re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=2212020-04-13T15:24:24.261013+00:00Solidarität heißt Solidarität für Alle2020-04-13T08:33:34.870784+00:002020-04-13T15:24:24.261013+00:00Karinredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/solidarit%C3%A4t-hei%C3%9Ft-solidarit%C3%A4t-f%C3%BCr-alle/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Solidarität heißt Solidarität für Alle</h1>
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<span class="content-copyright">Protestfotografie.Frankfurt</span>
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<div class="rich-text"><p><i>[Editorial:] Am 05. April 2020 versammelten sich zum bundesweiten Aktionstag der Seebrücke-Solidaritätsgruppen in Frankfurt am Main Menschen, um gegen die unhaltbaren Zustände in den Geflüchtetenlagern auf der Balkanroute zu demonstrieren. Unter dem Vorwand des Infektionsschutzes kam es zu Repression - auch dokumentiert von den Kolleg*innen</i> <a href="https://www.youtube.com/watch?v=JvGG2WWdXi8&fbclid=IwAR2ByrgWAttfFlONhrloTHCrqctpdowxZaG-q_aEjzxrqBKLHrQEc5u5V-0"><i>des Medienkollektivs Frankfurt</i></a><i>. Nachfolgend ein Bericht der Aktivistin Karin von der</i> <a href="https://seebruecke-frankfurt.de/"><i>Seebrücke Frankfurt</i></a><i>.</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Am vergangenen Sonntag trafen wir uns einzeln, aber gemeinsam in Frankfurt/M auf der Straße, um an dem bundesweiten Seebrücke-Aktionstag teilzunehmen. Wir bildeten dabei am Ufer des Mains eine Menschenkette. Wir trugen Mundschutz, hielten Abstand von zwei bis drei Metern und berührten uns nicht. Dabei hatten wir Schilder und Transparente, Fahnen und Rettungswesten, um auf unsere Forderung nach sofortiger Evakuierung der griechischen Geflüchtetenlager aufmerksam zu machen. Dem Vorschlag folgten hunderte Aktivist*innen: Ein beeindruckendes Bild des Protestes und ein großer politischer Erfolg in der Stille, die durch den Corona-Shutdown eingetreten ist. Während ein Großteil der Beteiligten die Aktion selbstbestimmt verlassen konnte, eskalierte die Polizei gegen Ende völlig unnötig und grundlos durch brutale Ingewahrsamnahmen und Personalienfeststellungen.</p><p></p><p>Was war passiert? Bei diesem Wetter ist das Mainufer ein viel besuchter Ausflugsort. Unser Versuch nicht nur zu spazieren, nicht nur am Mainufer rumzustehen oder zu sitzen, nicht nur zu lesen, sich zu sonnen oder eine Zigarette zu rauchen, sondern dabei auch noch ein Schild mit einer Botschaft zu tragen, wurde zum Problem erklärt. Denn ein Schild verweist auf zwei Sachen: Auf koordiniertes, abgesprochenes Verhalten und auf eine gemeinsame Botschaft. Diese Tatsache macht mehrere Personen mit Schild juristisch zu einer Versammlung, die nach Auslegung der hiesigen Corona-Verordnung durch die Polizei derzeit in jedweder Form verboten ist.</p><p></p><p>Dass hier eine Versammlungsanmeldung vorlag und einfach ignoriert wurde, und dass die Rechtsgrundlage diese Interpretation der Frankfurter Polizei gar nicht hergibt, ist das eine. Mindestens genau so problematisch ist aber der Umstand, dass sich bei der Polizei (und nicht nur der hessischen) offensichtlich Eigendynamiken in einer vermeintlich rechtmäßigen Exekutierung einstellen. Durch das Verhalten der Polizei wurde unsere Aktion der Seebrücke neben dem Einsatz für die Rechte und den Schutz der Geflüchteten plötzlich zusätzlich zu einer Auseinandersetzung um Grundrechte.</p><p></p><p>Dass der überwiegende Teil der Bevölkerung weiterhin arbeitet, die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt werden, Menschen in langen Schlangen an Supermarktkassen anstehen oder in der Sonne im Park sitzen ist kein Problem, sondern Corona-Alltag. Dass all diese Menschen die Corona-Schutzvorschriften des Abstands, der Hygiene und so weiter mal mehr, mal weniger genau einhalten, ebenso. Wenn dann die Polizei (wohlgemerkt ohne Mundschutz) einen Protest von Aktivist*innen unterbinden will, der unter penibler Einhaltung des Abstands stattfindet, wirft das einige Fragen auf. Sie muss sich fragen lassen, worum es hier eigentlich geht, worin sich denn die Menschenkette am Main von denen vor den Supermärkten unterscheiden soll? Wenn dann aber die Polizist*innen Menschen brutal festhalten, mit Kabelbinder fesseln, auf den Boden drücken und sogar ein Presseausweis Journalist*innen nicht vor der gleichen Behandlung schützt, muss man konstatieren, dass der Polizei wohl Allmachtsphantasien zu Kopf gestiegen sind.</p><p></p><p>Die Situation der Geflüchteten ist erschütternd. Politiker*innen, Journalist*innen und Strukturen der Selbstorganisierung von Geflüchteten sind in Moria, berichten täglich von unhaltbaren und inhumanen Bedingungen aus den Lagern Griechenlands, von der griechisch-türkischen Grenze, aber auch vom Balkan. Sie sprechen davon, dass diese Bedingungen auch ohne Corona schon lebensgefährlich seien, dass das fließende Wasser abgestellt worden sei, dass es zu wenig Nahrungsmittel gäbe, dass Angst und Verunsicherung unter den eng beieinander lebenden Menschen stetig stiegen. Aber diese Nachrichten verhallen. Sie prallen förmlich ab. Es kommt zu keiner Rettung, zu keinen Asylverfahren und noch nicht einmal zu einer Verbesserung der dortigen Versorgung. Hier wird deutlich: Es ist ein Privileg, Abstand halten zu können. Es ist ein Privileg, Corona-Regeln einhalten zu können. Für die Forderung, die Lager zu evakuieren, gilt es deshalb keine Zeit zu verlieren. Ein Protest, um dies durchzusetzen, kann nicht bis zur „Nach- Corona-Zeit“ warten. Deswegen werden wir keine Ruhe geben, bis unsere Forderungen umgesetzt sind.</p><p></p><p>Wir waren am vergangenen Sonntag viele. Und trotz des unrühmlichen Verhaltens der Polizei sind wir alle mit Stärke und einer gewachsenen Vorstellung davon nach Hause gegangen, dass Protest in Zeiten von Corona nicht nur möglich ist, sondern auch fortgesetzt werden muss. Uns geht es dabei nicht ums Prinzip, sondern um Solidarität für alle.</p></div>
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Das Geschäft mit der Flucht2019-11-06T13:05:50.283311+00:002019-11-06T13:13:51.737258+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/das-gesch%C3%A4ft-mit-der-flucht/
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<h1>Das Geschäft mit der Flucht</h1>
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<div class="rich-text"><p></p><p><i>Auch in diesem Jahr sind wir als Medienpartner*innen an einem Broschürenprojekt aus Berlin beteiligt. In der zum 30. Jahr des „Mauerfalls“ erscheinenden Broschüre</i> <a href="https://antifa-nordost.org/8948/broschuere-veranstaltungsreihe-deutschland-ist-brandstifter/">„Deutschland ist Brandstifter! Gegen den BRD-Imperialismus und den Mythos Friedliche Revolution“</a> <i>steuern wir als re:volt magazine unter anderem den nachfolgenden Text zu BRD-Imperialismus und Migrationspolitik bei. Release der Broschüre ist am Donnerstag, den 7. November 2019 um 19:30 Uhr im Zielona Góra (Grünberger Straße 73 / Friedrichshain).</i></p><p></p><hr/><p></p><p>Carola Rackete, Pia Klemp, Claus-Peter Reisch – die Namen einiger Kapitän_innen, deren Boote und Crewmitglieder in den letzten Jahren zehntausende Menschen auf dem Mittelmeer versorgten, kennt hierzulande fast jeder_r. Gegen sie wurden, zumeist seitens des italienischen Staats, Verfahren wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ eingeleitet. Neben einer – leider zu erwartenden – Wand an Hass und Drohungen von rechts erhalten die Angeklagten aber auch vielfältige politische und finanzielle Unterstützung. Im ganzen Diskurs um Fluchthilfe bleibt allerdings oft eines unbeachtet: Migrant_innen aus nicht-EU-Ländern sind nicht nur Opfer der europäischen Migrationspolitik, sondern werden auch als Fluchthelfer_innen massiv kriminalisiert. Während bislang kaum europäische Angeklagte rechtskräftig verurteilt wurden, werden wöchentlich Gerichtsprozesse gegen Personen aus anderen Ländern geführt, die wegen Schmuggel angeklagt sind. Diese werden zu Höchststrafen verurteilt. Die Organisation Border Monitoring hat im Frühsommer 2019 <a href="https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2019/07/15/the-war-against-smuggling-incarcerating-the-marginalized/?preview=true&_thumbnail_id=1454">Zahlen</a> zu den Verfahren auf der griechischen Insel Lesbos veröffentlicht. Anhand der Beobachtung von 41 Prozessen kommen sie zu folgenden Ergebnissen: Ein Gerichtsverfahren dauert im Durchschnitt 28 Minuten, die durchschnittliche Verurteilung beträgt 44 Jahre Gefängnis und über 370 000 Euro Strafe.</p><p>Die Organisation berichtet etwa von Jamil, der aus Afghanistan flüchtete. Er wurde zu 90 Jahren Haft verurteilt, von denen er 25 Jahre absitzen soll. Hinzu kommt eine Strafzahlung von 13 000 Euro. Jamil wurde festgenommen, weil er ein Boot mit Flüchtenden in Richtung Lesbos lenkte. Um die Überfahrt für seine Frau und ihn überhaupt bezahlen zu können, hatte er die Anfrage der Schmuggler angenommen, während der Überfahrt hinter der Pinne zu stehen – nicht wissend, dass dies eine Straftat darstellt. Während seine Frau zwischenzeitlich in Deutschland ist, wurde sein Gerichtsappeal erneut abgewiesen. Rûnbîr Serkepkanî von der Organisation CPT-Lesvos <a href="https://dm-aegean.bordermonitoring.eu/2019/07/15/the-war-against-smuggling-incarcerating-the-marginalized/?preview=true&_thumbnail_id=1454">beschreibt</a>: „Die meisten von ihnen sind arm, sie sind Studenten, sie sind Migranten, die es sich nicht leisten konnten, die Reise zu den Ägäischen Inseln zu bezahlen.“ Verurteilt werden – wie Jamil – zumeist diejenigen, die sich bereit erklärt haben (oder per Zwang dazu gebracht wurden), die Lenkpinne der Schlauchboote zu halten. Für manche Anklagen genügt es aber auch, diejenigen zu sein, die per Telefon Hilfe rufen, wenn das Boot kentert. Das eigentlich Perfide an diesen drakonischen Schauprozessen ist aber, dass dadurch die Menschen, die zumeist aus Zwang migrieren, als Bedrohung für Europa und seine Mitgliedstaaten inszeniert werden. Und dass die Agenturen und Konzerne, die sich die Abwehr der Flüchtenden und den Grenzschutz auf die Fahne geschrieben haben, von diesem Narrativ massiv profitieren.</p><p></p><h3><b>Im bundesdeutschen Laboratorium perfektioniert</b></h3><p>Menschen migrieren - schon immer. Wanderungsbewegungen sind ein zentraler Bestandteil der menschlichen Geschichte. Ein Beispiel: Zwischen 1850 und 1920 emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa. Das entsprach ungefähr 17 Prozent der Bevölkerung Europas im Jahre 1900. Einige Menschen wählten die Landroute, ließen sich im asiatischen Teil des damaligen russischen Zarenreichs nieder. Der Großteil bewegte sich allerdings in Richtung Nordamerika, viele davon aus prekären ökonomischen Gründen oder aufgrund von Verfolgung. Es waren also vielfach die Armen, die Überflüssiggemachten der kapitalistischen Industrialisierung in dieser Zeit, die den Weg über Land oder Meer antraten. „Würden heute anteilig so viele Menschen des Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären das 800 (!) Millionen Menschen“, fasst ein Artikel im re:volt magazine <a href="https://revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-humanismus-zur-linken-migrationsdebatte/">pointiert zusammen</a>. Während heutzutage kurz- oder mittelfristige Wanderungsbewegungen privilegierter Migrant_innen (damit sind Menschen gemeint, die <a href="https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/atlasofmigration2019_web_190614__1_.pdf">ohne VISA-Anträge</a> in die allermeisten Länder reisen können, etwa deutsche Staatsbürger_innen) als selbstverständlich wahrgenommen und vielfach begrüßt werden, wird gleichzeitig versucht, Migration aus anderen Teilen der Welt als „irregulär“ oder „gefährlich“ darzustellen und mit großem Aufwand zu verhindern. Die Regierungen und Bündnisse, die diese Unterscheidung betreiben, verfolgen damit offensichtlich spezifische Eigeninteressen. Darunter fällt die Bestrebung nach Einfluss darauf, wer das Recht hat, zu migrieren – oder passender: wer an welcher Stelle des Planeten von größtmöglichem ökonomischem oder strategischem Nutzen ist.</p><p>Der Blick auf die erweiterten Migrationsgründe von Menschen, die fast immer von Krieg, Konflikten, Überausbeutung und Gewalt, existenzieller Armut, Perspektivlosigkeit, Umweltzerstörung und so weiter geprägt sind, fällt dabei unter den Tisch. Nach Zahlen des UNHCR befinden sich derzeit rund 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht, davon über 40 Millionen Binnenvertriebene (die im Land selbst migrieren), und über 25 Millionen Personen, die sich über Staatsgrenzen hinweg bewegen. 80 Prozent der Refugees bleiben in den unmittelbaren Nachbarländern, nur wenige Prozent begeben sich überhaupt auf die Reise nach Europa. Es ist offensichtlich: Migrationsbewegungen haben in den vergangenen Jahren aufgrund der Kriege und Krisen in Syrien, im Irak, in Mali, in Libyen, in Afghanistan etc. zugenommen. Krisen und Konflikte im Übrigen, die oft genug durch die imperialistische Konkurrenz und das Wettrennen um Märkte und Handelsrouten befeuert wurden. Dass Menschen dennoch der Vorwurf gemacht wird, aus „wirtschaftlichen“ Gründen zu fliehen, müsste schon allein von dieser Warte aus völlig absurd erscheinen: Millionen superausgebeutete Arbeiter_innen des globalen Südens, die für westliche Großkonzerne ihre Gesundheit ruinieren; die Unmöglichkeit, mit den Produktivitätsvorteilen und den Subventionsketten der westlichen Länder konkurrieren zu können, das immer weiter intensivierte Landgrabbing großer Konzerne aus den imperialistischen Zentren und so weiter: die allermeisten Gründe, ein Land zu verlassen und nach besseren Lebensbedingungen Ausschau zu halten, sind also im Kern des imperialistischen Weltsystems zu finden.</p><p>Dass die Menschen, die migrieren, kaum Möglichkeiten haben, die erhofften besseren Perspektiven zu finden – daran haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, allen voran Deutschland, in den vergangenen Jahrzehnten einen wichtigen Anteil geleistet. Es gelang vor allem auf der Ebene der Normalisierung und Implementierung des restriktiven Migrationsmanagements in den kapitalistischen Zentren. Oftmals fungierte die Bundesrepublik als Laboratorium für Pläne, die gemeinsam in den europäischen Kommissionen diskutiert und weiterentwickelt wurden. So wurde in der BRD etwa zu Beginn der 1990er Jahre der „Asylkompromiss“ – ein Gesetzespaket mit Grundgesetzänderung zur Verschärfung von Asylbedingungen – verabschiedet. Das Paket etablierte die Drittstaatenklausel und ebnete den Weg für die bald darauffolgenden gesamteuropäischen Dublin-Regelungen zur weiteren Einschränkung der Bewegungsfreiheit von nichteuropäischen Migrant_innen. Dublin-Abkommen und Co. sorgten infolge dafür, dass die meisten Flüchtenden in Außengrenzen-Staaten wie Griechenland und Italien bleiben mussten. Seitdem die Migrationszahlen in der BRD wieder steigen, mischt die Bundesregierung ganz vorne bei der EU-weiten Grenz- und Migrationspolitik mit; auch, was die ideologischen Grenzziehungen zwischen einem „Europa der Werte“ und dem „Dort“, dem „Jenseits der Grenze“ angeht.</p><p></p><h3><b>Schutz der Außengrenzen</b></h3><p>An den Außengrenzen errichtet Europa, unter kräftigem Antrieb von Deutschland, immer schwerer überwindbare Sperrzäune und Grenzanlagen. Dass Menschen am Betreten anderer Länder gehindert werden dürfen, darüber besteht völkerrechtlich Einigkeit. Gewichtige Gründe für Flucht und Migration bügeln die dafür Verantwortlichen, wie 2013 der ehemalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), <a href="https://daserste.ndr.de/panorama/Wie-aus-Menschenrettern-Kriminelle-werden-,syrien481.html">in einem Interview</a> weg: „Wir haben Gesetze, die klipp und klar sagen, dass diejenigen, die kein Recht haben, keinen Anspruch, hierherzukommen, auch nicht hierherkommen dürfen.“ Wenig verwunderlich: Die Menschen versuchen es dennoch. Von Westafrika aus mit kleinen Booten zu den kanarischen Inseln, über die meterhohen Zäune rund um die spanischen Enklaven Mellila und Ceuta, durch die kalten Wälder der Balkanroute, über das Mittelmeer in Richtung Italien oder hin zu den griechischen Inseln - welcher Teil der europäischen Außengrenzen von Fliehenden und mit, neben, hinter ihnen von ihren hochgerüsteten Häschern besonders Beachtung findet, ist starken Konjunkturen unterworfen. Vor allem hängt es daran, wieviel Geld die EU wie schnell in die Hand nimmt, um die Bewegung flächendeckend zurückzudrängen. War die mittlere Mittelmeerroute noch bis zum Zerfall Libyens recht wenig genutzt, nahm sie nach 2013 rasch Fahrt auf: Das Schmuggel-Geschäft mit Migrant_innen war für libysche Milizen lange Zeit eine der wichtigsten Einnahmequellen, tausende Menschen wurden so über das Meer gelotst. Im Sommer 2017 änderte sich die Strategie, in die auch die libysche Regierung eingebunden war. Beigetrage dazu haben Druck durch die EU und UN-Sanktionen. Vor allem aber die lukrativen Angebote: Aus dem EU-Hilfsfond wurden beispielsweise im Jahr 2017 <a href="https://ec.europa.eu/germany/news/eu-hilfsfonds-f%C3%BCr-afrika-46-millionen-euro-f%C3%BCr-den-grenzschutz-libyen_de">46 Millionen Euro</a> an Tripolis weitergereicht – direkt zum Ausbau des Grenzschutzes. Weitere millionenschwere Abkommen folgen. Zwei Jahre später wird die Route von Tripolis aus kaum mehr genutzt, die Schmuggler haben sich auf weiter entfernte und gefährlichere Startpunkte verlagert. Die Kooperation mit der libyschen Küstenwache hat zudem <a href="https://www.globaldetentionproject.org/countries/africa/libya">zur Internierung</a> zehntausender geflüchteter Menschen in Lagern geführt, in denen sie Missbrauch, Folter und Ausbeutung erfahren. Die Menschenrechtsanwälte Omer Shatz und Juan Branco schätzen die Zahl auf diese Weise internierter Personen allein für die Jahre 2016 bis 2018 auf mehr als 40.000. Diese Entwicklung hat die Bundesregierung auch mit der Absage an Seerettungs-Programme wie „Mare Nostrum“ und der Unterstützung der libyschen Küstenwache forciert. In voller Kenntnis der mörderischen Folgen.</p><p>Das durch ein unabhängiges Journalist_innenkollektiv ins Leben gerufene Projekt <i>The Migrants‘ Files</i> fand vor wenigen Jahren medial große Beachtung: Es veröffentlichte die bisher umfassendste Studie zur Anzahl von Todesfällen und Vermisstenmeldungen von Migrant_innen auf dem Weg nach Europa. Die detaillierte Datenbank zählt über 30 000 Einträge und umfasst den Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis Mitte 2016. Innerhalb weniger Jahre starben also über 30 000 Migrant_innen bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen oder dort zu bleiben. Leider wurde das wichtige Projekt danach nicht weiterfinanziert, weshalb es für alle weiteren Jahre nur unvollständige Daten gibt. Der Liste können also nochmals tausende Menschen hinzugerechnet werden, die bis heute den Tod fanden. Die Toten sind keiner „Schlepperbande“ und keinem „tragischen Unglück“ geschuldet, sondern Resultate einer bewusst gestalteten Politik.</p><p>Der maritime Raum zwischen Griechenland und der Türkei wird ebenfalls stark überwacht. Hier setzen in den letzten Jahren zahlreiche Menschen über, viele davon aus Syrien. Seit dem als „EU-Türkei-Deal“ bekanntgewordenen Abkommen, welches vor allem von Angela Merkel und ihrem damaligen Gesprächspartner Ahmet Davutoğlu eingetütet wurde, gingen die Ankunftszahlen fast vollständig zurück. Teil des millionenschweren Deals war die Vereinbarung, dass die Türkei ein Kontingent der bereits auf Lesbos angekommenen Refugees wieder zurücknehmen solle; im Gegenzug dürfe dieselbe Anzahl handselektierter Asylantragssteller_innen aus der Türkei in die EU einreisen. Es gleicht seitdem einem Schmierentheater, dass sich EU und Türkei immer wieder <a href="https://www.zeit.de/politik/2019-09/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-fluechtlinge-migranten-europa">wechselseitig den Deal aufkündigen wollen</a>. Er ist ein öffentlichkeitswirksamer Pappkamerad, der beiden Seiten nützt. Für die Partien ist und bleibt diese Partnerschaft gewinnbringend – die Drohgebärden sind Ablenkungsmanöver, die die jeweils kritische oder liberale Öffentlichkeit besänftigen sollen. Ein interner Bericht der EU-Kommission, <a href="https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/fluechtlingspolitik-abschiebungen-griechenland-eu-kommission-tuerkei">der jüngst öffentlich wurde</a>, fordert indes eine radikalere Abschiebung von Menschen aus den griechischen Lagern in die Türkei.</p><p></p><h3><b>Tote vor den Toren</b></h3><p>Noch tödlicher als die Mittelmeer-Route ist die Sahara. Es ist kaum zu ermitteln, wie viele Menschen genau auf ihrem Weg durch die Wüste jährlich ums Leben kommen, sie werden auch nicht in der Studie erfasst. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass es mindestens doppelt so viele sind wie im Mittelmeer – sie schätzt die Anzahl der in der Wüste verstorbenen auf über 30 000, <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/alarmphone-sahara-wie-private-retter-versuchen-migranten-aus-der-todeszone-zu-holen-a-1282608.html">alleine in den Jahren 2014 bis 2018</a>. Die Subsahara kam in den letzten Jahren ebenfalls zunehmend in den Blick der EU-Grenzschützer – mit verheerenden Folgen für die Flüchtenden.</p><p>Dass das EU-Projekt kein explizit demokratisches, sondern vielmehr ein auf ökonomischen und geostrategischen Interessen basierendes Projekt ist, dürfte klar sein. Ihm ist die Externalisierung der Grenzen von Anfang eingeschrieben. Bei den europäischen Bestrebungen, Grenzsicherung und Migrationsmanagement in Drittstaaten zu verlagern, geht Deutschland als Brandstifter voran. „Wir übernehmen Verantwortung in der Welt, und das mit einem vernetzten Handlungsansatz: Außenpolitik, Sicherheit und Entwicklung. (…) Entwicklungspolitik hat in der heutigen Zeit einen vollkommen neuen Stellenwert bekommen“, so <a href="https://www.kas.de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/fluchtursachenbekaempfung-in-subsahara-afrika">Bundesentwicklungsminister Müller</a> im vergangenen Jahr im Bundestag. In der afrikanischen Sahelzone soll weiterhin Einfluss auf die „illegale Migration“ nach Europa genommen werden. Dazu verstärkte Deutschland etwa seinen 2013 begonnenen militärischen Einsatz in Westafrika und sagte den beteiligten Staaten weitere Mittel zu.</p><p>Auch das Geld der EU fließt dorthin, wo die Migrationsbewegungen am effektivsten gestoppt werden können. 3000 Millionen Euro wurden im Jahr 2016 für solcherlei Projekte (Aufstockungen der Grenzpatrouillen, Kontrolle der Einreisewege, Verschärfung von Überwachungen und so weiter) bereitgestellt, so viel wie niemals zuvor. Für die Vergabe zentral: die Bereitschaft der Länder, als willfährige Türsteher Europas im repressiven Migrationsregime zu fungieren. Einen großen Anteil erhielten die für Migrationsbewegungen zentralen Länder wie Libyen (126 Millionen) und Senegal (162 Millionen), aber auch Niger (167 Millionen), Mali (152 Millionen) oder der Sudan (106 Millionen). Die EU nutzt die militärische, politische und ökonomische Abhängigkeit der Länder dazu, um Mitarbeit bei der Migrationskontrolle zu erzwingen.</p><p>Ein Beispiel der vielen Programme, unter denen dies geschieht: Das „Better Migration Management Programme Phase II“ des European Emercgency Trust Fund (EUTF) stellt seit Mitte 2019 für die Region rund um das Horn von Afrika <a href="https://ec.europa.eu/trustfundforafrica/region/horn-africa/regional/better-migration-management-programme-phase-ii_en">Gelder</a> in Höhe von 35 Millionen Euro (wieder kommen fünf Millionen davon direkt aus der BRD) bereit – ein Großteil davon dient der Verhinderung von irregulärer Migration in Richtung globaler Norden. Diese Summen sind nur einige kurze Einblicke in das Kontrollregime, welches – im Namen von Entwicklungszusammenarbeit und Marshallplänen für Afrika – den gesamen Kontinent zu überziehen sucht.</p><p>Ein Blick auf den <a href="https://migration-control.taz.de/#de/countries/sudan">Sudan</a>: Die Lage hier ist seit Jahren höchst instabil. Menschen fliehen von dort aus guten Gründen, gleichzeitig ist das Land Transitland für Fliehende aus Eritrea, dem Südsudan oder Somalia. Die jüngst beschlossene Entwicklungshilfe über 28 Millionen Euro (davon alleine 26 Millionen direkt aus Deutschland) soll natürlich die Infrastrukturen vor Ort stärken - man bemühe sich, den desaströsen Bedingungen in den Refugee-Camps Herr zu werden. Aber: Es geht vielmehr um den Verkauf von Sicherheitstechnologie und nicht zuletzt auch ganz offen um die Bekämpfung von „irregulärer Migration“. Dazu werden auch Soldaten und Sicherheitsbeamte in die Regionen geschickt, um den polizeilichen Strukturen vor Ort „effektive Grenzkontrollen“ beizubringen.</p><p>In Tunesien bilden deutsche Bundespolizist_innen Grenzpatrouillen aus, die Bundeswehr sendet Schnellboote und gepanzerte Lastwagen. 2017 lieferte Deutschland mobile Überwachungssysteme mit Bodenaufklärung, zuvor waren es schon Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, optische Sensoren und Radarvorrichtungen <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html">von</a><a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html"> Airbu</a><a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/migration-deutschland-baut-weiter-an-tunesiens-grenze/20715140.html">s</a>. Bezahlt wird die Hightech-Grenze von der deutschen Bundesregierung (im Jahr 2017 etwa 34 Millionen Euro). Im Dezember 2016 beschloss das deutsche Bundeskabinett, sich an der EU-Mission SAHEL-CAP („zur Bekämpfung von Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel“) im Niger zu beteiligen. Seither werden jährlich (Bundes)Polizist_innen nach Niger geschickt – dem wichtigsten Transitland für afrikanische Flüchtende auf dem Weg nach Europa. Ziel ist der „Aufbau und Erhalt von Sicherheitsstrukturen“ sowie der Ausbau von <a href="https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2019/bundespolizei-bericht2018.pdf?__blob=publicationFile&v=2">„Kapazitäten im Grenz- und Migrationsmanagement“</a>. Das Interpol-Projekt <a href="https://migration-control.taz.de/#de/countries/deutschland"><i>Adwenpa II</i></a> wurde ebenfalls von der Bundesregierung finanziert. Von 2016 bis 2018 wurden dabei in 14 westafrikanischen Staaten Grenzkontrolleur_innen ausgebildet. Interpol schulte in Mali, Marokko, Mauretanien, Niger, Tunesien, Burkina Faso und Tschad – finanziert von Deutschland. Neun Hightech-Grenzstationen zwischen Niger und Nigeria gab es gleich mit dazu. Davon bezahlte das Auswärtige Amt drei, die Europäische Union die übrigen sechs. In vielen afrikanischen Ländern wie Mali wurden Grenzübertritte massiv erschwert, ebenfalls auf „Bitte“ der EU.</p><p>Allerdings: Die Pläne der EU, in afrikanischen Ländern Lager zu errichten, in denen Migrant_innen noch vor dem Erreichen europäischen Bodens geprüft (und abgewiesen) werden sollen, scheiterten bislang. Nicht zuletzt, weil sich die Afrikanische Union (AU) dagegen wehrt, wie aus einem Papier von Februar 2019 hervorgeht: Darin wendet sie sich gegen die Pläne der EU, auf afrikanischem Boden „De-facto-Haftanstalten“ einzurichten, in denen die Rechte der Inhaftierten <a href="https://www.theguardian.com/world/2019/feb/24/african-union-seeks-to-kill-eu-plan-to-process-migrants-in-africa">mit Füßen getreten werden</a>.</p><p></p><h3><b>Neue und gestärkte Bündnisse</b></h3><p>370 Mitarbeiter_innen und ein Jahresbudget von 142 Millionen Euro, so sahen die Bedingungen für die „Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ (Frontex) vor vier Jahren aus, zu dem Zeitpunkt, an dem die genannte Studie entstand. Heute sind es 1.500 Mitarbeitende und 330 Millionen Euro Budget, im Jahr 2020 soll es sogar 420 Millionen Euro betragen. Getragen wird Frontex von den Ländern der EU sowie Norwegen, Island, Liechtenstein und der Schweiz. Für den kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (Er trägt den vielversprechenden Namen „Ein moderner Haushalt für eine Union, die schützt, stärkt und verteidigt“ – oder wird einfach mit MFR abgekürzt) schlug die Europäische Kommission im Herbst 2018 vor, für ein aktualisiertes Mandat von Frontex eine ständige Reserve von 10 000 Grenzschutzbeamten zu schaffen.</p><p>Auch die Mittel für den zentralen Bereich Migration und Grenzmanagement sollen mit 34,9 Milliarden Euro <a href="https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/02/20/european-border-and-coast-guard-council-agrees-negotiating-position/">beinahe verdreifach</a>t werden (gegenüber knapp 13 Milliarden Euro im laufenden Zeitraum 2014-2020). Dies solle dazu dienen, „gezielt auf die zunehmenden Herausforderungen in den Bereichen Migration, Mobilität und Sicherheit zu reagieren […] und eine wirksamere Migrationspolitik [zu] ermöglichen.“ Hier werden gestärkte Mandate für Frontex im Bereich der „wirksamen Rückführung“ und der Zusammenarbeit mit Drittländern genannt. Im Februar 2019 einigten sich die EU-Botschafter_innen, den Vorschlag als Grundlage für die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament aufzunehmen.</p><p>Wichtige Entscheidungen für die Arbeit von Frontex werden im Übrigen im Verwaltungsrat der Agentur getroffen. Die stellvertretende Leitung hat Ralf Göbel inne, ein früherer Vizepräsident des Bundespolizeipräsidiums. Auch der Leiter der Frontex-Operativabteilung Klaus Rösler ist Deutscher. Im August 2019 konfrontierte ein Rechercheteam Frontex damit, an den EU-Außengrenzen Menschenrechtsverletzungen durch nationale Grenzpolizist_innen zugelassen zu haben oder gar <a href="https://correctiv.org/top-stories/2019/08/04/frontex-transparenz/">selbst daran beteiligt gewesen zu sein</a>. Man prüfe den Vorwurf, heißt es von Seiten der EU-Kommission. Im gleichen Atemzug wird aber seitens der Agentur der Vorwurf „kategorisch“ ausgeschlossen, die eigenen Beamten seien im Grenzeinsatz an „Verletzungen von Grundrechten“ beteiligt. Es habe sich über die Frontex-Beschwerdestellen schließlich keine_r diesbezüglich gemeldet.</p><p>Bezüglich einer neuen EU-Militärunion wird nicht zuletzt die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) der EU-Mitgliedsstaaten immer zentraler, die Anfang 2018 <a href="https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/pesco_factsheet_05-03-2018.pdf">an den Start ging</a>. Faktisch kann die PESCO als eine von Deutschland und Frankreich dominierte Reorganisation der EU-Militärpolitik angesehen werden, die durch eine Aufstockung der Verteidigungshaushalte der teilnehmenden Staaten sowie eine Förderung der EU-Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte finanziert wird.<a href="http://www.lisbon-treaty.org/wcm/the-lisbon-treaty/treaty-on-european-union-and-comments/title-5-general-provisions-on-the-unions-external-action-and-specific-provisions/chapter-2-specific-provisions-on-the-common-foreign-and-security-policy/section-2-provisions-on-the-common-security-and-defence-policy/133-article-46.html"> Der Vertrag von Lissabon</a> mit seinen Artikeln für militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik macht es möglich. <a href="https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/europa-muss-handlungsfaehig-sein-1141498">Angela Merkel dazu</a>: „Nun sehe ich die Themen Grenzsicherung, gemeinsame Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen als wirkliche Existenzfragen für Europa. […] Das heißt, die europäische Grenzpolizei muss das Recht haben, an den Außengrenzen eigenständig zu agieren. […] Wir brauchen einen intelligenten Ansatz auf mehreren Ebenen. Unsere Datensysteme müssen in ganz Europa vernetzt werden, damit wir wissen, wer sich bei uns aufhält.“ Migrationspolitik wird zu Grenzpolitik und zu einer treibenden Kraft der europäischen Identität, powered by Germany.</p><p>Die Absicherung der eigenen Interessenspolitik, auch auf militärischem Wege, ist ein bewährtes Mittel, welches dem Imperialismus inhärent ist, ebenso wie der Rückgriff auf territorial ausgreifende Krisenbewältigungsstrategien. Dies dient nicht den vorgeblich moralisch-ethischen Begründungsmustern, sondern grundsätzlich immer der Absicherung von Verwertungsbedingungen, der Expansion, der Unterjochung.</p><p></p><h3><b>And the money goes to…</b></h3><p>Das bereits genannte Journalist_innenkollektiv lancierte im Übrigen noch ein weiteres Recherche-Projekt: <a href="http://www.themigrantsfiles.com/#/the-money-trails"><i>The Money Trails</i></a><i>.</i> Darin zeichnete das Team Geldströme nach, welche bei dem Geschäft mit Geflüchteten durch öffentliche und private Hände fließen. Es hat monatelang Dokumente analysiert und mit zahlreichen Vetreter_innen von Politik, NGOs und Privatunternehmen, aber auch mit Geflüchteten, „Schleppern“ und Grenzbeamten gesprochen. Das Ziel: „Manche der ökonomischen Profiteure der Abschottungspolitik Europas aufzudecken.“ Die Recherchen zeigen: Das Geschäft mit den Geflüchteten nach Europa generierte seit dem Jahr 2000 mindestens 1,6 Milliarden Euro Umsatz. Davon ging ein Großteil an organisierte „Schlepper“-Netzwerke, die damit Profite erzielen wollen; aber auch an Einzelpersonen, denen es konkret um Hilfestellung ging. Interessant ist aber auch die andere Seite: Zeitgleich wandte die Europäische Union <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge">mindestens genauso viel Geld auf</a>, um die Menschen von den EU-Außengrenzen fernzuhalten: „für jeden Euro, den ein Flüchtling ausgibt, um nach Europa zu gelangen, (geben) die Behörden Europas einen Euro aus (…), um ihn davon abzuhalten“. Von den Maßnahmen der restriktiven Migrationspolitik profitieren Konzerne wie Rheinmetall, Airbus, Finmeccanica und Thales oder Technologiefirmen wie Saab, Siemens oder Diehl. Oft tauchen sie als Tochterunternehmen in den Unterlagen auf. Sie stellen für die „Grenzschützer“ Equipment wie Drohnen, Schnellboote, Nachtsichtgeräte und Jeeps bereit. weitere hunderte Millionen Euro fließen in Projekte der Sicherheitsforschung und -Entwicklung. Und es sollen künftig Milliarden werden: Im März 2019 hat die EU-Kommission einen gestärkten „Europäischen Verteidigungsfonds“ bewilligt, dessen <a href="https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:c2bc7dbd-4fc3-11e8-be1d-01aa75ed71a1.0021.02/DOC_1&format=PDF">Zielsetzung</a> „darin bestehen wird, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie unionsweit zu fördern, indem gemeinsame Projekte vom Forschungsstadium über alle weiteren Phasen des industriellen Zyklus unterstützt werden.“ Direktes Geld für die Rüstungsindustrie also – und zwar laut MFR 2021-2017 rund 5,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damit die weltweiten Mordbanden aber nicht zu lange auf ihre Hightech-Gadgets warten müssen, wird in den kommenden beiden Jahren der Verteidigungsfonds schonmal mit „Vorläufern“ getestet, mit rund <a href="https://ec.europa.eu/germany/news/20190319-verteidigungsfonds-auf-kurs_de">einer halben Milliarde</a> Euro für die Entwicklung der Eurodrohne und vielem mehr.</p><p>Auch die Universitäten und Forschungseinrichtungen freuen sich. Eine Reihe von Forschungsprojekten widmen sich nun schon jahrelang unterschiedlichen Aspekten der Flüchtlingsabwehr. Auf die EU-Forschungsagenda kamen sie auf Empfehlung einer Arbeitsgruppe, die die EU-Kommission 2003 startete. 39 der Forschungsprojekte, die zwischen 2002 und 2013 von der EU oder der europäischen Weltraumagentur ESA gefördert wurden, hatten mit Migration, Grenzschutz oder -überwachung zu tun. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren neben Parlamentarier_innen und EU-Kommissar_innen auch Waffenproduzenten. Gerne werden die Projekte als zivile Grundlagenforschung ausgeben, wie etwa an der Uni Bremen. Die Liste der wehrtechnischen Auftraggeber in der Geschichte der „zivilen“ Forschung dort ist lang: vertreten ist Rheinmetall, aber auch Astrium (später Airbus Defense and Space) oder das US-Außenministerium. Selbst das Bildungsministerium fördert „zivile“ Forschungsprojekte mit Rüstungsunternehmen, wie 2017 herauskam: EADS, ThyssenKrupp und weitere erhielten in den Jahren 2015-2017 13 Millionen Euro aus dem Bildungsbudget.</p><p>Die erwähnte Vernetzung von Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik ist indes längst schon Realität. Es ist kein Zufall, dass der ehemalige Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), Mitglied des Bundessicherheitsrats, nach dem Ausscheiden seiner Partei aus dem Bundestag als Cheflobbiyst bei der Rheinmetall AG einstieg. Die Rheinmetall AG ist nicht nur irgendein Rüstungskonzern - er ist Europas Größter und der drittgrößte weltweit. Im Geschäftsjahr 2018 setzte der Konzern rund 6,1 Milliarden Euro um. Die Geschäftsentwicklung des Unternehmensbereichs <i>Defence</i>, so wird auf der Webseite des Konzerns stolz berichtet, zeige sich „zunehmend geprägt von der deutlich gestiegenen Nachfrage im militärischen Sektor und von Rheinmetalls erfolgreicher Positionierung in wichtigen Märkten rund um den Globus.“ Der Rüstungskonzern stellt unter anderem Kettenfahrzeuge, Panzer (auch den Leopard II), Waffen und Munition her und ist – ganz zufällig – auch im High-Tech-Zäune-Business und in der Grenzsicherungstechnologie sehr gewichtig aufgestellt. 2017 schon recherchierten Taz-Mitarbeitende und weitere Journalist_innen für das Rechercheprojekt <i>Schengen für Europa, Zäune für Afrika</i>. Daraus wird ersichtlich: EU-Gelder aus dem Entwicklungshilfe-Fond finanzieren vor allem Projekte von deutschen und europäischen Rüstungskonzernen. Ganz vorne dabei ist die Rheinmetall AG. Andere deutsche Firmen wie Veridos, das Gemeinschaftsunternehmen der Bundesdruckerei und der IT-Firma Giesecke + Devrient, die auf Biometrie, Kontrollschleusen und „Identifikationslösungen“ spezialisiert sind, haben in den letzten drei Jahren Aufträge in Milliardenhöhe erhalten. Lösungen der Migrations-„Problematik“ von Marokko bis Südafrika. Meist ohne Ausschreibung und ohne parlamentarische Kontrolle.</p><p></p><h3><b>Der Fluchthelfer von Nebenan</b></h3><p>Am „Tag des Peacekeepers“ am 6. Juni 2019 wurde unter anderem die „zivile Fachkraft“ Kerstin Bartsch durch Außenminister Heiko Maas ausgezeichnet. Seit Oktober 2017 schult die Juristin in der nigrischen Stadt Agadez die dortigen Repressionskräfte im Umgang mit „irregulären Migranten“. Ihre Definition von „Grenzkontrollmanagement“ und dementsprechend auch ihre Haltung gegenüber Menschen auf der Flucht macht Bartsch in einem <a href="https://www.nw.de/lokal/kreis_lippe/oerlinghausen/22474595_Hohe-Ehre-fuer-Kerstin-Bartsch.html">Interview</a> deutlich: „Der Menschenschmuggel ist ein krimineller Akt gegen die Souveränität eines Landes. Menschen ohne Legitimation werden von Schmugglern gegen Geld über Grenzen gebracht – und das passiert heute in großem Rahmen.“ Terroristische Bedrohungen, Migrationsdruck, Bevölkerungsdichte – Auch EU-Kommission, FRONTEX und Innenminister_innen werden nicht müde, davon zu sprechen, dass die Eindämmung kriminellen Menschenhandels eine Notwendigkeit sei, um Leben zu retten und Menschen zu schützen. Einen Atemzug weiter sind sie bei der Fluchthilfe angelangt, als sei es dasselbe Thema.</p><p>Um es ganz deutlich zu sagen: Menschenhandel und Schmuggel können sich zwar in einigen Fällen überschneiden, tatsächlich handelt es sich jedoch um zwei völlig unterschiedliche Themen. Menschenhandel ist ein erzwungener Transfer von Menschen, der mit Entführung, Ausbeutung und moderner Sklaverei verbunden ist, während Menschenschmuggel, also Fluchthilfe, eine Reaktion auf die restriktive Grenzpolitik darstellt, die den Flüchtenden das legale Überschreiten von Grenzen zu ihren eigenen Bedingungen unmöglich macht. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung gibt es keine sicheren Passagen und keine legale Möglichkeit, in ein EU-Land einzureisen, Asyl zu suchen oder gar ein Arbeitsvisum zu erhalten. Die Menschen sind gezwungen, sich auf illegalisierte, oftmals tödliche Wege zu begeben und haben kaum eine andere Wahl, als die Dienste von Vermittlern in Anspruch zu nehmen, die in vielen Fällen zu teuer und zu riskant sind. Die Zerstörung von Schmuggelnetzen rettet keine Leben, sondern geht auf Kosten der Sicherheit derjenigen, die man damit vorgeblich schützen will. Damit ist Deutschland nicht nur Brandstifter, sondern auch Mörder. Während Politiker_innen und Medien die „kriminellen Schleuser“ für das Leiden und Sterben an den Grenzen Europas verantwortlich machen, lenkt dies die Aufmerksamkeit von der Tatsache ab, dass der Schmuggel eine Reaktion auf die Militarisierung der Grenzkontrollen ist und nicht die Ursache irregulärer Migration.</p><p>Aktuell werden allerorts der „Mauerfall“ und die „Deutsche Einheit“ beschworen - die DDR darf dabei entweder als glücklicherweise überwundener Unrechtsstaat oder als Petrischale der erstarkenden rechten, faschistischen Kräfte im Land herhalten. Jene, die daran beteiligt waren, Menschen über die deutsch-deutsche Grenze zu bringen, gelten bis heute als Held_innen ohne Wenn und Aber. Fluchthelfer_in – das war etwas Ehrenvolles. Sie wurden, wie 2012 im Falle Burkhart Veigels, für das „Engagement für die Freiheit“ mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - während Menschen wie Jamil für Jahre ins Gefängnis müssen. „Fluchthelfer“ Veigel hat damals mit seiner Arbeit Geld verdient – bis zu 18.000 DM –, sogar Verträge dafür aufgesetzt. In einem <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge"><i>Das Erste</i></a> <a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge"><i>Panorama</i></a><a href="http://www.srf.ch/news/international/unternehmen-profitieren-von-aufruestung-gegen-fluechtlinge">-Bericht</a> begründet er: „Es kommt darauf an, dass man seinen Job gut macht. Ein guter Arzt, ein guter Rechtsanwalt nimmt auch Geld von Menschen, die in Not sind.“ Er kritisiert, dass heute Fluchthelfer_innen durchweg als „Schlepper“ und „Schleuser“ verfolgt und kriminalisiert werden: „Es ist doch eine ehrenvolle Sache, einem Menschen in Not zu helfen. Da kann mich doch kein Gesetz daran hindern!“ Die Bundesregierung sieht das zwischenzeitlich anders. Sie stört sich nicht an dem Widerspruch zwischen der Kriminalisierung illegal Eingewanderter sowie ihrer „Schlepperbanden“ und der Glorifizierung von Fluchthelfer_innen in den 1960er und 1970er Jahren. Woher das kommt? Der Antikommunismus hat die Veigels der Welt zu Held_innen gemacht. Jede_r erfolgreich „den Roten“ entrissene war ein kleiner Sieg über das sozialistische System. Heute gibt es diese ideologische Klammer für Deutschland und die Europäische Union nicht mehr. Im Gegenteil: Fluchthilfe heute fordert die neoliberale Ordnung der Ungleichheit heraus, sie verschafft Schlupflöcher in einem globalen System, in dem Grenzen den klaren Zweck erfüllen, die Profiteure und Verursacher der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse vor den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) abzuschotten.</p><p>„Diese Union tötet; sie tötet durch Unterlassen, durch unterlassene Hilfeleistung.“ So kommentierte Heribert Prantl 2015 die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du-sollst-nicht-toeten-1.2439653">in der</a> <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-du-sollst-nicht-toeten-1.2439653"><i>Süddeutschen Zeitung</i></a>. Bei aller Zustimmung macht es sich Prantl mit dieser Einschätzung zu leicht: Die EU tötet nicht nur durch „Unterlassen“ an den Grenzen. Sie tut weit mehr als das. Und sie profitiert von den Toten. Sie sorgt dafür, dass Geschäfte mit Geflüchteten und Fluchtgründen nicht weniger werden. Aus den Ländern, in denen EU-Mitgliedsstaaten Kriege führen oder an Einsätzen beteiligt sind, sind die meisten Menschen auf der Flucht. Auch die unerbittliche Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen der Länder des globalen Südens ist ein wesentlicher Grund für Flucht und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Die EU macht es sich zu leicht, den Schleusern Schuld an allem Elend an den Grenzen zu geben. Sie als die Gewinner dieser tödlichen Flüchtlingsmaschinerie zu begreifen, heißt, willentlich zu übersehen, wer die eigentlichen Profiteure des Elends sind.</p></div>
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Handzahmer Ungehorsam2019-01-05T12:22:27.871173+00:002019-01-05T12:22:27.871173+00:00Sergio Vittoriaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/handzahmer-ungehorsam/
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<div class="rich-text"><p>In den letzten Tagen hat Italien – mal wieder – in Sachen Fluchtpolitik von sich reden machen: Das zivile Seenotrettungsschiff Sea Watch 3 sucht nun schon seit zwei Wochen einen Hafen im Mittelmeer, damit 32 Menschen, drei davon Kleinkinder, auf sicheren Boden gelangen können. Das Kräftemessen der europäischen Regierungen, angezettelt durch Innenminister Matteo Salvini, wird einmal mehr auf dem Rücken wehrloser Menschen ausgetragen; ob dabei Menschen mit ihrem Leben bezahlen werden, ist für die Mächtigen unbedeutend. Dies hat <a href="https://www.repubblica.it/politica/2019/01/04/news/migranti_di_maio_a_malta_fateli_sbarcare_noi_li_accoglieremo_-215830679/?ref=RHPPBT-BH-I0-C12-P1-S1.12-T1">gestern Abend</a> auch Vizepremierminister Luigi Di Maio nochmals bewiesen, der Europa eine Lektion der „Menschlichkeit“ erteilen will und angekündigt hat, ausschließlich die sich an Bord der Sea Watch 3 befindenden Frauen und Kinder aufzunehmen.</p><p>Gleichzeitig kündigen die Bürgermeister zahlreicher italienischer Städte an, gegenüber der rassistischen Politik des Innenministers ungehorsam zu sein. Die sogenannten <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109285.luigi-de-magistris-rebellischer-buergermeister.html">„rebellischen Bürgermeister“</a> Leoluca Orlando (Demokratische Partei, PD) von Palermo und Luigi De Magistris (Democrazia e Autonomia, DemA) aus Neapel haben schon mehrmals angekündigt, die Häfen für die zivilen Seenotrettungsschiffe zu öffnen. Bis jetzt blieben diese Ankündigungen leere Versprechungen, einerseits, weil die Verwaltung der Häfen nicht in der Macht der kommunalen Regierungen steht, sondern beim nationalen Infrastrukturministerium, andererseits, weil die Bürgermeister genau wissen, dass die lokalen Empfangsstrukturen nicht in der Lage sind, eine geeignete Antwort auf die Bedürfnisse der Geflüchteten zu geben.</p><h2>Opposition ohne Zähne?</h2><p>Die genannten Bürgermeister haben in diesen Tagen auch noch einmal ihre Opposition gegen das Anfang Dezember 2018 vom italienischen Parlament angenommenen Maßnahmepaket zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze unterstrichen. Mit den neuen Sicherheitsrichtlinien hat Salvini den humanitären Status für Geflüchtete abgeschafft, so dass in den nächsten Wochen rund 40.000 Geflüchtete obdachlos und papierlos werden. Zudem sollen Asylsuchende mit Aufenthaltsgenehmigung sich nicht mehr beim Einwohneramt anmelden dürfen. Gemeinden dürfen <a href="https://poterealpopolo.org/loro-si-organizzano-e-noi-un-primo-esame-del-decreto-sicurezza-e-delle-politiche-securitarie/">demnach</a> Asylsuchenden mit Aufenthaltsgenehmigung keinen Identitätsausweis mehr erstellen, der den Zugang zum Gesundheitssystem sowie zu Arbeitsvermittlungszentren ermöglicht. Die zwei Bürgermeister reihen sich in einen <a href="https://www.tpi.it/2019/01/03/sindaci-contro-decreto-sicurezza/">ungehorsamen Protest</a> ein, der sich seit den ersten Wochen nach der Annahme des neuen Maßnahmenpakets in ganz Italien ausgeweitet hat, von Turin über Florenz bis nach Reggio Calabria.</p><p>So wichtig diese angekündigten Absichtserklärungen in der aktuellen Wüste der Menschlichkeit auch sind, sie bleiben zurzeit tatenlos. Der Bürgermeister Palermos hat in den letzten Jahren stillschweigend die Politik der Demokratischen Partei unterstützt und sämtliche Maßnahmen des „Parteigenossen“ und ehemaligen Innenministers Marco Minniti umgesetzt, auch wenn sie verfassungswidrig und menschenunwürdig waren. So hat Marco Minniti die ambulanten Strassenverkäufer – meist Migrant*innen – im Namen der „öffentlichen Ordnung“ kriminalisiert und das Rekursrecht von abgewiesenen Geflüchteten massiv <a href="http://www.bleiberecht.ch/2017/05/29/bericht-solidaritaet-gegen-das-toedliche-asylregime-in-italien/">eingeschränkt</a>. In den letzten Wochen hat er sich dadurch ausgezeichnet, dass er Wohnbesetzung von armutsbetroffenen Menschen italienischer und migrantischer Herkunft hat räumen lassen. Er hat somit einem Beschluss von 2014 Folge geleistet, der unter der damaligen PD-Regierung von Matteo Renzi eingeführt wurde und Besetzenden verhindert, sich offiziell beim Einwohneramt anzumelden. Dass nun Leoluca Orlando im Namen der Menschlichkeit Opposition inszeniert, ist haarscharf kalkuliert: Die Demokratische Partei versucht dadurch politisches Terrain zu gewinnen, welches ihr in den letzten Jahren verloren ging.</p><p>Ähnliches gilt für den Bürgermeister De Magistris in Neapel. Schon vor Inkrafttreten der neuen Sicherheitsmaßnahmen kritisierten städtische Basisaktivist*innen, dass das städtische Einwohneramt die Anmeldung von residenzlosen Menschen – auch hier wieder: italienischer sowie migrantischer Herkunft – nicht annimmt und somit keine Identitätspapiere vergeben werden. Somit bleibt ihnen der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten verwehrt. Es würde allerdings eine einfache kommunale Weisung gegenüber dem Einwohneramt der Stadt ausreichen, um dieser diskriminierenden Praxis einen Riegel zu schieben. Diese ist bislang nicht erfolgt.</p><p>Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, werden die italienischen „rebellischen Bürgermeister“ als einzige legitime Opposition gegen die Zentralregierung Italiens gesehen. In den letzten Tagen haben sie mit ihren Aussagen diese ihnen zugeschriebene Rolle noch einmal verstärkt. Keine Frage, es ist begrüßenswert, dass sich lokale Politiker*innen einer zunehmen xenophoben Rhetorik und Politik entgegenstellen. Allerdings nehmen solche Lippenbekenntnisse die Dramatik der Lage nicht ernst genug. Sie bedienen damit die mediale Aufmerksamkeit ums Thema Migration und Flucht, mit dem Ziel, selbst auf die Titelseiten zu gelangen. Das hat aber wenig mit Rebellion und ebenso wenig mit solidarischer Klassenpolitik zu tun.</p><p></p></div>
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<p>Bild aus Neapel: Auf dem Transparent steht „Diese Lega ist eine Schande“. Es ist ein Zitat aus einem Lied von Pino Daniele, einem der grössten neapoletanischen Liedermacher.</p>
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Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte2018-08-12T11:35:23.025241+00:002018-08-12T16:43:12.772359+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/weder-chauvinismus-noch-humanismus-zur-linken-migrationsdebatte/
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<img alt=""Herzlich Willkommen"" height="420" src="/media/images/Refugees_3_Rasande_Tyskar_fli.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Rasande Tyskar (flickr)</span>
</div>
</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>
</p>Einer
der derzeitigen Hauptstreitpunkte der deutschen Linken insgesamt,
sowie vor allem der LINKEN als Partei im Besonderen, ist die
sogenannte „Flüchtlingsfrage“, die eigentlich eher als
Migrationsfrage zu begreifen ist. Die Debatte bewegt sich zwischen
den beiden entgegengesetzten Polen einer national-chauvinistischen
Perspektive und eines liberalen Humanismus. Gleichzeitig
werden Fragen der unmittelbaren Taktik (Abwehrkampf gegen die
vorwärtsmarschierende Reaktion) mit denen der Strategie
(Handlungsmöglichkeiten und -optionen, falls wir mal in der
Offensive <i>wären</i>;
längerfristige Ziele und Perspektiven) vermischt. Das
Ergebnis ist ein heilloses Durcheinander, das die zentrale Erkenntnis
von Klassenkämpfen unter den Tisch fallen lässt, namentlich dass
sie heftig geführte soziale<i> Kämpfe</i> um Gesellschaft sind. Die
linke Debatte in Deutschland befindet sich auch in dieser Thematik in
einer Sackgasse, aus der wir schleunigst rauskommen müssen, wollen
wir aktionsfähiger werden, bevor die Rechte endgültig die Hegemonie
gewinnt.<p>
</p><p>
</p><h2><b>Die Migrationsfrage,
der Imperialismus und die Weltwirtschaftskrise</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Fangen
wir an mit dem Hintergrund. Woher überhaupt diese Debatte? Von etwa
68,5 Millionen Geflüchteten weltweit (<a href="http://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns/zahlen-im-ueberblick">Stand:
Ende 2017</a>) sind etwa 40 Millionen
Binnenflüchtlinge, das heißt verbleiben im jeweiligen Krisengebiet.
Der Rest verteilt sich <a href="https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fileadmin/redaktion/PDF/UNHCR/GlobalTrends_2017.pdf">zum
Großteil</a> auf umliegende Länder – zu 85
Prozent werden Refugees in sogenannten „Entwicklungsländern“
aufgenommen. Nur ein kleiner Teil schafft es in die Festung Europa.
Deutschland, das Land, welches in Europa die meisten
registrierten (sic!) Geflüchteten aufnimmt, beherbergt <a href="http://popstats.unhcr.org./en/overview#_ga=2.187541288.1444157030.1533898723-382352773.1533898723">derzeit</a>
knapp 1,4 Millionen Geflüchtete. Knapp 30 Prozent von ihnen warten
noch auf ihren Bescheid, mit dem ihr Status geklärt wird. Um einen
frappanten historischen Vergleich zu ziehen: Zwischen 1850 und 1920
emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa, was in etwa 17 Prozent
der Bevölkerung Europas im Jahre 1900 entsprach. Damit entledigte
sich Europa eines großen Teils seiner kapitalistisch überflüssig
gemachten Bevölkerung. Würden heute anteilig so viele Menschen des
Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären
das 800 (!) Millionen Menschen. Die derzeitige Emigration aus
„Entwicklungsländern“ in „Industrieländer“ entspricht
„vernachlässigbaren 0,8 Prozent“ (ILO) der Arbeitsbevölkerung
der „Entwicklungsländer“. [1] Die derzeitig so abwertend
hochstilisierte „Flüchtlingswelle“ nach Europa ist also im
historischen Vergleich wie auch im Vergleich zum hier existierenden
Wohlstand keine; wer sie als solche bezeichnet, ist wirr, verblendet
– oder verfolgt offensichtlich eigennützige Interessen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Europa
schottet sich seit den Dubliner Abkommen in den 1990ern zunehmend ab
und lässt gezielt Geflüchtete an seinen Grenzen sterben; schiebt
sie in Kriegsgebiete ab oder überlässt sie dem rassistischen Mob im
eigenen Land. Gleichzeitig macht man gute Mine zum bösen Spiel,
indem in zahlreichen europäischen Ländern parallel Tausende Töpfe
und Förderprojekte aus dem Boden gestampft werden, die irgendwas mit
Migration, Flüchtlingen und so weiter, vor allem aber mit viel
ehrenamtlicher Arbeit zu tun haben. Das Gesicht bleibt gewahrt, denn
Merkel war ja verantwortlich für den „Willkommenssommer 2015“
oder für die „große Umvolkung“, je nach politischer
Perspektive.</p><p>
</p><p>
</p><p>Der
rassistische Diskurs gegen Geflüchtete wird nicht per Zufall in
dieser extremen und über alle Lager greifenden Form erneut seit
Anbeginn der Großen Weltwirtschaftskrise 2007-08 systematisch von
Massenmedien und Parteien bis weit in das politische Establishment
hinein gefördert und hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die <a href="https://www.theguardian.com/world/2018/jun/13/populist-talkshows-fuel-rise-of-far-right-german-tv-bosses-told">sogar</a>
vom Deutschen Kulturrat kritisiert werden. Die erzreaktionäre
Bearbeitung der Migrationsfrage ist immanenter Teil der Bearbeitung
der Weltwirtschaftskrise seitens der Herrschenden: Fand einerseits
eine kaum nachhaltige „Normalisierung“ der führenden
kapitalistischen Wirtschaften auf niedrigem Niveau mittels einer
immensen Liquiditätsflut statt, wurden andererseits die Kosten der
Krisenbewältigung auf die Bevölkerungen abgewälzt mittels „jobless
growth“ (Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswachstum),
Austerität, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse und so weiter.
Derweil schlägt die imperialistische Konkurrenz um Märkte und
Kostenabwälzung in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise Blüten in
Form von Brexit, Trump, Elementen von Handelskrieg(en) und realen
Kriegen – in Mali, in Libyen, in Syrien, im Irak und so weiter und
so fort. Es ist offensichtlich, dass die Migrationsströme erneut
wegen diesen Kriegen und Krisen zunehmen. Selbstverständlich
flüchtet ein Teil der Menschen auch aus „wirtschaftlichen
Gründen“. Aber nur wer von wohlstandschauvinistischen Reflexen
oder Interessen schon durchsetzt ist, nimmt nicht wahr, dass die
Superausbeutung von Millionen von Arbeiter*innen des Globalen Südens
seitens westlicher Großkonzerne für unsere billigen T-Shirts oder
iPhones; das fröhlich betriebene Land Grabbing und die damit
einhergehende Vertreibung von Millionen vom Land; sowie das
erbarmungslose Niederkonkurrieren von schwächeren kapitalistischen
Wirtschaften mittels Produktivitätsvorteilen und Subventionen in den
imperialistischen Zentren die dem derzeitigen Imperialismus
entspringenden „wirtschaftlichen Gründe“ sind, die hauptsächlich
zu „Arbeitsmigration“ führen. Die wohlstandschauvinistische
Ideologie verkehrt die Verhältnisse: Nicht „Wirtschaftsflüchtlinge“
beuten unsere Sozialsystem aus, sondern wir beuten verarmte Länder
aus, aus denen einige wenige es zu uns schaffen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aber
genau in Bezug zur sich erneut verschärfenden Konkurrenz zwischen
den Imperialismen wie auch zur Abwälzung der Kosten der Krise auf
die Werktätigen lässt sich die Funktion der erzreaktionären
Thematisierung der Migrationsfrage verstehen. Es wurde oft genug
aufgezeigt, wie durch diese diskursive Verschiebung Fragen
klassenförmiger Verteilung und Teilhabe kulturalisiert und
Spaltungslinien inklusive gegenseitiger Aufhetzung innerhalb der
Subalternen nicht bloß ideologisch, sondern sehr praktisch und
materiell gefördert werden. Eine Thematisierung der wirklichen
Krisengewinner und der Entstehung einer Solidarität der Subalternen
wird damit vorgebeugt, zugleich lassen sich Wut und Unmut der
werktätigen Bevölkerungsteile hübsch nutzen im kapitalistischen
Konkurrenzkampf um die enger werdenden Profitaussichten. Die riesige
Solidaritätswelle mit Geflüchteten in Deutschland und Österreich
in den Jahren 2014 bis 2015 sowie die derzeitige Solidarität mit der
Seebrücke zeigen andererseits auf, dass die Rechnung nicht einfach so
aufgeht. Es ist ausgemachtes Ziel der Herrschenden, diese Form
demokratischer Tiefenreflexe der Gesellschaften zu brechen, wofür
dann eine „<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Kölner
Silvesternacht</a>“ nach der anderen und andere
„Skandale“ migrationsfeindlich konstruiert werden.
</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Wohlstandschauvinistische
Verschiebung der Migrationsfrage innerhalb der Linken</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Nun
organisiert sich die hiesige Rechtsverschiebung auch in Teilen der
Linken und LINKEN in Form einer national-chauvinistischen oder
exklusiven Reorientierung auf das Gemeinwohl, das mal verdeckter mal
offener rassistisch und abwertend auftaucht. Bei Sahra Wagenknecht
und Oskar Lafontaine ist der Wohlstandschauvinismus oft eher latent
oder verdeckt: Wird ihnen Rassismus für ihre Ansichten vorgeworfen,
verweisen sie entrüstet auf ihre soziale Programmatik.
Reden oder schreiben sie jedoch über die Migrationsfrage, taucht
nirgends auf, dass sich Solidarität mit Geflüchteten und
Fluchtursachenbekämpfung gar nicht ausschließen, sondern sogar
immanent zusammenhängen. Denn bei der Aufnahme von Geflüchteten
geht es darum, unmittelbare Unterstützung und würdevolles Leben für
alle zu ermöglichen in einer Welt, wo wir eben noch nicht
erfolgreich darin waren, Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen.
Letztlich dient die <i>ausschließliche</i> Fokussierung auf die
Thematisierung von Fluchtursachen dazu, das aktive Desinteresse an
Solidarität mit Geflüchteten hier zu übertünchen und
rationalisieren. Ebensowenig taucht auf, dass die ja tatsächlich
zunehmende Konkurrenz auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch
Einwanderung von abgewerteten Arbeitskräften nur deshalb eine
Konkurrenz sein kann, weil der Wohnungs- und Arbeitsmarkt schon seit
Jahren und insbesondere seit der Agenda 2010 im Sinne von Kapital und
Eigentümer*innen aktiv umstrukturiert wurde. So wurden (großteils)
Unternehmer*innen und Wohlhabenden in den Jahren 2000 bis 2013
<a href="http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07705.pdf">Steuergeschenke</a>
in Höhe von insgesamt 490,35 Milliarden € (also jährlich
durchschnittlich 37,71 Mrd. €) gemacht. Allein die <a href="https://www.hintergrund.de/feuilleton/literatur/die-doppelte-zweiteilung-der-welt-nord-und-sued-arm-und-reich/">Anhebung
der bundesdeutschen Immobiliensteuer</a> auf
OECD-Durchschnitt würde jährlich an die 27 Milliarden € in die
Kassen spülen. Und dann gibt es natürlich noch die <a href="https://derstandard.at/2000067318099/Steueroasen-kosten-EU-Staaten-60-Milliarden-Euro-pro-Jahr">„legale“
Steuerflucht in Steueroasen</a>, wodurch der
deutsche Staat allein schon nach öffentlich zugänglichen Daten 17
Milliarden € im Jahr, real aber vermutlich <a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1069171.steuerflucht-neue-enthuellungen-zu-den-paradise-papers.html">viel
mehr</a> verliert. Die aktuellen Ausgaben in
Deutschland für alles, was irgendwas mit „Geflüchteten“ zu tun
hat (Sicherheitsdienste, Wieder-Aufbau sozialer Infrastruktur, …),
sind mit, <a href="http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/bundeshaushalt-2017-mehr-geld-fuer-soziales-und-fluechtlinge-aber-die-schwarze-null-steht-14319349.html">je</a>
<a href="https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-05/bundesfinanzministerium-fluechtlinge-kosten-21-milliarden">nach</a>
<a href="https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-und-zahlen-101.html">Berechnungsmethode</a>,
20 bis 30 Milliarden € im Jahr ein Witz dagegen. Und dabei reden
wir noch von einem Vergleich mit <i>Exzessen</i> des bundesdeutschen
Kapitals und der Wohlhabenden, noch gar nicht von den enormen
Profiten und Reichtümern, die „normal“ und ohne Exzesse gemacht
und angehäuft werden. In Tiraden gegen „Banken und Konzerne“
reden Lafontaine wie Wagenknecht und ihre Anhänger*innen oft von
dieser Art Konsequenzen des „ungezügelten Kapitalismus“, nicht
jedoch dann, wenn es um die Migrationsfrage geht. Wer aber bei der
Migrationsfrage vom BRD-Kapitalismus, wie er derzeitig konkret
verfasst ist, nicht redet, sondern gar noch <a href="https://www.fabio-de-masi.de/de/article/1923.thesenpapier-linke-einwanderungspolitik.html">ernsthaft</a>
scheinwissenschaftlich-positivistisch über den Beitrag von
Geflüchteten zum Wirtschaftswachstum sinniert, der übt schon längst
Anpassungspolitik an das Bestehende und hofft darauf, im bestehenden
Klassengefüge doch irgendwie integriert zu werden und Privilegien zu
ergattern oder zumindest zu behalten.</p><p>
</p><p>
</p><p>So ist
es dann auch nicht verwunderlich, dass insbesondere von dieser Art
Linken Argumente und Echauffierungen kommen, die ganz knapp am
rechten Lager vorbei schrammen. So vergisst man alle Kritik an
„Banken und Konzernen“, wenn es ausgerechnet bei Geflüchteten
heißt, „der Staat habe Grenzen der Belastbarkeit“, die linke
Form des populären reaktionären Slogans: „Das Boot ist voll“.
Teils wird auch von dieser Art Linken ernsthaft behauptet,
Geflüchtete seien Schuld an Gewalt gegen Frauen, an allgemeiner
Unsicherheit in der Gesellschaft, an steigender Kriminalität. Dass
<a href="https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie--lebenssituation--sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland/80694?view=DEFAULT">Studien</a>
zeigen, dass Gewalt an Frauen in
Deutschland über die Jahre hinweg auch ohne
„Flüchtlingswelle“ <a href="http://www.taz.de/!5271854/">konstant
hoch</a> und deshalb ein hausgemachtes
Problem ist; dass die Kriminalitätsrate über die Jahre sogar
gesunken ist; dass zudem Kriminalitätsstatistiken nicht zuverlässig
und ihre Interpretationen insbesondere in Bezug auf Geflüchtete
<a href="https://www.rundschau-online.de/politik/statistik-mehr-gewalt-durch-junge-fluechtlinge-29429344">heftig</a>
<a href="https://www.neues-deutschland.de/artikel/1075039.fluechtlinge-und-kriminalitaet-kriminelle-fluechtlinge-ja-und-nein.html">umstritten</a>
<a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-die-afd-die-polizeiliche-kriminalstatistik-verbiegt-15636317.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0">sind</a>
– all das wird von einer Flut pathischer Projektionen überdeckt,
die durchaus auch multimedial gefördert werden (siehe die Debatte um
„<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Terrornacht
der Nafris</a>“ 2015/16 und 2016/17).</p><p>
</p><p>
</p><p>Es
bleibt festzuhalten, dass die sozialpsychologischen und
gesellschaftlichen Sturmwinde, die die Weltwirtschaftskrise
entfesselt hat, nicht nur „die Gesellschaft“ durcheinander
wirbeln und alles Feste zum Schwanken bringen, sondern eben auch die
Linke, die Teil „der Gesellschaft“ ist. Wir haben uns bisher
nicht als fest genug erwiesen, diesen Sturmwinden stand zu halten und
gegen sie selbständig und organisiert anzukämpfen mit einer
überzeugenden Perspektive ihrer Überwindung. Das permanente
multimediale Bombardement, die bewusst herbei inszenierte Panikmache,
die Phantasmagorie des „islamistischen Terrors“, der unabhängig
und geradezu surreal von jeder realen Relation zum „islamistischen“
und sonstigen Terror existiert, die Aura von Angst,
Perspektivlosigkeit und Unsicherheit haben auch Teile von uns
zermürbt, beziehungsweise noch mehr zermürbt. Einige von uns haben
innerlich, sicherlich oft ohne böse Absicht und vermutlich teils
ohne bewusste Absicht, kapituliert und sich dem ergeben, was so
erscheint, als ob es Festigkeit inmitten der Sturmwinde gewähren
könnte.</p><p>
</p><p>
</p><p><a href="https://www.facebook.com/notes/andreas-gr%C3%BCnwald/migration-ein-und-zuwanderung-bei-marx-engels-lenin-/1054499487902610">Einst</a>
hatten wir einen festen Stand in dieser Angelegenheit: Marx, Engels,
große Teile der Vorkriegs-SPD und Lenin plädierten durchgehend für
die Aufnahme von Arbeitsmigrant*innen und brandmarkten
Migrationsbeschränkungen als „spießbürgerlich“ oder
„aristokratistisch“, wenn auch zugegebenermaßen in der etwas
mechanistisch-deterministischen Vorstellung, dass dadurch die klare
Unterscheidung in Kapital und Arbeit und hierüber vermittelt der
Klassenkampf im Sinne der Arbeiter*innen gefördert und unser Sieg
beschleunigt würde. Der ist zwar nicht eingetreten, aber die
Geschichte migrantischer Kämpfe (z.B. im Italien der 1970er, aber
auch in der BRD der 1970er Jahre) zeigt: als Deklassierteste waren
sie stets diejenigen, die am radikalsten kämpften, und in betreffs
Arbeitskämpfen praktisch betrachtet oft zur Avantgarde wurden. So
waren es vor allem die türkischen Gastarbeiter*innen im <a href="https://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/">Ford-Streik
in Köln 1973</a>, die den illegalen und von der
Gewerkschaftsführung nicht unterstützten Kampf gegen die ungleiche
Behandlung entfachten und letztlich auch die ansässigen deutschen
Arbeiter*innen zum Kampfe motivierten. Es ist vor diesem Hintergrund
ebenfalls kein Zufall, dass, um beim deutschen Beispiel zu bleiben,
die Grauen Wölfe ihre Organisierung in Deutschland erst mit den
1970ern aufnahmen und staatlich unterstützt wurden, wobei die
Gewerkschaften schon damals vor den Konsequenzen warnten, mit denen
wir uns heute auseinanderzusetzen haben.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Liberaler Humanismus
als Alternative?</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Viele
von uns haben sich dem national-chauvinistischen backlash aber auch
widersetzt und sind von ihren antirassistischen, die Kämpfe der
refugees unterstützenden Ansätzen nicht abgerückt. Ihrer
unendlichen, teils kleinteiligen Mühe, gekoppelt mit der
migrantischen Selbstorganisierung, ist es zu verdanken, wenn eine
Abschiebung verhindert werden oder eine Küche zum Selberkochen für
ein Geflüchtetenlager erkämpft werden kann. Oder wenn es dann eben
doch staatlich geförderte Projekte und Programme für
Geflüchtetenarbeit gibt, die zwar die Pflichten des Staates auf die
Öffentlichkeit abwälzen, aber genau so gut auch einfach gar nicht
hätten stattfinden könnten, gäbe es nicht die Kämpfe darum und
nach wie vor vorhandene demokratische Tiefenreflexe in Teilen der
deutschen Gesellschaft.</p><p>
</p><p>
</p><p>Aus
diesen Kreisen mehren sich Stimmen – und sie schlagen sich manchmal
in <a href="https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/">Positionspapieren</a>
und dergleichen nieder –, die im Angesicht des Rechtsruckes und der
Verbreitung national-chauvinistischen Gedankenguts innerhalb der
Linken offensiv weiterhin den alten Slogan „no nations, no borders“
beziehungsweise „offene Grenzen für alle“ verteidigen und zu
einer eigenständigen politischen Ideologie des Transnationalismus
und Ähnlichem formieren. Es ist ohne Zweifel richtig, dass die
Bewegungsfreiheit der Menschen im allgemeinen ein Ziel sein sollte,
für das wir streiten müssen. Das Problem liegt bei diesen
Positionen an zwei Stellen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Erstens
stehen ihre ideologischen Wortführer*innen zunehmend für eine
De-Thematisierung der Geflüchtetenfrage im Zusammenhang mit dem
Imperialismus, der ja diese Ströme in dieser Art erst hervorbringt,
und dem Neoliberalismus hier im Lande. Trotz dass unterschiedlichste
<a href="https://www.jungewelt.de/artikel/324701.hartz-iv-muss-weg.html">Studien</a>
und Modediskurse um „Post-Demokratie“ zeigen konnten, dass
wegbrechende Lebens- und Arbeitsstandards oder teils berechtigte
Abstiegsängste zu Selbstschutzmechanismen und grassierender Angst
sowie Unmut führten, auf denen basierend erst die Rechten bei
Abwesenheit einer linken Offensive ihren zumindest <i>massenhaften</i>
Aufstieg feiern konnten, wird dies vehement bestritten. Es schleicht
sich zunehmend ein identitär-elitäres Element ein, das auf dem
moralisch Richtigen (offene Grenzen hier und überall, transnationale
Rechte jetzt sofort) beharrt und sich über alles andere erhebt. Wer
Kämpfe zusammenführen will, gilt als doktrinär, AfD-Wähler*innen
sind sowieso alle per se „Faschisten“ oder zumindest
„Erzrassist*innen“, die offensiv bekämpft werden müssen. Als ob
Rassist*innen nicht gemacht, sondern geboren werden; als ob die
rassistischen Ressentiments des widersprüchlichen
Alltagsbewusstseins, der auch ganz andere Elemente enthält, nicht
erst aktiv organisiert werden müssten, bevor der
Wohlstandschauvinismus und Rassismus zu zentralen Elementen eines
geglätteten erzreaktionären politischen Programm erhoben werden und
die Geflüchtetenheime als Konsequenz brennen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Dabei
ist nicht zwangsläufig das separate oder teils autonome Führen von
Kämpfen das Problem – Menschen fangen oft dort an zu kämpfen, wo
es für sie am brenzligsten ist oder wo sie die größte Empörung
und Wut fühlen. Das Problem beginnt dort, wo diese Separation aktiv
und ideologisch unterfüttert betrieben sowie andere Deklassierte
oder Subalterne abgewertet werden. Wagenknechts Popularität speist
sich nicht allein aus ihren teils reaktionären Positionen in der
Geflüchtetenfrage, sondern auch daraus, dass sie ihre Positionen
stets im Zusammenhang mit einem Angriff auf Konzerne und Banken
zugunsten der Subalternen hier vorbringt. Solange die Kämpfe der
hier am heftigsten Deklassierten, Prekarisierten und unter Druck
geratenen Arbeiter*innen nicht mit aufgenommen und perspektivisch als
gemeinsamer Kampf mit den Geflüchteten zusammengeführt werden, so
lange wird uns einerseits die Kraft, weil Masse der werktätigen
Bevölkerung, fehlen, tatsächlich Veränderungen umzusetzen.
Andererseits wird sich bei unserer Abkehr von den Subalternen
schlicht die Rechte ihres Unmutes noch erfolgreicher annehmen und ihn
für ihre Zwecke funktionalisieren.</p><p>
</p><p>
</p><p>Das
zweite, eng mit dem ersteren verbundene Problem dieser Positionen
liegt darin, dass sie ein strategisches Ziel als unmittelbares Ziel
ausgeben und kein Programm für deren Umsetzung zu geben imstande
sind. Und zwar deshalb, weil sie auf der bloßen humanen und
ethischen<i> Richtigkeit</i> der Position beharren, ohne die sozialen
Konsequenzen der Umsetzung aus der Perspektive von sozialen<i>
Kämpfen</i> mitzubedenken. Damit meine ich auch nicht, dass nicht
mitbedacht wird, dass man technisch betrachtet nicht sofort alle
Grenzen aufmachen kann und es deshalb Übergänge in der Regulation
von Migration geben muss. Diesbezüglich <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/was-ist-linke-migrationspolitik/">gibt</a>
es <a href="https://www.welt.de/politik/deutschland/article169847813/Unangemessene-Grenzueberschreitung-Wagenknechts.html">Vorschläge</a>,
die, im Übrigen, ebenfalls dafür kritisiert werden, nicht
konsequent genug „offene Grenzen für alle“ zu verteidigen. Was
ich meine, ist etwas anderes. Wenn es genug Reichtum für alle gibt,
dieser aber nur ungleich verteilt ist und man bei einer gerechten
Verteilung in der BRD problemlos alle Geflüchteten vermutlich der
ganzen Welt versorgen könnte – dann heißt das eben nichts
anderes, als dass die sozialen Kräfteverhältnisse<i> derzeit</i>
das nicht ermöglichen und dass man eine Veränderung gegen die
bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ihre Profiteure<i> erzwingen</i>
muss im permanenten Klassenkampf. Das heißt, dass die
Migrationsfrage nicht eine Teilfrage der menschlichen Ethik oder
Moral und parallel hierzu im Bereich des Politischen eine Frage der
konkreten Technik von Finanzierung, Aufnahme, Unterbringung,
Integration und so weiter ist – <i>sondern Kernelement eines von
unterschiedlichen Interessen intensiv geführten Kampfes um die
Struktur und Zukunft von Gesellschaften.</i></p><p>
</p><p>
</p><p>Und die
Profiteure der hiesigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse
sind nicht einfach nur die paar Eigentümer*innen und Manager*innen
von Siemens und Bosch. Die gesamte kapitalistische Wirtschaft der BRD
hängt am bestehenden imperialistischen Weltsystem, das dem deutschen
Kapital durch das „Exportwunder“ immense Profite beschert,
gleichzeitig jedoch auch ein, im weltweiten Vergleich, weiterhin
ordentliches Sozialsystem, ordentliche Löhne für
Stammbelegschaften, noch akzeptable Prekarität – man vergleiche
allein die Prekarität hier im Unterschied zur Prekarität in der
Türkei – und dergleichen ermöglicht. Zusätzlich gibt es so etwas
– vor allem von „antinationalen“ Linken unterschätztes – wie
den deutschen Pass, der eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, von dem
der Großteil der Welt derzeit nur träumen kann. Versucht man nun
diese teils imperialistischen Extraprofite des deutschen Großkapitals
auch nur mit relativ milden Methoden wie beispielsweise der
Veränderung des Steuersystems oder der staatlichen Ausgaben zwecks
Ermöglichung eines würdevollen Lebens für alle Geflüchteten
anzugreifen, dann schlägt die Bourgeoisie zurück, weil sie um ihre
Profite und Hegemonie im Allgemeinen fürchtet. Gleichzeitig
mobilisiert sie – wie derzeit – diejenigen Teile der
Mittelklassen, der privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse und
der nicht-privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse, die relativ
oder auch nur <i>scheinbar</i> vom deutschen Imperialismus
profitieren. Und zwar dadurch, dass sie auch deren Positionen als
gefährdet darstellt, weil es ja – so die bürgerliche Ideologie –
konkurrenzfähige und profitable Unternehmen sind, die Arbeitsplätze
schaffen, und Schmarotzer jeder Art („Hartzer“, Geflüchtete,
usw.) unseren Wohlstand, den Wohlstand der rechtschaffenen, fleißigen
Deutschen gefährden. Schaffen wir es nicht, bei den Werktätigen
hier praktisch zu verankern und erkämpfen, dass sie ihre
selbständigen Interessen mittel- und langfristig besser dadurch
wahren können, dass sie gemeinsam auch mit den zugezogenen und
hierher geflüchteten Werktätigen gegen die selbständigen
Interessen des Kapitals kämpfen, wird es schlicht nicht möglich
sein, mehr für Werktätige hier wie auch für Geflüchtete
herauszuholen, als das Kapital aufgrund seiner
Akkumulationsmöglichkeiten und seinem Spielraum im Kräfteverhältnis
mit anderen Kapitalen erlaubt.</p><p>
</p><p>
</p><p>Falls
wir die Realität und die Konsequenzen des Klassenkampfes und seine
Verknüpfung mit anderen Kämpfen, die nicht nur und derzeit nicht
mal hauptsächlich von uns geführt werden, nicht begreifen und in
diesem Bezug die nächsten taktischen Schritte erörtern, werden
beide Richtungen einknicken: Der chauvinistische Flügel wird sich
immer mehr an die deutsche Staatsräson anpassen, der
linksliberal-humanistische, beständig herausgefordert dazu „mal
einen konkret umsetzbaren und realistischen Plan vorzulegen“ und
aufgrund der Mobilisierungsunfähigkeit wegen fehlender Verknüpfung
der Kämpfe, pragmatisch werden; humanere Möglichkeiten der Aufnahme
und Unterbringung von Geflüchteten vorschlagen und das strategische
Fernziel als ein Fernziel, das mit dem Heute keine Verbindung hat,
belassen. Die hardcore Idealist*innen werden sich am moralisch
absolut Richtigen festklammern und Sektiererei betreiben. Beide
Flügel werden sich tendenziell, ob aktiv oder aus der Defensive
heraus dazu gedrängt, aneinander annähern.</p><p>
</p><p>
</p><h2><b>Perspektiven
der Offensive</b></h2><p>
</p><p>
</p><p>Demgegenüber
gilt es die Migrationsfrage auch schon im Abwehrkampf offensiv als
eines der Kernelemente der sozialen Frage im derzeitigen Kontext von
Kapitalismus und Imperialismus zu thematisieren. Nur so auch können
perspektivisch die Spaltungslinien zwischen den „einheimischen“
Werktätigen und „zugezogenen“ Werktätigen überwunden und
bürgerliche Hegemonien gebrochen werden. Es ist dabei klar, dass die
Ziele und Methoden unterschiedlich gelagert sind: Geflüchtete kommen
hier her, weil sie vor Krieg, Krisen und Perspektivlosigkeit
flüchten, nicht um Klassenkampf zu betreiben. Es gilt, gegen den
rechten Vormarsch für ein gutes Leben für sie und mit ihnen zu
streiten und klar zu machen, dass es nur die derzeitigen sozialen und
politischen Kräfteverhältnisse und nicht etwa irgendwelche
neutralen, von menschlicher Praxis unabhängigen wirtschaftlichen
oder kulturellen Parameter sind, die dem im Wege stehen. Das ist
ideologisch betrachtet auch der Punkt, der die Brücke zu den Kämpfen
der „einheimischen“ Werktätigen schlägt, da sie genau so von
Kosteneinsparungen, Klassismus, Rationalisierungen, Spaltungen und
dergleichen kapitalistischen Offensiven betroffen sind, auch wenn sie
gegenüber Geflüchteten relativ privilegiert dastehen. Das wichtige ist, dass die
unterschiedlichen Schritte richtig miteinander und in richtiger
Perspektive kombiniert werden, um Erfolg zu zeitigen.</p><p>
</p><p>
</p><p>Es ist
zudem offensichtlich, dass – strategisch betrachtet – der
internationale Kampf organisiert und ausgeweitet werden muss, um
Kapitalismus und Imperialismus auf Weltebene und damit die
hauptsächlichen Fluchtursachen bekämpfen zu können. Gleichzeitig
verschiebt die Utopie eines Transnationalismus der Kämpfe das
Kämpfen auf einen Sanktnimmerleinstag, was sich schlagend im
linksliberalen Dogma „es gab keine Alternative“ in Bezug auf die
Niederlage von Syriza in Griechenland zeigte. In betreffs der
Migrationsfrage zeigt sich dies im Dilemma des Transnationalismus,
offene Grenzen und globale Rechte für alle erreichen zu wollen,
gleichzeitig jedoch Politik machen zu müssen in einer Welt der
Grenzen und Unterschiede. Nicht nur gibt es eine Ungleichzeitigkeit
der Kämpfe. Es gibt auch nach wie vor eine ungleiche Organisation
der Kämpfe. Es gibt derzeit keine Subjekte oder Organisationsformen,
die im wirklichen Wortsinne international oder gar transnational
wären. Alle paar Monate mal zu einem „transnationalen“ Treffen
oder zu einer „transnationalen“ Demo zu fahren ist kein
Transnationalismus. International wären die Kämpfe dann, wenn sie
miteinander koordiniert wären, damit sich die Ungleichzeitigkeit der
Kämpfe nicht negativ auf die an unterschiedlichen Orten
unterschiedlich intensiv stattfindenden sozialen/antikapitalistischen
Kämpfe auswirkt, sondern dass sich im Gegenteil die Kämpfe
wechselseitig stärken. Eine Aufhebung der Unterschiede und
Ungleichzeitigkeiten, also Transnationalismus im starken Wortsinn
steht aber kurz- bis mittelfristig nicht an. Praktische Solidarität
hinsichtlich der Migrationsfrage beinhaltet zwecks
„Fluchtursachenbekämpfung“ dann in strategischer Perspektive
auch, die Kämpfe im Globalen Süden um Emanzipation und sozialen
Fortschritt mit aller Kraft zu unterstützen. Diese können durchaus
auch die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen – eine Form von
Grenzen –, Beschlagnahmung von Eigentum
(Nationalisierungen/Vergesellschaftungen) und Aufbau alternativer
internationaler Währungs- und sonstiger Institutionen beinhalten, um
potenzielle populare und wehrhafte Gegenhegemonien gegen die derzeit
dominanten Machtverhältnisse im imperialistischen Weltsystem zu
errichten. Insofern sind Grenzen selbstverständlich nicht per se
abzulehnen. Es hängt auch bei Grenzen davon ab, wer welche zu
welchem Zweck errichtet. Und Grenzen gegen das Kapital werden wir
genau so wie die Länder, die große Fluchtbewegungen erleiden,
ziehen müssen, um unsere eigenen antikapitalistischen Interessen
durchdrücken zu können.</p><p>
</p><hr/><p>
</p><p><b>Anmerkungen:</b></p><p>
</p><p>
</p><p>[1]
John Smith,<i> Imperialism in the Twenty-First Century.
Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism’s Final Crisis</i>,
New York, 2016, S. 108–09.</p></div>
</section>
</article>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Ein Freiluftgefängnis am Rande Europas2018-06-24T16:07:28.199786+00:002018-06-24T16:07:28.199786+00:00Eleni Triantafyllopoulou und Nikos Manavisredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-freiluftgef%C3%A4ngnis-am-rande-europas/
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<h1>Ein Freiluftgefängnis am Rande Europas</h1>
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<div class="rich-text"><p>Am 14. Juni 2018 versuchte ein junger Refugee arabischer
Herkunft, sein Leben vor den Augen der Menschen zu beenden, die am zentralen
Hafen von Mytilini vorbeikamen. Er wurde von anderen Migrant_innen gerettet. Sie
schafften es, einzugreifen und den jungen Mann noch rechtzeitig ins Krankenhaus
zu bringen. Der junge Refugee hielt die faktische Gefangenschaft
und die tragischen Lebensbedingungen im Flüchtlingslager Moria nicht mehr aus.
Zwei Jahre nach dem EU-Türkei-Deal ist die Zahl der Migrant_innen auf der Insel
Lesbos immer weiter gestiegen. Es wird geschätzt, dass mehr als 8000 Menschen
derzeit in dem Lager in Moria eingepfercht sind: Die Nummer der Neuankommenden
steigt täglich, was die Situation in dem Internierungslager immer weiter
erschwert.</p>
<h2><b>Andauernde Angriffe in Moria</b></h2><p>
Morias Internierungslager wird von den Refugees als Platz beschrieben, der
schlimmer ist als die Hölle. Aufgrund des eingesperrt-Seins gemeinsam mit Tausenden
von anderen Menschen treten auch innerhalb des Camps täglich gewalttätige
Konflikte auf. Es ist nur zu verständlich, dass zwischen Menschen
unterschiedlichster Kontexte und mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen, die
unter unerträglichen Bedingungen in Gefangenschaft sind, auch gewalttätige
Episoden entstehen. So war es auch am Freitagabend, den 25. Mai 2018, an dem
sich ein gewaltvoller Zwischenfall zwischen arabischen und kurdischen Migrant_innen
ereignete. Zahlreiche Kurden wurden verletzt, in Folge verließ eine Gruppe kurdischer
Refugees das Camp Moria, um im in den Parks und Straßen im Zentrum von Mytilini
nach einem sicheren Unterschlupf zu suchen.</p><p>
Aber trotz dieser gewaltvollen Episoden und Konflikten zwischen den Refugees
war und ist Moria auch ein Ort der gemeinsamen Kämpfe. Im Juli 2017 fand ein
massiver friedlicher Protest der Lagerbewohner_innen gegen die (auch illegale) Rückführungs-
und Abschiebepolitik und die unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager statt.
35 Refugees - alle von ihnen People of Color – wurden in Folge dessen festgenommen
und angeklagt. Ihnen wurde vorgeworfen, in den anschließenden
Auseinandersetzungen nach Eingreifen der Riot-Polizei Brandstiftung begangen
und Polizeikräfte verletzt zu haben. Der Prozess begann fast ein Jahr später am
18. April 2018 vor dem Gericht auf Chios, einer weiteren Insel in der
Ostägäis. Trotz eines gravierenden Mangels an Beweisen und einem großen Druck
der Solidaritätsbewegungen wurden 32 der Refugees verurteilt - zu einer insgesamt
26-monatigen Haftstrafe. Der gesamte Justizprozess ist als hoch problematisch
anzusehen. Die Organisation Legal Center Lesbos, die an dem Prozess teilnahm,
erklärte in einer <a href="http://www.legalcentrelesbos.org/2018/04/28/the-moria-35-trial-results-in-conviction-of-32/">öffentlichen Stellungnahme</a>,
dass es während des Gerichtsverfahrens wiederholte Verstöße gegen die
Grundprinzipien eines fairen Verfahrens begangen habe (Artikel 6 der
Europäischen Menschenrechtskonvention). Die Organisation äußerte zudem
entschiedene Zweifel an der Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit der Richter
und Staatsanwälte. Darüber hinaus wurden sieben der Refugees mit direkter
Abschiebung bedroht, während ihnen das Recht verweigert wurde, eine Überprüfung
ihres Falles zu beantragen.</p>
<p>Es
war die Nacht des 22. April 2018 – der Prozess gegen die Moria35 dauerte noch
an – als eine Gruppe nationalistischer und faschistischer Kräfte sich im
Stadtzentrum von Mytilini versammelten, um an einer rechten Aktion
teilzunehmen. Die Gruppen versammeln sich, um dabei zu sein, wenn die
militärische Flagge dort einholt wird – ein Ritual, was jeden Sonntag dort
stattfindet. Nach der „Flaggenzeremonie“ bereiteten sich die Faschisten,
ausgestattet mit allen möglichen Waffen –Fackeln, Feuerwerk, Steinen – auf
einen konzertierten Angriff auf Dutzende von Migrant_innen, darunter ganze
Familien mit Kleinkindern, vor. Die Refugees hatten zu diesem Zeitpunkt auf dem
Sappho-Platz demonstriert: Sie machten den Verlust eines afghanischen Mannes öffentlich,
der gestorben war, da er die dringend notwendige medizinische Versorgung nicht erhalten
hatte. Die Faschisten umzingelten sie mit brennenden Fackeln und begannen, Feuerwerk
auf die Menschen abzufeuern. Die Tatsache, dass sie mit diesen ausgerüstet
waren, beweist, dass dieser Übergriff schon im Vorfeld geplant war. An diesem
Abend nahm die Polizei 122 Personen fest – vor allem afghanischer Herkunft.
Während die Angriffe auf die Refugees weitergingen, zeigte die Polizei so klar:
Sie sind Unterstützer der Faschisten. Erst nachdem zahlreiche
zivilgesellschaftliche Proteste und Solidaritätsdemonstrationen stattfanden,
wurden 17 der Faschisten, die Migrant_innen schwer attackierten – und ihren Tod
in Kauf nahmen – endlich strafrechtlich verfolgt. Die Urteile stehen noch aus.</p><p>
Wenige Tage nach dem Pogrom auf dem Sappho-Platz unterstütze der ehemalige
Justizminister und lokales Mitglied des Parlaments, Charalambos Athanasiou (Mitglied
der liberal-konservativen Nea Dimokratia (Νέα Δημοκρατία),
der größten Oppositionspartei in Griechenland), unterstützte die „Patriotische
Bewegung“ bei einer Pressekonferenz, und bot den Angriffen und der
rassistischen Gewalt damit eine politische Deckung. Die so genannte
„Patriotischen Bewegung von Mytilini“ (Πατριωτική Κίνηση Μυτιλήνης) wird durch
die lokalen Strukturen der ND-Partei koordiniert; Mitglieder sind ebenso
verschiedene rechte und faschistische Gruppierungen und Einzelpersonen. Es ist
mehr als deutlich, dass es ein Hauptziel der Partei ist, Plattformen dieser Art,
die auch für Mitglieder der faschistischen Goldenen Morgenröte (Χρυσή
Αυγή) attraktiv sind, auf allen griechischen Inseln zu etablieren und
den gesellschaftlichen Diskurs und das politische Klima damit immer weiter nach
rechts zu drücken. Und sie stehen damit nicht alleine: Zur gleichen Zeit nutzen
sowohl andere faschistische Gruppierungen, als auch die lokalen Behörden, also
der griechische Staatsapparat und die SYRIZA-geführte Regierung, seit Monaten
schon jede Möglichkeit, gegenüber allen öffentlichen Protesten der
Migrant_innen auf der Insel mit aller Gewalt vorzugehen.</p>
<p>Darüber
hinaus nutzt SYRIZA die rechtsextreme und einwanderungsfeindliche Ausrichtung
der Nea Dimokratia auf Lesbos, um sich selbst ein milderes politisches Profil
zu geben. Natürlich ist es mehr als deutlich, dass die Verantwortung der
Regierung sehr groß ist: Sie sind für die Umsetzung der unerträglichen und rassistischen
EU-Türkei-Vereinbarung verantwortlich, welche zu den Tausenden wie festgeketteten
Migrant_innen auf den Inseln geführt hat. Sie tragen die Verantwortung für die
miserablen Bedingungen in den Hot Spots, die faktische Abschaffung der Asylrechte
und die Entwicklungen, die Griechenland zwischenzeitlich zu einem Freiluft-Gefängnis
für Refugees gemacht haben.</p>
<h2><b>Antifaschistische
Solidarität</b></h2>
<p>Zum Glück gibt es aber auch die andere Seite der Medaille: In der Nacht des 8. Mai 2018 fand eine große antifaschistische
Demonstration auf der griechischen Insel Lesbos mit mehr als 1000 Teilnehmenden
statt. Es war eine friedliche, aber auch dynamische Reaktion auf das kurz zuvor
stattgefundene Pogrom am Sappho-Platz. Die Demo wurde gemeinsam von
verschiedenen linken, kommunistischen und anarchistischen politischen Kräften,
sowie von Solidaritätsinitiativen und Menschen, die in Refugee-Support-Organisationen
arbeiten, organisiert. Eine kleine, aber entschlossene Anzahl von Refugees war ebenfalls
involviert, die gegen die rassistischen Übergriffe und für ihr Recht auf eine
bessere Zukunft und ein menschenwürdiges Leben kämpften. Es war eine Demo, in
der alle diejenigen Stimmen zum Ausdruck kamen, die das Bedürfnis hatten, an
der Seite der Migrant_innen und Refugees zu stehen, einschließlich vieler
Initiativen und Organisationen, ungeachtet ihrer politischen Differenzen.</p><p>
Im Mittelpunkt der gemeinsamen Forderungen aller Beteiligten steht die
Solidarität. Der gemeinsame, monatelange Widerstand steht in Kontrast zu der
Brutalität des EU-Türkei-Abkommens, das seit März 2016 flüchtende Menschen auf
den Inseln „gefangen hält und sie einsperrt, und wendet sich gegen die Intoleranz
gegenüber rassistischen, sexistischen und faschistischen Äußerungen und Praktiken.
Unter den politischen Kräften sind es insbesondere die Initiative von ANTARSYA
und die „Organisation der Neuen Linken Bewegung für die Kommunistische
Befreiung“ (NAP), die sich an jeder widerständigen Aktion beteiligen. Sie
versuchen dabei, die Rolle der EU und der griechischen Regierung beim Aufbau
und der Stärkung der Festung Europa zu zeigen. Sie machen deutlich, dass die
aktuelle Krise, welche die geflüchteten Menschen trifft, nur gelöst werden
kann, wenn Kriege und imperialistische Interventionen in Afrika und Asien
gestoppt werden - und dass demnach Griechenlands Austritt aus der NATO und der
Abzug der NATO-Kriegsschiffe aus der Ägäis zentrale Forderungen der Refugee-Solidaritätsbewegung
werden müssen.</p>
<hr/>
<p>Nikos Manavis (Mytilini) und Eleni Triantafyllopoulou (Athen)
sind Teil des Redaktionskollektivs von <a href="http://prin.gr/">Prin</a>, einer kommunistischen Zeitung in
Griechenland.</p>
<p> </p></div>
</section>
</article>
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Balkanroute rückwärts – Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil III)2017-12-31T11:50:39.740877+00:002017-12-31T11:50:39.740877+00:00Felix Brozredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/balkanroute-r%C3%BCckw%C3%A4rts-flucht-staatlichkeit-und-repression-teil-iii/
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<h1>Balkanroute rückwärts – Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil III)</h1>
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<span class="content-copyright">Felix Broz</span>
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</div>
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<div class="rich-text"><p>Belgrad
ist nicht nur die Hauptstadt Serbiens, sondern auch die Stadt, in der sich
außerparlamentarische Gruppen, NGOs und UN-Institutionen im Land konzentrieren.
Im Rahmen unserer Delegationsreise hatten wir die Möglichkeit, mit einigen
Aktivist*innen aus unterschiedlichen linken Nichtregierungs-Gruppen vor Ort
über ihre politische Arbeit zu sprechen. Die
anarchistischen Genoss*innen von <i>No Borders</i> nehmen uns mit auf einen
Gang durch die Innenstadt Belgrads. Hier gibt es zahlreiche Orte, an denen sich
die Auswirkungen der serbischen und europäischen Grenz- und Flüchtlingspolitik
ablesen lassen. Im sogenannten "Afghan Park" nahe des Hauptbahnhofes wird
schnell klar, wie effektiv das europäische Grenzregime und der schmutzige
EU-Türkei-Deal Flüchtende von der "Balkanroute" fernhalten. Anders als noch vor
zwei Jahren sind hier mittlerweile kaum noch Menschen anzutreffen, die auf eine
Gelegenheit zur Überquerung der Grenzen zur EU warten oder auch nur Hoffnung
darauf haben. <br/></p><h2>Serbische
„Politik der Härte“<i><br/>
</i></h2><p>Während im Jahr 2015 zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen das
Land durchquerten, übernachteten viele in provisorischen Zelten und Hütten
zwischen dem Afghan Park und den angrenzenden Bahngleisen. Die Behörden duldeten die –
schon damals – unmenschlichen Zustände. Gleichzeitig drohten die
Repressionsorgane Hotelbetreiber*innen mit hohen Strafzahlungen, sollten sie
Flüchtende beherbergen. Ziel dieser politischen Praxis war es, so der
Behördensprech, „alle Anreize für einen längeren Aufenthalt in Serbien
abzuschaffen“. Angesichts der außerordentlich niedrigen Anzahl an flüchtenden
Menschen, die in diesem Land einen Asylantrag stellen (im Jahr 2017 zwischen 70
bis 80 Personen insgesamt), ist diese Aussage blanker Hohn. Wie viele
Flüchtende sich momentan in Serbien aufhalten, ist unklar. Regierungsstellen
nennen eine offizielle Zahl von 3.800 Personen. Ihre reale Zahl dürfte weitaus
höher liegen. Alles in allem entsteht das Bild einer durch und durch
menschenverachtenden Politik. Offensichtlich geht es vor allem darum, sich mit
politischer Härte als verlässlicher
Partner der EU-Außenpolitik zu profilieren.<br/>
</p><p>
</p><p>Welche
Folgen diese politische Linie praktisch mit sich bringt, machen uns zwei
Vertreter*innen der NGO <a href="http://www.praxis.org.rs/index.php/en/"><i>Praxis</i></a><i> </i>deutlich.
Sie berichten von Vorfällen, bei denen Flüchtende von Ungarn oder der Ukraine
nach Serbien abgeschoben wurden, obwohl die betreffenden Personen nie das Land
durchreist hatten. Solche eigentlich rechtswidrigen Deportationen flüchtender
Menschen nach Serbien lassen vermuten, dass es Deals zwischen den jeweiligen
Regierungen gibt. Sie sind Ausdruck unterschiedlicher Machtpositionen zwischen
etablierten EU-Mitgliedern und „bemühten“ EU-Beitrittskandidaten – wie eben
Serbien und Mazedonien. Generell hören wir von vielen Menschen aus
zivilgesellschaftlichen Organisationen, dass der serbische Staat permanent
grundlegende Menschenrechte mit Füßen tritt. Sie kritisieren die mangelhaften
und nicht ausreichenden Unterkunftsplätze und berichten uns mit Sorge über „gefängnisartige“ Camps oder unzureichende
Verpflegung (Dazu mehr in <a href="https://revoltmag.org/articles/balkanroute-rückwärts-flucht-staatlichkeit-und-repression-teil-ii/">Teil II der
Artikelserie</a>).
Selbst medizinische Hilfe wird häufig nicht gewährt. Darüber hinaus sind
verhältnismäßig viele „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Land, was
sich bereits in der Grenzstadt <em>Šid</em> zeigte. Manche Kinder und
Jugendliche gelten derzeit als „staatenlos“, vor allem, wenn sie alleine
gereist sind oder ihre Angehörigen während der Reise verloren haben. Sie haben
einen noch schwereren Zugang zu Sozialleistungen und damit zu einer
Existenzsicherung. Ihre ökonomisch und sozial aussichtslose Lage macht sie
damit auch zu einem leichten Ziel für kriminelle Strukturen. Nicht wenige
wurden und werden im „Afghan Park“ angesprochen. Sie stecken ohne Hoffnung auf
Besserung ihrer Lage fest: Menschenschmuggler*innen zwingen sie, ihre
„Schulden“ für bisherige oder missglückte Grenzüberwindungen zu bezahlen. Als
Folge dieser Erpressung müssen viele zwangsweise für diese Strukturen arbeiten.
</p><p>
</p><p>Die
staatliche Diskriminierungspolitik betrifft jedoch nicht allein illegalisierte,
flüchtende Menschen in den Grenzgebieten zu Kroatien, Ungarn und Bulgarien. Das
Unvermögen der serbischen Regierung, den aktuell Flüchtenden notwendige
Versorgung und Perspektiven zu geben, geht einher mit einer massiven
Ausgrenzung <i>angestammter </i>Bevölkerungsgruppen. Die Rede ist von den
sogenannten „legal unsichtbaren“ Menschen, zu denen vor allem die
Bevölkerungsgruppe der Roma zählt. Nach offiziellen Angaben machen sie mehr als
zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihre Entrechtung hat viele Facetten,
aber eine der dramatischsten und folgenreichsten ist die Staatenlosigkeit
zahlreicher Roma. In der noch immer stark patriarchal geprägten Ordnung der
serbischen Gesellschaft ist es so zum Beispiel für „unregistrierte“ Romnija*
schwer, ihre Geburten registrieren zu lassen und die Staatsangehörigkeit
zugesprochen zu bekommen. Ein Augenmerk vieler serbischer NGOs liegt
dementsprechend darauf, Flüchtenden und Kindern aus serbischen Roma-Familien in
den landesweit 500 bis 600 informellen Siedlungen gleichermaßen den Zugang zu
staatlichen Wohlfahrtsleitungen zu ermöglichen. Ein Spagat, der mit sehr wenig
finanziellen Mitteln zu meistern ist.</p><h2>
<b>Mazedonien und die Vorverlagerung der EU-Außengrenzen</b></h2>
<p>Die
Delegationsreise führt uns von Serbien weiter nach Mazedonien. Die Lage der
Roma ist hier kaum anders: Sie sind von enormer Ausgrenzung betroffen, ein
Genosse beschreibt es als „worst situation“, als schlimmstmöglichen Zustand.
Aufgrund der gesellschaftlichen Isolation sind sie häufig gezwungen, mit
Pferdewagen in der Stadt umherzufahren, um selbst im Hausmüll noch Verwertbares
für das eigene Überleben zu suchen. Von circa 2. Millionen Einwohner*innen
stellen Roma einen Bevölkerungsanteil von bis zu 185.000 Personen dar, sind
aber politisch kaum im herrschenden politischen Betrieb sichtbar. </p><p>
</p><p>Auch
die wenigen Flüchtenden, die sich in Mazedonien selbst aufhalten gelten als
weitestgehend „vergessen“ und sind den katastrophalen Zuständen in den derzeit
sieben staatlichen Lagern ausgesetzt. Nichtsdestotrotz spielt der
südosteuropäische Staat eine wichtige Rolle in der europäischen
Abschottungspolitik: Aktuell ist <a href="http://www.rosalux.rs/en/governing_balkan_route">sein repressives Grenzregime</a> ein wesentlicher
Grund, warum die in Griechenland steckengebliebenen Flüchtenden nicht Richtung
Serbien und weiter in die EU aufbrechen können. </p><p>
</p><p>In
der Hauptstadt Skopje treffen wir einen Aktiven der neuen linken Bewegung <i>Leftist
Movement Solidarity</i> (<a href="https://levica.mk/english/">LEVICA</a>). Er berichtet uns
von den konkreten Auswirkungen der Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen
und führt uns die menschenverachtende Migrationspolitik des Landes nochmals
genauer vor Augen Vor allem das Camp nahe der griechischen Stadt Idomeni,
welches an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland liegt, hat hierbei
traurige Berühmtheit erlangt. Bereits im Herbst und Winter 2015 gingen die
mazedonischen Repressionsbehörden im Zuge der de facto Grenzschließung mit
brutaler Gewalt gegen die Menschen an der Grenze vor. Nur wenige Monate später
erfolgte im Mai 2016 die brutale Räumung durch die griechische Polizei. Bei
Idomeni handelt es sich allerdings nur um ein Beispiel für die enge Verzahnung
von EU-Interessen mit dem vasallenhaften Vorgehen des mazedonischen Staates. Die
Beziehungen zwischen Mazedonien und der EU sind an vielen Stellen eng verzahnt
und mafiös, <a href="http://www.criticatac.ro/lefteast/nationalism-at-the-rescue-of-macedonias-criminal-elite/">das zeigen die Erfahrungen</a> der Genoss*innen von LEVICA. </p><p>
</p><p>Die
EU auch nimmt einen enormen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der
Regierung. In diesem Zusammenhang berichtet der Genosse vom <a href="https://derstandard.at/2000048381453/Kurz-macht-in-Mazedonien-Werbung-fuer-Umstrittene-Regierungspartei">Besuch</a> des frischgekürten
österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) im November 2016 in
Skopje. In seiner damaligen Funktion als österreichischer Außenminister
bedankte Kurz sich ausdrücklich für die Schließung der sogenannten Westbalkanroute
und revanchierte sich postwendend mit Werbung für die damalige autoritäre
Regierungspartei Mazedoniens (VMRO-DPMNE). Der
EU-Staatenbund intervenierte auch, um die legalen Zugänge von Mazedonier*innen
in den europäischen Raum zu begrenzen. Konkret ging es dabei um die Praxis
Bulgariens, das früher relativ unkompliziert Pässe an Mazedonier*innen vergab,
sofern sie bulgarische Vorfahren nachweisen konnten. Ein solches Vorgehen ist
inzwischen unterbunden worden. </p><p>
</p><p>Neben
der effektiven Kontrolle der Migrationsbewegungen zielt das enge Verhältnis
ebenso auf eine tiefgreifende Neoliberalisierung des Landes ab. Nach der
Unabhängigkeit von Jugoslawien im Jahr 1991 setzte eine massive
Umstrukturierung ein. Innerhalb von nur fünf Jahren erfolgte die Privatisierung
von fast 93 Prozent der Betriebe und der vorhandenen Infrastruktur. Möglich
machte dies nicht zuletzt die massive Korruption, welche auf der tiefgreifenden
Verarmung und sozialen Perspektivlosigkeit weiter Teile der Gesellschaft
basiert. Das Gewinnstreben machte vor kaum etwas Halt: In den Jahren 2015 und
2016 kam es zu entsprechenden Versuchen, von den illegalisierten
Migrationsbewegungen zu profitieren. Während die Regierung nichts tat, um
Flüchtende mit dem Notwendigsten zum Leben zu unterstützen, erlebten mafiöse
Strukturen eine kurzzeitige Blüte. Das gemeinsame Ziel, schnell Geld zu
verdienen, führte Staatsbeamt*innen und Polizei, Bahnarbeiter*innen und
Menschenhändler*innen in <a href="https://www.youtube.com/watch?v=A5fDgJP2G30">einer dubiosen Melange</a> zusammen. Vor diesem
Hintergrund verwundert es wenig, dass nicht nur linke Basisaktivist*innen die
politischen Parteien und ihre Vertreter*innen als durchweg korrupte „Vasallen
der EU“ betrachten.</p><p>
</p><p>Während
unseres Aufenthaltes in Mazedonien läuft der Wahlkampf für die Parlamentswahlen
auf Hochtouren. Hoffnung auf Veränderung gibt es jedoch kaum. Die Jugendarbeitslosigkeit
liegt momentan bei circa 52 Prozent und der durchschnittliche Monatslohn
beträgt zwischen 120 und 360 Euro. Das Ergattern eines Jobs ist dabei im
privaten genauso wie im staatlichen Sektor häufig von der Zugehörigkeit zur
„richtigen“, also herrschenden, Partei abhängig. Das Land ist als Produkt
europäisch-neoliberaler Politik gezielt verarmt worden. Um von den
hausgemachten und von der EU-Politik produzierten Problemen abzulenken, ist
daher das rassistische Ticket im Wahlkampf umso beliebter. Gleichzeitig werden
vor allem jene diskreditiert, die Flüchtende unterstützen und politisch linke
Basisarbeit voranbringen. Die Schließung von „zu kritischen“ Zeitungen und
Fernsehsendern durch die Vorgängerregierung stärkte die reaktionäre Hegemonie
in der Presselandschaft umso mehr. Wir sprechen mit einem Aktivisten, der uns
ein Video aus dem mazedonischen Staatsfernsehen zeigt. Es zeigt Szenen, welche
heimlich bei einem Essen von mazedonischen Linken und griechischen
Anarchist*innen aufgenommen wurde. Eine Stimme aus dem Off behauptet: „Diese
Leute werden bezahlt, die Muslimisierung in Mazedonien voranzutreiben“, und
weiter: „Sie destabilisieren Mazedonien.“ Wir merken deutlich: Auch über
mediale Hetze hinaus sind regierungskritische Positionen einer enormen
Repression ausgesetzt. So geht der Genosse davon aus, dass die staatlichen
Behörden im Land ca. 20.000 Personen überwachen.</p><p>
</p><p>Auch
der Wahlsieg der Sozialdemokratischen Partei (SDSM) hat die tiefgreifende
politische Krise im Land nicht überwunden. Im Gegenteil. Die neue Regierung
zeigt sich bereits sehr gefügig gegenüber den EU-Interessen. So wurde etwa
Ausnahmezustand an der Grenze zu Griechenland im Dezember vom Parlament bis zum
30.06.2018 <a href="https://mazedonien-nachrichten.blogspot.de/2017/12/mazedonien-verlangert-ausnahmezustand.html">verlängert</a>. Ein solches
Vorgehen projiziert die Verarmung innerhalb der mazedonischen Bevölkerung auf
Menschen, deren Flucht in gewisser Weise ebenfalls ein Produkt der
EU-Außenpolitik ist. <br/>
<br/>
Die politische und ökonomische Situation in Mazedonien bleibt somit auf längere
Zeit gesehen ungewiss. Mit der Hoffnung auf ökonomische Verbesserungen werden
die mazedonischen Regierungen lediglich weiter handzahm EU-Interessen
durchsetzen. Sobald die EU-Mitgliedsstaaten ihre ökonomischen Interessen
gefährdet sehen, ist eine Einmischung in nationale Politik nicht weit. Gleichzeitig
läuft die Repressionsmaschinerie gegen linke Organisierungen beständig weiter.
Auch Initiativen gegen Korruption und Vetternwirtschaft sehen sich einer
enormen Kriminalisierung ausgesetzt. Auf der Fahrt zum Flughafen komme ich ins
Gespräch mit dem Fahrer Leon. Auf die Frage nach den bevorstehenden Wahlen
winkt er ab: „Es ist egal, wer regiert. Am Ende stecken sich alle das Geld in
die eigenen Taschen.“<br/></p></div>
</section>
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<img alt="Broz Spielfeld" height="2448" src="/media/images/Leere.original.jpg" width="3264">
<span class="content-copyright">Felix Broz</span>
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<p>Teil der Reihe "Balkanroute rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression"</p>
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<div class="rich-text"><h2>„Balkanroute
rückwärts - Flucht, Staatlichkeit und Repression“
</h2><p>Im
Oktober nahm re:volt - Autor Felix Broz an einer Bildungsreise des
Vereins „Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin“
durch Südosteuropa teil. Im Vordergrund stand die aktuelle Situation
auf der sogenannten „Balkanroute“. Nachdem Ende 2015 ein Großteil
der regionalen Staatsgrenzen weitestgehend geschlossen wurden,
stecken tausende Menschen auf der Flucht in verschiedenen Staaten
Ex-Jugoslawiens sprichwörtlich fest. Das repressive europäische
Grenzregime mit seiner umfassenden Sicherheitsarchitektur unterbricht
ihre Flucht an den unmittelbaren EU-Außengrenzen sowie den
nationalen Grenzen möglicher Beitrittskandidaten (Serbien,
Mazedonien). Was sie dann erleben müssen, ist Stigmatisierung,
Illegalisierung und eine umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung. In
der dreiteiligen Artikelserie für das re:volt magazine zeichnet Felix
Broz die aktuelle Situation um Flucht, Staatlichkeit und Repression
auf der Route Österreich / Slowenien, Kroatien / Serbien und
Mazedonien nach.</p></div>
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