re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=1782017-11-27T18:24:30.601972+00:00Woanders sein, als man ist2017-11-27T18:24:30.601972+00:002017-11-27T18:24:30.601972+00:00Emanuel Kapfingerredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/woanders-sein-als-man-ist/
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<h1>Woanders sein, als man ist</h1>
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<div class="rich-text"><p>Ich möchte über ein Thema sprechen, das erstmal total
esoterisch klingt: Wir werden überall dazu angehalten, dass wir mehr im Hier
und Jetzt leben müssen, dass wir bei unserem Tun nicht immer woanders, zum
Beispiel bei unseren Zielen oder bei irgendwelchen Sorgen, sondern eben <i>in unserem Tun selbst</i> sein müssen. </p>
<p>Ja, es klingt wie etwas, das man auf Grußkarten am
Bahnhofskiosk lesen kann. Dennoch, diese Rede über das „Hier und Jetzt“ fällt haargenau
mit einer Art von Leiden zusammen, das für viele alltäglich ist: Dass wir, egal
ob es um die Arbeit, ums Essen, ums gemeinsame Biertrinken, ums Musikhören oder
um die Liebe geht, sehr oft nicht „richtig“ bei der Sache sind. Wir sind
engagiert, interessiert, gehen aber trotzdem nicht in der Sache auf. Unsere
Muskeln sind verspannt. Vielleicht bewegen wir uns nur noch mechanisch oder
sogar leicht gezwungen, fühlen eine gewisse Pflicht. Eine Pflicht gegenüber den
anderen Biertrinkerinnen, fröhlich und ungezwungen zu sein, oder gegenüber „der
Musik“, möglichst ergriffen davon zu sein. Es mag auch irgendwie Spaß machen,
aber trotzdem ist da das seltsame Gefühl einer unsichtbaren Wand zwischen uns
und uns selbst. Statt loszulassen und einfach nur zu genießen, denken wir an
lauter negative Dinge: ob uns die anderen Biertrinkerinnen für uncool halten;
was wir heute und die nächsten Tage noch erledigen müssen. </p>
<p>Immer wieder gibt es dann diese Idee, sich selbst zu
vergessen. Alle diese Pflichten, Ängste, Zukunftssorgen könnten von uns
abfallen, es könnte ruhig in uns und das Leben <i>einfach</i> werden: Das Vogelgezwitscher anhören, und es ist schön;
minutenlang nichts tun, außer den eigenen Atem zu spüren und sich gut dabei
fühlen; die geliebte Person berühren, und es gibt nichts außer dieser magischen
Berührung. Es ist die Idee einer erfüllten Sinnlichkeit, wo also nicht nur
Bedürfnisse befriedigt werden, oder man nicht einfach „Spaß“ hat, sondern wo
eine reichhaltige Intensität des Erlebens entsteht. Und auch nicht nur eine
„messbare“ Intensität, sondern eine solche, die qualitativ auf die sinnlichen
Alltagsdinge bezogen ist. </p>
<p>Wenn man über so etwas spricht, muss man ohne Zweifel
aufpassen, dass man nicht in einen irrationalen Diskurs abdriftet und eine
Authentizität und Unmittelbarkeit des Lebens herbei phantasiert. Für mich
verbindet sich dieses irrationale Abdriften immer mit dem reaktionären
Philosophen Martin Heidegger. Der spricht in seinem Hauptwerk <i>Sein und Zeit</i> von einem eigentlichen
Sein, in dem sich die verfestigte Ich-Instanz auflöst, in dem wir ohne primären
Unterschied zu unseren Alltagsgegenständen und wesentlich in unserem Tun selbst
sind. Der Gegensatz von Ich und Außenwelt ist für ihn in erster Linie ein
Produkt des Rationalismus, der uns von unserem eigentlichen Selbst losgerissen
hat. Im weiteren Verlauf dieses Buchs entwickelt er dann die philosophische
Version davon, dass wir mehr im Hier und Jetzt leben müssen: Er nennt das
„Augenblicklichkeit“. Dieses Authentizitätsdenken, das nicht nur bei solchen Philosophen
vorkommt, sondern ja auch zum bürgerlichen Alltagsverstand gehört, hat ein
ziemliches Problem. Denn es entwirft ein vom wirklichen, sinnlichen Leben losgelöstes
„authentisches Selbst“, das unabhängig von den wirklichen Bedürfnissen und
Notwendigkeiten des Lebens existieren soll: Das „wahre, unverfälschte Ich“. Es
ist die Vorstellung, dass man durch ein Arbeiten an sich selbst die eigene
Zerrissenheit überwinden könnte, indem man ein versöhntes Bei-sich-Sein
ausbildet. Das ist aber nur der Schein einer Versöhnung, unter dem die
Zerrissenheit fortbesteht. </p>
<p>Ich versuche das am Beispiel der Authentizität gegen die
Massenkultur zu veranschaulichen. Viele fühlen sich „in der Menge“ fremd und
außer sich, fühlen sich beständig von Dingen wie Fernsehshows, Sportevents,
Fastfood, Hollywood und der „Arbeit bloß um des Geldes willen“ belagert und in
ihrer Integrität verletzt. Dagegen setzen sie dann die Vorstellung eines
bedächtigen, genießenden Lebens, in dem sie sich künstlerisch, geistig und
moralisch entfalten. Das wäre eine Form von authentischem Selbst. Die Menschen fühlen
sich befreit von der Zerrissenheit, aber nur, weil sie in einer bloßen
Vorstellung eines authentischen Selbst, ihres unverfälschten Ichs, leben. Denn
natürlich wird die Zerrissenheit, die diese Menschen zunächst erfahren, durch
das authentische Selbst nicht überwunden: Es gibt kein Leben außerhalb der
Massenkultur und unabhängig vom Materialismus des Geldes. Der Preis, den sie für
ihre vermeintliche Entfaltung zahlen, ist die Verdrängung und Unterdrückung
ihrer eigenen Bedürfnisse ebenso wie die Aufgabe einer wirklichen Überwindung
der Zerrissenheit, die in einem politischen Kampf gegen ihre gesellschaftlichen
Bedingungen bestünde. So stabilisiert der Schein des versöhnten Selbst auch den
Kapitalismus, da er eine rein individuelle Lösung eines gesellschaftlichen
Problems darstellt. </p>
<p>Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Leiden vom
Marxismus kritisiert werden muss. Es betrifft
zwar nicht die basalen materiellen Bedürfnisse – Arbeitsbedingungen, Nahrung,
Wohnung, Kulturkonsum –, sehr wohl aber die ebenfalls sehr materielle
Sinnlichkeit in ihrer intensiven Qualität. Wir müssten also herausfinden, wie
man auf eine marxistische, nicht-bürgerliche Weise über diese subjektive Not
sprechen kann, und wie eine politische, nicht bloß individuelle Praxis dagegen
aussehen würde. Wir müssten also, ohne in das Authentizitätsdenken zu
verfallen, über diese Momente sprechen können, in denen der Druck und die
Distanz zu sich selbst auf einmal abfällt und man sehr genau das Gefühl hat,
wieder „in der Wirklichkeit“ anzukommen. Über diesen furchtbaren Widerspruch in
uns selbst, an einem Ort und zu einem Zeitpunkt zu sein und eine bestimmte
Tätigkeit zu verrichten, und zugleich die Gewissheit zu haben, <i>nicht da</i> zu sein, kein Gefühl für die
Situation zu haben und keinen Kontakt zu dem zu haben, was da passiert. Und
über das Rätsel, das in der Gewissheit liegt, dass wir selbst diese Distanz zu
uns hervorbringen, und zugleich so in uns fixiert sind, dass wir nicht
loslassen können. </p>
<p>Das sind natürlich große Fragen, und mehr als ein wenig darüber
nachdenken können wir hier nicht. Lassen wir uns dazu von dem inspirieren, was
Marx in den Pariser Manuskripten von 1844 über den Kommunismus schreibt: </p>
<p>„Die Aufhebung des
Privateigentums ist daher die vollständige <i>Emanzipation </i>aller menschlichen Sinne und
Eigenschaften ... Die <i>Sinne
</i>… verhalten sich zu der <i>Sache
</i>um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein <i>gegenständliches menschliches
</i>Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Das
Bedürfnis oder der Genuß haben darum ihre <i>egoistische </i>Natur und die Natur ihre bloße <i>Nützlichkeit </i>verloren
...“ (<a href="http://www.mlwerke.de/me/me40/me40_533.htm">MEW, Band 20</a>)</p>
<p>Unter dem Privateigentum, also im Kapitalismus, haben die
Sinne eine „egoistische Natur“, die Sache eine „bloße Nützlichkeit“. Sinne und
Sache sind getrennt voneinander, isoliert, und dem stellt Marx emanzipierte
Sinne gegenüber, bei denen das Verhältnis zwischen Sinnen und Sachen
„menschlich“ ist. Im Kommunismus gibt es dann nicht mehr das Problem, dass die
Sinne die Distanz zu den Sachen überwinden und ihrer „habhaft“ werden, sondern
die Sinne sind selbst ein Verhältnis zwischen Mensch und Sache. Beim Musikhören
von oben ist es nicht mehr die Frage, dass wir das Stück nur „haben“ (bzw.
hören) dürfen, wenn wir möglichst ergriffen davon sind. </p>
<p>Vergleichen wir das kurz mit der kapitalistischen Ökonomie.
Dort ist es ja auch so, dass die Menschen und ihre Arbeitsprodukte voneinander
getrennt sind und im Gegensatz zueinander stehen. Die Arbeitsprodukte sind
Waren, deren die Menschen erst habhaft werden müssen, damit sie sie konsumieren
können. Diese Trennung ist aber selbst ein bestimmtes Verhältnis, ein negatives
Verhältnis, das die Menschen beherrscht. Ebenso ist es bei den Sinnen: Dass die
Sinne diese „egoistische Natur“ haben, ist ein genauso negatives Verhältnis,
von dem wir uns emanzipieren müssen. </p>
<p>Bei diesem Verhältnis geht es aber nicht um Arbeitsprodukte
und Bedürfnisbefriedigung, um Privateigentum an Waren und Ausbeutung der Arbeit
anderer, also um Ökonomie, sondern um unsere emotionalen und
zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit dem Kapitalismus natürlich auch ganz
bestimmte Form annehmen: Dass die Sinne so „egoistisch“ sind, auf sich
vereinzelt, ganz isoliert sind, hat mit dem negativen Verhältnis zu tun, das
wir in unserem zwischenmenschlichen Leben zueinander einnehmen. Heute ist es
so, dass wir ständig so gemein zueinander sind, dass wir uns gegenseitig
emotional ausbeuten und uns gegenseitig dazu benutzen, unsere Selbstgefühle zu
pushen. Wir versuchen andere zu beeindrucken, locken sie mit Versprechungen von
Wertschätzung, und lassen sie fallen, wenn wir sie nicht mehr brauchen. </p>
<p>Damit das anders wird, bräuchte es eine kritische
Bewusstheit über genau diesen gemeinen Umgang miteinander. Es bräuchte eine
Ehrlichkeit zueinander und ein gegenseitiges Sprechen über Bedürfnisse. Eine
solche emanzipierte Umgangsweise setzt freilich voraus, dass wir in
zwischenmenschlichen Beziehungen leben, in denen wir nicht objektiv gezwungen
sind, den anderen Gefühle zu verheimlichen oder sie zu beeindrucken. Wo wir
durch gegensätzliche Interessen, sei es in WGs, in einer Intellektuellenszene oder
in ökonomisch verwertbaren Politprojekten, gegeneinander gerichtet sind, ist
ein emanzipierter und ehrlicher Umgang miteinander nur äußerst schwer möglich. </p>
<p>Ohne Aufhebung des Privateigentums ist die Emanzipation der
Sinne nicht denkbar. Aber dabei geht es nicht nur um die Aufhebung des
Privateigentums an Produktionsmitteln, sondern auch des Privateigentums an den
eigenen Lebensgrundlagen. Auch die bloß privat vollzogene Reproduktion muss in
Richtung von solidarischen Reproduktionskollektiven oder Kommunen überwunden
werden, in denen emanzipierte Beziehungen erst praktiziert werden können. Mit
anderen Worten, jede wirkliche Revolution schließt eine Kulturrevolution ein. Und da jede wirkliche Revolution kein Ereignis in einer
unbestimmten Zukunft ist, sondern als Bewegung in der Gegenwart beginnt, bei
uns selbst, können wir auch schon heute damit anfangen. </p></div>
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