalb der EU. Wir müssen daher auch Kämpfe unterstützen und organisieren, die für die gleichen Rechte für alle Arbeiter*innen innerhalb der EU einstehen. Damit verbunden sind Fragen der Auslagerung von Arbeitsplätzen in die sogenannten Niedriglohnländer ebenso wie Solidarität mit Arbeitskämpfen in anderen EU-Ländern. Wenn es beispielsweise Arbeitskämpfe bei Fiat gibt, müssen wir politische Kontakte zu Arbeiter*innen und Organisationen in die Länder knüpfen, wo Fiat unterdessen auch noch produziert, um sie über die Kämpfe hier zu informieren. Auch die Frage der Garantie von sozialen Rechten ist grenzüberschreitend, also die Frage nach einem „europäischen Sozialstaat“, für den und in dem wir Kämpfe organisieren können.</p><p><i>Das Thema Migration.</i> Die Diskussion um die Zufluchtspolitik und gegen die Schließung der Häfen müssen wir meiner Meinung nach um das Argument ergänzen, dass Europa – vor allem in afrikanischen Ländern – das neokoloniales Interesse verfolgt, Ressourcen anzuzapfen und Investitionen zu erhöhen, um für das europäische Kapital neue Profitmöglichkeiten zu schaffen. Unter anderem vor diesem Hintergrund muss man auch die Idee der Schaffung einer europäischen Armee betrachten. Vor einigen Wochen hat Deutschland erklärt, man werde die Armee ausbauen, um künftig eine zentrale Rolle auch in einer potentiellen europäischen Armee zu spielen. Das ist ganz klar als imperialer Moment in Konkurrenz mit anderen Großmächten der Welt (China, Russland, USA) zu verstehen. Wir dürfen uns also in puncto Migration nicht auf den Kampf um die Rechte der Migrant*innen beschränken. Antimilitaristische und antiimperialistische Positionen sind genauso wichtig, um der Gegenüberstellung von liberaler Willkommenskultur vs. autoritärem „Hafen-Schliessen“ zu entkommen und die Diskussion wieder zu politisieren.</p><p></p><p><b>Maja [re:volt]: Was ist die Aufgabe im kommenden Jahr 2019?</b></p><p><b>Maurizio [PaP]:</b> Neben den EU-Wahlen bleibt es für uns sehr wichtig, die Balance aufrecht zu erhalten zwischen Basisarbeit und dem Aufbau von regionalen, mutualistischen Solidarstrukturen auf der einen Seite und der Stärkung einer von der Basisarbeit ausgehenden und handlungsfähigen politischen Organisation auf der anderen Seite. PaP darf sich nicht ausschließlich auf den Aufbau der politischen Organisation konzentrieren. Das birgt die Gefahr, sich von den Alltagskonflikten der Arbeiter*innen zu distanzieren. PaP soll vielmehr ein Instrument sein, um genau jenes soziale Terrain zurück zu erobern, welches die Linke in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Es ist also äußerst wichtig, dass PaP in den Bewegungen und der Lebens- und Arbeitsrealität der Proletarisierten verankert bleibt.</p></div>
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Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte2018-08-12T11:35:23.025241+00:002018-08-12T16:43:12.772359+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-humanismus-zur-linken-migrationsdebatte/
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<h1>Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte</h1>
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<span class="content-copyright">Rasande Tyskar (flickr)</span>
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<div class="rich-text"><p>
</p>Einer
der derzeitigen Hauptstreitpunkte der deutschen Linken insgesamt,
sowie vor allem der LINKEN als Partei im Besonderen, ist die
sogenannte „Flüchtlingsfrage“, die eigentlich eher als
Migrationsfrage zu begreifen ist. Die Debatte bewegt sich zwischen
den beiden entgegengesetzten Polen einer national-chauvinistischen
Perspektive und eines liberalen Humanismus. Gleichzeitig
werden Fragen der unmittelbaren Taktik (Abwehrkampf gegen die
vorwärtsmarschierende Reaktion) mit denen der Strategie
(Handlungsmöglichkeiten und -optionen, falls wir mal in der
Offensive <i>wären</i>;
längerfristige Ziele und Perspektiven) vermischt. Das
Ergebnis ist ein heilloses Durcheinander, das die zentrale Erkenntnis
von Klassenkämpfen unter den Tisch fallen lässt, namentlich dass
sie heftig geführte soziale<i> Kämpfe</i> um Gesellschaft sind. Die
linke Debatte in Deutschland befindet sich auch in dieser Thematik in
einer Sackgasse, aus der wir schleunigst rauskommen müssen, wollen
wir aktionsfähiger werden, bevor die Rechte endgültig die Hegemonie
gewinnt.<p>
</p><p>
</p><h2><b>Die Migrationsfrage,
der Imperialismus und die Weltwirtschaftskrise</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Fangen
wir an mit dem Hintergrund. Woher überhaupt diese Debatte? Von etwa
68,5 Millionen Geflüchteten weltweit (<a href="http://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns/zahlen-im-ueberblick">Stand:
Ende 2017</a>) sind etwa 40 Millionen
Binnenflüchtlinge, das heißt verbleiben im jeweiligen Krisengebiet.
Der Rest verteilt sich <a href="https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/GlobalTrends_2017.pdf">zum
Großteil</a> auf umliegende Länder – zu 85
Prozent werden Refugees in sogenannten „Entwicklungsländern“
aufgenommen. Nur ein kleiner Teil schafft es in die Festung Europa.
Deutschland, das Land, welches in Europa die meisten
registrierten (sic!) Geflüchteten aufnimmt, beherbergt <a href="http://popstats.unhcr.org./en/overview#_ga=2.187541288.1444157030.1533898723-382352773.1533898723">derzeit</a>
knapp 1,4 Millionen Geflüchtete. Knapp 30 Prozent von ihnen warten
noch auf ihren Bescheid, mit dem ihr Status geklärt wird. Um einen
frappanten historischen Vergleich zu ziehen: Zwischen 1850 und 1920
emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa, was in etwa 17 Prozent
der Bevölkerung Europas im Jahre 1900 entsprach. Damit entledigte
sich Europa eines großen Teils seiner kapitalistisch überflüssig
gemachten Bevölkerung. Würden heute anteilig so viele Menschen des
Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären
das 800 (!) Millionen Menschen. Die derzeitige Emigration aus
„Entwicklungsländern“ in „Industrieländer“ entspricht
„vernachlässigbaren 0,8 Prozent“ (ILO) der Arbeitsbevölkerung
der „Entwicklungsländer“. [1] Die derzeitig so abwertend
hochstilisierte „Flüchtlingswelle“ nach Europa ist also im
historischen Vergleich wie auch im Vergleich zum hier existierenden
Wohlstand keine; wer sie als solche bezeichnet, ist wirr, verblendet
– oder verfolgt offensichtlich eigennützige Interessen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Europa
schottet sich seit den Dubliner Abkommen in den 1990ern zunehmend ab
und lässt gezielt Geflüchtete an seinen Grenzen sterben; schiebt
sie in Kriegsgebiete ab oder überlässt sie dem rassistischen Mob im
eigenen Land. Gleichzeitig macht man gute Mine zum bösen Spiel,
indem in zahlreichen europäischen Ländern parallel Tausende Töpfe
und Förderprojekte aus dem Boden gestampft werden, die irgendwas mit
Migration, Flüchtlingen und so weiter, vor allem aber mit viel
ehrenamtlicher Arbeit zu tun haben. Das Gesicht bleibt gewahrt, denn
Merkel war ja verantwortlich für den „Willkommenssommer 2015“
oder für die „große Umvolkung“, je nach politischer
Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der
rassistische Diskurs gegen Geflüchtete wird nicht per Zufall in
dieser extremen und über alle Lager greifenden Form erneut seit
Anbeginn der Großen Weltwirtschaftskrise 2007-08 systematisch von
Massenmedien und Parteien bis weit in das politische Establishment
hinein gefördert und hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die <a href="https://www.theguardian.com/world/2018/jun/13/populist-talkshows-fuel-rise-of-far-right-german-tv-bosses-told">sogar</a>
vom Deutschen Kulturrat kritisiert werden. Die erzreaktionäre
Bearbeitung der Migrationsfrage ist immanenter Teil der Bearbeitung
der Weltwirtschaftskrise seitens der Herrschenden: Fand einerseits
eine kaum nachhaltige „Normalisierung“ der führenden
kapitalistischen Wirtschaften auf niedrigem Niveau mittels einer
immensen Liquiditätsflut statt, wurden andererseits die Kosten der
Krisenbewältigung auf die Bevölkerungen abgewälzt mittels „jobless
growth“ (Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswachstum),
Austerität, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse und so weiter.
Derweil schlägt die imperialistische Konkurrenz um Märkte und
Kostenabwälzung in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise Blüten in
Form von Brexit, Trump, Elementen von Handelskrieg(en) und realen
Kriegen – in Mali, in Libyen, in Syrien, im Irak und so weiter und
so fort. Es ist offensichtlich, dass die Migrationsströme erneut
wegen diesen Kriegen und Krisen zunehmen. Selbstverständlich
flüchtet ein Teil der Menschen auch aus „wirtschaftlichen
Gründen“. Aber nur wer von wohlstandschauvinistischen Reflexen
oder Interessen schon durchsetzt ist, nimmt nicht wahr, dass die
Superausbeutung von Millionen von Arbeiter*innen des Globalen Südens
seitens westlicher Großkonzerne für unsere billigen T-Shirts oder
iPhones; das fröhlich betriebene Land Grabbing und die damit
einhergehende Vertreibung von Millionen vom Land; sowie das
erbarmungslose Niederkonkurrieren von schwächeren kapitalistischen
Wirtschaften mittels Produktivitätsvorteilen und Subventionen in den
imperialistischen Zentren die dem derzeitigen Imperialismus
entspringenden „wirtschaftlichen Gründe“ sind, die hauptsächlich
zu „Arbeitsmigration“ führen. Die wohlstandschauvinistische
Ideologie verkehrt die Verhältnisse: Nicht „Wirtschaftsflüchtlinge“
beuten unsere Sozialsystem aus, sondern wir beuten verarmte Länder
aus, aus denen einige wenige es zu uns schaffen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
genau in Bezug zur sich erneut verschärfenden Konkurrenz zwischen
den Imperialismen wie auch zur Abwälzung der Kosten der Krise auf
die Werktätigen lässt sich die Funktion der erzreaktionären
Thematisierung der Migrationsfrage verstehen. Es wurde oft genug
aufgezeigt, wie durch diese diskursive Verschiebung Fragen
klassenförmiger Verteilung und Teilhabe kulturalisiert und
Spaltungslinien inklusive gegenseitiger Aufhetzung innerhalb der
Subalternen nicht bloß ideologisch, sondern sehr praktisch und
materiell gefördert werden. Eine Thematisierung der wirklichen
Krisengewinner und der Entstehung einer Solidarität der Subalternen
wird damit vorgebeugt, zugleich lassen sich Wut und Unmut der
werktätigen Bevölkerungsteile hübsch nutzen im kapitalistischen
Konkurrenzkampf um die enger werdenden Profitaussichten. Die riesige
Solidaritätswelle mit Geflüchteten in Deutschland und Österreich
in den Jahren 2014 bis 2015 sowie die derzeitige Solidarität mit der
Seebrücke zeigen andererseits auf, dass die Rechnung nicht einfach so
aufgeht. Es ist ausgemachtes Ziel der Herrschenden, diese Form
demokratischer Tiefenreflexe der Gesellschaften zu brechen, wofür
dann eine „<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Kölner
Silvesternacht</a>“ nach der anderen und andere
„Skandale“ migrationsfeindlich konstruiert werden.
</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Wohlstandschauvinistische
Verschiebung der Migrationsfrage innerhalb der Linken</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Nun
organisiert sich die hiesige Rechtsverschiebung auch in Teilen der
Linken und LINKEN in Form einer national-chauvinistischen oder
exklusiven Reorientierung auf das Gemeinwohl, das mal verdeckter mal
offener rassistisch und abwertend auftaucht. Bei Sahra Wagenknecht
und Oskar Lafontaine ist der Wohlstandschauvinismus oft eher latent
oder verdeckt: Wird ihnen Rassismus für ihre Ansichten vorgeworfen,
verweisen sie entrüstet auf ihre soziale Programmatik.
Reden oder schreiben sie jedoch über die Migrationsfrage, taucht
nirgends auf, dass sich Solidarität mit Geflüchteten und
Fluchtursachenbekämpfung gar nicht ausschließen, sondern sogar
immanent zusammenhängen. Denn bei der Aufnahme von Geflüchteten
geht es darum, unmittelbare Unterstützung und würdevolles Leben für
alle zu ermöglichen in einer Welt, wo wir eben noch nicht
erfolgreich darin waren, Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen.
Letztlich dient die <i>ausschließliche</i> Fokussierung auf die
Thematisierung von Fluchtursachen dazu, das aktive Desinteresse an
Solidarität mit Geflüchteten hier zu übertünchen und
rationalisieren. Ebensowenig taucht auf, dass die ja tatsächlich
zunehmende Konkurrenz auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch
Einwanderung von abgewerteten Arbeitskräften nur deshalb eine
Konkurrenz sein kann, weil der Wohnungs- und Arbeitsmarkt schon seit
Jahren und insbesondere seit der Agenda 2010 im Sinne von Kapital und
Eigentümer*innen aktiv umstrukturiert wurde. So wurden (großteils)
Unternehmer*innen und Wohlhabenden in den Jahren 2000 bis 2013
<a href="http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07705.pdf">Steuergeschenke</a>
in Höhe von insgesamt 490,35 Milliarden € (also jährlich
durchschnittlich 37,71 Mrd. €) gemacht. Allein die <a href="https://www.hintergrund.de/feuilleton/literatur/die-doppelte-zweiteilung-der-welt-nord-und-sued-arm-und-reich/">Anhebung
der bundesdeutschen Immobiliensteuer</a> auf
OECD-Durchschnitt würde jährlich an die 27 Milliarden € in die
Kassen spülen. Und dann gibt es natürlich noch die <a href="https://derstandard.at/2000067318099/Steueroasen-kosten-EU-Staaten-60-Milliarden-Euro-pro-Jahr">„legale“
Steuerflucht in Steueroasen</a>, wodurch der
deutsche Staat allein schon nach öffentlich zugänglichen Daten 17
Milliarden € im Jahr, real aber vermutlich <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1069171.steuerflucht-neue-enthuellungen-zu-den-paradise-papers.html">viel
mehr</a> verliert. Die aktuellen Ausgaben in
Deutschland für alles, was irgendwas mit „Geflüchteten“ zu tun
hat (Sicherheitsdienste, Wieder-Aufbau sozialer Infrastruktur, …),
sind mit, <a href="http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/bundeshaushalt-2017-mehr-geld-fuer-soziales-und-fluechtlinge-aber-die-schwarze-null-steht-14319349.html">je</a>
<a href="https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-05/bundesfinanzministerium-fluechtlinge-kosten-21-milliarden">nach</a>
<a href="https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-und-zahlen-101.html">Berechnungsmethode</a>,
20 bis 30 Milliarden € im Jahr ein Witz dagegen. Und dabei reden
wir noch von einem Vergleich mit <i>Exzessen</i> des bundesdeutschen
Kapitals und der Wohlhabenden, noch gar nicht von den enormen
Profiten und Reichtümern, die „normal“ und ohne Exzesse gemacht
und angehäuft werden. In Tiraden gegen „Banken und Konzerne“
reden Lafontaine wie Wagenknecht und ihre Anhänger*innen oft von
dieser Art Konsequenzen des „ungezügelten Kapitalismus“, nicht
jedoch dann, wenn es um die Migrationsfrage geht. Wer aber bei der
Migrationsfrage vom BRD-Kapitalismus, wie er derzeitig konkret
verfasst ist, nicht redet, sondern gar noch <a href="https://www.fabio-de-masi.de/de/article/1923.thesenpapier-linke-einwanderungspolitik.html">ernsthaft</a>
scheinwissenschaftlich-positivistisch über den Beitrag von
Geflüchteten zum Wirtschaftswachstum sinniert, der übt schon längst
Anpassungspolitik an das Bestehende und hofft darauf, im bestehenden
Klassengefüge doch irgendwie integriert zu werden und Privilegien zu
ergattern oder zumindest zu behalten.</p><p>
</p><p>
</p><p>So ist
es dann auch nicht verwunderlich, dass insbesondere von dieser Art
Linken Argumente und Echauffierungen kommen, die ganz knapp am
rechten Lager vorbei schrammen. So vergisst man alle Kritik an
„Banken und Konzernen“, wenn es ausgerechnet bei Geflüchteten
heißt, „der Staat habe Grenzen der Belastbarkeit“, die linke
Form des populären reaktionären Slogans: „Das Boot ist voll“.
Teils wird auch von dieser Art Linken ernsthaft behauptet,
Geflüchtete seien Schuld an Gewalt gegen Frauen, an allgemeiner
Unsicherheit in der Gesellschaft, an steigender Kriminalität. Dass
<a href="https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie--lebenssituation--sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland/80694?view=DEFAULT">Studien</a>
zeigen, dass Gewalt an Frauen in
Deutschland über die Jahre hinweg auch ohne
„Flüchtlingswelle“ <a href="http://www.taz.de/!5271854/">konstant
hoch</a> und deshalb ein hausgemachtes
Problem ist; dass die Kriminalitätsrate über die Jahre sogar
gesunken ist; dass zudem Kriminalitätsstatistiken nicht zuverlässig
und ihre Interpretationen insbesondere in Bezug auf Geflüchtete
<a href="https://www.rundschau-online.de/politik/statistik-mehr-gewalt-durch-junge-fluechtlinge-29429344">heftig</a>
<a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1075039.fluechtlinge-und-kriminalitaet-kriminelle-fluechtlinge-ja-und-nein.html">umstritten</a>
<a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-die-afd-die-polizeiliche-kriminalstatistik-verbiegt-15636317.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0">sind</a>
– all das wird von einer Flut pathischer Projektionen überdeckt,
die durchaus auch multimedial gefördert werden (siehe die Debatte um
„<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Terrornacht
der Nafris</a>“ 2015/16 und 2016/17).</p><p>
</p><p>
</p><p>Es
bleibt festzuhalten, dass die sozialpsychologischen und
gesellschaftlichen Sturmwinde, die die Weltwirtschaftskrise
entfesselt hat, nicht nur „die Gesellschaft“ durcheinander
wirbeln und alles Feste zum Schwanken bringen, sondern eben auch die
Linke, die Teil „der Gesellschaft“ ist. Wir haben uns bisher
nicht als fest genug erwiesen, diesen Sturmwinden stand zu halten und
gegen sie selbständig und organisiert anzukämpfen mit einer
überzeugenden Perspektive ihrer Überwindung. Das permanente
multimediale Bombardement, die bewusst herbei inszenierte Panikmache,
die Phantasmagorie des „islamistischen Terrors“, der unabhängig
und geradezu surreal von jeder realen Relation zum „islamistischen“
und sonstigen Terror existiert, die Aura von Angst,
Perspektivlosigkeit und Unsicherheit haben auch Teile von uns
zermürbt, beziehungsweise noch mehr zermürbt. Einige von uns haben
innerlich, sicherlich oft ohne böse Absicht und vermutlich teils
ohne bewusste Absicht, kapituliert und sich dem ergeben, was so
erscheint, als ob es Festigkeit inmitten der Sturmwinde gewähren
könnte.</p><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://www.facebook.com/notes/andreas-gr%C3%BCnwald/migration-ein-und-zuwanderung-bei-marx-engels-lenin-/1054499487902610">Einst</a>
hatten wir einen festen Stand in dieser Angelegenheit: Marx, Engels,
große Teile der Vorkriegs-SPD und Lenin plädierten durchgehend für
die Aufnahme von Arbeitsmigrant*innen und brandmarkten
Migrationsbeschränkungen als „spießbürgerlich“ oder
„aristokratistisch“, wenn auch zugegebenermaßen in der etwas
mechanistisch-deterministischen Vorstellung, dass dadurch die klare
Unterscheidung in Kapital und Arbeit und hierüber vermittelt der
Klassenkampf im Sinne der Arbeiter*innen gefördert und unser Sieg
beschleunigt würde. Der ist zwar nicht eingetreten, aber die
Geschichte migrantischer Kämpfe (z.B. im Italien der 1970er, aber
auch in der BRD der 1970er Jahre) zeigt: als Deklassierteste waren
sie stets diejenigen, die am radikalsten kämpften, und in betreffs
Arbeitskämpfen praktisch betrachtet oft zur Avantgarde wurden. So
waren es vor allem die türkischen Gastarbeiter*innen im <a href="https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/">Ford-Streik
in Köln 1973</a>, die den illegalen und von der
Gewerkschaftsführung nicht unterstützten Kampf gegen die ungleiche
Behandlung entfachten und letztlich auch die ansässigen deutschen
Arbeiter*innen zum Kampfe motivierten. Es ist vor diesem Hintergrund
ebenfalls kein Zufall, dass, um beim deutschen Beispiel zu bleiben,
die Grauen Wölfe ihre Organisierung in Deutschland erst mit den
1970ern aufnahmen und staatlich unterstützt wurden, wobei die
Gewerkschaften schon damals vor den Konsequenzen warnten, mit denen
wir uns heute auseinanderzusetzen haben.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Liberaler Humanismus
als Alternative?</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Viele
von uns haben sich dem national-chauvinistischen backlash aber auch
widersetzt und sind von ihren antirassistischen, die Kämpfe der
refugees unterstützenden Ansätzen nicht abgerückt. Ihrer
unendlichen, teils kleinteiligen Mühe, gekoppelt mit der
migrantischen Selbstorganisierung, ist es zu verdanken, wenn eine
Abschiebung verhindert werden oder eine Küche zum Selberkochen für
ein Geflüchtetenlager erkämpft werden kann. Oder wenn es dann eben
doch staatlich geförderte Projekte und Programme für
Geflüchtetenarbeit gibt, die zwar die Pflichten des Staates auf die
Öffentlichkeit abwälzen, aber genau so gut auch einfach gar nicht
hätten stattfinden könnten, gäbe es nicht die Kämpfe darum und
nach wie vor vorhandene demokratische Tiefenreflexe in Teilen der
deutschen Gesellschaft.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aus
diesen Kreisen mehren sich Stimmen – und sie schlagen sich manchmal
in <a href="https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/">Positionspapieren</a>
und dergleichen nieder –, die im Angesicht des Rechtsruckes und der
Verbreitung national-chauvinistischen Gedankenguts innerhalb der
Linken offensiv weiterhin den alten Slogan „no nations, no borders“
beziehungsweise „offene Grenzen für alle“ verteidigen und zu
einer eigenständigen politischen Ideologie des Transnationalismus
und Ähnlichem formieren. Es ist ohne Zweifel richtig, dass die
Bewegungsfreiheit der Menschen im allgemeinen ein Ziel sein sollte,
für das wir streiten müssen. Das Problem liegt bei diesen
Positionen an zwei Stellen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Erstens
stehen ihre ideologischen Wortführer*innen zunehmend für eine
De-Thematisierung der Geflüchtetenfrage im Zusammenhang mit dem
Imperialismus, der ja diese Ströme in dieser Art erst hervorbringt,
und dem Neoliberalismus hier im Lande. Trotz dass unterschiedlichste
<a href="https://www.jungewelt.de/artikel/324701.hartz-iv-muss-weg.html">Studien</a>
und Modediskurse um „Post-Demokratie“ zeigen konnten, dass
wegbrechende Lebens- und Arbeitsstandards oder teils berechtigte
Abstiegsängste zu Selbstschutzmechanismen und grassierender Angst
sowie Unmut führten, auf denen basierend erst die Rechten bei
Abwesenheit einer linken Offensive ihren zumindest <i>massenhaften</i>
Aufstieg feiern konnten, wird dies vehement bestritten. Es schleicht
sich zunehmend ein identitär-elitäres Element ein, das auf dem
moralisch Richtigen (offene Grenzen hier und überall, transnationale
Rechte jetzt sofort) beharrt und sich über alles andere erhebt. Wer
Kämpfe zusammenführen will, gilt als doktrinär, AfD-Wähler*innen
sind sowieso alle per se „Faschisten“ oder zumindest
„Erzrassist*innen“, die offensiv bekämpft werden müssen. Als ob
Rassist*innen nicht gemacht, sondern geboren werden; als ob die
rassistischen Ressentiments des widersprüchlichen
Alltagsbewusstseins, der auch ganz andere Elemente enthält, nicht
erst aktiv organisiert werden müssten, bevor der
Wohlstandschauvinismus und Rassismus zu zentralen Elementen eines
geglätteten erzreaktionären politischen Programm erhoben werden und
die Geflüchtetenheime als Konsequenz brennen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dabei
ist nicht zwangsläufig das separate oder teils autonome Führen von
Kämpfen das Problem – Menschen fangen oft dort an zu kämpfen, wo
es für sie am brenzligsten ist oder wo sie die größte Empörung
und Wut fühlen. Das Problem beginnt dort, wo diese Separation aktiv
und ideologisch unterfüttert betrieben sowie andere Deklassierte
oder Subalterne abgewertet werden. Wagenknechts Popularität speist
sich nicht allein aus ihren teils reaktionären Positionen in der
Geflüchtetenfrage, sondern auch daraus, dass sie ihre Positionen
stets im Zusammenhang mit einem Angriff auf Konzerne und Banken
zugunsten der Subalternen hier vorbringt. Solange die Kämpfe der
hier am heftigsten Deklassierten, Prekarisierten und unter Druck
geratenen Arbeiter*innen nicht mit aufgenommen und perspektivisch als
gemeinsamer Kampf mit den Geflüchteten zusammengeführt werden, so
lange wird uns einerseits die Kraft, weil Masse der werktätigen
Bevölkerung, fehlen, tatsächlich Veränderungen umzusetzen.
Andererseits wird sich bei unserer Abkehr von den Subalternen
schlicht die Rechte ihres Unmutes noch erfolgreicher annehmen und ihn
für ihre Zwecke funktionalisieren.</p><p>
</p><p>
</p><p>Das
zweite, eng mit dem ersteren verbundene Problem dieser Positionen
liegt darin, dass sie ein strategisches Ziel als unmittelbares Ziel
ausgeben und kein Programm für deren Umsetzung zu geben imstande
sind. Und zwar deshalb, weil sie auf der bloßen humanen und
ethischen<i> Richtigkeit</i> der Position beharren, ohne die sozialen
Konsequenzen der Umsetzung aus der Perspektive von sozialen<i>
Kämpfen</i> mitzubedenken. Damit meine ich auch nicht, dass nicht
mitbedacht wird, dass man technisch betrachtet nicht sofort alle
Grenzen aufmachen kann und es deshalb Übergänge in der Regulation
von Migration geben muss. Diesbezüglich <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/was-ist-linke-migrationspolitik/">gibt</a>
es <a href="https://www.welt.de/politik/deutschland/article169847813/Unangemessene-Grenzueberschreitung-Wagenknechts.html">Vorschläge</a>,
die, im Übrigen, ebenfalls dafür kritisiert werden, nicht
konsequent genug „offene Grenzen für alle“ zu verteidigen. Was
ich meine, ist etwas anderes. Wenn es genug Reichtum für alle gibt,
dieser aber nur ungleich verteilt ist und man bei einer gerechten
Verteilung in der BRD problemlos alle Geflüchteten vermutlich der
ganzen Welt versorgen könnte – dann heißt das eben nichts
anderes, als dass die sozialen Kräfteverhältnisse<i> derzeit</i>
das nicht ermöglichen und dass man eine Veränderung gegen die
bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ihre Profiteure<i> erzwingen</i>
muss im permanenten Klassenkampf. Das heißt, dass die
Migrationsfrage nicht eine Teilfrage der menschlichen Ethik oder
Moral und parallel hierzu im Bereich des Politischen eine Frage der
konkreten Technik von Finanzierung, Aufnahme, Unterbringung,
Integration und so weiter ist – <i>sondern Kernelement eines von
unterschiedlichen Interessen intensiv geführten Kampfes um die
Struktur und Zukunft von Gesellschaften.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>Und die
Profiteure der hiesigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse
sind nicht einfach nur die paar Eigentümer*innen und Manager*innen
von Siemens und Bosch. Die gesamte kapitalistische Wirtschaft der BRD
hängt am bestehenden imperialistischen Weltsystem, das dem deutschen
Kapital durch das „Exportwunder“ immense Profite beschert,
gleichzeitig jedoch auch ein, im weltweiten Vergleich, weiterhin
ordentliches Sozialsystem, ordentliche Löhne für
Stammbelegschaften, noch akzeptable Prekarität – man vergleiche
allein die Prekarität hier im Unterschied zur Prekarität in der
Türkei – und dergleichen ermöglicht. Zusätzlich gibt es so etwas
– vor allem von „antinationalen“ Linken unterschätztes – wie
den deutschen Pass, der eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, von dem
der Großteil der Welt derzeit nur träumen kann. Versucht man nun
diese teils imperialistischen Extraprofite des deutschen Großkapitals
auch nur mit relativ milden Methoden wie beispielsweise der
Veränderung des Steuersystems oder der staatlichen Ausgaben zwecks
Ermöglichung eines würdevollen Lebens für alle Geflüchteten
anzugreifen, dann schlägt die Bourgeoisie zurück, weil sie um ihre
Profite und Hegemonie im Allgemeinen fürchtet. Gleichzeitig
mobilisiert sie – wie derzeit – diejenigen Teile der
Mittelklassen, der privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse und
der nicht-privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse, die relativ
oder auch nur <i>scheinbar</i> vom deutschen Imperialismus
profitieren. Und zwar dadurch, dass sie auch deren Positionen als
gefährdet darstellt, weil es ja – so die bürgerliche Ideologie –
konkurrenzfähige und profitable Unternehmen sind, die Arbeitsplätze
schaffen, und Schmarotzer jeder Art („Hartzer“, Geflüchtete,
usw.) unseren Wohlstand, den Wohlstand der rechtschaffenen, fleißigen
Deutschen gefährden. Schaffen wir es nicht, bei den Werktätigen
hier praktisch zu verankern und erkämpfen, dass sie ihre
selbständigen Interessen mittel- und langfristig besser dadurch
wahren können, dass sie gemeinsam auch mit den zugezogenen und
hierher geflüchteten Werktätigen gegen die selbständigen
Interessen des Kapitals kämpfen, wird es schlicht nicht möglich
sein, mehr für Werktätige hier wie auch für Geflüchtete
herauszuholen, als das Kapital aufgrund seiner
Akkumulationsmöglichkeiten und seinem Spielraum im Kräfteverhältnis
mit anderen Kapitalen erlaubt.</p><p>
</p><p>
</p><p>Falls
wir die Realität und die Konsequenzen des Klassenkampfes und seine
Verknüpfung mit anderen Kämpfen, die nicht nur und derzeit nicht
mal hauptsächlich von uns geführt werden, nicht begreifen und in
diesem Bezug die nächsten taktischen Schritte erörtern, werden
beide Richtungen einknicken: Der chauvinistische Flügel wird sich
immer mehr an die deutsche Staatsräson anpassen, der
linksliberal-humanistische, beständig herausgefordert dazu „mal
einen konkret umsetzbaren und realistischen Plan vorzulegen“ und
aufgrund der Mobilisierungsunfähigkeit wegen fehlender Verknüpfung
der Kämpfe, pragmatisch werden; humanere Möglichkeiten der Aufnahme
und Unterbringung von Geflüchteten vorschlagen und das strategische
Fernziel als ein Fernziel, das mit dem Heute keine Verbindung hat,
belassen. Die hardcore Idealist*innen werden sich am moralisch
absolut Richtigen festklammern und Sektiererei betreiben. Beide
Flügel werden sich tendenziell, ob aktiv oder aus der Defensive
heraus dazu gedrängt, aneinander annähern.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Perspektiven
der Offensive</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Demgegenüber
gilt es die Migrationsfrage auch schon im Abwehrkampf offensiv als
eines der Kernelemente der sozialen Frage im derzeitigen Kontext von
Kapitalismus und Imperialismus zu thematisieren. Nur so auch können
perspektivisch die Spaltungslinien zwischen den „einheimischen“
Werktätigen und „zugezogenen“ Werktätigen überwunden und
bürgerliche Hegemonien gebrochen werden. Es ist dabei klar, dass die
Ziele und Methoden unterschiedlich gelagert sind: Geflüchtete kommen
hier her, weil sie vor Krieg, Krisen und Perspektivlosigkeit
flüchten, nicht um Klassenkampf zu betreiben. Es gilt, gegen den
rechten Vormarsch für ein gutes Leben für sie und mit ihnen zu
streiten und klar zu machen, dass es nur die derzeitigen sozialen und
politischen Kräfteverhältnisse und nicht etwa irgendwelche
neutralen, von menschlicher Praxis unabhängigen wirtschaftlichen
oder kulturellen Parameter sind, die dem im Wege stehen. Das ist
ideologisch betrachtet auch der Punkt, der die Brücke zu den Kämpfen
der „einheimischen“ Werktätigen schlägt, da sie genau so von
Kosteneinsparungen, Klassismus, Rationalisierungen, Spaltungen und
dergleichen kapitalistischen Offensiven betroffen sind, auch wenn sie
gegenüber Geflüchteten relativ privilegiert dastehen. Das wichtige ist, dass die
unterschiedlichen Schritte richtig miteinander und in richtiger
Perspektive kombiniert werden, um Erfolg zu zeitigen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Es ist
zudem offensichtlich, dass – strategisch betrachtet – der
internationale Kampf organisiert und ausgeweitet werden muss, um
Kapitalismus und Imperialismus auf Weltebene und damit die
hauptsächlichen Fluchtursachen bekämpfen zu können. Gleichzeitig
verschiebt die Utopie eines Transnationalismus der Kämpfe das
Kämpfen auf einen Sanktnimmerleinstag, was sich schlagend im
linksliberalen Dogma „es gab keine Alternative“ in Bezug auf die
Niederlage von Syriza in Griechenland zeigte. In betreffs der
Migrationsfrage zeigt sich dies im Dilemma des Transnationalismus,
offene Grenzen und globale Rechte für alle erreichen zu wollen,
gleichzeitig jedoch Politik machen zu müssen in einer Welt der
Grenzen und Unterschiede. Nicht nur gibt es eine Ungleichzeitigkeit
der Kämpfe. Es gibt auch nach wie vor eine ungleiche Organisation
der Kämpfe. Es gibt derzeit keine Subjekte oder Organisationsformen,
die im wirklichen Wortsinne international oder gar transnational
wären. Alle paar Monate mal zu einem „transnationalen“ Treffen
oder zu einer „transnationalen“ Demo zu fahren ist kein
Transnationalismus. International wären die Kämpfe dann, wenn sie
miteinander koordiniert wären, damit sich die Ungleichzeitigkeit der
Kämpfe nicht negativ auf die an unterschiedlichen Orten
unterschiedlich intensiv stattfindenden sozialen/antikapitalistischen
Kämpfe auswirkt, sondern dass sich im Gegenteil die Kämpfe
wechselseitig stärken. Eine Aufhebung der Unterschiede und
Ungleichzeitigkeiten, also Transnationalismus im starken Wortsinn
steht aber kurz- bis mittelfristig nicht an. Praktische Solidarität
hinsichtlich der Migrationsfrage beinhaltet zwecks
„Fluchtursachenbekämpfung“ dann in strategischer Perspektive
auch, die Kämpfe im Globalen Süden um Emanzipation und sozialen
Fortschritt mit aller Kraft zu unterstützen. Diese können durchaus
auch die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen – eine Form von
Grenzen –, Beschlagnahmung von Eigentum
(Nationalisierungen/Vergesellschaftungen) und Aufbau alternativer
internationaler Währungs- und sonstiger Institutionen beinhalten, um
potenzielle populare und wehrhafte Gegenhegemonien gegen die derzeit
dominanten Machtverhältnisse im imperialistischen Weltsystem zu
errichten. Insofern sind Grenzen selbstverständlich nicht per se
abzulehnen. Es hängt auch bei Grenzen davon ab, wer welche zu
welchem Zweck errichtet. Und Grenzen gegen das Kapital werden wir
genau so wie die Länder, die große Fluchtbewegungen erleiden,
ziehen müssen, um unsere eigenen antikapitalistischen Interessen
durchdrücken zu können.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Anmerkungen:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1]
John Smith,<i> Imperialism in the Twenty-First Century.
Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism’s Final Crisis</i>,
New York, 2016, S. 108–09.</p></div>
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Balkanroute rückwärts – Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil III)2017-12-31T11:50:39.740877+00:002017-12-31T11:50:39.740877+00:00Felix Brozredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/balkanroute-r%C3%BCckw%C3%A4rts-flucht-staatlichkeit-und-repression-teil-iii/
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<h1>Balkanroute rückwärts – Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil III)</h1>
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<span class="content-copyright">Felix Broz</span>
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<div class="rich-text"><p>Belgrad
ist nicht nur die Hauptstadt Serbiens, sondern auch die Stadt, in der sich
außerparlamentarische Gruppen, NGOs und UN-Institutionen im Land konzentrieren.
Im Rahmen unserer Delegationsreise hatten wir die Möglichkeit, mit einigen
Aktivist*innen aus unterschiedlichen linken Nichtregierungs-Gruppen vor Ort
über ihre politische Arbeit zu sprechen. Die
anarchistischen Genoss*innen von <i>No Borders</i> nehmen uns mit auf einen
Gang durch die Innenstadt Belgrads. Hier gibt es zahlreiche Orte, an denen sich
die Auswirkungen der serbischen und europäischen Grenz- und Flüchtlingspolitik
ablesen lassen. Im sogenannten "Afghan Park" nahe des Hauptbahnhofes wird
schnell klar, wie effektiv das europäische Grenzregime und der schmutzige
EU-Türkei-Deal Flüchtende von der "Balkanroute" fernhalten. Anders als noch vor
zwei Jahren sind hier mittlerweile kaum noch Menschen anzutreffen, die auf eine
Gelegenheit zur Überquerung der Grenzen zur EU warten oder auch nur Hoffnung
darauf haben. <br/></p><h2>Serbische
„Politik der Härte“<i><br/>
</i></h2><p>Während im Jahr 2015 zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen das
Land durchquerten, übernachteten viele in provisorischen Zelten und Hütten
zwischen dem Afghan Park und den angrenzenden Bahngleisen. Die Behörden duldeten die –
schon damals – unmenschlichen Zustände. Gleichzeitig drohten die
Repressionsorgane Hotelbetreiber*innen mit hohen Strafzahlungen, sollten sie
Flüchtende beherbergen. Ziel dieser politischen Praxis war es, so der
Behördensprech, „alle Anreize für einen längeren Aufenthalt in Serbien
abzuschaffen“. Angesichts der außerordentlich niedrigen Anzahl an flüchtenden
Menschen, die in diesem Land einen Asylantrag stellen (im Jahr 2017 zwischen 70
bis 80 Personen insgesamt), ist diese Aussage blanker Hohn. Wie viele
Flüchtende sich momentan in Serbien aufhalten, ist unklar. Regierungsstellen
nennen eine offizielle Zahl von 3.800 Personen. Ihre reale Zahl dürfte weitaus
höher liegen. Alles in allem entsteht das Bild einer durch und durch
menschenverachtenden Politik. Offensichtlich geht es vor allem darum, sich mit
politischer Härte als verlässlicher
Partner der EU-Außenpolitik zu profilieren.<br/>
</p><p>
</p><p>Welche
Folgen diese politische Linie praktisch mit sich bringt, machen uns zwei
Vertreter*innen der NGO <a href="http://www.praxis.org.rs/index.php/en/"><i>Praxis</i></a><i> </i>deutlich.
Sie berichten von Vorfällen, bei denen Flüchtende von Ungarn oder der Ukraine
nach Serbien abgeschoben wurden, obwohl die betreffenden Personen nie das Land
durchreist hatten. Solche eigentlich rechtswidrigen Deportationen flüchtender
Menschen nach Serbien lassen vermuten, dass es Deals zwischen den jeweiligen
Regierungen gibt. Sie sind Ausdruck unterschiedlicher Machtpositionen zwischen
etablierten EU-Mitgliedern und „bemühten“ EU-Beitrittskandidaten – wie eben
Serbien und Mazedonien. Generell hören wir von vielen Menschen aus
zivilgesellschaftlichen Organisationen, dass der serbische Staat permanent
grundlegende Menschenrechte mit Füßen tritt. Sie kritisieren die mangelhaften
und nicht ausreichenden Unterkunftsplätze und berichten uns mit Sorge über „gefängnisartige“ Camps oder unzureichende
Verpflegung (Dazu mehr in <a href="https://revoltmag.org/articles/balkanroute-rückwärts-flucht-staatlichkeit-und-repression-teil-ii/">Teil II der
Artikelserie</a>).
Selbst medizinische Hilfe wird häufig nicht gewährt. Darüber hinaus sind
verhältnismäßig viele „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Land, was
sich bereits in der Grenzstadt <em>Šid</em> zeigte. Manche Kinder und
Jugendliche gelten derzeit als „staatenlos“, vor allem, wenn sie alleine
gereist sind oder ihre Angehörigen während der Reise verloren haben. Sie haben
einen noch schwereren Zugang zu Sozialleistungen und damit zu einer
Existenzsicherung. Ihre ökonomisch und sozial aussichtslose Lage macht sie
damit auch zu einem leichten Ziel für kriminelle Strukturen. Nicht wenige
wurden und werden im „Afghan Park“ angesprochen. Sie stecken ohne Hoffnung auf
Besserung ihrer Lage fest: Menschenschmuggler*innen zwingen sie, ihre
„Schulden“ für bisherige oder missglückte Grenzüberwindungen zu bezahlen. Als
Folge dieser Erpressung müssen viele zwangsweise für diese Strukturen arbeiten.
</p><p>
</p><p>Die
staatliche Diskriminierungspolitik betrifft jedoch nicht allein illegalisierte,
flüchtende Menschen in den Grenzgebieten zu Kroatien, Ungarn und Bulgarien. Das
Unvermögen der serbischen Regierung, den aktuell Flüchtenden notwendige
Versorgung und Perspektiven zu geben, geht einher mit einer massiven
Ausgrenzung <i>angestammter </i>Bevölkerungsgruppen. Die Rede ist von den
sogenannten „legal unsichtbaren“ Menschen, zu denen vor allem die
Bevölkerungsgruppe der Roma zählt. Nach offiziellen Angaben machen sie mehr als
zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihre Entrechtung hat viele Facetten,
aber eine der dramatischsten und folgenreichsten ist die Staatenlosigkeit
zahlreicher Roma. In der noch immer stark patriarchal geprägten Ordnung der
serbischen Gesellschaft ist es so zum Beispiel für „unregistrierte“ Romnija*
schwer, ihre Geburten registrieren zu lassen und die Staatsangehörigkeit
zugesprochen zu bekommen. Ein Augenmerk vieler serbischer NGOs liegt
dementsprechend darauf, Flüchtenden und Kindern aus serbischen Roma-Familien in
den landesweit 500 bis 600 informellen Siedlungen gleichermaßen den Zugang zu
staatlichen Wohlfahrtsleitungen zu ermöglichen. Ein Spagat, der mit sehr wenig
finanziellen Mitteln zu meistern ist.</p><h2>
<b>Mazedonien und die Vorverlagerung der EU-Außengrenzen</b></h2>
<p>Die
Delegationsreise führt uns von Serbien weiter nach Mazedonien. Die Lage der
Roma ist hier kaum anders: Sie sind von enormer Ausgrenzung betroffen, ein
Genosse beschreibt es als „worst situation“, als schlimmstmöglichen Zustand.
Aufgrund der gesellschaftlichen Isolation sind sie häufig gezwungen, mit
Pferdewagen in der Stadt umherzufahren, um selbst im Hausmüll noch Verwertbares
für das eigene Überleben zu suchen. Von circa 2. Millionen Einwohner*innen
stellen Roma einen Bevölkerungsanteil von bis zu 185.000 Personen dar, sind
aber politisch kaum im herrschenden politischen Betrieb sichtbar. </p><p>
</p><p>Auch
die wenigen Flüchtenden, die sich in Mazedonien selbst aufhalten gelten als
weitestgehend „vergessen“ und sind den katastrophalen Zuständen in den derzeit
sieben staatlichen Lagern ausgesetzt. Nichtsdestotrotz spielt der
südosteuropäische Staat eine wichtige Rolle in der europäischen
Abschottungspolitik: Aktuell ist <a href="http://www.rosalux.rs/en/governing_balkan_route">sein repressives Grenzregime</a> ein wesentlicher
Grund, warum die in Griechenland steckengebliebenen Flüchtenden nicht Richtung
Serbien und weiter in die EU aufbrechen können. </p><p>
</p><p>In
der Hauptstadt Skopje treffen wir einen Aktiven der neuen linken Bewegung <i>Leftist
Movement Solidarity</i> (<a href="https://levica.mk/english/">LEVICA</a>). Er berichtet uns
von den konkreten Auswirkungen der Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen
und führt uns die menschenverachtende Migrationspolitik des Landes nochmals
genauer vor Augen Vor allem das Camp nahe der griechischen Stadt Idomeni,
welches an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland liegt, hat hierbei
traurige Berühmtheit erlangt. Bereits im Herbst und Winter 2015 gingen die
mazedonischen Repressionsbehörden im Zuge der de facto Grenzschließung mit
brutaler Gewalt gegen die Menschen an der Grenze vor. Nur wenige Monate später
erfolgte im Mai 2016 die brutale Räumung durch die griechische Polizei. Bei
Idomeni handelt es sich allerdings nur um ein Beispiel für die enge Verzahnung
von EU-Interessen mit dem vasallenhaften Vorgehen des mazedonischen Staates. Die
Beziehungen zwischen Mazedonien und der EU sind an vielen Stellen eng verzahnt
und mafiös, <a href="http://www.criticatac.ro/lefteast/nationalism-at-the-rescue-of-macedonias-criminal-elite/">das zeigen die Erfahrungen</a> der Genoss*innen von LEVICA. </p><p>
</p><p>Die
EU auch nimmt einen enormen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der
Regierung. In diesem Zusammenhang berichtet der Genosse vom <a href="https://derstandard.at/2000048381453/Kurz-macht-in-Mazedonien-Werbung-fuer-Umstrittene-Regierungspartei">Besuch</a> des frischgekürten
österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) im November 2016 in
Skopje. In seiner damaligen Funktion als österreichischer Außenminister
bedankte Kurz sich ausdrücklich für die Schließung der sogenannten Westbalkanroute
und revanchierte sich postwendend mit Werbung für die damalige autoritäre
Regierungspartei Mazedoniens (VMRO-DPMNE). Der
EU-Staatenbund intervenierte auch, um die legalen Zugänge von Mazedonier*innen
in den europäischen Raum zu begrenzen. Konkret ging es dabei um die Praxis
Bulgariens, das früher relativ unkompliziert Pässe an Mazedonier*innen vergab,
sofern sie bulgarische Vorfahren nachweisen konnten. Ein solches Vorgehen ist
inzwischen unterbunden worden. </p><p>
</p><p>Neben
der effektiven Kontrolle der Migrationsbewegungen zielt das enge Verhältnis
ebenso auf eine tiefgreifende Neoliberalisierung des Landes ab. Nach der
Unabhängigkeit von Jugoslawien im Jahr 1991 setzte eine massive
Umstrukturierung ein. Innerhalb von nur fünf Jahren erfolgte die Privatisierung
von fast 93 Prozent der Betriebe und der vorhandenen Infrastruktur. Möglich
machte dies nicht zuletzt die massive Korruption, welche auf der tiefgreifenden
Verarmung und sozialen Perspektivlosigkeit weiter Teile der Gesellschaft
basiert. Das Gewinnstreben machte vor kaum etwas Halt: In den Jahren 2015 und
2016 kam es zu entsprechenden Versuchen, von den illegalisierten
Migrationsbewegungen zu profitieren. Während die Regierung nichts tat, um
Flüchtende mit dem Notwendigsten zum Leben zu unterstützen, erlebten mafiöse
Strukturen eine kurzzeitige Blüte. Das gemeinsame Ziel, schnell Geld zu
verdienen, führte Staatsbeamt*innen und Polizei, Bahnarbeiter*innen und
Menschenhändler*innen in <a href="https://www.youtube.com/watch?v=A5fDgJP2G30">einer dubiosen Melange</a> zusammen. Vor diesem
Hintergrund verwundert es wenig, dass nicht nur linke Basisaktivist*innen die
politischen Parteien und ihre Vertreter*innen als durchweg korrupte „Vasallen
der EU“ betrachten.</p><p>
</p><p>Während
unseres Aufenthaltes in Mazedonien läuft der Wahlkampf für die Parlamentswahlen
auf Hochtouren. Hoffnung auf Veränderung gibt es jedoch kaum. Die Jugendarbeitslosigkeit
liegt momentan bei circa 52 Prozent und der durchschnittliche Monatslohn
beträgt zwischen 120 und 360 Euro. Das Ergattern eines Jobs ist dabei im
privaten genauso wie im staatlichen Sektor häufig von der Zugehörigkeit zur
„richtigen“, also herrschenden, Partei abhängig. Das Land ist als Produkt
europäisch-neoliberaler Politik gezielt verarmt worden. Um von den
hausgemachten und von der EU-Politik produzierten Problemen abzulenken, ist
daher das rassistische Ticket im Wahlkampf umso beliebter. Gleichzeitig werden
vor allem jene diskreditiert, die Flüchtende unterstützen und politisch linke
Basisarbeit voranbringen. Die Schließung von „zu kritischen“ Zeitungen und
Fernsehsendern durch die Vorgängerregierung stärkte die reaktionäre Hegemonie
in der Presselandschaft umso mehr. Wir sprechen mit einem Aktivisten, der uns
ein Video aus dem mazedonischen Staatsfernsehen zeigt. Es zeigt Szenen, welche
heimlich bei einem Essen von mazedonischen Linken und griechischen
Anarchist*innen aufgenommen wurde. Eine Stimme aus dem Off behauptet: „Diese
Leute werden bezahlt, die Muslimisierung in Mazedonien voranzutreiben“, und
weiter: „Sie destabilisieren Mazedonien.“ Wir merken deutlich: Auch über
mediale Hetze hinaus sind regierungskritische Positionen einer enormen
Repression ausgesetzt. So geht der Genosse davon aus, dass die staatlichen
Behörden im Land ca. 20.000 Personen überwachen.</p><p>
</p><p>Auch
der Wahlsieg der Sozialdemokratischen Partei (SDSM) hat die tiefgreifende
politische Krise im Land nicht überwunden. Im Gegenteil. Die neue Regierung
zeigt sich bereits sehr gefügig gegenüber den EU-Interessen. So wurde etwa
Ausnahmezustand an der Grenze zu Griechenland im Dezember vom Parlament bis zum
30.06.2018 <a href="https://mazedonien-nachrichten.blogspot.de/2017/12/mazedonien-verlangert-ausnahmezustand.html">verlängert</a>. Ein solches
Vorgehen projiziert die Verarmung innerhalb der mazedonischen Bevölkerung auf
Menschen, deren Flucht in gewisser Weise ebenfalls ein Produkt der
EU-Außenpolitik ist. <br/>
<br/>
Die politische und ökonomische Situation in Mazedonien bleibt somit auf längere
Zeit gesehen ungewiss. Mit der Hoffnung auf ökonomische Verbesserungen werden
die mazedonischen Regierungen lediglich weiter handzahm EU-Interessen
durchsetzen. Sobald die EU-Mitgliedsstaaten ihre ökonomischen Interessen
gefährdet sehen, ist eine Einmischung in nationale Politik nicht weit. Gleichzeitig
läuft die Repressionsmaschinerie gegen linke Organisierungen beständig weiter.
Auch Initiativen gegen Korruption und Vetternwirtschaft sehen sich einer
enormen Kriminalisierung ausgesetzt. Auf der Fahrt zum Flughafen komme ich ins
Gespräch mit dem Fahrer Leon. Auf die Frage nach den bevorstehenden Wahlen
winkt er ab: „Es ist egal, wer regiert. Am Ende stecken sich alle das Geld in
die eigenen Taschen.“<br/></p></div>
</section>
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<img alt="Broz Spielfeld" height="2448" src="/media/images/Leere.original.jpg" width="3264">
<span class="content-copyright">Felix Broz</span>
</div>
<figcaption>
<p>Teil der Reihe "Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression"</p>
</figcaption>
</figure>
</section>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><h2>„Balkanroute
rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression“
</h2><p>Im
Oktober nahm re:volt - Autor Felix Broz an einer Bildungsreise des
Vereins „Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin“
durch Südosteuropa teil. Im Vordergrund stand die aktuelle Situation
auf der sogenannten „Balkanroute“. Nachdem Ende 2015 ein Großteil
der regionalen Staatsgrenzen weitestgehend geschlossen wurden,
stecken tausende Menschen auf der Flucht in verschiedenen Staaten
Ex-Jugoslawiens sprichwörtlich fest. Das repressive europäische
Grenzregime mit seiner umfassenden Sicherheitsarchitektur unterbricht
ihre Flucht an den unmittelbaren EU-Außengrenzen sowie den
nationalen Grenzen möglicher Beitrittskandidaten (Serbien,
Mazedonien). Was sie dann erleben müssen, ist Stigmatisierung,
Illegalisierung und eine umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung. In
der dreiteiligen Artikelserie für das re:volt magazine zeichnet Felix
Broz die aktuelle Situation um Flucht, Staatlichkeit und Repression
auf der Route Österreich / Slowenien, Kroatien / Serbien und
Mazedonien nach.</p></div>
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</article>
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