re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=172021-11-16T18:38:02.103413+00:00Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern2021-11-16T18:10:33.899436+00:002021-11-16T18:38:02.103413+00:00Hände Weg vom Weddingredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-kampf-an-den-berliner-krankenh%C3%A4usern/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern</h1>
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<span class="content-copyright">Hände weg vom Wedding (CC)</span>
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<div class="rich-text"><p><br/>Die Beschäftigten bei Charité und Vivantes in Berlin mussten sich vor kurzem erneut in harten und lang andauernden Tarifkonflikten mit ihren Geschäftsführungen auseinandersetzen. Im Mutterkonzern Charité arbeiten etwa 16.300 Beschäftigte. Dazu kommen ca. 3.100 Beschäftigte in ausgelagerten Tochterunternehmen, vor allem beim Charité Facility Management (CFM) mit rund 2.800 Kolleg*innen. Zum Vivantes-Konzern, der sich selbst als „größter kommunaler Krankenhauskonzern Deutschlands“ rühmt, gehören neun Krankenhäuser, 18 Pflegeheime, zwei Senior*innenenwohnhäuser, eine ambulante Rehabilitation, medizinische Versorgungszentren, eine ambulante Krankenpflege, ein Hospiz sowie Tochtergesellschaften für Catering, Reinigung und Wäsche. Vivantes selbst beschäftigt insgesamt rund 17.900 Arbeiter*innen. In den zwölf sogenannten „Tochtergesellschaften“ sind ca. 2.900 Menschen beschäftigt, meist zu prekären Bedingungen, die wesentlich schlechter ausgestaltet sind als im Mutter-Konzern. Am Ende des Monats bedeutet das für die outgesourcten Kolleg*innen bis zu 25 Prozent weniger Lohn für die selben Tätigkeiten.</p><p>Die Charité ist, wie auch Vivantes, ein landeseigene Unternehmen Berlins, beide werden aber nicht nach den Prinzipien der öffentlichen Daseinsvorsorge, sondern nach dem privatwirtschaftlichen Prinzip der Profitabilität geführt. Das heißt, dass der Erfolg des Managements sich nicht an der Bereitstellung belastbarer Gesundheits-Infrastruktur, guten Behandlungen und gesunden Arbeitsbedingungen misst, sondern an der Höhe des Umsatzes und der erwirtschafteten Profite! Es verwundert dementsprechend nicht, dass nach Inanspruchnahme berüchtigter Unternehmensberatungen viele Bereiche und damit tausende Beschäftigte in Tochterunternehmen mit Billig-Löhnen und prekären Arbeitsbedingungen ausgelagert wurden. Dort gilt nirgends der für kommunale Arbeitgeber verbindliche Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Teilweise kam überhaupt kein Tarifvertrag zur Geltung. Neben den finanziellen Einsparungen stellt dieses Vorgehen auch eine aggressive soziale Spaltung der Arbeiter*innenschaft dar, mit der Funktion, die Klassensolidarität erheblich zu schwächen. Die Bonzen aus Führungsetagen und Landespolitik hatten diese Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht!</p><h3>Der vereinte Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und die Rolle der Gewerkschaftsführung</h3><p>Die Diktatur des Kapitals wird auch im Gesundheitssystem immer offensichtlicher, denn bei der Umsetzung ihrer Geschäftsziele gingen die Unternehmensführungen so maßlos vor, dass die Gesundheit der Beschäftigten selbst regelrecht ruiniert wird. In einem System von „immer mehr Leistung und immer größeren Profiten bei immer weniger Beschäftigten!“ haben Gesundheit und Erhaltung der Arbeitskraft der Arbeiter*innen selbst im öffentlichen Gesundheitssystem kaum mehr Bedeutung.<br/>Seit 2011 setzten sich deshalb viele Beschäftigte, in erster Linie gewerkschaftlich organisierte Kolleg*innen, unermüdlich für bessere Arbeitsbedingen ein: Konkret für ein Ende des Outsourcing, die Rückführung der Tochtergesellschaften zum kommunalen Arbeitgeber und somit die Eingliederung in den TVöD. Auch bei den Stammbelegschaften von Vivantes und Charité wuchs das Bedürfnis nach Vereinigung der Kräfte mit den Kolleg*innen der Tochtergesellschaften, um bei Tarifverhandlungen bzw. Arbeitskampfmaßnahmen gestärkt aufzutreten und der Spaltung, die als Einschüchterungs- und Disziplinierungsmaßnahme eingesetzt wurde, vereint entgegenzuwirken.</p><p>„<i>'Kapital', sagt Quarterly Reviewer, 'flieht Tumult und Streit und ängstlicher Natur'. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror von Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinen Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert; selbst auf Gefahr des Galgens.“<br/> (P. J. Dunning, zitiert von Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, S.801, Berlin 1960)</i></p><p>Über Jahre wurde diesem berechtigten Vorhaben der Beschäftigten aus Mutter- und Tochterkonzernen seitens der Gewerkschaft ver.di allerdings nicht entsprochen. Die Planung und Durchführung von neuen Tarifverhandlungen sowie damit einhergehender Arbeitskampfmaßnahmen fanden stets getrennt voneinander statt. So zuletzt auch im Arbeitskampf der CFM, in dem die Beschäftigten ebenfalls den TVöD forderten. Mittels eines Schlichtungsverfahrens durch den SPD-Politiker Platzeck wurde der Streik aber von oben herab beendet, ohne den TVöD erreicht zu haben. Und das im Frühjahr des selben Jahres in dem mit der Berliner Krankenhausbewegung im Herbst die Kolleg*innen aus Charité und Vivantes ihre Forderungen gemeinsam mit den Kolleg*innen der Tochterunternehmen artikulieren sollten.</p><h3>Die Illusion der Sozialpartnerschaft</h3><p>Es stellt sich also die Frage, warum ver.di die Chancen der Zusammenführung der Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen wiederholt nicht nutzte. Wie ist die Politik der ver.di-Führung zu erklären?<br/> Die Logik und die Politik der Gewerkschaftsführung sind durchdrungen von der Illusion, Arbeiter*innen und Chefs, Beschäftigte und Manager*innen seien gleichberechtigte Geschäftspartner mit gemeinsamen Interessen. Gelegentlich würde diese Partnerschaft durch uneinsichtiges Vorgehen der Arbeitgeberseite gestört, sodass man manchmal um einen größeren Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Ergebnis streiten müsse. In dieser Logik wird die Realität der Klassenunterschiede ausgeblendet. Tatsächlich sind die Interessen der Unternehmensführungen in ihrem Streben nach Profit und die der Arbeiter*innen im System der Lohnarbeit diametral entgegengesetzt. Dennoch wird in der politischen Kultur der großen Gewerkschaften kontinuierlich die Sozialpartnerschaft in den Köpfen ihrer Mitglieder verankert, obwohl diese im krassen Widerspruch zur täglichen Arbeitsrealität und den Erfahrungen im Betrieb steht.<br/></p><p>Daraus folgt auch eine angepasste und zahme Position der Gewerkschaftsbürokratie, wenn es um die Rolle von Tarifverhandlungen und Streiks geht. Statt im Streik das zentrale Kampfmittel zur Durchsetzung unserer Interessen als Beschäftigte und als arbeitende Klasse gegenüber unseren Ausbeuter*innen zu erkennen, bevorzugt der ver.di-Apparat die Verhandlung auf vermeintlicher Augenhöhe, setzt auf Kompromisse und Entgegenkommen der Arbeitgeberseite. Der Einsatz von Streiks ist für die herrschenden Gewerkschaftsführungen ausschließlich in defensiver Haltung akzeptabel. Und wenn man dann zähneknirschend zum Streik aufruft, ist die Zielsetzung nicht die unbedingte Durchsetzung aller berechtigten Forderungen der Beschäftigten und die Erhöhung der Klassensolidarität - sondern, die gestörte „partnerschaftliche Beziehung“ wieder herzustellen.<br/><br/> Aus der Sicht der ver.di-Führung würde ein konsequentes und kämpferisches Vorgehen in Tarif- und Streikpolitik die seit langem bei Charité und Vivantes im Rahmen des TVöD praktizierte und vermeintlich harmonisch-sozialpartnerschaftliche Beziehung mit dem dem öffentlichen Arbeitgeber gefährden. Jede*r Gewerkschaftsbürokrat*in weiß genau, dass kollektive Arbeitskampfmaßnahmen auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene eine Stärkung des Klassenbewusstseins unter den Kolleg*innen mit sich bringen. Aus Sicht der Bürokratie droht dabei die Gefahr einer klassenkämpferischen Eigendynamik unter den Beschäftigten, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Dies zu vermeiden, klein zu halten und schnellstmöglich zu beenden, stellt eines der „ehernen Gesetze“ der Gewerkschaftsführung dar und so wird jedes Angebot der Gegenseite als Chance gesehen, einen Kompromiss zu schließen und den „sozialen Frieden im Betrieb“ wieder herzustellen.<br/></p><h3>Die Berliner Krankenhausbewegung</h3><p>Hierüber ließe sich auch erklären, was ver.di bewogen hat, mit dem 100-tägigen Ultimatum der Berliner Krankenhausbewegung weitere drei Monate auf die Einsetzung effektiver Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten. Aber auch die Gewinnung neuer Mitgliedschaften wird hier eine strategische Rolle gespielt haben.<br/>Nichtsdestotrotz hat sich in diesem Zusammenhang gezeigt, wie groß der Kampfeswille der Beschäftigten von Charité, Vivantes und Töchtern ist. Die Berliner Krankenhausbewegung hat es geschafft, innerhalb kurzer Zeit einen hohen Organisationsgrad in den Betrieben zu erreichen und viele junge Kolleg*innen zu motivieren, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen.<br/></p><p>Die 100 Tage wurden aktiv genutzt, um eine öffentlichkeitswirksame Kampagne auf die Beine zu stellen mit dem Ziel, solidarische Unterstützung durch breite Teile der arbeitenden Klasse zu erlangen. Während die bürgerliche Presse zwar lange nur verhalten berichtete, entstand eine basisnahe Vernetzung zwischen den kämpfenden Beschäftigten mit solidarischen Nachbarn und Arbeiter*innen aus anderen Branchen. Das gemeinsame Interesse aller Lohnabhängigen an einem gemeinwohlorientierten Gesundheitswesen wurde herausgestellt und das bisher häufig verbreitete Vorurteil, in Krankenhäusern seien Streiks nicht möglich oder gar unsozial gegenüber den Patient*innen wurde aufgebrochen. Die Parole „Der Normalzustand gefährdet die Gesundheit, nicht der Streik“ steht beispielhaft hierfür. Die aktive Verbindung mit anderen sozialen Kämpfen wie der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen!“ oder den streikenden Arbeiter*innen beim Lieferdienst Gorillas stellten einen wichtigen Schritt in Richtung einer geeinten Bewegung der Lohnabhängigen für unsere Interessen dar, aus der sich die Möglichkeit ergeben kann, Arbeitskämpfe in einem größeren politischen Zusammenhang zu denken.<br/></p><h3>Klassenkampf von oben und die Antwort der Kolleg*innen</h3><p>Hingegen nutzte die Gegenseite die Zeit, ihre perfiden Angriffe auf den Arbeitskampf vorzubereiten. Anhand von Einschüchterungen der Beschäftigten durch Vorgesetzte, Verleumdung der Streiks als Gefährdung der Patient*innen und letztendlich den Versuch, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen, offenbarten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes ihre Sicht auf die angeblich gleichberechtigte Sozialpartnerschaft. Fakt ist, dass von oben herab unverhohlener Klassenkampf mit allen Mitteln geführt wurde, die der Kapitalseite zur Verfügung stehen.<br/>Unter dem fadenscheinigen Vorwand fehlender Notdienstvereinbarungen, deren „sozialpartnerschaftlicher“ Verhandlung sie sich verweigerten, setzte sie ein richterliches Streikverbot durch, das schon die Warnstreiks zum Ablauf des Ultimatums im Keim ersticken sollte. Die Geschäftsführungen der unterschiedlichen Konzerne traten hierbei geeint auf und konnten sich auf Rückendeckung aus der Senatspolitik verlassen. Die Arbeitgeberseite verspottete damit das Märchen der Sozialpartnerschaft.<br/></p><p>Erst auf massiven Druck durch Proteste der Streikbewegung wurde die gerichtliche Verfügung revidiert und ein gemeinsamer Streik in den Mutter- und Tochterunternehmen wurde ermöglicht. Statt die Beschäftigten zu spalten, trat infolgedessen das Gegenteil ein: Die Aggressivität der Arbeitgeber und die offensichtliche Verhöhnung der Interessen der Beschäftigten sorgten dafür, dass diese ihrer Wut noch mehr Ausdruck verliehen und ihren Kampf mit großer Entschlossenheit aufnahmen. Die Anfang September durchgeführte Urabstimmung verdeutlichte unmissverständlich die Bereitschaft der überwältigenden Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder, einen unbefristeten „Erzwingungsstreik“ zu führen: An der Charité stimmten 97,85 Prozent, bei Vivantes 98,45 Prozent und in den Tochterunternehmen 98,82 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen für die Arbeitskampfmaßnahme! Für viele von ihnen stellte der Arbeitskampf eine letzte Chance dar, in ihrem Beruf weiterhin arbeiten zu können, ohne körperlich und psychisch auszubrennen. Die Durchsetzung der Hauptforderungen der Beschäftigten gegenüber der Arbeitgeberseite waren dementsprechend nicht nur wichtig sondern essentiell notwendig. Sie lauteten:</p><ul><li>Tarifvertrag Entlastung bei der Charité und bei Vivantes mit verbindlichen Vorgaben zur Personalbesetzung und einem Belastungsausgleich bei Unterbesetzung!</li><li>Faire Löhne und TVöD für alle Beschäftigten!<br/></li></ul><p>Der gemeinsame Streik nahm schnell an Fahrt auf und es gab viele Aktionen und Demonstrationen, an denen nicht nur die Streikenden, sondern auch viele solidarische Menschen aus anderen Berufen, gesundheitspolitische Unterstützungskreise sowie linke, sozialistische Organisationen teilnahmen. Neben den Geschäftsführungen wurde auch die Senatspolitik direkt adressiert, da im Zuge des Tarifkampfes die grundsätzliche Frage nach der politischen Ausgestaltung des öffentlichen Gesundheitssystems aufflammte. Die zuständigen Politiker*innen hielten sich fernab von Lippenbekenntnissen und Wahlwerbung jedoch zurück und der Arbeitgeber blieb hart. Immer wenn ver.di die Bereitschaft zu Verhandlungen eröffnete, glänzten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes mit Abwesenheiten, Desinteresse oder absurden Angeboten, die in ihrer Konsequenz sogar noch Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen bedeuteten.<br/></p><p>Die Logik der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik stieß an ihre Grenzen und es kam zu einem der längsten Krankenhausstreiks in der deutschen Geschichte. Erst nach über einem Monat sah sich die Geschäftsführung der Charité genötigt, dem politischen und ökonomischen Druck des Streiks nachzugeben und Verhandlungsangebote zu präsentieren, auf die ver.di eingehen konnte, ohne sich gegenüber der Basis der Bewegung die Blöße zu geben. Der Initiative folgte kurze Zeit später die Ankündigung zur Einigung beider Seiten über ein „Eckpunkte-Papier“ zu einem TV-Entlastung.</p><h3>Spaltung durch getrennte Verhandlungen</h3><p>Unabhängig von der Qualität des angekündigten Kompromisses auf der Grundlage des Eckpunkte-Papiers bedeutete die Entscheidung der ver.di-Fachbereichsleitung, die Arbeitskampfmaßnahmen bei Charité einzustellen, faktisch nichts anderes, als den Kampf der Beschäftigten bei Vivantes und ihren Tochtergesellschaften massiv zu schwächen und dem Tarifgegner eine willfährige und unschätzbare Unterstützung zu leisten. Ver.di offenbarte gegenüber der Arbeitgeberseite ihren Willen, auch bei Vivantes die Arbeitskampfmaßnahmen umgehend einzustellen, sobald die Arbeitgeberseite sich kompromissbereit zeigen würde. Es lässt sich davon ausgehen, dass die Führungen von Charité und Vivantes in regem strategischen Austausch miteinander standen, sodass ein ähnliches Eckpunkte-Papier auch für Vivantes schnell beschlossen wurde. Und wer blieb übrig? Wieder einmal trifft es mit den Vivantes-Tochterunternehmen die Belegschaften, die in den prekärsten Verhältnissen arbeiten und die alleine kämpfend die geringste Macht auf ihrer Seite haben. Zwar wurde auf den letzten Demonstrationen immer wieder skandiert, dass jene in ihrem nun alleinstehenden Kampf um den TVöD nicht allein gelassen werden sollen aber die Realität sah anders aus. Für die weiteren Verhandlungen um die Vivantes-Töchter wurde erneut der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Platzeck, als Moderator einbezogen, der es schon ein Jahr zuvor ermöglichte, die Rückführung des Charité Facilitiy Managements in den TVöD zu verhindern. Mit dem demokratisch zweifelhaft abgeschlossenen Billig-Tarifvertrag der CFM war zu Anfang des Jahres auch schon die ideale Vorlage geschaffen worden, um den Beschäftigten eine sofortige Eingliederung in den TVöD vorweg zu nehmen.</p><h3>Befriedigung der Interessen der Beschäftigten auf niedrigstem Niveau</h3><p>Auch wenn die Tarifverträge noch nicht unter Dach und Fach sind, kann man den roten Faden, der die Qualität der noch zu feilenden Tarifverträge weitgehend bestimmen, auf der Grundlage der beiden „Eckpunkte-Papiere“ erkennen.<br/> Erstens sollen die Tarifverträge einen langen Zeitraum von drei Jahren umfassen. Das bedeutet, dass die Beschäftigten aufgrund der sogenannten „Friedenspflicht“ für einen langen Zeitraum zur Passivität verpflichtet werden. Zweitens wird die tatsächliche Entlastung der Beschäftigten auf einen langen Zeitraum von drei Jahren verschoben, so dass sie erst ab 2024 einen wirklich spürbaren Entlastungsausgleich erhalten. Auf der Grundlage von Patienten-Personal-Ratio sollen für die Stationen und Bereiche klare Quoten festgelegt werden. „Bei Unterschreitung der festgelegten Besetzungsregelungen erhalten die hiervon betroffenen Beschäftigten“, so ver.di, „einen Belastungsausgleich.“ „Dafür werden so genannte Vivantes-Freizeitpunkte vergeben; einen Punkt bekommt beispielsweise eine Pflegefachkraft, wenn sie eine Schicht lang in Unterbesetzung arbeiten musste. Im Jahr 2022 erhalten Beschäftigte für je neun Vivantes-Freizeitpunkte eine Freischicht oder einen Entgeltausgleich von 150 Euro; im Jahr 2023 genügen dafür je sieben Vivantes-Freizeitpunkte, und im Jahr 2024 je fünf Vivantes-Freizeitpunkte. Die Anzahl der zu gewährenden freien Tage ist allerdings gedeckelt: im Jahr 2022 auf sechs, im Jahr 2023 auf zehn und im Jahr 2024 auf fünfzehn freie Tage; über die Deckelung hinausgehende Ansprüche werden in Entgelt ausgeglichen.“</p><p>Bei der Charité sollen über den Entlastungsausgleich hinaus in den nächsten drei Jahren mehr als 700 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege eingestellt werden, um eine Entlastung für die Pflegekräfte an der Charité zu erreichen. Da aufgrund der hohen Belastung in der Pflege aber viele qualifizierte Arbeiter*innen die Vollzeitbeschäftigung oder sogar das Berufsfeld an sich verlassen, bleibt die Frage offen, welche Stellen tatsächlich besetzt werden oder ob die Geschäftsführung sich weiterhin damit herausredet, sie fände nicht genügend Personal. Der positive Erfolg bei den Eckpunkte-Papieren ist der Durchbruch, dass die Kapitalseite zum ersten Mal überhaupt die Forderung des Belastungsausgleichs grundsätzlich akzeptieren muss. Dass die Beschäftigten für den enormen Stress und die barbarische Arbeitsbelastung für ein ganzes Jahr ab 2022 nur sechs freie Ausgleichstage und 2023 nur zehn Ausgleichstage erhalten können, kann keine ernsthafte und tatsächliche Entlastung für die Betroffenen mit sich bringen.</p><p>Für die Arbeitgeber werden sowohl die wenigen freie Ausgleichstage als auch der Entgeltausgleich in Höhe von 150 Euro brutto eine hinnehmbare Summe sein und stellen nicht zwangsläufig den von ver.di erhofften ökonomischen Druck dar, um strukturelle Verbesserungen zu Gunsten der Beschäftigten in der Krankenhausökonomie anzustoßen. Drittens blieb die Arbeitgeberseite in Bezug auf die Rückführung der Tochter-Beschäftigten zum landeseigenen Betrieb und damit in den TVöD hartnäckig. Nach über sechs Wochen Streik steht als Verhandlungsergebnis ein Tarifvertrag fest, der zwar in Anlehnung an den TVöD einige materielle Verbesserungen für die Beschäftigten bedeutet, aber die eigentliche Forderung nach Rekommunalisierung nicht erfüllt. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Kolleg*innen der verschiedenen Betriebe des öffentlichen Gesundheitssystems weiterhin in kommunale und outgesourcte gespalten bleiben. Selbst unter den verschiedenen Tochter-Betrieben werden durch unterschiedliche Staffelungen der Lohnsteigerung weiterhin Unterschiede gemacht und das Labor Berlin ist nicht einmal enthalten.<br/></p><p>Die Beschäftigten von Charite und Vivantes sowie der Tochterunternehmen konnten angesichts des Kampfpotentials der Belegschaften zeigen, dass entschlossene und ausdauernde Streiks auch im Gesundheitswesen möglich sind. Mit den ursprünglich verbindlich aneinander gekoppelten Forderungen von Mutter- und Tochterbelegschaften sowie der zeitlichen Bündelung der Kampfkraft bestand die reale Chance, alle der wichtigen Forderungen durchzusetzen und der herrschenden Klassenspaltung ein Ende zu bereiten. Diese große Chance wurde leider vertan!<br/></p></div>
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Italien: Repression gegen Arbeitskämpfe2021-03-19T10:15:52.033499+00:002021-03-19T10:20:40.831970+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/italien-repression-gegen-arbeitsk%C3%A4mpfe/
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<h1>Italien: Repression gegen Arbeitskämpfe</h1>
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<span class="content-copyright">Si Cobas</span>
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<div class="rich-text"><p>Ein Jahr nach Ausbruch der globalen Corona-Pandemie nehmen die durch die globale Krise ausgelösten sozialen Widersprüche weiter zu. Mit dem Ausruf des ersten italienweiten Lockdowns und der Schließung zahlreicher wirtschaftlichen Aktivitäten im März 2020 erlebte die Arbeitswelt erneut eine tiefgreifende Restrukturierung. Die kürzlich publizierten Statistiken des italienischen Statistikamtes Istat sprechen eine klare Sprache: Innerhalb eines Jahres (März 2020 – Februar 2021) gingen in Italien offiziell 456.000 Arbeitsplätze verloren (-2.0 Prozent); nur dank des zu Beginn der Krise eingeführten und seither anhaltenden Entlassungsverbotes ist diese Zahl nicht mindestens doppelt so hoch.</p><p>Dieser Stellenverlust hat in den letzten zwölf Monaten vor allem Arbeiter*innen mit befristeten Verträgen (-391.000 Personen, das entspricht -12.8 Prozent) und selbständig Arbeitende (-154.000 Personen entspricht -2.9 Prozent) getroffen. Einen großen Teil der informellen Arbeiter*innen, die ohne Arbeitsvertrag und unter prekären Bedingungen ihr Brot verdienen, werden aber von diesen Statistiken nicht erfasst.</p><p>Die Erosion der Arbeit wurde von einer massiven Zunahme inaktiver Arbeiter*innen begleitet (+403.000, das bedeutet einen Zuwachs von 3.1 Prozent). Als „inaktiv“ bezeichnet man diejenigen Personen, die weder arbeiten noch auf Arbeitssuche sind, da es schlicht keine Arbeit gibt. Die Inaktiven gelten statistisch nicht als Erwerbslose, darum ist dieser Indikator im letzten Jahr paradoxerweise auch massiv zurückgegangen (-10.5 Prozent).</p><h2><b>Arbeitskämpfe in der Pandemie</b></h2><p>Vor diesem Hintergrund brachen zu Beginn der Corona-Krise 2020<a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/"> Arbeitskämpfe</a> in verschiedensten Sektoren aus. Arbeiter*innen nicht „systemrelevanter“ Sektoren, wie beispielsweise der Luxuskleiderindustrien legten die Arbeit nieder, um die vorübergehende Schließung ihrer Betriebe und eine totale Lohnfortzahlung zu fordern. In den Großbetrieben wie bei Fiat in Pomigliano d'Arco bei Neapel forderten die Arbeiter*innen die Einhaltung von Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus im Betrieb. Arbeitskämpfe und Protestaktionen brachen auch in prekären Sektoren aus: Migrantische, meist papierlose<a href="https://www.rosalux.eu/de/article/1758.der-kampf-der-landarbeiter-innen-in-italien.html"> Landarbeiter*innen</a> forderten eine sofortige Regularisierung ihrer Arbeits- und Aufenthaltssituation und einen staatlichen Eingriff zur Verbesserung ihrer Unterkunfts- und Wohnsituation.</p><p>Besonders hervorzuheben ist der Kampf von Zehntausenden von<a href="https://www.internazionale.it/reportage/annalisa-camilli/2020/11/10/lockdown-rider-sciopero"> <i>rider</i></a> (Arbeiter*innen in der Essenslieferung). Mit dem enormen Anstieg der Nachfrage nach Hauslieferungen während der Pandemie nutzten diese Arbeiter*innen die Gunst der Stunde, um bessere Anstellungs- und Beschäftigungsverhältnisse zu fordern. Nach Monaten der Arbeitsniederlegung, institutionellen Treffen und einem Prozess der Selbstorganisierung in unabhängigen Gewerkschaften sprach die Staatsanwaltschaft von Milano Mitte Februar 2021 ein Urteil aus, nach dem die delivery Plattformen die <i>rider</i> als unselbständige Arbeiter*innen direkt anstellen müssen und daher alle sozialen und gewerkschaftlichen Rechte zu garantieren sind. Es handelt sich um einen wichtigen Schritt im Kampf gegen das ausufernde Phänomen der Scheinselbständigkeit im Sektor.</p><p>Für die Kapitalist*innen steht viel auf dem Spiel: Ihre Bereitschaft, den Forderungen der Arbeiter*innen entgegenzukommen, stößt indes äußerst schnell an Grenzen und wird auch staatlich gestützt. Zwei jüngere Beispiele von Arbeitskämpfen zeigen dies deutlich. Es handelt sich dabei in erster Linie nicht um offensive Kämpfe mit selbst gewählten Zielen (Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung oder ähnliches), sondern um Mobilisierungen gegen hyper-ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und für die Einhaltung von gesetzlichen und tarifvertraglichen Mindeststandards. Die kämpfenden Arbeiter*innen wendeten dabei radikale Kampfformen an – und die staatliche Repression zum Schutze des Kapitals ließ nicht lange auf sich warten.</p><h2><b>Kämpfen gegen kriminelle Organisationen</b></h2><p>In Prato, in der Region Toskana, mobilisieren sich seit über einem Monat schon rund 30 pakistanische und bengalische Arbeiter*innen der chinesischen Druckerei Texprint. Sie fordern die Einhaltung der vom nationalen Tarifvertrag vorgesehenen Arbeitszeiten (8-Stunden-Tag, 5-Tage-Woche, Respekt der vorgesehenen Urlaubstage). Die Arbeiter*innen haben eine permanente Blockade des Wareneingangs und -ausgangs aufgebaut, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen: Arbeitstage von über 12 Stunden, keine Wochenenden und fehlende Arbeitsverträge. Am 10. März 2021 intervenierte jedoch die Polizei, um die friedliche Sitzblockade zu durchbrechen. Dabei wurden mindestens zehn Arbeiter*innen verletzt, zwei davon mussten ins Krankenhaus gebracht werden.</p><p>Die repressive Antwort des Staates auf die Proteste der Arbeiter*innen geschah just in dem Moment, in dem die Präfektur eine Untersuchung gegen Texprint wegen Verbindungen des Unternehmens zu kriminellen Organisationen einleitete: Es konnte eine direkte Verbindung zwischen einem Manager der Druckerei zur <i>'ndrangheta</i>, der kalabrischen Mafia, nachgewiesen werden. Das Unternehmen weist diese Vorwürfe zurück. Es behauptet, es handle sich bei der Person um einen einfachen Mitarbeiter, so dass nicht das ganze Unternehmen zu haften hätte. Die Präfektur verordnete trotzdem den Ausschluss des Unternehmens aus dem Wettbewerb um öffentliche Aufträge. Tatsächlich hatte Texprint im letzten Herbst einen Auftrag im Wert von 354.000 Euro für die Produktion von Anti-Corona-Masken an Land gezogen. Gleichzeitig wurde aber für die Arbeiter*innen, die bei der Basisgewerkschaft <i>Si Cobas</i> (Sindacato intercategoriale – Comitati di base, eine alternative, branchenübergreifende Basisgewerkschaft) Mitglieder sind, Kurzarbeit mit der Begründung „Covid-19“ beantragt.</p><p>Dass das Unternehmen seine Profite durch unrechtmäßige Geschäfte erzielt, war im letzten Januar auch schon dem regionalen Arbeitsinspektorat aufgefallen. Bei einer Kontrolle im Betrieb hatte es die ausbeuterischen Bedingungen protokolliert und notiert, dass die Arbeiter*innen das Ende des illegitimen Gebrauchs von Lehrverträgen fordern; ein Mechanismus, den die Betriebe nutzen, um weniger Lohn zu zahlen und die prekären Bedingungen beizubehalten.</p><h2><b>Anzeigen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen</b></h2><p>Das Beispiel eines zweiten Arbeitskampfes macht deutlich, dass die repressive Faust des Staates auch in dem seit Jahrzehnten expandierenden<a href="http://schattenblick.ch/infopool/medien/altern/vorw-957.html"> Logistiksektor</a> zuschlägt. Die wachsende ökonomische Bedeutung des Sektors wird schon seit Jahren von wichtigen Kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und für die Regularisierung der migrantischen Arbeit begleitet. Besonders in den Lagerhäusern der großen multinationalen Unternehmen in Nord- und Mittelitalien organisierten und mobilisierten sich vornehmlich migrantische Arbeiter*innen. Auch die Pandemie konnte das Wachstum nicht bremsen, im Gegenteil: Die Zunahme des Konsums über den Warenkauf auf den digitalen Plattformen haben die Arbeitsrhythmen in den Lagerhäusern nur intensiviert – und somit auch das Konfliktpotential innerhalb der Betriebe.</p><p>Mitte Februar 2021 gewannen die Arbeiter*innen der Lagerhäuser von Tnt in Piacenza einen wichtigen Kampf. Im Fusionsprozess der zwei <i>global players</i> der Logistik – Tnt und FedEx – wurden in ganz Europa Arbeiter*innen entlassen. In Piacenza hatten sich die Lagerarbeiter*innen 13 Tage lang mit radikalen Aktionen gewehrt (unter anderem mit der Blockade der Warenzirkulation) und konnten dadurch die Massenentlassung verhindern. Mit aller Entschlossenheit führten sie den Kampf fort und erhielten sogar vertragliche Verbesserungen – eine Seltenheit angesichts der in diesen Krisenzeiten kaum vorhandenen Bereitschaft der Unternehmen, den Forderungen der Arbeiter*innen gegenüber Zugeständnisse zu machen.</p><p>Am 10. März kam aber die Rache in Form einer gewalttätigen staatlichen Repression. Die Staatsanwaltschaft leitete in Anschluss an den 13-tägigen Kampf Untersuchungen gegen insgesamt 29 Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Basisgewerkschaft <i>Si Cobas</i> ein. Die Anklage lautet: Widerstand gegen Beamte, schwere Körperverletzung und Gewalt, unrechtmäßige Besetzung von öffentlichem Grund. Zudem wurden Bußgeldstrafen in der Höhe von mehr als 13.000 Euro pro Person wegen „Verstoß gegen Anti-Corona-Regeln“ verteilt. Die Polizei führte insgesamt 21 Hausdurchsuchungen durch; Arafat und Carlo, zwei Aktivisten von <i>Si Cobas,</i> wurden gar unter Hausarrest gestellt.</p></div>
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<p>"Fedex-TNT und Draghi-Regierung, ihr seid die Kriminellen. Mit den kämpfenden Arbeiter*innen. Freiheit für Carlo und Arafat, Freiheit für alle!" (Text auf Transparent)</p>
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<div class="rich-text"><p>Das Urteil ist höchst politisch motiviert: Der Staat setzte damit das im Jahr 2019 eingeführte sogenannte Salvini-Gesetz durch. Das auch unter der Bezeichnung „Sicherheitsdekret“ bekannt gewordene Gesetz wurde stets in Verbindung mit dem Angriff auf die grundlegenden Rechte von Geflüchteten diskutiert; oft blieb unbeachtet, dass dieses Dekret auch das fundamentale Streikrecht und die damit einhergehenden Kampfformen wie Straßen- und Betriebsblockaden angreift. Die Staatsanwaltschaft von Piacenza setzte nun in diesem Fall genau dieses Sicherheitsdekret durch, obwohl sie in ihrer öffentlichen Stellungnahme erklärt, dass die Anzeigen in keinem Zusammenhang mit der rechtmäßigen Ausübung der gewerkschaftlichen Rechte stehen, sondern „die Blockade der Lastwagen mit gewalttätigen Methoden, bis zum schlimmen Widerstand gegen Ordnungskräfte“ (sic!) betreffen.</p><h2><b>Den Konflikt zuspitzen!</b></h2><p>Die beiden Beispiele zeigen, wie sich der krisengeprägte Kapitalismus derzeitig entwickelt und wie Unternehmen sowie staatliche Strukturen darauf reagieren: Angriffe auf die Arbeits- und Lohnbedingungen, Unterdrückung der autonomen Organisierung der Klasse und Kriminalisierung radikaler Kampfformen. Wie kann man diese Entwicklungen einordnen?</p><p>Die Kämpfe der Arbeiter*innen brachen in Sektoren aus, in denen die Gewinnmargen fast ausschließlich über gesetzeswidrige Methoden der Arbeitsorganisation erhöht werden. Es gehört mittlerweile jedoch zur Normalität, Arbeiter*innen ohne Verträge anzustellen oder Vertragsformen zu benutzen, mit denen tiefe Löhne bezahlt oder gesetzliche Mindeststandards (Arbeitszeiten, Sozialbeiträge usw.) untergraben werden. Dies geschieht im Dienstleistungs- und im Logistiksektor, aber auch in der Landwirtschaft, im Care-Sektor und vermehrt auch in denjenigen industriellen Branchen, in denen bis vor einigen Jahren noch stabile Normalarbeitsverhältnisse vorherrschten. Der krisengeprägte Kapitalismus kann sich die alte Normalität nicht mehr leisten.</p><p>Diese seit Jahren schon vorherrschende Arbeitsorganisation antizipiert gewissermaßen die Ankündigungen des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank und aktuellen Ministerpräsidenten Italiens, Mario Draghi. Bei Amtsantritt Mitte Februar 2021 legte er seine Karten gleich offen. Seine strukturellen Reformen der industriellen Beziehungen verfolgen zwei Ziele: Erstens die Stärkung der betrieblichen Lohnabsprachen zu Ungunsten der Branchen-Tarifverträge. Dies hat zur Folge, dass auch innerhalb einer Branche vermehrt konkurrierende Arbeits- und Lohnverhältnisse vorherrschen. Zudem ist die Kontrolle der gesetzlichen Mindeststandards und ihrer tatsächlichen Durchsetzung auf der betrieblichen Ebene viel schwieriger – vor allem in Italien, wo Klein- und Kleinstbetriebe die Mehrheit der Ökonomie tragen. Zweitens verfolgt Draghi eine Politik der Lohnmäßigung mit dem Argument, den „Standort Italien“ und somit die Exportorientierung der italienischen Wirtschaft zu stärken.</p><p>Der Angriff auf die gewerkschaftlichen Rechte reiht sich in diese Bestrebungen der italienischen Bourgeoisie ein, die Position der italienischen Ökonomie im internationalen Wettbewerb neu zu regeln. In diesem Prozess der Restrukturierung ist es unausweichlich, dass Kämpfe ausbrechen müssen – gerade im Kontext der globalen Pandemie, die die sozialen und ökonomischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft noch einmal stark verschärft hat.</p><p>Dass diese Kämpfe in erster Linie von migrantischen Arbeiter*innen und ohne Mitwirkung der großen Gewerkschaftsverbände ausgehen, ist zwar nicht neu, weist aber nochmals darauf hin, dass die Gewerkschaften das Feld des Klassenkampfes aufgegeben haben und sich nur noch um institutionelle Repräsentanz kümmern. Ihre <a href="https://www.linkiesta.it/2021/02/maurizio-landini-mario-draghi/">kritiklose Unterstützung</a> für die neue Regierung der „nationalen Einheit“ kam in den Worten des Cgil-Chefs Maurizio Landini (Cgil: Confederazione Generale Italiana del Lavoro, der italienische Gewerkschaftsbund) zum Ausdruck: „Draghi kann Italien aus der Arbeitsprekarität rausbringen.“</p><p>Dies eröffnet neue Möglichkeiten für konfliktorientierte Basisgewerkschaften und klassenorientierte politische Organisationen, die es zu nutzen gilt. Konkret heißt das, sich als linke politische Organisation oder Basisgewerkschaft stets auf die Seite der kämpfenden Arbeiter*innen zu stellen, ihnen jegliche Form der Unterstützung zuzusichern (logistisch, medial und so weiter) und ihre Forderungen hinaus aus den engen Mauern des Betriebes, hinein in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Denn der Pandemie-Kapitalismus hat gezeigt, dass jeder ökonomische Kampf zutiefst politisch ist und auch als solcher ausgetragen werden muss.</p><p></p><hr/><p></p><h2><b>22. März 2021: Italienweiter Streik bei Amazon</b></h2><p><i>Am Montag, dem 22. März 2021, soll bei Amazon alles still stehen. Der Streik beim grössten Logistikunternehmen weltweit soll alle Arbeitskategorien betreffen, von den Lagerarbeiter*innen bis zu den Paketzusteller*innen.</i></p><p><i>In Italien arbeiten rund 40.000 Arbeiter*innen für Amazon. 9.000 davon sind direkt bei Amazon Italia Logistica in den Lagerhäusern angestellt. Dazu kommen weitere 9.000 Zeitarbeiter*innen, diese kommen mittlerweile aber nicht mehr nur während den Festtagen wie Weihnachten zum Einsatz, sondern gehören zur Stammbelegschaft, obwohl sie unter schlechteren Bedingugnen angestellt sind. Rund 19.000 Personen arbeiten als Paketzusteller*innen für Amazon, ohne direkt bei Amazon angestellt zu sein, da sich das multinationale Unternehmen auf eine Pluralität von Betrieben stützt, um die Zustellung zu organisieren.</i></p><p><i>Mit dem italienweiten Streik wird zweierlei gefordert: Erstens ein monitoring der Arbeitsrhythmen und Arbeitsbelastungen, denn mit dem Ausbruch der Pandemie hat sich das Arbeitsvolumen verdoppelt, die Zahl der Arbeiter*innen jedoch nicht; zweitens einen Rahmentarifvertrag, der die Arbeits- und Lohnbedingungen aller für Amazon tätigen Arbeiter*innen harmonisiert.</i></p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Unterstützt die Spendenkampagne "Lila Solidarität!"2020-12-22T14:23:03.436625+00:002020-12-22T16:33:34.427315+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/unterst%C3%BCtzt-die-spendenkampagne-lila-solidarit%C3%A4t/
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<h1>Unterstützt die Spendenkampagne "Lila Solidarität!"</h1>
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<span class="content-copyright">mor dayanışma</span>
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<div class="rich-text"><p><i>Mor Dayanışma</i> ist eine arbeitskämpferische Frauenselbstorganisation, die sich in Vierteln, an den Arbeitsplätzen und in den Häusern mit den Problemlagen von Frauen auseinandersetzt. Die feministische Struktur hat derzeit große finanzielle Schwierigkeiten und läuft damit auch Gefahr, ihre Stadtteiltreffs zu verlieren. Die sind aber ein sehr wichtiger Bezugspunkt für die Frauen*, auch und gerade in Covid-19-Zeiten. Daher ist unsere Solidarität dringend nötig!</p><p>Nach einem intensiven Austausch mit den Genossinnen in der Türkei haben wir uns an das <i>LabourNet Germany</i> gewandt und um Unterstützung für eine Spendenkampagne gebeten. Die großartigen Genoss:innen haben sich sofort solidarisch gezeigt und mit uns gemeinsam die „Spendenkampagne ‚Lila Solidarität“ auf den Weg gebracht. Wenn ihr also ein paar Euro für internationale Soli-Arbeit übrig habt, klickt auf die Kampagnen-Seite oder scrollt zum Ende dieses Artikels für die Kontodaten.</p><p></p><hr/><p><a href="https://www.labournet.de/interventionen/solidaritaet/spendenkampagne-lila-solidaritaet-labournet-germany-und-das-revolt-magazine-rufen-zu-spenden-fuer-die-basisaktivistinnen-von-mor-dayanisma-in-der-tuerkei-auf/">[Spendenkampagne „Lila Solidarität“]</a><br/> <i>LabourNet Germany und das re:volt magazine rufen zu Spenden für die Basisaktivistinnen von Mor Dayanısma in der Türkei auf“ !</i></p><hr/><p></p><h2>Warum die Kampagne nötig ist</h2><p>Die Organisation <a href="https://mordayanisma.org">Mor Dayanışma</a> lebt von einmaligen oder regelmäßigen Spenden, eine staatliche Unterstützung existiert nicht und ist auch politisch nicht gewollt. In der Türkei trifft die Covid-19-Krise auf eine ganze Reihe weiterer sozialer Antagonismen <a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">und verstärkt diese</a>: Das betrifft die schwelende Wirtschaftskrise samt rasanter Inflation sowie die autoritären Konsolidierungsversuche Erdoğans ebenso wie die immer wieder aufflammenden Widerstände im Kontext von Chauvinismus und (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen*. Die Arbeitslosenquote von Frauen <a href="https://elyazmalari.com/2020/04/11/kayda-gecsin-covid-19-ile-kadinlarin-sirtina-yuklenen-ev-ve-bakim-emegi/">stieg</a> schon vor der Corona-Pandemie in fünf Jahren um 52 Prozent und erreichte 2019 16,6 Prozent (das bedeutet über 1 755 000 Frauen ohne Einkommen durch Lohnarbeit). Knapp drei Millionen Frauen arbeiteten derweil mehr als 45 Stunden pro Woche, 34,4 Prozent dieser Frauen waren informell beschäftigt.</p></div>
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<p>Unterstützung des Protests von Textilarbeiterinnen, die vom Unternehmen VIP im Jahr 2019 entlassen wurden, weil sie Mitglied einer Gewerkschaft geworden sind.</p>
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<div class="rich-text"><p>Und nun, wie überall auf der Welt, haben die Frauen* in der Türkei auch im Zuge der Corona-Krise die meisten Einkommensverluste und die größte Zunahme von Care-Arbeit zu verbuchen. Für die Arbeiterinnen* in den Fabriken und auch im privaten Sektor, in Geschäften und kleinen Betrieben, gibt es viele Probleme in Bezug auf Mobbing und sexuelle Belästigung. Hinzu kommt der Mangel an notwendigen Hygienemaßnahmen an den Arbeitsplätzen; die fortgesetzte Arbeit in Menschenmengen, lange Arbeitszeiten, ungesicherte Arbeit, zunehmende Nachtschichten, Lohnkürzungen und Gefahr von Kündigungen setzen den Frauen zu. In einem <a href="https://mordayanisma.org/2020/09/20/3368/">aktuell veröffentlichten Survey</a> der Organisation wurde das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit deutlich, die Frauen ohne ein aktuelles Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich in Bezug auf ein Auskommen und eine ausreichend bezahlte Lohnarbeit artikulieren: Nur 35 Prozent suchen überhaupt noch nach einer Arbeit. Aufschlussreich sind dabei die Notizen, welche die befragten Frauen im Survey-Abschnitt "Was Sie hinzufügen möchten" geschrieben haben: "Ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, ich habe keine Beschäftigungsmöglichkeiten", "Schutzräume sollten vermehrt werden", "Schutzräume und rechtliche Unterstützung sind für Frauen von entscheidender Bedeutung" und ähnliches. Die Sätze zeigen die Reaktionen der Frauen über das hoffnungslose Klima im Land und ihre Suche nach Lösungen angesichts multipler Problemlagen, die mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten verflochten sind.</p><p>Mor Dayanışma arbeitet immer wieder mit Frauenplattformen und Initiativen, wie <i>Barkod</i>-Kadın Dayanışma Ağı, der Arbeiter*innenorganisation <i>Ekmek ve Onur</i> oder Basisinitiativen wie <i>#İşçilerBirlikteGüçlü</i> (Arbeiter*innen sind gemeinsam stark) zusammen, um den Frauen* in ihren ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zur Seite zu stehen und gemeinsam dagegen zu kämpfen. Hierzu unterstützen die Frauen* beispielsweise Streiks der Arbeiterinnen* vor den Fabriktoren oder führen Informationsveranstaltungen zu Arbeitsthemen durch.</p><p>Die Treffpunkte von Mor Dayanışma sind inmitten der Viertel angesiedelt, in denen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, Armut und schlechter gesundheitlicher Versorgung leben. Die Dynamiken der Krise betreffen damit die Frauen*, die sich bei Mor Dayanışma treffen, in besonderem Maße - und zwar in allen Bereichen des Lebens. Sie benötigen dringend diese Orte des Austauschs, der Organisierung und der kollektiven Herstellung von Handlungsfähigkeit, die sie sich selbst mit so viel Herzblut und Arbeit aufgebaut haben.</p></div>
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<p>Mor Dayanışma-Mitglied Basar in einer Nachbarschaft beim Verteilen der "Wir sind nicht sicher"-Kampagnenbroschüre.</p>
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<div class="rich-text"><p>Mor Dayanışma wurde 2014 im Geist der Gezi-Proteste in der Türkei gegründet. Seither gibt es Stadtteil- und Regionalstrukturen der Organisation von Edirne bis Şırnak, von Istanbul bis Hatay. Im Laufe der Zeit entstanden in vielen Städten Zentren und Orte der Zusammenkunft, in denen sich Frauen* weiterbilden, politisch aktiv werden und sich gemeinsam gegen das patriarchale kapitalistische System zur Wehr setzen, welches eine ganz <a href="https://elyazmalari.com/2020/12/02/siddet-fasizm-ve-devlt-ucgeninde-kadinlar-cemile-baklaci/">besondere Herrschaft über</a> die Arbeit, Identität und Körper von Frauen* ausübt. Die Frauen* treffen sich für kostenlose Fortbildungen, etwa, was Arbeitsschutz und gesundheitliche Vorsorge angeht; sie können über die Basis-Organisation anwaltliche, gewerkschaftliche oder psychologische Unterstützung finden, oder gemeinsam Schmuck und Handwerkskunst herstellen, welches ihnen ein eigenes oder zusätzliches Auskommen ermöglicht. In Zeiten der Pandemie wurde die Unterstützung teilweise umorganisiert, um die Frauen in der Pandemie zu erreichen. Die Harekete Geç (Komm' in Bewegung) -Kampagne entstand zu einer Zeit, als die Verletzungen von Frauenrechten unglaublich zahlreich waren, und entwickelte sich dann zum Güvende Değiliz (Wir sind nicht sicher) - Prozess. Als Ergebnis dieser Kampagne wurde im September 2020 die oben aufgeführte Umfragestudie veröffentlicht, die mit 1497 Frauen aus 76 Provinzen durchgeführt wurde.</p><p>Aus basisgewerkschaftlicher Perspektive ist zentral, dass durch die Netzwerke der Frauen* untereinander die Möglichkeit von Arbeitskämpfen diskutiert und kollektiv nach Lösungen gesucht werden. Dadurch erfahren die Frauen das Gefühl der Selbstwirksamkeit und fangen an, sich auch in politischen und gewerkschaftlichen Kontexten zu organisieren. Das ist insbesondere deshalb so wichtig, weil viele der Frauen* bei Mor Dayanışma informell beschäftigt und somit von vielen institutionell verankerten Rechten ausgeschlossen sind. Mor Dayanışma ist dafür auch mit anderen Basisorganisationen verknüpft und versucht, in den Medien (etwa durch kontinuierliche Präsenz in den Sozialen Medien sowie zahlreichen Online-Angeboten der Mitglieder) und auf der Straße mit ihrer feministischen Arbeit aktiv zu sein.</p><p></p><hr/><p><b>Solidaritätsbotschaft von İrem Kayıkcı, Sprecherin von Mor Dayanışma in Istanbul:</b></p><p><i>Liebe Freundinnen und Freunde,</i></p><p><i>inmitten der pandemischen Entwicklung in der Türkei, in der Gewalt gegen Frauen*, Rechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung von Frauen zunehmen, bin ich dankbar für eure Unterstützung. Wir versuchen, uns überall Gehör zu verschaffen, von den Stadtvierteln bis zu den Fabriken, und kämpfen für Frauen, die in vielen verschiedenen Arbeitsbereichen und Haushalten unterschiedlichen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind. Ihre Unterstützung wird uns helfen, uns weiter zu organisieren und den Kampf für die Befreiung der Frauen weiter zu stärken.</i></p><p><i>Mit meinen aufrichtigen Wünschen und meiner Solidarität,</i></p><p><i>İrem Kayıkçı</i></p><hr/><p></p><p><i>LabourNet Germany,</i> das<i> re:volt magazine</i> und viele andere Unterstützer*innen rufen zu Spenden für <b>Mor Dayanışma</b> auf:</p><p>Spendenkonto: Labournet e.V.:<br/>IBAN DE 76430609674033739600<br/>BIC: GENODEM1GLS<br/>Verwendungszweck “Lila Solidarität”<br/>(für eine e-mail an verein@labournet.de samt Adresse kann eine Spendenquittung ausgestellt werden)</p><p></p></div>
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<p>Das Bild zeigt eine Fahrraddemonstration, um die Kampagne Harekete Geç (Komm' in Bewegung) sichtbar zu machen.</p>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Drei.2020-11-01T11:58:15.483656+00:002021-09-01T19:40:36.263332+00:00Laura Müllerredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/drei-mythen-%C3%BCber-die-corona-krise-teil-drei/
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<h1>Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Drei.</h1>
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<span class="content-copyright">Flickr</span>
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<div class="rich-text"><p>Die Corona-Pandemie bringt für uns konstant Veränderungen mit sich: Im Tages- oder im Wochentakt werden neue Bedingungen und Regeln aufgestellt. Die meisten von uns verfolgen die Entwicklungen mehr oder weniger regelmäßig und versuchen, die Ereignisse und damit auch mögliche Szenarien der Krisenbearbeitung durch die Herrschenden einzuordnen und zu analysieren. Dabei gibt es auch Annahmen und Mystifizierungen, die es (zum aktuellen Zeitpunkt) zu hinterfragen und zu diskutieren gibt. Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Reihe zum Thema. Obwohl sich einige der Aussagen sicher verallgemeinern lassen, beziehen sich die folgenden Überlegungen in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland.</p><p></p><hr/><p><i>Mythos 3: Um die Krise zu überwinden, müssen wir alle den Gürtel enger schnallen. Wenn wir jetzt verzichten können, wird es uns bald wieder besser gehen.</i></p><hr/><p>Gerade in Krisenzeiten wird gern die Floskel „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es uns allen gut“ in verschiedenen Ausformungen wiederholt. In der Corona-Pandemie wird das durch die Phrase ergänzt, wir alle wünschten uns eine baldige Rückkehr zur Normalität. Diese beiden Wunschgedanken bedürfen einer grundlegenden Kritik.</p><h3><b>Ein gutes Leben für alle?</b></h3><p>Was bedeutet es eigentlich, dieses „es geht uns allen gut“? Heißt es, dass wir alle einen Job haben, ein ausreichendes Einkommen und einigermaßen sichere Zukunftsaussichten? Dann ließe sich konstatieren, dass diese Lebensumstände im Kapitalismus selbst in wirtschaftlichen Konjunkturphasen bei Weitem nicht auf alle und spätestens seit dem Finanzcrash von 2008 und im Zuge des neoliberalen Umbaus wohl auch insgesamt für immer weniger Menschen zutreffen. Außerdem ignoriert diese Auffassung eines „guten Lebens“ die massive Beschneidung unserer Freiheit im und durch das Arbeitsleben: Wir müssen unsere Zeiteinteilung und gesamte Lebensplanung kapitalistischen Sachzwängen unterwerfen.</p><p>Eine freie Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung im Sinne eines guten Lebens sind kaum möglich: Viele von uns müssen Arbeiten verrichten, die sie nicht tun wollen, die sie körperlich und psychisch zermürben und krank machen. Wir lernen, uns und unsere Arbeitskraft im Berufsleben trotzdem zu selbst wie eine Ware zu verkaufen – vom Bewerbungsgespräch bis zur Profilierung vor Kolleg*innen und Chef*innen - um im Konkurrenzkampf nicht unterzugehen. Während der Arbeitszeit, also einem meist erheblichen Teil unserer Lebenszeit, sind wir fremdbestimmt. Unser*e Arbeitgeber*in entscheidet, welche Tätigkeiten wir wann und wie auszuführen haben. Demokratische Prinzipien gibt es in der Arbeitswelt kaum und auch, wenn sich manche Unternehmen gern den Anstrich flacher Hierarchien geben, bleiben Vorgesetzte doch immer Vorgesetzte, die die Grenzen unserer Selbstbestimmung von oben festlegen und sich den täglich durch unsere Arbeit geschaffenen (Mehr.)Wert aneignen.</p><p>Der im Kapitalismus strukturell unter diesem Wert liegende Lohn, der am Ende des Monats auf unserem Konto landet, dient im Wesentlichen der Reproduktion unserer Arbeitskraft, die wir dem Unternehmen schließlich auch noch im nächsten Monat gewinnbringend verkaufen können sollen. All das sind nur einige der täglichen Zumutungen des kapitalistischen Systems für unsere Leben. Mit anderen Worten: Im Kapitalismus geht es uns nie „gut“. Die reale Verschlechterung unserer Lebensverhältnisse, etwa durch steigende Zahlen derjenigen, die „arbeitslos“, also ohne entlohnte Arbeit sind, Kurzarbeit, steigende Lebenshaltungskosten bei gleichbleibenden Hartz4-Sätzen und sinkenden Löhnen, kommt durch die Corona-Krise nun zum bestehenden Stress noch dazu. Und wenn nun in der Pandemie darauf verwiesen wird, dass es uns allen gut geht, wenn es der Wirtschaft gut geht, dürfen wir nicht der Illusion verfallen, das Kapital würde irgendwelche sozialen Interessen verfolgen.</p><p>Das liegt gar nicht in seiner Logik. Im Gegenteil: Der Kapitalismus und darin das Kapital profitiert zum Beispiel von einer gewissen Zahl an Erwerbslosen, die in relativer Verelendung leben und die schon Marx als „industrielle Reservearmee“ bezeichnete. Sie dienen – wie auch Hierarchisierungen von Arbeiter*innen auf dem globalen Markt (bei der Ausbeutung von migrantischen Arbeiter*innen zum Beispiel) – zugleich als abschreckendes Beispiel („Seht, wie schlecht es euch erginge, wenn ihr nicht fügsam der für euch vorgesehenen Arbeit nachgeht!“), der Lohndrückerei und als tatsächliche Rücklage von Arbeitskraft, auf die in Zeiten des Aufschwungs zurückgegriffen werden kann. Sozialstaatliche Zuwendungen erfüllen dabei die Funktion, die potenziellen Arbeitskräfte in einem einigermaßen tauglichen Zustand zu halten, damit sie bei Bedarf verwertbar sind. Eine hohe Beschäftigungsquote und ein steigender Lebensstandard sind allenfalls Nebenprodukte der Kapitalverwertung, auf die keinerlei Verlass ist.</p><h3><b>Die Normalität heißt Verwertung</b></h3><p>Krisen stellen unsere sicher geglaubten Erwartungen für die Zukunft infrage. In so einer Situation ist nachvollziehbar, dass der Wunsch nach mehr Vorherseh- und Planbarkeit des Lebens aufkommt. Der Kapitalismus bietet uns, ganz einfach indem er seiner ihm innewohnenden Verwertungslogik folgt und uns durch immer neue Unwetter oder einfach durch den täglichen Nieselregen peitscht, diese Sicherheit aber so oder so nicht. „Das Einzige, das in diesen ökonomischen Stürmen gewiss ist, ist die Ungewissheit“ (Heinrich 2018: 175). Zu welcher Art Normalität sollten wir also zurückwollen? Wenn Politiker*innen davon sprechen, dass wir alle uns eine „Rückkehr zur Normalität“ wünschen, meinen sie vor allem, dass die infolge der Krise verschlechterten Kapitalverwertungsmöglichkeiten wieder verbessert werden sollen. Für den Staat ist das wichtig, weil er vom Kapital abhängig ist. Staatliche Strukturen, Investitionen und Institutionen werden durch Steuergelder finanziert, welche die Unternehmen vom Reichtum, den die Lohnabhängigen für sie erarbeiten, abführen. Staat und Kapital stehen in einer Wechselbeziehung. Insbesondere in der aktuellen Gesundheitskrise muss der Staat Leben und Gesundheit der Arbeiter*innen, die Wertbasis der kapitalistischen Demokratie, schützen. Aber nur insofern es dem kapitalistischen Gesamtinteresse dient.</p><p>Die Ausrichtung der Politik an kapitalistischen Interessen statt an hehren Prinzipien zeigt sich nur allzu deutlich daran, dass die Arbeitsbedingungen in großen Betrieben, zum Beispiel in der Fleischindustrie, als Infektionstreiber von der Politik ausgeklammert werden und aus der medialen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden sind. Die Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens hat Vorrang – koste es, was es wolle. Corona-Einschränkungen werden – in der zweiten Welle noch massiver – fast ausnahmslos in den privaten, sozialen und kulturellen Bereich verlegt. Die Jugend, die als Masse durchweg egoistischer Party-Monster inszeniert wird, ist der willkommene Sündenbock, um diese Politik zu rechtfertigen. Dabei wird auf valide Belege für diese homogene Darstellung ebenso gern verzichtet wie auf den Hinweis, dass durchaus auch ältere Menschen trotz Pandemie <a href="https://www.rnd.de/panorama/sozialpsychologe-uber-corona-partys-eine-grosse-rolle-spielen-egoistische-motive-KWNG2KXTZJDBTJLQ3FP27READA.html">Feiern veranstalten</a> und so weiter.</p><p>Abseits des Privaten hingegen sollen wir uns in volle Bahnen quetschen, uns acht Stunden lang neben unsere Kolleg*innen an den Schreibtisch setzen, mit Dutzenden von ihnen am Fließband stehen oder unsere Tage in schlecht gelüfteten Klassenzimmern verbringen (der Kapitalismus braucht gebildete kommende Generationen). Trotz exponentiell steigender Fallzahlen durften wir unser Geld abends noch über viele Wochen hinweg im Restaurant lassen – auch die Gastronomie ist eine wichtige Branche, was die aktuellen Debatten und Proteste um die weitgehenden Schließungen nochmal deutlich machen – uns aber bitte nicht im Park treffen. Neben der erschwerten Kontrollierbarkeit von Abstandsregeln sind derlei Freizeitaktivitäten auch einfach wirtschaftlich schlecht verwertbar und erscheinen daher aus der Perspektive der Politik am ehesten verzichtbar. Nachweislich hilft eine Reduktion der Kontakte, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Eben dieser Argumentation folgend ist es nicht nachvollziehbar, dass das für die Kontakte im Arbeitsalltag nicht gelten soll. Es ist mehr als offensichtlich, dass es nicht um uns, unsere Bedürfnisse und unsere Leben geht, sondern unsere Gesundheit nüchtern gegen Kapitalinteressen abgewogen wird.</p><h3><b>Es rettet uns kein höh’res Wesen…</b></h3><p>Ziel der aktuellen Politik ist nicht, das Leid, das der Kapitalismus für die meisten Menschen bedeutet, zu mindern, sondern es so rasch wie möglich auf den Prä-Corona-Stand zu bringen. Die alltägliche Missachtung unserer körperlichen und psychischen Gesundheit ist für uns außerhalb der Verschärfungen in der Corona-Krise weniger fühlbar und damit auch „normal“ geworden. Nur deshalb ist es leicht, uns vorzugaukeln, zu diesem Zustand zurückzukehren sei wünschenswert. Im Moment lassen sich damit sogar Wähler*innenstimmen gewinnen. Genaugenommen wird versucht, auf dieser Grundlage die Lohnabhängigen die Krise austragen zu lassen. Real- und Nominallöhne <a href="https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/09/PD20_366_623.html;jsessionid=3113DC22B27374FF3398F59C52227FD5.internet8732">sinken</a>, während die Vermögen der Superreichen – wie in fast jeder Krise – <a href="https://www.dw.com/de/reiche-werden-dank-corona-reicher/a-55184720">weiter wachsen</a>; große Konzerne werden aufwändig gerettet, während kleine Betriebe, Kleinselbstständige und Kollektive in die Röhre schauen.</p><p>Die Profiteure einer Krise sind selten die Arbeiter*innen. Der Kapitalismus ist in seinem Wesen krisenhaft: Betrachtet man die materiellen Verhältnisse, die er schafft und stetig reproduziert, ist seine „Rettung“ für den größten Teil der Menschen keineswegs erstrebenswert. Warum sollten wir diese neuerliche Krise der kapitalistischen Warenwirtschaft ausbaden, beeinträchtigt sie doch unsere Leben jeden Tag?! Parolen wie „Capitalism is the crisis“ oder „The virus is capitalism” haben deshalb aktuell zu Recht Hochkonjunktur, weil sie auf diesen Umstand verweisen. Bei entsprechendem politischen Willen gäbe es weitaus bessere Möglichkeiten, die Krise finanziell abzufedern: zum Beispiel Vermögens- und Erbschaftssteuern, stark progressive Einkommenssteuer oder Enteignungen. Stattdessen werden zum Beispiel durch die Senkung der Mehrwertsteuer in erster Linie weiter diejenigen bevorteilt, die ohnehin schon über komfortablere finanzielle Möglichkeiten verfügen. Was bringt es uns, beim Kauf eines Neuwagens soundso viel sparen zu können, wenn wir ihn uns eh nicht leisten können? Abgesehen davon, dass es den Unternehmen überlassen ist, ob sie die Steuersenkung überhaupt weitergeben oder sich selbst noch mehr bereichern. „Wir sitzen alle im selben Boot“ trifft also nur insofern zu, als das „wir“ nicht die Herrschenden und die Beherrschten, die Kapitalist*innen und die Lohnabhängigen zusammen meint, sondern nur uns, die wir weitestgehend vom Reichtum der kapitalistische Warenwirtschaft ausgeschlossen sind.</p><p>Die Krise gemeinsam zu schultern, kann nicht heißen, dass wir uns noch mehr vom Mund abzusparen müssen. Vielmehr heißt es, gemeinsame soziale Proteste gegen die Belastungen, die auf uns abgewälzt werden, zu organisieren, uns in Arbeitskämpfen nicht gegeneinander ausspielen zu lassen und die Reichen und Kapitalist*innen zur Kasse zu bitten. Wenn jemand den Gürtel enger schnallen muss, dann sie! Diese Form der Politik wird uns nicht von oben geschenkt, wir müssen sie von unten erkämpfen. Auch in Zeiten von Corona.</p><p></p><hr/><h3><b>Weiterführende Literatur:</b></h3><p>Heinrich, Michael (2018): Kritik der politischen Ökonomie: eine Einführung in „Das Kapital“ von Karl Marx. Reihe Theorie.org. Stuttgart: Schmetterling Verlag.</p></div>
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„Jeglicher Reformismus ist zum Scheitern verurteilt“2020-04-10T08:37:20.919947+00:002020-04-10T08:37:20.919947+00:00Alexander Gorskiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/jeglicher-reformismus-ist-zum-scheitern-verurteilt/
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<div class="rich-text"><p> <br/><i>Die Region rund um die andalusische Stadt Almería ist als „Plastikmeer“ bekannt. Zehntausende migrantische Arbeiter*innen aus Afrika, Lateinamerika und Osteuropa schuften dort unter widrigsten Bedingungen in zahllosen Plastikgewächshäusern, um den europäischen Markt ganzjährig mit Gemüse zu beliefern. Seit 20 Jahren kämpft die traditionsreiche andalusische Basisgewerkschaft </i><a href="http://socsatalmeria.org/">SAT</a><i> an der Seite der Beschäftigten für ein Ende der Ausbeutung in der Region. José García Cuevas ist seit den 1990er-Jahren in der SAT aktiv und arbeitet als deren Funktionär im Gewerkschaftsbüro in Almería. Alexander Gorski hat mit ihm über den alltäglichen Ausnahmezustand in Almería, gewerkschaftliche Kämpfe in Zeiten von SARS-CoV-2 und die Perspektiven der revolutionären Linken in Andalusien und Spanien gesprochen.</i> <br/></p><p><b>Alex [revolt]: Gerade wird angesichts der Corona-Pandemie allerorten der Ausnahmezustand ausgerufen. Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass in der Landwirtschaft um Almería der Ausnahmezustand die Regel ist. Könntest du unseren Leser*innen die Bedingungen schildern, unter denen zehntausende migrantische Arbeiter*innen in den Gewächshäusern arbeiten und mit welchen Problemen sie sich konfrontiert sehen?</b> </p><p><b>José García Cuevas: </b>Die Ausbeutung ist im überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Betriebe in der Region Almería bittere Realität. Mehr als 92% der Arbeiter*innen hier sind Migrant*innen und ihre Rechte werden tagtäglich verletzt. Die Löhne liegen weit unter dem, was der Staat als Mindestlohn festgeschrieben hat. Existierende Tarifverträge werden nicht eingehalten. Doch nicht nur die Arbeitsrechte werden missachtet. Auch das Recht auf würdigen Wohnraum und eine angemessene Gesundheitsversorgung wird mit Füßen getreten. Viele der Arbeiter*innen haben keine Papiere und leben unter äußerst prekären Umständen in slumähnlichen Siedlungen, sogenannten c<i>habolas</i>. Wir gehen von etwa 7000 Menschen aus, die in solchen Verhältnissen leben. Sie verlassen diese Elendssiedlungen nur, um arbeiten und alle paar Tage im nächsten Ort einkaufen zu gehen. Andere Arbeiter*innen leben zwischen den Gewächshäusern, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen. Diese Arbeiter*innen leben im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre einzige Funktion ist es, unter elenden Bedingungen Gemüse für den europäischen Markt zu produzieren. Doch auch die Arbeiter*innen, die in den Dörfern der Region wohnen, haben häufig nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und teilen sich mit vielen anderen Personen kleine Zimmer. <br/> <br/><b>Als Gewerkschaft versucht ihr unter diesen Bedingungen die Arbeiter*innen zu organisieren. Was bedeutet das für euch im Alltag?</b> </p><p>Im Grunde versuchen wir an den Orten präsent zu sein, an denen die schamloseste Ausbeutung in der Region stattfindet. Meistens passiert dies, indem sich Arbeiter*innen aus Betrieben an uns wenden und uns ihre miserablen Arbeitsbedingungen schildern. Dann versuchen wir diesen Arbeiter*innen eine Stimme zu geben. Das heißt für uns viel mehr, als juristisch gegen die Missstände vorzugehen. Unser Ziel ist es stets, die Arbeiter*innen dazu zu bringen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, denn es ist klar, dass die Lösung von individuellen Problemen nichts an der strukturellen Situation ändern kann. Daher versuchen wir die Arbeiter*innen dazu zu motivieren sich selbst zu organisieren und ihr politisches Bewusstsein zu schärfen. Im Alltag heißt das natürlich, dass wir oft mit den dringenden Fällen beschäftigt sind und alle Instrumente gewerkschaftlicher Arbeit nutzen, um konkrete Fälle extremen Missbrauchs anzuzeigen und die Situation der Arbeiter*innen materiell zu verbessern. Und dennoch bleibt es unser Anspruch, bei den Arbeiter*innen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Gewerkschaft ihr eigenes Kampfinstrument ist, dessen sie sich bei Problemen immer bedienen können. <br/><br/><b>Die SAT blickt als kämpferische Basisgewerkschaft auf eine jahrzehntelange Geschichte in Andalusien zurück. Seit mittlerweile 20 Jahren seid ihr auch in der Landwirtschaft Almerías vertreten. Wie fällt dein Fazit dieser Zeit aus?</b> </p><p>Wir begannen in Almería gewerkschaftlich zu arbeiten, nachdem es im Februar 2000 zu pogromartigen Übergriffen von Teilen der andalusischen Bevölkerung auf migrantische Arbeiter*innen gekommen war. Damals hatten die meisten Arbeiter*innen keine Papiere und lebten unter elenden Umständen außerhalb der Dörfer und Städte. Deshalb war der erste große Kampf unserer Gewerkschaft in der Region der Kampf um Papiere für alle. Damit wollten wir erreichen, dass die Arbeiter*innen in regulären Verhältnissen arbeiten und ihre sozialen Rechte in Anspruch nehmen können. Deshalb ging es bei der Arbeit der SAT in Almería nie nur um den Kampf um würdige Arbeitsbedingungen. Wir hatten von Anfang an auch die politischen und sozialen Rechte der Leute im Blick. Das macht uns aus: wir sind eine politisch-soziale Gewerkschaft. <br/><br/><b>Was waren in dieser Zeit die größten Erfolge der Gewerkschaft in Almería?</b> </p><p>Der größte Erfolg war wahrscheinlich die Legalisierung tausender Menschen in der Region. Das war das Ergebnis eines langen und erbitterten Kampfes. In letzter Zeit gab es eine Reihe kleinerer Erfolgserlebnisse, als wir gemeinsam mit kämpferischen Belegschaften die Arbeitsbedingungen in einigen Betrieben entscheidend verbessern und Betriebsräte installieren konnten. Natürlich besteht die Situation der brutalen Ausbeutung weiter fort, aber wir sind überzeugt, dass es Fortschritte gibt, solange wir nicht aufhören zu kämpfen. <br/><br/><b>Seit einigen Woche ist SARS-CoV-2 das Thema, das alles dominiert. Wie hat sich die Pandemie auf die Landwirtschaft in Almería ausgewirkt?</b> </p><p>Zunächst einmal müssen die Arbeiter*innen hier weiterarbeiten als wäre nichts gewesen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Aktionen durch das Coronavirus begrenzt. Wir können zum Beispiel zurzeit keine größeren Demonstrationen oder Kundgebungen vor den Betrieben durchführen. Hinzu kommt, dass die staatliche Arbeitsinspektion gerade deutlich weniger unterwegs ist als sonst. Und auch die Arbeiter*innen können nicht mehr so leicht mit ihren Problemen zur Gewerkschaft kommen, da auch sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. <br/><br/><b>Mit welchen Problemen sind die Arbeiter*innen jetzt konfrontiert?</b> </p><p>Sie werden gezwungen weiterzuarbeiten, obwohl sie die berechtigte Angst haben sich mit dem Coronavirus anzustecken. Die Ansteckungsgefahr besteht ja nicht nur in den Gewächshäusern, in denen oft viele dutzend Arbeiter*innen nebeneinander arbeiten. Auch auf dem Weg zur Arbeit und in den beengten Wohnverhältnissen besteht die ständige Gefahr sich mit dem Corona-Virus zu infizieren. Dazu kommt, dass bereits unter normalen Umständen Schutzkleidung bei der Arbeit mit den giftigen Pestiziden und ausreichende Sanitäranlagen in den Betrieben fehlen. Trotz der Corona-Krise sorgen weder der Staat noch die Unternehmen dafür, dass die Arbeiter*innen am Arbeitslatz wirksam vor Ansteckung geschützt werden. Wenn die Arbeiter*innen zur Aufrechterhaltung der Versorgung Europas mit Gemüse schon weiterarbeiten müssen, dann sollten sie wenigstens Schutzmasken und Handschuhe bekommen. Wir hören aber immer wieder Beschwerden von Arbeiter*innen, dass genau dies nicht passiert. Übrigens auch nicht in den Bio-Betrieben mit all ihren sozialen und ökologischen Siegeln. Das kann unter den aktuellen Umständen natürlich gravierende Folgen haben. Außerdem nutzen die Arbeitgeber*innen die Situation aus und entlassen Arbeiter*innen unter fadenscheinigen Gründen, weil ihnen klar ist, dass es unter den derzeitigen Bedingungen schwieriger ist, sich gegen solche Maßnahmen zur Wehr zu setzen. </p><p></p><p><b>Und wie wirkt sich das Coronavirus auf die Aktivitäten der Gewerkschaft aus?</b> </p><p>Natürlich sind auch wir als SAT durch das Coronavirus in unserer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Aber wir versuchen weiter vor Ort zu sein und an den Betriebstoren mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu treten. Aber die wirklich wirksamen Mittel, wie etwa Versammlungen und Kundgebungen direkt vor den Betrieben, sind aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht möglich. Das dämpft die Effektivität unserer gewerkschaftlichen Arbeit natürlich. </p><p></p><p><b>Was sind die Forderungen der Gewerkschaft SAT angesichts der Corona-Krise?</b> </p><p>Wir fordern einen Risikozuschlag für alle Landarbeiter*innen, die trotz der Ansteckungsgefahr in den Gewächshäusern arbeiten müssen, und ein sofortiges Verbot aller Entlassungen. Außerdem müssen alle Arbeitsverträge, die während der Corona-Krise auslaufen, automatisch verlängert werden. Und die Arbeiter*innen müssen alle mit der nötigen Schutzkleidung ausgerüstet werden. Für uns als Gewerkschaft ist es natürlich interessant zu sehen, dass es jetzt gerade die Arbeiter*innen sind, auf die unter normalen Umständen herabgeschaut und deren Ausbeutung einfach hingenommen wird, die jetzt dafür sorgen, dass Europa weiter mit Gemüse versorgt wird. Das zeigt auch, dass es so nicht weitergehen darf. <br/><br/><b>Die SAT ist ja nicht nur im Landwirtschaftssektor in Almería aktiv. In anderen Teilen Andalusiens ist sie im Gesundheitsbereich und im Tourismus verankert. Wie sieht dort die Situation der Beschäftigten aus?</b> </p><p>Ich habe eben mit einem Genossen aus Granada gesprochen, der im Tourismusbereich aktiv ist. Er hat mir erzählt, dass die Gewerkschaft sich vor Anzeigen und Beschwerden kaum retten kann. Seit Monaten gibt es in einigen Teilen Andalusiens harte Arbeitskämpfe in Restaurants und Hotels. In diesen Auseinandersetzungen war die SAT äußerst präsent und hat sich dadurch bei den Beschäftigten eine hohe Legitimität erarbeitet, vor allem weil es dort vorher wenige Versuche gewerkschaftlicher Organisierung gab. Da der Sektor von der Corona-Krise sehr stark betroffen ist, kommt es jetzt zu vielen Konflikten. Aber auch bei Essenslieferdiensten, in Krankenhäusern und in der Metallindustrie ist die SAT präsent und steht an der Seite der Beschäftigten. <br/></p><p><b>In Spanien gelten bis zum 25. April strenge Ausgangsbeschränkungen, Grund- und Freiheitsrechte werden extrem beschnitten. Wie beurteilt ihr diese Maßnahmen?</b> </p><p>Wir verstehen selbstverständlich, dass es gewisser Maßnahmen bedarf, um die Gesundheit aller zu schützen und die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen. Aber die Umsetzung durch die staatlichen Sicherheitskräfte erinnert dann doch sehr an einen Polizeistaat. Wir von der SAT plädieren für weniger repressive Maßnahmen und für mehr populare Bildung, um die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstorganisation zu stärken. Das kapitalistische System ist es, dass die Menschen im Stich lässt und das so viele Leute am Coronavirus sterben lässt. Militär und Polizei in den Straßen helfen dagegen wenig. Viel eher sollten wir uns als Gesellschaft daran machen, dass Gesundheitssystem umfassend zu verändern und die eklatanten Mängel in der medizinischen Grundversorgung der Mehrheit der Menschen zu beseitigen. <br/> <br/><b>Interessanterweise ist in Spanien ja seit Januar diesen Jahres eine Mitte-Links-Regierung an der Macht. Unter der Führung von Ministerpräsident Pedro Sánchez bildeten die Sozialdemokraten (PSOE) gemeinsam mit dem Linksbündnis</b><b><i> Unidas Podemos</i></b><b> (UP) eine Koalition. Wie steht ihr als Gewerkschaft zu dieser Regierung?</b> </p><p>Ich persönliche setzte wenig Erwartungen in die neue Regierung. Die Lösung der Probleme der Arbeiter*innenklasse kann nur aus der Klasse selbst kommen. Und da rede ich nicht von kleinen Reformen, sondern von einem anderen Gesellschaftsmodell. Das wird natürlich nicht kommen, solange das Kapital die beherrschende Kraft in der Gesellschaft ist und jeder Regierung nur ein gewisser Spielraum zukommt, vor allem was Maßnahmen ökonomischer Umverteilung betrifft. Allerdings kann man mit der aktuellen Regierung angesichts der Corona-Krise etwas optimistischer sein, als wenn die Rechten an der Macht wären. Denn der leichte wirtschaftliche Aufschwung in letzter Zeit hat dafür gesorgt, dass Mehrwert geschaffen wurde, den die Regierung jetzt zumindest ein wenig umverteilen kann. Aber gleichzeitig ist die gegenwärtige Koalition aus PSOE und UP durch den bestehenden kapitalistischen Rahmen limitiert. Für mich ist klar, dass wir als revolutionäre Linke mehr wollen müssen. Wir müssen eine andere Politik machen und dürfen nie vergessen, dass an die Macht kommen und die Macht haben zwei unterschiedliche Dinge sind. Denn auch wenn du in der Regierung bist, aber keine soziale und nachhaltige Massenbasis bei den arbeitenden Klassen hast, bringt das am Ende wieder nichts. Denn dann können die Kapitalisten dir nach Belieben in die Parade fahren. <br/><br/><b>Trotz der neuen Regierung kann in Spanien kaum von einem Linksruck gesprochen werden. Bei den letzten Wahlen holte die extrem rechte VOX 15 Prozent der Stimmen. Die</b><b><i> Partido Popular</i></b><b> (PP), langjährige Regierungspartei und Verwalterin des Franco-Erbes, kam auf 20,8 Prozent der Stimmen. In Andalusien kam die VOX sogar auf mehr als 20 Prozent der Stimmen. Könnte sich dieser Trend durch die Corona-Krise verstärken?</b> </p><p>Wir dürfen nicht vergessen, dass die extreme Rechte in Spanien immer präsent war. Nach dem Ende der Franco-Diktatur sammelte sie sich in der rechts-konservativen<i> Partido Popular</i> (PP). Es gibt also eine Kontinuität des Faschismus in Spanien. Nun kommt eben noch VOX hinzu. Die Alternative, die sie anbieten, basiert darauf, dass sie anderen die Schuld für die Missstände in der Gesellschaft geben: den Migrant*innen, den Linken und so weiter. Das kennen wir eigentlich aus allen Ländern Europas. Ihr Ziel ist die Destabilisierung des Systems, um selbst an die Macht zu gelangen und autoritär regieren zu können. Klar ist, dass sie versuchen werden, die Krise für sich zu nutzen. Vielleicht werden sie schon bald versuchen, die ihnen verhasste Mitte-Links-Regierung abzusägen und auf Neuwahlen zu drängen. Eine andere Möglichkeit ist, dass sich die Partido Popular mit der PSOE auf eine Art großer Koalition verständigt, um UP aus der Regierung zu drängen. Egal, was passiert, wir müssen angesichts dieser Entwicklungen äußerst wachsam bleiben. <br/><br/><b>Was sind die Perspektiven der revolutionären Linken in Andalusien und Spanien?</b> </p><p>Die revolutionäre Linke muss hier wie überall ihre Theorie zur Praxis machen. Denn ohne Praxis ist alles nur leere Luft. Doch ohne theoretische Einordnung unseres Handelns kommen wir auch nicht weit. Konkret heißt das, dass wir aus dem, was wir sagen, Konsequenzen für unser Handeln ziehen müssen. Als Grundlage dafür müssen wir nach der Überzeugung handeln, dass das kapitalistische System die Menschheit an den Abgrund führt. Dabei müssen wir Faktoren einbeziehen, die auch für uns als revolutionäre Linke neu sind, wie etwa den ökologischen Kollaps. Gleichzeitig gilt: Ohne das Ziel eine radikal andere Gesellschaft aufzubauen geht nichts. Jeglicher Reformismus ist angesichts der massiven Probleme, der wir uns als Menschheit gegenüber sehen, zum Scheitern verurteilt. Mehr denn je gilt: Sozialismus oder Barbarei. <br/></p><p></p><hr/><p></p><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Die SAT pflegt eine enge Partnerschaft mit dem Berliner Kollektiv </i><a href="https://www.interbrigadas.org/">INTERBRIGADAS</a><i>, das regelmäßig Brigaden nach Almería organisiert und Arbeitskämpfe vor Ort und von Berlin aus unterstützt. </i> <i>Mehr Informationen zu der transnationalen Vernetzung findet ihr in der neuen Broschüre von Interbrigadas: </i><a href="https://www.interbrigadas.org/broschuere-vom-anfang-und-ende-der-lieferkette/">„</a><a href="https://www.interbrigadas.org/broschuere-vom-anfang-und-ende-der-lieferkette/">Vom Anfang und Ende der Lieferkette”</a><i>. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstand 2017 auch der Dokumentarfilm „Días de lucha, días de luto“ von Aline Juárez Contreras, den ihr euch </i><a href="https://de.labournet.tv/unter-dem-plastik-der-strand">hier</a><i> ansehen könnt.</i> </p></div>
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<div class="rich-text"><p>Während sich die Gesundheitskrise aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus immer mehr in eine tiefe soziale Krise verwandelt, wird uns klar, dass – sobald diese Notlage vorbei ist – viele Dinge nicht mehr so funktionieren können wie bisher.<br/> Der Abbau des Gesundheitssystems – vorangetrieben durch die in den letzten zwei Jahrzehnte durchgeboxten Spar- und Privatisierungmaßnahmen – hat dazu geführt, dass die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen heute ohne Spenden von Privatpersonen und ohne den freiwilligen Einsatz von Tausenden von Gesundheitsarbeiter*innen nicht funktionieren und die Notlage, in der wir uns befinden, nicht bewältigen können.</p><p>Aufgrund des Angriffs auf die Rechte und die Gesundheit der Arbeiter*innen und aufgrund des Primats der Unternehmen, unter allen Umständen produzieren zu müssen, sind es die Arbeiter*innen, die den Preis dieser Krise bezahlen – und das ist nicht selten ihr Leben. In dieser Notsituation hat der Mangel an individuellen Schutzdispositiven (<i>dispositivi di protezione individuale</i>) und Sicherheitsmaßnahmen die Ausbreitung des Virus an den Arbeitsplätzen beschleunigt und zu Toten geführt (Briefträger*innen, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen des öffentlichen Verkehrs, Supermarktkassierer*innen, Logistikarbeiter*innen, Arbeiter*innen in Call Center) – Tote, die zu den mehr als 1.200 Arbeitstoten hinzukommen, die Italien jedes Jahr auch in Zeiten der „Normalität“ zählt.</p><p>Dass nichts so sein kann, wie es bisher war, zeigen auch die Hunderttausenden von Migrant*innen und Geflüchteten, deren Rechte in den letzten Jahrzehnten zu Krümeln reduziert wurden; die Migrationspolitik hat Bürger*innen zweiter und gar dritter Klasse hervorgebracht. Die <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">offiziellen Daten</a> sprechen eine klare Sprache: In Italien leben heute schätzungsweise 611.000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung; eine Zahl, die seit der Einführung der Sicherheitsverordnungen des ehemaligen Innenministers und Lega-Chefs Matteo Salvini stark gestiegen ist. Heute treten diese Probleme mehr denn je an die Oberfläche, es ist Zeit zu handeln.</p><h2><b>Die Lebensmittelversorgung: Ohne migrantische Arbeiter*innen wird nicht gegessen</b></h2><p><a href="https://www.ilsole24ore.com/art/acquisti-gdo-rialzo-27percento-terza-settimana-quaratena-ma-si-teme-il-periodo-pasquale-ADXICxH">Nach Angaben</a> der Zeitung des Unternehmensverbandes <i>Confindustria, Il Sole 24 Ore</i>, erleben die Supermärkte derzeit einen Anstieg der Inlandsnachfrage von 20 Prozent, wobei auch die Nachfrage aus dem Ausland im selben Ausmaß zunimmt. Doch während die großen Einzelhandelsunternehmen inmitten der gesundheitlichen Notlage und der ökonomischen Krise ihre Gewinne steigern, zahlen die rund 350.000 Landarbeiter*innen den Preis dafür; <a href="https://mediciperidirittiumani.org/medu/wp-content/uploads/2019/10/rap_ottobre_medu_2019_web.pdf">nach Angaben</a> von <i>Ärzt*innen für Menschenrechte</i> arbeitet weniger als die Hälfte der Landarbeiter*innen mit einem regulären Arbeitsvertrag.</p><p>Die migrantischen Landarbeiter*innen – die sogenannten <i>braccianti</i> – lebten und arbeiteten schon vor der aktuellen Corona-Krise unter prekären Verhältnissen. Ihre Lage ist determiniert von einer Gesetzgebung, die den arbeitenden Migrant*innen keinen automatischen Zugang zur Aufenthaltsbewilligung und somit zu den nationalen Sozial- und Gesundheitsdiensten gewährt. Ihre papierlose Existenz hat sich nun jedoch aus mindestens zwei Gründen weiter prekarisiert:</p><ol><li>Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit verunmöglicht es ihnen, in die Regionen Italiens zu reisen, in denen die frühjährliche Obst- und Gemüseernte beginnt (in Apulien für Tomaten, im Piemont für Äpfel usw.);<br/></li><li>In den verschiedenen Zeltlagern entlang der Felder (Arbeitsorte) herrschen Unterbringungsbedingungen, die es ihnen nicht erlaubt, sich vor einer Covid-Ansteckung zu schützen: kein fließendes Wasser, infrastrukturelle Unmöglichkeit, sichere Abstände einzuhalten, und so weiter.</li></ol><h2><b>Care-Arbeiter*innen: Von einem Tag auf den anderen arbeits- und obdachlos</b></h2><p>Ähnliche Probleme haben die Care-Arbeiter*innen, die sich täglich um die Hausarbeiten und um die älteren Menschen unserer Gesellschaft kümmern. Die Alterung der Gesellschaft und die Entscheidung des Staates, die Last der Pflege, die die älteren Menschen benötigen, nach dem Diktat der liberalen Ideologie auf die Familien und nicht auf den öffentlichen Wohlfahrtsstaat zu verlagern, haben zur Bildung einer Armee von Care-Arbeiter*innen geführt: Nach den <a href="https://associazionedomina.it/wp-content/uploads/2020/02/Inps_lavoro-domestico_giugno2019.pdf">jüngsten Daten</a> gibt es etwa rund zwei Millionen Care-Arbeiter*innen, von denen weniger als die Hälfte (etwa 865.000) einen regulären Arbeitsvertrag besitzen und die große Mehrheit Frauen aus Osteuropa sind.</p><p>Die Blockade des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und die Angst vor der Verbreitung des Virus unter den älteren Menschen hat zur sofortigen Entlassung der Care-Arbeiter*innen geführt. Während die letzte Verordnung der Regierung einen sozialen Mindestschutz für einige reguläre Care-Arbeiter*innen vorsieht, wurden irreguläre Arbeiter*innen nicht nur von der Maßnahme ausgeschlossen, sie verloren auch von einem Tag auf den anderen Job und Unterkunftsmöglichkeiten.</p><h2><b>Eine globalisierte Wirtschaft: die Bedeutung der finanziellen Unterstützung ins Heimatland</b></h2><p>Die Auswirkungen dieser sozialen Krise beschränken sich nicht nur auf das tägliche Leben der Arbeiter*innen in Italien, sondern betreffen auch die Herkunftsländer der Migrant*innen. <a href="https://www.bancaditalia.it/statistiche/tematiche/rapporti-estero/rimesse-immigrati/">Nach Angaben</a> der italienischen Nationalbank <i>Banca d'Italia</i> belaufen sich die Geldüberweisungen der in Italien lebenden Migrant*innen an ihre Familien im Herkunftsland auf über sechs Milliarden Euro jährlich; in einigen Fällen können diese Beträge bis zu 35 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts der Länder ausmachen.<br/> Es ist kein Zufall, dass die ersten Zielländer dieser Überweisungen die Herkunftsländer derjenigen Migrant*innen sind, die Obst und Gemüse auf den Feldern sammeln und sich um die Hausarbeit und um die älteren Menschen kümmern: China, Bangladesch, Rumänien, Philippinen, Pakistan, Senegal, Marokko, Sri Lanka.</p><p>Die Schwierigkeiten, die die Wirtschaften und Familien in den Ländern des Südens bereits heute haben, werden sich somit verschärfen. Die Verlangsamung und sogar die völlige Schließung ganzer Wirtschaftszweige, in denen Migrant*innen einen wichtigen Teil der Arbeitskräfte ausmachen, wird direkte Auswirkungen auf die andere Seite der Welt haben. Dies beweist uns einerseits die unvermeidliche Vernetzung der globalisierten Wirtschaft, führt jedoch andererseits auch zu mehr Hunger und Armut im globalen Süden.</p><h2><b>Leben in den Asylcamps und Rückführungen</b></h2><p>Ebenso problematisch ist die gesundheitliche und soziale <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">Situation der offiziellen Asylsuchenden</a>. Heute befinden sich etwa 95.000 Geflüchtete in den Asylcamps und 50.000 warten auf den Asylentscheid. Die kollektiven Unterbringungsbedingungen in den Asylcamps entsprechen in den meisten Fällen nicht den Vorgaben der Regierung, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen: Kollektive Schlafräume von bis zu zehn Personen, infrastrukturelle Unmöglichkeit, positiv getestete Personen zu isolieren, unzureichende Wasser- und Sanitäranlagen.</p><p>Und obwohl die Europäische Union den freien Personenverkehr mit der Schließung der jeweiligen Landesgrenzen vorübergehend ausgesetzt hat, bleibt das System der Rückführungen in die Länder des Südens vorerst unberührt. Unter der aktuellen Regierung von Premierminister Giuseppe Conte werden monatlich 600 Rückführungen durchführt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, warnte die Mitgliedstaaten, <a href="https://www.agensir.it/quotidiano/2020/3/26/coronavirus-covid-19-consiglio-deuropa-migranti-e-rimpatri-richiesti-interventi-demergenza/">Rückführungen zu stoppen</a> und für die betroffenen Migrant*innen wegen des fehlenden Gesundheitsschutzes in den Abschiebungscamps eine Lösung zu finden. Bisher hat sich die italienische Regierung jedoch nicht um diese Problematik gekümmert.</p><h2><b>Kollektive Regularisierung jetzt!</b></h2><p>Die gesundheitliche und soziale Notlage, in der wir heute leben, erfordert wichtige politische Maßnahmen für Migrant*innen und Geflüchtete. Bisher wurden sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die Sicherung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, sondern auch um den Schutz der kollektiven Gesundheit. Deshalb fordern wir von der Politik:</p><p>1. Die kollektive Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten, die heute ohne Aufenthaltsbewilligung auf italienischem Territorium leben und arbeiten; diese soll durch ein vereinfachtes und außerordentliches Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltspapiere auf kommunaler Ebene erfolgen;</p><p>2. Außerordentliche sozialstaatliche Geldleistungen für alle migrantischen Arbeiter*innen (unabhängig vom rechtlichen Status), die aufgrund des Covid-19-Notstands ihre Arbeit verloren haben;</p><p>3. Die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit (freier Zugang zu ärztlichen Untersuchungen, Covid-Tests und medizinischen Behandlung) und Schutzmaßnahmen für migrantische Arbeiter*innen und Geflüchtete, die bei der Arbeit und in den Asylcamps am stärksten der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind;</p><p>4. Die Gewährleistung des Rechts auf Wohnung durch die Bereitstellung von Unterkünften, die aufgrund des Rückgangs des Tourismus leer stehen, von staatseigenem Eigentum und von leeren Häusern für Obdachlose und Migrant*innen, die bisher dazu verdammt sind, in überfüllten Zeltlagern und Asylcamps zu leben.</p><p>Die Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten ist die einzige Möglichkeit, heute die kollektive Gesundheit und morgen die Grundrechte aller Menschen zu garantieren.</p><p></p><hr/><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Dieser Text ist auf italienisch</i> <a href="https://poterealpopolo.org/e-tempo-di-diritti-regolarizzazione-ora/"><i>hier</i></a><i> erschienen. Übersetzung von der re:volt Redaktion.</i></p></div>
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„Wir müssen uns Rassismus und Faschismus entgegenstellen, wo immer er sich zeigt“ - Interview mit Patrik Köbele (DKP)2018-10-02T12:34:05.054242+00:002018-10-02T12:34:05.054242+00:00Jan Schwabredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wir-m%C3%BCssen-uns-rassismus-und-faschismus-entgegenstellen-wo-immer-er-sich-zeigt-interview-mit-patrik-k%C3%B6bele-dkp/
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<div class="rich-text"><b>Jan [re:volt]:</b> <b>Hallo Patrik, ich möchte mit dir gleich ganz konkret einsteigen. In den vergangenen Monaten erlebten wir erneut rechte Massenmobilisierungen, wie zum Beispiel in Chemnitz oder Köthen, die sich immer wieder an realen oder konstruierten Zwischenfällen entfachen. Die AfD liegt in Wahlumfragen bundesweit bei stabilen 17 Prozent. Was ist das Konzept der DKP gegen diese erneute Manifestation des gesellschaftlichen Rechtsrucks?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Diese Problematik hat aus unserer Sicht mehrere Ebenen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der deutsche Imperialismus nach Außen und nach Innen aggressiver wird und der „Rechtsruck“ diese Tendenz ideologisch nach innen absichert. Der deutsche Imperialismus betreibt im Verbund mit der NATO bzw. im Rahmen der EU eine aggressive Politik, zum Beispiel durch Kriege, Zerstörung der Lebensgrundlagen und jeder sozialen Perspektive. Die Opfer dieser Politik kommen logischerweise dorthin, wo sie am ehesten für sich Perspektive sehen, d.h. unter anderem nach Deutschland. Bislang gelingt es den deutschen Eliten ganz gut, die Opfer ihrer Politik auszunutzen, um z.B. aber nicht nur in Ostdeutschland die Konkurrenz unter den Ausgebeuteten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zu erhöhen. Und sie schaffen es derzeit zusätzlich, die Perspektivangst der Menschen gegen sich selbst zu wenden. Das heißt, nicht auf die eigentlichen Ursachen, sondern gegen MigrantInnen. Es geht hier also darum, die Spaltung innerhalb der Ausgebeuteten zu vertiefen. Wir müssen uns Rassismus und Faschismus entgegenstellen, wo immer er sich zeigt. Und andererseits müssen wir versuchen, all jene, die aufgrund berechtigter Perspektivangst den RassistInnen auf den Leim gehen, wieder zurückzugewinnen. Das wird man nur schaffen, indem man Antworten auf diese Perspektivangst geben kann. Das ist für uns zunächst einmal die Antwort auf die Frage von Ursachen von Krieg, Flucht und Armut und deren Profiteure. Und aufzuzeigen, dass dort, bei diesen Profiteuren, eben auch das Geld liegt, mit dem die Konkurrenz unter den Ausgebeuteten abnehmen kann: durch Reinvestition dieses Geldes in sozialen Wohnungsbau, ins Gesundheits- und Bildungswesen und vieles mehr. Wir sind der Meinung, dass der Kampf gegen Rechts eine soziale Komponente haben muss. <br/><br/><b>Jan [re:volt]: Abseits von der von dir gerade erwähnten realpolitischen Positionierung: Was könnte der Beitrag der DKP im praktischen Kampf gegen rechts sein?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Wir haben das Problem, dass FaschistInnen und RassistInnen in einigen Teilen des Landes im „Kampf um die Straße“ erfolgreich sind. Da geht es also um einen aktiven Kampf auf der Straße, durch Blockaden, Gegendemonstrationen und so weiter. Dann müssen wir uns jedoch auch mit der staatlichen Repression auseinandersetzen. Das konnte man ja nun besonders in Chemnitz wieder sehen angesichts der Tatenlosigkeit der Polizei gegenüber dem rechten Mob. Das wird wiederum zum Ausgangspunkt genommen, um den Polizeistaat zu stärken. Dem müssen wir uns natürlich ebenfalls entgegenstellen. Und als drittes Standbein eben die soziale Frage, die wir als Linke angehen müssen, um die Hegemonie zurückzugewinnen und den Menschen eine andere Perspektive zu vermitteln. <br/><br/><b>Jan [re:volt]: Da waren die Occupy-Bewegung, die Friedensmahnwachenbewegung, die Bewegung rund um den Friedenswinter und so weiter, in der viele unzufriedene Menschen zusammenkamen. Darunter Linke, aber leider haben sich daran auch rechte oder ambivalente Personen beteiligt. Die Rechte ist also auch dort in mehreren Schritten stärker geworden. Glaubst du, wir haben als Linke dort Chancen vertan und Menschen an die Rechte verloren?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Wir haben als Linke insgesamt viele Fragen nicht so beantworten können, dass es für die Menschen nachvollziehbar gewesen wäre und haben damit selbst ein Vakuum geschaffen, in das die Rechte hineingestoßen ist. Die Rechte konnte in mehreren Parteianläufen, zum Beispiel mit den Republikanern, Erfahrungen sammeln. Wir können die Schuld nicht der herrschenden Klasse anlasten, dass sie die Ausgebeuteten unter Zuhilfenahme der Rechten gegeneinander ausspielt. Das gehört zur Strategie ihrer Herrschaftssicherung. Wir haben da einfach auch den Moment verschlafen.<br/><br/><b>Jan [re:volt]: In deiner eigenen Partei waren diese Projekte ja auch umstritten und in der gesamten Linken gab es da eine sehr heftig geführte Debatte. Etwa gab es da auch Diskussionen um umstrittene Personen wie Ken Jebsen und andere Leute, die sich ideologisch nicht mehr verorten wollen. Wie seht ihr das, kann man sich an solchen Konstellationen beteiligen, bei denen nicht klar ist, ob das rechts, oder links ist? Ist das Querfront?</b><br/><br/>Nein, das ist keine Querfront. Ich würde da an unserer Linie festhalten, die da lautete, dass da viele Menschen hingingen, die keine Rechten waren und dass man den Rechten nicht einfach den Raum überlassen darf. Man sollte da tatsächlich hingehen, aber eben nicht um einfach nachzuplappern, sondern um mit eigenen Inhalten die tatsächlich vorhandenen Rechten zu isolieren. Das ist natürlich widersprüchlich und komplex. Hier in Essen hatten wir das Problem, dass ein paar Menschen aus dem Friedensmahnwachen-Spektrum einen antifaschistischen Aufruf gegen eine HoGeSa-Demonstration in Essen nicht unterstützen wollten. Dann wurden die eben schlussendlich ausgeschlossen und isoliert. Aber von vornherein alle Menschen, die dort hingehen zu stigmatisieren, ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Das hat sich im Prozess dann ergeben, wer sich am Ende gegen die HoGeSa-Nazis stellen wollte und da heißt es dann: ja oder nein. <br/><br/><b>Jan [re:volt]: Es gibt ja in der LINKEN andere konkurrierende Konzepte gegen den Rechtsruck. Da wäre zum Beispieldas ,,aufstehen“-Projekt von Wagenknecht und Lafontaine, das sich ja gerade formiert, um an die AfD verlorene WählerInnen zurückzugewinnen. Sieht die DKP darin mehr eine Möglichkeit oder eine Gefahr?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Das ist für uns gerade noch schwer einzuschätzen, da es zurzeit noch auf der medialen Ebene verharrt. Wenn das daraus wird, was nun öffentlich einsehbar ist, sie es also schaffen, die soziale Frage, die Friedensfrage und die Frage der EU wieder stärker in die Diskussion zu bringen und wenn man sagt, man will wirkliche Bewegung, die Massen auf die Straße kriegen und nicht nur medialen Hype für ihre Interessen, dann finde ich das eine begrüßenswerte Initiative. Ich finde es in diesem Kontext falsch, direkt den Bannstrahl auszusprechen oder die Äußerungen von Wagenknecht als rassistisch zu denunzieren, auch wenn ihre Argumentation offensichtliche Schwächen hat. Der Staat ist nicht neutral, er ist ein Instrument der herrschenden Klasse. Darum ergibt sich für mich zum Beispiel, dass sich Linke auf gar keinen Fall hinstellen und ein „besseres“ Einwanderungsgesetz fordern können, weil das wird nur dazu führt, dass man Politik für die herrschende Klasse macht. Und da muss man eben klar machen, dass einerseits die Menschen, die begründeter Weise hierher kommen, leider ausgenutzt werden und die Konkurrenz unter den Ausgebeuteten erhöht wird. Andererseits aber auch klar sein muss, dass das nicht die Schuld dieser Menschen ist, sondern am Ausbeutungsinteresse der herrschenden Klasse liegt. <br/><br/><b>Jan [re:volt]: Kommen wir doch mal konkret zur sozialen Frage. Die DKP schreibt in ihrem noch geltenden Parteiprogramm, dass sie in den sozialen Kämpfen (Ökologie, Frauenrechte, Frieden usw.) präsent sein will. Leider ist die DKP außer im Feld Friedenskampf für die außerparlamentarische Linke oftmals nicht wahrnehmbar. Steht da eurerseits eine Kehrtwende oder eine Intensivierung in den kommenden Jahren an?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Wir müssen offen eingestehen, dass unsere mangelhafte Präsenz in vielen Feldern das Ergebnis unserer realen Schwäche ist. Umgekehrt glaube ich, dass wir insbesondere in der Friedensfrage recht gut aufgestellt sind. Wir haben nun zum Beispiel den Aufruf „Abrüsten statt Aufrüsten!“ für den mittlerweile über 100.000 Unterschriften gesammelt wurden, mitgetragen. Dann sind wir in den Personalauseinandersetzungen im Gesundheitswesen stark präsent, bei den Streiks, aber auch den Volksbegehren. Darüber hinaus schaffen wir es lokal, uns bei den MieterInnenkämpfen einzubringen – in der Aktion, aber auch in den Interessenvertretungen. Wo du Recht hast und wo sich sicherlich etwas ändern muss, ist das mangelnde Engagement in der ökologischen Frage, wo wir historisch stark präsent waren und heute leider nicht mehr. Man müsste das Feld dahingehend sehen, dass es eben nicht zur Ablenkung von anderen Widersprüchen missbraucht wird, sondern, dass sich darin eben auch der Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit widerspiegelt.<br/><br/><b>Jan [re:volt]: Du hast eine Problematik ja gerade selbst angesprochen, nämlich dass die Partei an Mitgliederschwund leidet. Generell organisieren sich ja junge Menschen sehr häufig eher parteifern als bei euch. Warum ist das eurer Meinung nach so, und mit welchen Konzepten will die Partei dieser Tendenz entgegentreten?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Ich würde das aus der Perspektive meiner Generation etwas anders sehen als du. Zum Beispiel sind Parteimitglieder in meinem Alter 1989/90 stark weggebrochen. Dennoch haben wir viele ältere GenossInnen. Dass ist ja nicht unwichtig, denn in diesen ist das Wissen und die Traditionen der ArbeiterInnenbewegung gespeichert. Nachwuchs bekommen wir insbesondere durch die enge Kooperation mit dem befreundeten Jugendverband SDAJ. Die Tendenz der außerparteilichen Organisierung gibt es sicherlich, so wie es generell eine Abwendung von organisierter Politik gesamtgesellschaftlich gibt. Aber da muss man auch festhalten, dass die kommunistische Partei natürlich einmal Partei, aber eben zugleich Anti-Partei ist, in dem Sinne, dass es ja nicht unser Ziel ist, im Parlamentarismus zu verharren. Aber da wo du recht hast ist, dass wir als Partei da Attraktivität gewinnen können, wo es darum geht aufzuzeigen, dass revolutionärer Elan, den ich persönlich für sehr wichtig halte, nur dann zu Schlagkraft wird, wo er zusammengeht mit revolutionärer Weltanschauung. Und dass wir als DKP eben nicht eine weitere bürgerliche Partei sind, sondern zumindest versuchen, Träger dieser revolutionären Weltanschauung zu sein. Denn ohne diese, ist Revolution nicht zu machen. Das dürften auch jene Kreise verstehen, die heute sagen, dass man solche disziplinierten Haufen wie uns nicht mehr bräuchte. <br/><b><br/>Jan [re:volt] Um das gerade hinterherzuschieben. Wera Richter hatte auf dem letzten Parteitag ernüchtert konstatiert, dass die Partei nicht ausreichend in der Arbeiterklasse präsent ist. Das muss für euch als KP ja eine sehr ernüchternde Feststellung gewesen sein. Wie diskutiert ihr als DKP denn die Klassenfrage und wo seht ihr euch in der Auseinandersetzung in Klassenkämpfen?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]:</b> Wir sind der Meinung, dass man neuere Prozesse, wie die Debatte um Industrie 4.0 und Digitalisierung in jedem Fall analysieren und auswerten muss. Dazu gehört, zu verstehen, wie die herrschende Klasse Digitalisierung nutzt, etwa zur Zerschlagung des Normalarbeitsverhältnisses. Da geht es um Werkverträge, Leiharbeit und Prekarisierung. Erschwerend ist in diesem Feld so hinzugetreten, dass Teile der alten ArbeiterInnenklasse aus ihrem Umfeld gelöst wurden und teilweise für klassische Betriebsarbeit unerreichbar geworden sind. Dazu tritt die Idee, dass man selbst schuld sei an seinem Elend, was natürlich vollkommener Unsinn ist. Also die Spaltung der Klasse durch die neuen Technologien hat massiv zugenommen. Wir kämpfen nun zunächst gegen diese Negativauswirkungen, insbesondere in den Bereichen, in denen wir stärker präsent sind, etwaim Gesundheits- und Bildungswesen. Dennoch kommen wir als kommunistische Partei nicht an der Frage vorbei, wie wir auch im Industrieproletariat Fuß fassen können. Wir haben da noch kein Patentrezept parat. Klar ist, es geht nur über revolutionäre Kleinarbeit. Es bringt nichts, sich mit der roten Fahne vor den Betrieb zu stellen und die KollegInnen zu überzeugen, dass sie jetzt gefälligst mal einsehen, dass sie das revolutionäre Subjekt sind und dann kommen sie in Massen. Sondern es kann nur über kleinteilige Interessenvertretung im Betrieb, aber auch in der Kommune laufen. Das heißt dort, wo die Klasse produziert und sich reproduziert.<br/><br/><b>Jan [re:volt]: Meinst du mit „Interessenvertretung“ nun Arbeit in den DGB-Vertretungen oder Aufbau von Basisgewerkschaften?</b><br/><br/><b>Patrik [DKP]: </b>Wir halten Gewerkschaften immer noch für die Schulen des Klassenkampfs, auch wenn sie heutzutage zu einem hohen Grad integriert sind. Damit meine ich, dass sie oftmals reformistischen Konzepten folgen oder sogar nur Abwehrkämpfe führen. Und trotzdem ist es so, dass sie die Institutionen stellen, in denen größte Teile der Klasse organisiert sind und man muss dort deshalb auch die Kämpfe hineintragen, damit Bewusstsein eben auch entstehen kann. Und wenn ich dann hier auf die Streiks in Essen und Düsseldorf an den Kliniken blicke, dann ist das schon auch eine spürbare Geschichte. Ich würde aber diese Arbeit in den DGB-Gewerkschaft nicht gegen andere Ansätze des Interessenkampfs, in den Kommunen, Stadtteilen oder anderen Initiativen, stellen. Gerade in Kämpfen gegen die Schließung kommunaler Einrichtungen, gegen Privatisierung kann vermittelt werden, dass hinter dem Einzelwiderspruch letztlich der Klassenwiderspruch steht. Das hilft auch sozialpartnerschaftliche Illusionen zurückzudrängen.<br/><br/><b>Jan [re:volt]: In der außerparlamentarischen Linken wird gerade viel über das Konzept der Stadtteilarbeit diskutiert. Etwa darüber, mittels sozialer Zentren Menschen für den Mietkampf zu begeistern. Was hältst du davon? Siehst du die DKP als Teil solcher Initiativen in Zukunft?</b><br/><br/><p><b>Patrik [DKP]:</b> Wir sind hier eigentlich schon recht gut aufgestellt – nicht nur was unser Engagement in Initiativen anbelangt, sondern auch in traditionellen Institutionen, wie dem MieterInnenschutzbund. Was da in den Städten stattfindet ist ja die Abwälzung der Krisenlasten von 2008 auf die Kommunen. Und damit einher geht der fortschreitende Privatisierungsprozess, der Abbau von Sozialhilfen und Fürsorge und so weiter. Das ist unserer Ansicht nach alles Teil eines Klassenkampfs von oben, wo es um die Erhöhung des Profits im Wohnbereich geht. Hier werden Grundfragen des Kapitalismus klar: er macht alles zur Ware, und wenn etwas zur Ware wird, dient es eben nicht mehr den Menschen. Und daher ist es wichtig, dass wir dort präsent gegen Mieterhöhungen und Privatisierungen aktiv sind, wobei wir immer klarmachen müssen, dass das keine Naturerscheinungen sind, sondern etwas mit Kapitalismus zu tun hat.</p></div>
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Recht auf Nürnberg!2018-07-11T18:49:16.258498+00:002018-07-11T19:50:09.392246+00:00Daniel Meierredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/recht-auf-n%C3%BCrnberg/
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<span class="content-copyright">dmitri popw | unsplash</span>
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<div class="rich-text"><p>Wer
hätte es gedacht: Deutschland befindet sich in einer Phase des wirtschaftlichen
Aufschwungs – zumindest weisen darauf seit Jahren alle im bürgerlichen Spektrum
weitgehend akzeptierten Institutionen und Institute hin. Wer daran zweifelt,
kann sich mit einer kurzen Internetrecherche schnell beruhigen lassen: die
Stimmung bei VertreterInnen der Wirtschaft ist nahezu euphorisch. und auch die
Zahlen der Bundesregierung diagnostizieren ein stetiges wirtschaftliches
Wachstum. Doch wie sieht es im realen Alltag der Lohnabhängigen aus? In
Nürnberg etwa ist von einer euphorischen Stimmung nichts zu bemerken. Im
Gegenteil: Einst ein wichtiger Standort für bekannte Unternehmen, die Tausende
Menschen beschäftigten, wie zum Beispiel AEG, Siemens, Schöller, Triumph-Adler
und das Markforschungsinstitut GfK, ist Nürnberg zwischenzeitlich von einer
Welle der Massenentlassungen und Betriebsschließungen geprägt. Gleichzeitig
entwickeln sich die Lebenshaltungskosten nach oben, vor allem getrieben durch
galoppierende Mieten und Wohnungsknappheit, was verschärfte Konkurrenz um
Wohnungen bedeutet. Besonders deutlich ist dies im Stadtteil Gostenhof in den
letzten Jahren zu beobachten. Angestellte und Führungskräfte, die in boomenden
Branchen wie dem IT-Bereich arbeiten, ziehen in den Innenstadt-nahen, urbanen
Stadtteil und können die dortigen hohen Mieten bezahlen. Andere Menschen werden
dadurch verdrängt. Doch selbst die Zuziehenden müssen oftmals einen hohen
Anteil ihres Einkommens für Mieten aufwenden. Für alle Menschen gilt also, dass
der Druck steigt. Dieser Befund geht über das Wohnen hinaus:
Arbeitsverdichtung, Lohndumping und Leistungsdruck sind prägend für die
lohnabhängigen Klassen, gleichzeitig zelebriert das Kapital den Aufschwung: Die
Stadt Nürnberg – obwohl selbst hochverschuldet – leistet sich indes im Größenwahn
die Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt. Während also Prestigeprojekte
Priorität genießen nehmen prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu. Verschärfend
kommt hinzu, dass die Löhne stagnieren, mehr noch, dass im Kontext der letzten
drei Jahrzehnte die durchschnittlichen Löhne aufgrund starker Inflationen und
Ausgaben, beispielsweise bei Lebensmitteln, Nahverkehr und Wohnraum statistisch
sogar gesunken sind.
</p><h2><b>Klassenkampf von Oben mit wenig Gegenwind</b></h2>
<p>Während die herrschende Klasse den Klassenkampf von Oben
seit Jahren zu ihren Gunsten vorantreibt, ist der Klassenkampf von unten
dagegen nur schwach ausgeprägt. Organisierter Widerstand gegen die rasant
vorangetriebenen Verschärfungen der Arbeitsbedingungen sind kaum vorhanden –
oder werden vorschnell institutionell befriedet, wie etwa im Kita-Streik Und
auch an den Schulen und Unis ist nach den großen Bildungsstreiks der
Vergangenheit längst wieder relative Ruhe eingekehrt. Zwar wächst die
gesellschaftliche Verunsicherung und Unzufriedenheit angesichts dieser
Bedingungen spürbar, die Bereitschaft, sich aktiv in Kämpfe einzubringen oder
gar selbst welche zu organisieren, ist bisher jedoch leider nicht im selben
Ausmaß angewachsen. Das ist auch in politischen Basisaktivitäten in Nürnberg zu
sehen. Diese stoßen oft auf viel Zustimmung innerhalb der lohnabhängigen Klassen,
die aktive Beteiligung bleibt allerdings hinter der Unzufriedenheit noch weit
zurück. Wen wundert’s? Die meisten Menschen sind vorsichtig, wem sie vertrauen
und skeptisch, ob die Basisinitiativen auch die notwendige Stärke haben, soziale
Verbesserungen zu erkämpfen. Diese und ähnliche Kommentare hören wir hin und
wieder von Menschen, mit denen wir auf der Straße oder rund um den
Stadtteilladen „Schwarze Katze“ in Gostenhof ins Gespräch kommen. Bei vielen Menschen
wächst das Gefühl, dem rasanten Umbau Nachkriegsdeutschlands zu einem auch nach
Innen höchst repressiv organisierten Staat isoliert und ohnmächtig gegenüber zu
stehen. Die soziale Frage wird demagogisch von Rechts besetzt, vorhandene Unzufriedenheit
aufgrund sozialer Widersprüche und der Angst vor dem sozialen Abstieg
rassistisch und nationalistisch kanalisiert. Die amtierende Bundesregierung
kann Grundrechte inzwischen nahezu ohne nennenswerten Widerstand schleifen, was
aktuell vor allem in Bezug zu Reformen am Asyl- und Polizeirecht sichtbar wird.
Dort ist auch der Widerstand noch am ehesten präsent. Dabei gerät die Große
Koalition absurderweise nicht durch die von ihr voran getriebene Demontage des
Rechtsstaates durch den Abbau von Grundrechten in die Krise, sondern durch eine
wachsende nationalistisch bis völkische rechte Bewegung, die stets noch reaktionärere
Maßnahmen fordert. In diese Bewegung, die eine „konservative Revolution“
fordert, reiht sich auch die regierungsbeteiligte CSU inzwischen nicht nur in
Bayern, sondern bundesweit ein. Ob die auch in Nürnberg gut besuchten
Demonstrationen gegen das bayerische Polizeiaufgabengesetz eine Vorbote einer
politischen Wende dieses Trends waren, lässt sich noch nicht wirklich
beurteilen. Faktisch war, nachdem das Gesetz selbstherrlich von der
CSU-Mehrheit im Landtag beschlossen wurde, die Luft erst mal raus aus der
Bewegung, die immerhin Zehntausende auf die Straße mobilisieren konnte. <br/></p>
<h2><b>Es geht um die Basis!</b></h2><p>In
Nürnberg gibt es zwischenzeitlich zahlreiche Basisaktivitäten. Einige davon
konnten wir – als organisierte autonomie (OA) – auch direkt mit anstoßen, insbesondere
in den Bereichen Lohnarbeit und Einkommen, MieterInnenkämpfe und der
Stadtteilarbeit im Nürnberger Stadtteil Gostenhof. In diesem haben wir zusammen
mit der Initiative „Mietenwahnsinn Stoppen“ in einer Umfrage zur Mietsituation
mit über 1000 TeilnehmerInnen nicht nur die wachsende Wut über teure Wohnungen
und Vertreibung von Menschen mit niedrigem Einkommen sichtbar machen können,
sondern auch den Problemkomplex Gentrifizierung in die breite Öffentlichkeit
getragen. Im Bereich der Unterstützung von Arbeitskämpfen konnten etwa die
Union-Busting-AnwältInnen von Schreiner und Partner bereits mehrmals aus
Nürnberger Tagungshotels vertrieben werden; teilweise reichte dazu zuletzt
schon eine E-Mail an die BetreiberInnen der Hotels, in der erklärt wurde, wer
sich hinter dieser Anwaltskanzlei versteckt. Diese und andere Aktivitäten sind
auf langfristige Verankerung in der gesellschaftlichen Basis und auf das
inhaltliche Wirken in diese hinein ausgerichtet. Ihren Fokus haben sie in
Kämpfen vor Ort, was Vernetzung mit anderen AkteurInnen und Initiativen
andernorts nicht ausschließt.
</p><p>
</p><p>Die
politischen Abwehrkämpfe, die aufgrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen
notwendigerweise geführt werden müssen, dürfen also nicht dazu verleiten, die
soziale Frage außer Acht zu lassen. Die politischen Angriffe der herrschenden
Klasse, die sich vor allem gegen die Lohnabhängigen richten, müssen als
Klassenkampf von Oben deutlich benannt werden. Denn die Grundlage
revolutionärer Politik ist eine revolutionäre, emanzipierte Basis, die sich von
der in Deutschland (auch gesetzlich fixierten) StellvertreterInnenpolitik
deutlich abgrenzt. Der Aufbau einer solchen Basis ist notwendigerweise ein
langfristig und auf Kontinuität ausgelegtes Projekt. Diese Basis kann nur auf
Grundlage eines kämpferischen Klassenbewusstseins entstehen, das generell alle
Lohnabhängigen als <i>potentielle</i> Verbündete miteinschließt und versucht,
möglichst viele Menschen, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, für einen
Kampf um universelle Ziele, wie zum Beispiel ein Leben ohne Ausbeutung und
Unterdrückung – beispielsweise durch rassistische Ausgrenzung oder immer weiter
prekarisierte Lohnarbeitsverhältnisse – zu gewinnen.<br/></p><p>Basiskämpfe
sind Kämpfe, die konkrete Ziele, wie etwa niedrigere Arbeitszeit, höhere Löhne,
bessere Arbeitsbedingungen, verfolgen. Dabei bleiben sie als einzelne konkrete
Kämpfe – zum Beispiel gegen einen Immobilienkonzern, der seine AltmieterInnen
loswerden möchte, um nach Sanierungen höhere Mieten mit neuen MieterInnen zu
erzielen – selbst im Erfolgsfall systemimmanent. Das bedeutet, dass der
Klassencharakter der Gesellschaft dadurch, dass manchmal die „Underdogs“
gewinnen, nicht in Frage gestellt wird. Im schlechtesten Fall folgt aus einen
gewonnen Kampf der Fehlschluss, dass das System doch „gerecht“ sein kann. Es
kommt darauf an, diese Kämpfe mit systemsprengender Perspektive zu führen und
die konkreten Forderungen, welche die Wirtschaftsordnung an sich nicht in Frage
stellen, mit über das Bestehende und explizit Erlaubte hinausgehenden
Forderungen zu verbinden. Darin liegt die Aufgabe als RevolutionärInnen in den
Kämpfen.</p><p>Da
es mittlerweile eine größere Anzahl kontinuierlicher Basiskämpfe in Nürnberg
gibt, können verbindende Elemente und die systemsprengende Dimension leicht aus
dem Blick geraten. Es besteht immer die Gefahr, nur noch den einzelnen Kampf,
den einzelnen Bereich zu sehen und dabei die möglichen Verknüpfungen mit
anderen Kämpfen, anderen Verbündeten gar nicht mehr wahr zu nehmen. Dabei
schreien die gesellschaftlichen Verhältnisse in Nürnberg nach einer größeren
gesellschaftlich wahrnehmbaren klassenkämpferischen Aktivität. Es ist an der
Zeit, verschiedenste Basisansätze in Nürnberg und der Region zusammenzuführen,
um gesellschaftliche Stärke zu demonstrieren, AkteurInnen zu verbinden, zur
Zusammenarbeit zu ermutigen und noch weitere Menschen zu motivieren, die noch
passiv sind. Dort, wo kontinuierlich Kämpfe im Bereich Wohnen und Miete, als
auch im Bereich der Existenzsicherung geführt und zum Thema gemacht werden,
lassen sich Fortschritte im Klassenkampf insgesamt erkennen. Vor allem in den Großstädten,
etwa in Hamburg und Berlin, gibt es sehr positive Entwicklungen, die auch in
Nürnberg möglich erscheinen: Beispiel
geben können die verschiedenen „Recht auf Stadt“-Initiativen und dezidiert politische
Stadtteilarbeit, wie sie etwa die Initiative „Hände weg vom Wedding“ auf die
Beine stellt.</p>
<h2><b>Konkrete Aktion vor Ort</b></h2><p>Als
ersten Schritt, die Zusammenführung verschiedener sozialer Kämpfe und AkteurInnen
in Nürnberg weiter zu entwickeln, wurde eine Demonstration unter dem Motto „Auf
die Straße gegen Sozialraub und Mietenwahnsinn! Mieten runter – Einkommen rauf!
Kapitalismus abschaffen!“ initiiert. Bisher haben sich über zwanzig
Initiativen, Gruppen und Bündnisse dieser Initiative angeschlossen und bereiten
eine Demonstration vor, die am 14. Juli stattfinden wird. Das Ziel der
Demonstration ist es, eine öffentliche Wahrnehmung für klassenkämpferische und
soziale Kämpfe zu schaffen. Wir gehen, davon aus, dass Klassenkampf, der Kampf
der gesellschaftlichen Mehrheit gegen die herrschende Klasse der
KapitalistInnen, der einzige mögliche Hebel ist, den Kapitalismus zu
überwinden. In Nürnberg heißt das, dass die drängende Aufgabe eine Vernetzung
der verschiedenen kämpfenden AkteurInnen zunächst Gemeinsamkeiten als Grundlage
kollektiver Kämpfe sein muss. Warum sollten sich Individuen zusammen finden und
Spaltungen überwinden, wenn es dafür keine Basis gibt? Wenn wir es ernst meinen
mit der Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, müssen wir die
Soziale Frage zu unserer zentralen Frage machen und den Klassenkampf von unten organisieren.
Wenn Klassenkämpfe sich weiter zuspitzen, müssen Menschen, die auf der Suche
nach Veränderung sind, uns finden und uns vertrauen können. Dies ist nur durch
eine gesellschaftlich wahrnehmbare kontinuierliche Praxis, die unmittelbar an
den Klasseninteressen der Mehrheit ansetzt, zu erreichen. Wenn die Verknüpfung
verschiedener Praxisbereiche (zum Beispiel an den Kämpfen, die sich um die
Frage nach Einkommen und Wohnen entwickeln) fehlt, birgt dies die Gefahr des
nebeneinander her Arbeitens und der Verzettelung. Statt Gegenmacht und
Selbstorganisation der Klasse entsteht im schlechtesten Fall eine Konkurrenz
der Kämpfe um die Zeitressourcen der wenigen Aktiven und um (mediale) Aufmerksamkeit. </p><p>Als
revolutionäre Linke dürfen wir unsere politischen Ziele nicht verheimlichen. Die
potentiell systemsprengenden Kernforderungen im Aufruf zur Demonstration am 14.
Juli in Nürnberg sind deshalb auch „Globale Bewegungsfreiheit für alle“ und
„Produktion und Wohnraum vergesellschaften“. Dabei handelt es sich natürlich um
Ziele, die nicht von heute auf morgen und wohl kaum mit der jetzigen Stärke
linker Bewegungen erreicht werden können. Die Demonstration soll aber dennoch dazu
beitragen, die Grundlagen für weitergehende Aktionen und Kämpfe zu schaffen.
Gerade um hier nicht an den realen Bedingungen vorbei zu arbeiten, braucht es
den Schritt, sich zusammenzufinden und dann gemeinsam auf die Straße zu gehen.
Was danach kommt, hängt vom Erfolg der Initiative ab und wie sich
RevolutionärInnen auch tatsächlich in die vielfältigen alltäglichen Kämpfe
einbringen. Seit einigen Jahren existiert eine Arbeitsgruppe des Nürnberger
Sozialforums, in der verschiedene linke AkteurInnen zur Wohnungspolitik
arbeiten. Hier könnten sich durchaus noch weitere Initiativen beteiligen. Für
Kämpfe im Einkommensbereich gibt es derzeit noch wenig Vernetzung, wobei
Lohnarbeit und Arbeitskämpfe zentrale Bestandteile gesellschaftlicher
Verteilungskämpfe sind. Es ist höchste Zeit, in Nürnberg wieder eine linke
sozialkämpferische Perspektive auf die Straße zu tragen und gesellschaftlich in
die Offensive zu kommen. Dabei muss es sich um eine Perspektive handeln, die die
herrschenden Zustände an ihrer Basis angreift, Vergesellschaftung statt
privater Profite propagiert und die gesellschaftliche Verhältnisse und die
daraus resultierenden Spaltungen als Ergebnis von Kämpfen beschreibt, die durch
diese überwunden werden können.
</p>
<p>Gerade
in Zeiten von Überproduktion, Handelskriegen, wachsender Kriegshetze und
Nationalismus ist es alternativlos, die soziale Frage auf die Straße zu tragen.
In einem weltweiten Maßstab droht, bei Beibehaltung des Marktprinzips, ein
Rückfall in die Barbarei des Nationalismus und Rassismus von beispiellosem
Ausmaß. Während in den letzten Jahrzehnten vor allem in den ehemaligen Kolonien
und den erst spät industrialisierten Regionen Krieg und Elend deutlich sichtbar
waren, kommt die Krise nun wieder in den kapitalistischen Zentren an. Für reine
Abwehrkämpfe ist es nun zu spät, es wird Zeit, dass wir unsere Forderungen nach
einer Abkehr vom Kapitalismus in den Mittelpunkt stellen und klassenkämpferisch
zu agieren.</p><hr/>Daniel Meier ist in
der <i>organisierten autonomie (OA)</i> aus Nürnberg engagiert. Dort
findet am kommenden Samstag, den 14. Juli 2018, die <a href="http://www.redside.tk/cms/2018/07/06/auf-die-strasse-gegen-sozialraub-und-mietenwahnsinn-mieten-runter-einkommen-rauf-kapitalismus-abschaffen-3/">antikapitalistische
Demonstration</a> „Auf die Straße gegen Sozialraub und Mietenwahnsinn! Mieten
runter – Einkommen rauf! Kapitalismus abschaffen!“ statt. Um 13:30 Uhr wird
sich vor dem historischen Rathaus an der Sebalduskirche getroffen.</div>
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Empowerment und Klassenkampf: Gegen den Rassismus des Kapitals2018-05-18T10:24:28.943841+00:002018-07-02T13:18:37.774084+00:00Flo Herterredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/empowerment-und-klassenkampf-gegen-den-rassismus-des-kapitals/
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<h1>Empowerment und Klassenkampf: Gegen den Rassismus des Kapitals</h1>
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<img alt="Streikende bei Pierburg Neuss (1973)" height="400" src="/media/images/neuss.f69bf98e.fill-840x420-c100.jpg" width="801">
<span class="content-copyright">Filmausschnitte: "Pierburg - Ihr Kampf ist unser Kampf" (1973)</span>
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</div>
<section class="content content-section content-type-paragraph">
<div class="rich-text"><p>Neuss am Rhein, Sommer 1973: Vor den Fabriktoren des
Automobilzulieferers Pierburg versammeln sich tausende Menschen, ein Großteil
von ihnen sind migrantische Frauen. Große Plakate werden aufgehängt und Banner
bemalt, durch Megaphone werden die Forderungen der Streikenden verlesen. „Mehr
Geld! Mehr Geld!“-Sprechchöre unterstreichen die Reden der Arbeiter*innen.
Tagelang sind die Maschinen im Betrieb kaum mehr zu hören, <a href="https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf">die
Rufe vor der Fabrik</a> dafür umso mehr: „Eine Mark mehr!“
Der Polizeidirektor von Neuss spricht von „wilder Revolution“ und lässt seine
Truppen auf die Streikenden los. Aber immer weitere Arbeiter*innen
schließen sich an, um die Streikenden bei ihrem Kampf gegen die autoritären
Vorgesetzten, für gleiche Löhne und ein Ende der unterschiedlichen Bezahlung
von Männern und Frauen sowie deutschen und internationalen Arbeiter*innen zu
unterstützen. </p>
<p>Arbeitsstreiks wie bei Pierburg, den Ford-Werken in
Köln-Niehl, bei Opel in Bochum oder Hella in Lippstadt im selben Jahr richteten
sich gegen soziale Ungerechtigkeit, wie etwa Ausgrenzung aus Arbeits- oder
Wohnverhältnissen. Ihnen folgten zahllose weitere Kämpfe von migrantischen
Arbeiter*innen in Deutschland, Europa und weltweit. Die Streikenden stellen
sich gegen rassistische Ausformungen kapitalistischer (Re-)Produktion, gegen
Ethnisierung als Instrument zur Segmentierung des Arbeitsmarkts und das
Gegeneinander-Ausspielen der Lohnabhängigen. Die Kämpfe sind damit explizit
„antirassistisch“, auch wenn sie sich nicht so bezeichnen. Sie stellen die
Frage nach Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen und machen deutlich, dass
ihre Position in den Produktionsverhältnissen von zahlreichen Faktoren abhängig
ist, die nur gemeinsam bekämpft werden können. Der Rückgriff auf die Praxis und
Erfahrung aus diesen Kämpfen findet gegenwärtig allerdings nur sehr bedingt
statt. Umso wichtiger, sich diesen
Protestformen von Migrant*innen in der BRD bewusstzuwerden, sich in ihre
Tradition zu stellen und aus ihren Erfahrungen zu lernen. Ansätze dieser
(Wieder-)Aneignung, die in den letzten Jahren auch in Deutschland stärkere
Aufmerksamkeit erhielten, werden unter dem Begriff des „Empowerment“
zusammengefasst. Empowerment meint, vereinfachend gesprochen,
Selbstermächtigung und Widerständigkeit von Menschen, die von struktureller
Unterdrückung (rassistischer, geschlechtsbezogener, ökonomischer und vieles
mehr) und Ausgrenzung betroffen sind. Besonders im Kontext von (post)kolonialen
und antirassistischen Kämpfen hat es erfolgreiche Empowerment-Strategien von
Betroffenen zu allen Zeiten gegeben, durchaus auch militant. Viele davon wurden
verschwiegen oder über die Zeit vergessen. Im Folgenden soll die Geschichte
antirassistischen Empowerments im Kontext von Arbeitsstreiks zu einer Diskussion
von aktualisierten Klassenpolitiken beitragen.</p>
<h2><b>Empowerment to the People!</b><b></b></h2>
<p>Das Konzept des Empowerments als politische Praxis stammt
vor allem vom nord- und südamerikanischen Kontinent. Ab Mitte des 20.
Jahrhunderts wurde es zur Ermächtigung von armen und unterdrückten
Bevölkerungsgruppen wie Bäuer*innen und Favela-Bewohner*innen im
post-kolonialen Lateinamerika entwickelt. Es hat ebenso seine Wurzeln in der
schwarzen Bürgerrechts- und der feministischen Bewegung in den USA. Empowerment
als politische Praxis von People of Color (PoC) im Kampf gegen Rassismus
verbreitete sich später weiter in Deutschland und wird heute in verschiedener
Weise interpretiert und angewandt.</p>
<p>Wesentlich für Empowerment ist der Prozess, in dem
Menschen, die (oftmals auch in mehrfacher Hinsicht) unterdrückt werden, die
ihnen aufgezwungene Rolle des Opfers verlassen und eine aktive Rolle im Kampf
gegen die jeweilige Unterdrückungsform einnehmen. Ausgangspunkt dafür sind
verschiedene Erkenntnisse: 1.) Die Betroffenen haben durch ihre Erfahrung
sowohl Wissen darüber, wo das System wie unterdrückt und auch welche Formen von
Gegenstrategien und Organisierung überhaupt möglich sind. 2.) Erst ein Bruch
der Unterdrückten mit der Position, welche ihnen durch das herrschende und
unterdrückende System zugewiesen wird, stellt eben genau jenes als Ganzes in
Frage, 3.) Die Unterdrückten können für eine grundlegende Veränderung der
Situation nicht allein auf den guten Willen derer vertrauen, die von dieser
Unterdrückung nicht betroffen sind oder gar von ihr profitieren. Ein Kampf
gegen das rassistische System findet also erst statt, wenn People of Color sich
gegen die Rolle auflehnen, die sie in diesem System spielen sollen.</p>
<p>Praktisch muss sich Empowerment im Kampf gegen Rassismus an
der Analyse seiner Struktur ansetzen. Rassismus ist eine Herrschaftsstruktur,
die sich durch die Gesellschaft zieht und auch in ihren machtvollen
Institutionen, bis hin zu der Verfasstheit des Nationalstaats, struktureller
Bestandteil ist. Rassismus wird aber auch im alltäglichen Leben sichtbar: In
Interaktionen zwischen Menschen ist er tief in Worten, Blicken und Praxen
eingeschrieben; gefüttert wird er mit Vorurteilen und Stereotypisierungen.
Diese Doppelstruktur wird natürlich nicht als parallel zu einander, sondern als
vermittelt gedacht, in der sich beide „Achsen“ gegenseitig bedingen. Sie ist
auch dem Empowerment-Ansatz immanent: Er soll Alltagsstrategien und
individuelle Selbstermächtigung einerseits und Veränderung
gesamtgesellschaftlicher Strukturen anderseits ermöglichen. [1] Die
Selbstermächtigung der Unterdrückten Individuen ermöglicht kollektive Prozesse
und Organisierung, durch die rassistische Strukturen angegriffen werden können.
</p>
<p>Der Empowerment-Prozess wird im Wesentlichen dadurch
angestoßen, dass People of Color sich über ihre Erfahrungen austauschen und
gemeinsam eine Sprache finden, ihre Bedürfnisse, kollektiven Interessen und
auch Ängste zu artikulieren. Als Ort für diesen Austausch sind geschützte Räume
relevant, in denen Menschen zusammen kommen, die von Rassismus betroffen sind.
Sie schaffen erst die Voraussetzungen, eigene Erfahrung zu thematisieren, ohne
dass diese infrage gestellt oder relativiert werden. Zu Empowerment auf der
individuellen Ebene gibt es glücklicherweise immer mehr Workshops, Gruppen und
inhaltliche Auseinandersetzungen. Wie
allerdings ein Empowerment-Konzept aussehen kann, welches diese wichtige Arbeit
leistet <i>und</i> gleichzeitig Kämpfe ermöglicht, die Rassismus auf seiner
strukturellen und systematischen Ebene angreifen (und sich nicht einzig auf
Gegenstrategien auf rassistische Interaktionen fokussiert), das gilt es immer
weiter auszuarbeiten. Welche Lehren sind aus den antirassistischen
migrantischen Kämpfen der Vergangenheit zu ziehen?</p>
<h2><b>Der "Gast"arbeiter*innen-Streik bei
Pierburg</b></h2>
<p>Ansätze hierfür bietet der eingangs erwähnte Streik bei
Pierburg in Neuss, der von migrantischen Arbeiter*innen initiiert und angeführt
wurde. Der Streik ist auch für feministische Arbeitskämpfe ein zentraler
Bezugspunkt, er wird aber an dieser Stelle vor allem aus einer
anti-rassistischen Perspektive beleuchtet werden. Was war los im Jahr 1973?</p>
<p>„Alle Räder stehen still…“ In der Autoteilefabrik Pierburg
besteht der Großteil der Beschäftigten zu dieser Zeit aus sogenannten
Gastarbeiter*innen, darunter rund 2500 Arbeiterinnen aus unterschiedlichen
Ländern. Es sind die Frauen, welche die anstrengendsten Arbeiten zu verrichten
haben. Gleichzeitig stellen sie die unterste Lohngruppe dar. Die Frauen werden
außerdem von den – ausschließlich männlichen – Aufsehern auf sexistische und
rassistische Weise erniedrigt. Immer wieder kommt es zu kleineren Streiks der
migrantischen Arbeiter*innen im Werk, die Umsetzung von Teilforderungen dient
dazu, die Protestierenden kurzfristig zu befrieden. Im August 1973 beginnen einige
der Arbeiter*innen Flugblätter vor dem Werk zu verteilen. Auf ihnen stehen
Forderungen, welche insbesondere den migrantischen Frauen zugutekommen sollen:
Die Abschaffung der bereits erwähnten untersten Lohngruppe, aber auch
Lohnerhöhungen und Fahrtgeldzuschüsse für die gesamte Belegschaft, sowie freie
Tage für Arztbesuche oder für „Hausfrauentätigkeiten“, um die Doppelbelastung
der Frauen durch Produktion und Hausarbeit zu vermindern. Von Beginn an
versucht die Geschäftsleitung, den Streik durch polizeiliche Gewalt zu brechen.
Es gibt Verletzte und Verhaftungen. Doch die Frauen lassen sich nicht
einschüchtern. Und sie stehen nicht alleine: Der rabiate Polizeieinsatz ruft
die Solidarität der anderen Arbeiter*innen und auch der Stadtbevölkerung
hervor. Schließlich schließen sich auch die deutschen, männlichen Facharbeiter
dem Streik an: Eine Wende im Streikverlauf, der die Kräfteverhältnisse
zugunsten der prekarisierten migrantischen Arbeiter*innen verschiebt.</p>
<p>Dieser wichtige Schritt kann durch verschiedene Faktoren
erklärt werden: Die migrantischen Arbeiter*innen suchten ihre <i>weißen</i>
Kolleg*innen abends in ihren Stammkneipen auf und begannen, diese zu agitieren.
Sie wiesen bestehende rassistische Bilder zurück, machten die Legitimität ihres
Streiks klar und arbeiteten gemeinsame Interessen heraus. Sie knüpften an
eigenen Streikerfahrungen der deutschen Kolleg*innen an, die selbst Kämpfe um
Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitssituation geführt hatten. Konkret wurde
den Facharbeitern dabei die Erinnerung an frühere Streiks in Erinnerung gerufen,
bei denen sie ohne die „Gast“arbeiter*innen gestreikt hatten und bei denen sie
wegen ihrer geringen Zahl nicht erfolgreich waren. Von dem gemeinsamen Streik
erhofften sie sich also auch eine Verbesserung der eigenen Lage. Die gesammelte
Streikkraft der Arbeiter*innen und die dadurch entstehenden empfindlichen Produktionseinbußen zwangen die Geschäftsleitung letzten Endes dazu,
große Teile der Forderungen umzusetzen, an erster Stelle die Abschaffung der
untersten Lohngruppe und Erhöhung von Stundenlohns für alle. [2]</p>
<p>Es handelte sich beim Pierburg-Streik damit um einen gut
organisierten und militanten Protest von migrantischen Arbeiter*innen gegen
rassistische und sexistische Ausgrenzung und die systematische Benachteiligung
im Produktionsprozess. Wenn auch zu dieser Zeit der Begriff in Deutschland
nicht etabliert war, so lässt sich dieser Streik mit dem Konzept des
individuellen, wie vor allem auch des kollektiven Empowerments
charakterisieren. Die migrantischen Arbeiter*innen haben zuerst ihre
gemeinsamen Erfahrungen ausgetauscht. Sie haben sich über ihre Interessen und
Vorstellungen vergewissert und darüber gesprochen, wie ihre Situation sich
ändern sollte. Ihre Überlegungen sind schließlich auch in die Forderungen des
Streiks eingegangen. Sie organisierten sich zunächst untereinander und traten
schließlich als Kollektiv in Aktion. Damit verließen sie ihre zugeschriebene
Position als passive Opfer der Ausgrenzung und systematischen Benachteiligung
und wurden in diesem Prozess aktiv widerständig Handelnde im Kampf gegen ihre
eigene Unterdrückung.</p>
<p>Die Kämpfenden waren dabei mit verschiedenen Ausformungen
des rassistischen und sexistischen Systems konfrontiert: Einerseits die
Tatsache, dass migrantische Arbeiterinnen gegenüber ihren männlichen und vor
allem gegenüber den weißen Kolleg*innen materiell und finanziell systematisch
benachteiligt wurden und letztere zudem von vielen schweren und gefährlichen
Arbeiten in den Betrieben verschont wurden. Andererseits sahen sie auch den
individuellen Einstellungen der weiß-deutschen Arbeiter gegenüber, welche von
der systematischen Ausgrenzung und Benachteiligung profitierten und ihr
teilweise zustimmten.</p>
<p>Die männlichen „Gast"arbeiter waren an dem Streik von Anfang
an beteiligt, auch wegen einem gemeinsamen vergangenen Arbeitskampf, bei dem
Teilerfolge erzielt werden konnten. Zwar war die Konkurrenz zwischen
weiß-deutschen und migrantischen Arbeiter*innen wegen der personellen
Zusammensetzung im Werk nicht zu stark ausgeprägt, dennoch gab es unter der
Belegschaft rassistische Einstellungen, sowie Spaltungsversuche durch die
Betriebsleitung. Die Gefahr war vorhanden, dass die <i>weißen</i>
Arbeiter*innen sich von dieser überzeugen und sich gegen den Streik
mobilisieren ließen. Die Erfahrungen dieser Zeit waren davon geprägt, dass
selbst anti-rassistisch eingestellte weiße Gewerkschafter*innen und
Betriebsräte Forderungen von Migrant*innen, die sich gegen Lohn- und
Gesetzesdiskriminierung richteten, <a href="https://kritisch-lesen.de/rezension/gaste-die-arbeiten">zurückwiesen
und nicht unterstützen</a>. Wollten migrantische Arbeiter*innen etwas an
ihrer Situation ändern, so mussten sie es schaffen, die männlichen und
weiß-deutschen Kollegen von ihrem Kampf zu überzeugen und ihn zu einem gemeinsamen
Kampf machen.</p>
<h2><b>Für ein materialistisches
Rassismus-Verständnis!</b><b></b></h2>
<p>Um aus historischen Erfolgen wie diesem zu lernen, ist es
wichtig zu verstehen, welches Verständnis über Funktion und Organisation von
Rassismus der Aktion zugrunde lag. Denn daraus leiten sich später auch die
Widerstandsstrategien ab. </p>
<p>Zunächst ist offensichtlich, dass die <i>weißen</i>
Arbeiter von der Diskriminierung der migrantisierten Arbeiter*innen
profitieren, da ihnen schwerere Arbeiten weniger zugemutet werden und
sie auch bei den Lohnauszahlungen oft bessergestellt sind. Auch kommt der
Wohlstand, welcher auf nationaler Ebene erwirtschaftet wird, von allen
Lohnabhängigen vor allem weiß-deutschen Arbeiter*innen zugute (hier sind etwa
die Zugänge zu Sicherungssystemen zentral, die bis heute rassistische
Ausgrenzungen produzieren). Gleichzeitig gelingt es aber der Geschäftsleitung
nicht mehr ohne weiteres, die Belegschaft rassistisch zu spalten und die
Hierarchisierung im Betrieb aufrechtzuerhalten, wenn die <i>weißen</i>
Arbeiter*innen die existierenden Unterschiede nicht mehr in dieser Form
hinnehmen, sondern diese aktiv mit ihren Kolleg*innen bekämpfen. In Pierburg
wurde die rassistische Hierarchisierung zwar als Strategie der Spaltung aktiv
von der Betriebsleitung eingeführt, sie konnte sich allerdings nicht
durchsetzen. Dies führte dazu, dass die Geschäftsleitung gewaltsam versuchte,
die Spaltung der Arbeiter*innen in der Fabrik aufrechtzuerhalten, etwa, indem
sie den Streik als „wilden Streik“ und die Streikenden als „Kommunisten“
denunzierte. Sie erhielt dabei aktive Unterstützung durch die staatliche Polizei.
</p>
<p>Auch wenn der Rassismus die weißen Arbeiter*innen in der
kapitalistischen Logik systematisch besser stellt, ist es aber mitnichten so,
dass die Kooperation zwischen weißen und nicht-weißen Arbeiter*innen nicht eine
bessere Situation für beide schaffen kann, welche diese Logik als solche in
Frage stellt. Konkret am Beispiel Pierburg lässt sich sehen: Die Überwindung
der Spaltung bringt auch den weißen Arbeitern reale ökonomische Verbesserungen
(Die Forderung nach einem „Mehr Geld!“ wurde etwa für die gesamte Belegschaft
gestellt). [3]</p>
<p>Rassismus ist als ein gesellschaftliches Verhältnis zu
denken, „in dem die Kämpfe im Mittelpunkt stehen und nicht die durch den
Rassismus produzierten Identitäten“. [4] Das rassistische Verhältnis zwischen
den migrantischen und den weiß-deutschen Arbeiter*innen ist alles andere als
stabil. So wie die „Gast"arbeiter*innen die ihnen zugewiesene Position verlassen,
so tun dies auch die weißen Arbeiter*innen durch den gemeinsamen Prozess. Sie
legen Vorurteile ab und überwinden rassistische Spaltungsversuche. Das ist eine
wichtige Grundlage des solidarischen Kampfes.</p>
<p>Weiterhin muss Rassismus in der kapitalistischen
Weltordnung auch immer als System begriffen werden, das Bevölkerung und
Arbeitskraft kontrolliert, organisiert und zu einander in Beziehung setzt.
Dieses System zielt vor allem darauf ab, Identitäten festzulegen und ihnen
einen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. [5] Es produziert notwendig solche
Subjekte, die privilegiert sind und in größeren Genuss von Bürgerrechten, staatlichen
Leistungen und politischer Repräsentation kommen, und solche, die
deprivilegiert sind und von diesen ganz oder teilweise ausgeschlossen sind. Die
schlechter gestellten Bevölkerungsteile werden massiver ausgebeutet und die
besser gestellten Teile durch ihre begünstigte Stellung ideologisch an den
Nationalstaat oder das Kapital, hier die Firma Pierburg, gebunden. Die Analyse,
dass Weiße in einer rassistischen Gesellschaft Vorteile und Machtpositionen
gegenüber People of Color haben, darf also nicht bei dem vereinfachenden Fehlurteil
landen, dass die kapitalistische Gesellschaft auch tatsächlich zum Vorteil der
weißen Arbeiter*innen wäre. Der Vorteil ist vor allem ein klassenspezifischer.<br/>
</p>
<h2><b>Lehren für eine gemeinsame Praxis</b><b></b></h2>
<p>Am Beispiel des Zusammenhalts der Belegschaft von Pierburg
können wir die umkämpfte Solidarität der migrantisierten und
nicht-migrantisierten Arbeiter*innen als wichtigen Teil des kollektiven
antirassistischen Arbeitskampfs ausmachen. Sie ist unerlässlich, da Rassismus als
Herrschafts- und Kontrollsystem in seinen strukturellen Erscheinungsformen
– beispielsweise die systematische
Benachteiligung und Hierarchisierung auf den Arbeitsplätzen – nur von einer
solidarischen Gemeinschaft bekämpft werden kann. Die Solidarität von Weißen
scheint möglich, da auch die Subjekte, die der Rassismus produziert, als
veränderbar und umkämpft gedacht werden müssen.</p>
<p>Der Fokus auf die alltäglichen Erfahrungen von
migrantisierten Menschen in einer rassistischen Gesellschaft ist eine der größten
Stärken des Empowerment-Ansatzes. Es steht nicht nur ein komplex-abstraktes
System und die Kritik daran im Mittelpunkt, sondern die Betroffenen in diesem
System. Und mit ihnen auch ihre Erfahrungen, ihr Erleben und ihre psychosoziale
Lage. Der Austausch durchbricht die Isolation, die durch Normalisierung und
Tabuisierung von Rassismus entsteht und macht Positionen und Forderungen
sichtbar. Empowerment stellt eine Gegenstrategie zu den seelischen und
psychischen Verletzungen dar, die den Menschen im Kapitalismus alltäglich zu
gefügt werden und die marginalisierte Communities unerbittlich treffen. Eine
Herausforderung ist die Doppelstruktur von Antirassismus und Empowerment:
Gegenstrategien zu individuellem und alltäglichem Rassismus (auch in der
Interaktion mit Weißen) sind unerlässlich, um das Gefühl von Machtlosigkeit zu
bekämpfen. Gleichzeitig darf Rassismus nicht auf diese Erscheinungsform
verkürzt werden. Ansätze, die einzig Partizipation von People of Color an
bestehenden Herrschaftsstrukturen ermöglichen wollen und somit das Phänomen des
Rassismus von seiner Funktion entkoppeln, müssen kritisiert werden. [6] Die
verschiedenen Erscheinungsformen müssen vielmehr miteinander in Beziehung
gesetzt werden, um radikalere Analysen und kollektive Praxen zu entwickeln, die
den Rassismus als System angreifen können.</p>
<hr/><p></p>
<p>Unser Autor
wurde vor allem durch die Zusammenarbeit mit Anarchist*innen of Color, muslimischen
Feministinnen und (post-)migrantischen Anti-rassist*innen politisiert. Auch
wenn der Artikel aus einer weißen Perspektive geschrieben ist, sind die Gedanken maßgeblich durch die Diskussion und den Austausch mit Genoss*innen aus diesen
Zusammenhängen entstanden.</p>
<p><b>Anmerkungen:</b></p>
<p>[1] Kahveci, Çağrı (2017): Migrantische Selbstorganisierung im
Kampf gegen Rassismus. Münster: Unrast-Verlag.</p>
<p>[2] Dieter Braeg, Betriebsrat bei Pierburg zu der Zeit, beschreibt
in seinem Buch über den Streik sehr ausführlich, wie die migrantischen
Arbeiter*innen ihre weißen Kolleg*innen überzeugten und auch zu kreativen
Methoden griffen; etwa, indem sie ihnen Rosen schenkten. Vgl.: Braeg, Dieter
(2012): Wilder Streik - Das ist Revolution. Berlin: Die Buchmacherei. </p><p>
</p><p>[3] Dieses
Verständnis, was weiße Privilegien bedeuten, was aber eben auch nicht, legt
Keeanga-Yamattha Taylor in ihrem Artikel „<a href="https://www.akweb.de/ak_s/ak627/06.htm">Weiße Vorherrschaft für manche,
aber nicht für alle</a>“ (analyse und kritik, ak 627) sehr anschaulich dar.</p>
<p>[4] Karakayalı,
Serhat (o.J.): Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln. Migrantische
Kämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik. Online bei <a href="http://www.grundrisse.net/grundrisse14/14serhat_karakayali.htm">grundrisse</a>.
</p>
<p>[5] Unter
festgelegten Identitäten lassen sich Fremdzuschreibungen verstehen, die People
Of Color von der Mehrheitsgesellschaft aufgezwungen werden und die sie auf eine
bestimmte Rolle festlegen sollen, wie sie angeblich sind oder sich zu verhalten
haben. Frauen* muslimischen Glaubens werden so etwa allein auf diese Zugehörigkeit
reduziert und daraus jede ihrer Handlung erklärt. Dies zeigt sich bei der
rassistischen Debatte über das Tragen eines Hijabs im Unterricht: Die
Lehrerinnen werden nicht als studierte Akademiker*innen betrachtet, die eben
auch religiös sind, sondern allein auf ihre Religion festgelegt und dabei als
„unaufgeklärt“ konstruiert.</p>
<p>[6] Die
Kritik an solchen „Integrationsmaßnahmen“ ist vor allem deshalb wichtig, weil
sie letztlich vor allem der ärmeren Bevölkerung of Color schadet. Taylor zeigt
in ihrem Buch „From #BlackLivesMatter to Black Liberation“, wie vereinzelt
Schwarze Menschen in den USA der Zugang zu politischen Institutionen gewährt
wurde, gleichzeitig die Armut der Schwarzen Bevölkerung sowie die rassistische
Polizeigewalt gleich blieb. Die US-Administration verleugnete diesen Rassismus
mit Verweis auf Schwarze Parlamentarier*innen. Vgl. Taylor, Keeanga-Yamahtta
(2016): Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation. Münster: UNRAST-Verlag.</p><p>[Bilder: Armin Razmpush]<br/></p><p><img alt="Demonstration Empowerment" class="richtext-image left" height="178" src="/media/images/bild_1_gross.width-500.jpg" width="178"><img alt="Dmeonstration 2" class="richtext-image right" height="178" src="/media/images/bild_2_gross.width-500.jpg" width="178"></p><p><br/></p><p><br/></p></div>
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Der vergehende Glanz des Monsieur CAC 402017-09-16T12:05:00+00:002017-09-16T12:08:19.022487+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-vergehende-glanz-des-monsieur-cac-40/
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<h1>Der vergehende Glanz des Monsieur CAC 40</h1>
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<span class="content-copyright">24mmjournalism</span>
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<div class="rich-text"><p>Keine drei Monate im Amt und
schon vergeht der Glanz der liberalen antifaschistischen Hoffnung, Emanuel
Macron, Präsident Frankreichs. Wollte dieser 39jährige frisch aussehende Mann
nicht „weder links noch rechts“ sein, als „Außenseiter“ einen neuen Wind in die
Politik bringen und, als Hoffnung auch vieler Linker, den bereits vor der Tür
stehenden Faschismus in der Person Marine Le Pens stoppen? Nun, die Logik der
Umstände ist stärker als die Logik der Absichten und Mythen.</p>
<p> Fangen wir an mit dem „Außenseiter“-Mythos.
War der Macron nämlich nie. Nach Abschluss der Eliteschulen <i>Science Po</i>
und <i>ENA</i> setzte er seine steile Karriere als Manager bei den Rothschilds
fort. In derselben Zeit eignete er sich die französische Version der „neuen
Sozialdemokratie“ – also neoliberale Sozialdemokratie – des Blair-Verstehers
Anthony Giddens an. Daraufhin ernannte ihn 2012 der damalige Präsident Hollande
zum Berater für Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2014 wurde er dann gar
Wirtschaftsminister unter dem damaligen Premier Valls. Für all die schönen
Steuererleichterungen sowie „Flexibilisierungen“ der Arbeitsstunden und -löhne,
die er als Wirtschaftsminister durchdrückte, wurde er ganz zu Recht vom
Präsidenten des größten französischen Unternehmerverbandes<i> </i><i>Mouvement des Entreprises de France</i> (MEDEF) Gattaz in den Himmel gelobt. Ein Offizier
des Kapitals wie aus dem Bilderbuch also. Da wundert es nicht, dass er als
Präsidentschaftskandidat ein extrem neoliberales Programm vorlegte sowie sein
Beratungsstab aus ehemaligen oder aktuellen Manager*innen von <i>BNP</i>, <i>Credit
Agricole, Euronext</i> und vielen anderen großen Kapitalgruppen bestand.</p>
<p> Klar, Marine Le Pen ist ganz
schön fies, faschistoid und vieles mehr. Vielleicht interessierte sich deshalb das
liberale bis linksliberale Milieu samt pseudo-intellektuellem, ex-marxistischem
Anhang à la Misik, Cohn-Bendit und so weiter nicht so sehr für den harten,
elitären Neoliberalismus von Macron. Wichtiger war es mal wieder, irgend etwas
noch Böseres zu stoppen. Wie allerdings die Vertiefung neoliberaler Reformen
den Faschismus aufhalten sollte, das weiß bis heute niemand. Der geläufige
Slogan der Straße, „Macron 2017 = Le Pen 2022“ brachte auf den Punkt, dass die
Durchsetzung von Macrons Programm eher die sozialen Entstehungsbedingungen des
Faschismus fördert denn mindert.</p>
<p> Dass das Ganze auf der
politischen und medialen Arena ausgetragene Theater eben Theater ist und den
massiven Vertrauensverlust der werktätigen Bevölkerung in diese Theaterbühne, das
politische System, nicht ausgleichen kann, hat sich gleich schon in der
zweiten Wahlrunde der Präsidentschaftswahl am 7. Mai 2017 gezeigt. Die Wahlabstinenz
stieg um 11-12% gegenüber der ersten Runde an und erreichte mit 25% einen
Rekordwert. Der Totalabsturz kam bei den Parlamentswahlen im Juni: Während sich
an der ersten Runde der Parlamentswahlen nur 49% der Wahlbevölkerung
beteiligten, sackte die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde auf 42% ab. Mit
25% war die Wahlbeteiligung der Jugend auf einen Tiefststand gesunken.
Demgegenüber stehen, laut einer von der EU selbst aufgegebenen <a href="https://qz.com/971374/europes-youth-dont-care-to-vote-but-theyre-ready-to-join-a-mass-revolt/">Studie</a>,
61% der französischen Jugendlichen, die aussagen, sie würden jederzeit an „großen
Aufständen“ teilnehmen. So konnte zwar letztlich Macrons <i>La République en
Marche</i> (LREM) und seine Koalitionäre 360 von 577 Parlamentssitzen
ergattern, vereinigten aber – zählt man die Wahlabstinenz hinzu – nur 14% aller
Wähler*innen auf sich. Die von Macron erschaffene Aura und der Glanz währten
nicht lange.</p>
<h2>Die allgemeine Krise des
politischen Systems</h2>
<p> Dabei ist die Legitimationskrise
des bürgerlichen politischen Systems nichts, was nur Frankreich zu eigen wäre.
Die Bourgeoisie selbst entleerte das politische System jeden sinnvollen
Gehalts: Mit dem Einsetzen des Neoliberalismus, der im Prinzip ein Angriff des
Kapitals auf die Werktätigen darstellt, warfen auch die ehemals sozialistischen
oder sozialdemokratischen Parteien alles Soziale über Bord und ähnelten immer
mehr den Rechten in ihrer werktätigenfeindlichen Politik. Die selben Politiken
der Privatisierung, des Sozialabbaus, der sinkenden Renten und der sich
verschlechternden Arbeitsbedingungen wurden von allen etablierten Parteien, mal
etwas linker mal etwas rechter verziert, durchgesetzt. Logischerweise führte
dies zu einem Vertrauensverlust und zu einer Entfremdung großer Teile der
Bevölkerung vom etablierten politischen System, weil sogar diejenigen, die das
Soziale verteidigen sollten, aktiv daran mitwirkten, es abzuschaffen. Der PASOK
in Griechenland wurde dementsprechend die Rechnung gestellt.</p>
<p> Die Bourgeoisie schneidet das mit
und versucht diese Entwicklungen mit Begriffen wie „Post-Demokratie“ oder, im
Bezug auf Medien, „Kernschmelze des Vertrauens“<i> </i>(2017 Edelman Trust
Barometer) besonders dramatisch zu etikettieren. Praktisch betrachtet wird
versucht, den Einbruch der aktiven Zustimmung der ins Elend verdammten Mehrheit
der Bevölkerungen zu überkompensieren mit großen theatralisch inszenierten
Spektakeln, die alle das große Neue, die echte Veränderung, das ganz Andere
beschwören. Es ist die Hoffnung, die die Bourgeoisie versucht mit ihren
spektakulären Inszenierungen für sich selbst auszubeuten. Auch das hat linke
wie rechte Gesichter. Ob nun Obamas „Yes, We Can!“ oder Matteo Renzi, der sich
selbst zum<i> rottamatore</i> (Zerschrotter des alten Systems) stilisierte;
Trumps „Make America Great Again“<i> </i>oder Macrons „Progressivismus“, der
angeblich links wie rechts vereint – sie sind alle mit viel Schall und Rauch
inszenierte Spektakel, die die erneute Zustimmung der Ausgebeuteten zu einem
System hervorbringen sollen, in das sie schon das Vertrauen verloren haben und
das ihnen nichts anzubieten hat. Und bei all diesen Spektakeln ist es der Fall,
dass, sind die Wahlen und mit ihnen das Spektakel einmal vorbei, die große
Ernüchterung und Enttäuschung einsetzt darüber, dass alles weiter seinen Gang
geht wie bisher. Die Entfremdung und der Ekel vor dem politischen System
vertieft sich und mit ihr die Scharlatanerie in der Hoffnung, den
desillusionierten Werktätigen doch nochmal Begeisterung für den eigenen
Untergang entlocken zu können. Siehe Trump. Und eben Frankreich.<br/></p>
<h2>Die Macronisten am Werk</h2>
<p>Nachdem
2012 Hollande mit seinem Palaver darüber, dass die Finanzwelt sein größter
Feind sei, alle Hoffnung auf sich band, setzte er letztlich eine derart
kapitalfreundliche Politik durch, dass die<i> Parti Socialiste</i> (PS) in den
Sinkflug überging. Hier setzte Macron ein. Klugerweise hatte er sich schon früh
genug von der PS-Regierung abgeseilt, um sich plötzlich als frisches Gesicht
gegen Faschismus und Mief zu verkaufen. Kaum jedoch wurde nach seiner
Amtseinführung ganz greifbar klar, dass er einfach nur die Fortsetzung des
Bestehenden auf noch extremere Art besorgt, verpuffte all der Charme und Glanz
und ging auch er in den Sinkflug über.</p>
<p> Was als erstes ins Auge stach,
war die soziale Komposition der nun zur Partei formierten LREM im Parlament,
sowie in der Regierung. Wie bei seinen Berater*innen auch teilten sich
Unternehmer*innen, Manager*innen und obere Mittelklassen die Plätze. Das nur
extremste Beispiel für diesen fließenden Übergang von Kapital zu Politik bei
den Macronisten ist die skandalumwitterte Arbeitsministerin Pénicaud. Der erste
Skandal dreht sich darum, dass sie 2013 als Managerin der Personalabteilung des
Lebensmittelriesen<i> Danone</i> einen Tag nach der Entlassung von knapp 900
Beschäftigten alle ihre <i>Danone</i>-Aktien verkaufte und damit eine Mille €
absahnte. Nicht dass ihr daraus ein Strick gedreht wurde: Kurz daraufhin wurde
sie zur Managerin der<i> Business France</i>, einer staatlichen Institution,
die französische Wirtschaftsinteressen im Ausland vertritt. Weil sie in dieser
Funktion 2016, als Macron noch Wirtschaftsminister war, diesem eine klitzekleine
Auslandsgeschäftsreise für knapp 400.000€ spendierte, läuft ein Verfahren gegen
sie wegen Günstlingswirtschaft.</p>
<p> Korrupt ist es aber natürlich
nicht, dass der derzeitige Büroleiter ihres jetzigen Ministeriums Antoine
Foucher bis 2016 im Leitungsgremium des MEDEF war. Das ist einfach nur
Kapitalismus – der natürlich Korruption neben, unter oder parallel und
organisch zum Normalgeschäft beinhalten kann. Auch hier bei den Macronisten
nichts unerwartetes. Zu den Grundprinzipien von Macrons politischem Programm
hatte es gehört, endlich mit Korruption, Vetternwirtschaft und dergleichen
aufzuräumen und saubere Politik zu betreiben. Während sein rechter Konkurrent
Fillon von den Republikanern in Korruptionsaffären unterging, konnte sich
Macron ein sauberes Gesicht bewahren. Auch hier währte das frische Gesicht
nicht lange. Im Juni ging eine Skandalbombe nach der anderen hoch. Insgesamt
vier Minister*innen (Goulard, Ferrand, Bayrou, Sarnez) mussten wegen
Korruptionsskandalen zurücktreten, wobei nur einer – Ferrand – in prominenter
Position der LREM<i> </i>angehörte (die drei anderen sind Mitglieder des
kleineren Koalitionspartners<i> </i><i>Mouvement
démocrate</i> (MoDem)).</p>
<p> Betreffs parteiinterner
Demokratie stellte sich – oh Wunder – heraus, dass sich die Macronisten auch
hierin in nichts von den anderen Bewegungen und Parteien unterschieden. Es mag
die anfängliche Formation als Bewegung [1] gewesen sei, die Hoffnung auf einen
Anti-Bürokratismus und „echter Demokratie“ gemacht hat, obwohl dem
Parteiprogramm sehr eindeutig zu entnehmen war, wohin die Fahrt gehen sollte.
Die Formation als Bewegung ist mittlerweile nicht mehr nur unter der Linken der
letzte Schrei. Auch die Eliten haben aufgrund der oben ausgeführten allgemeinen
Krise des politischen Systems „die Bewegung“ für sich entdeckt. Eine „Bewegung“
– wie schön, wie inklusiv, offen und so anders als der bestehende Parteienmief!
Als Bewegung von Eliten kann man dann auch sehr schön mit dem Finger auf die
anderen Eliten, den alten Mief, zeigen und sie für all die Entfremdung, den Frust
und den Vertrauensverlust ins politische System verantwortlich zeichnen. Blöd
nur, dass sich mit der Transformation zur Partei Mitte Juli der
neoliberal-technokratische Charakter und das dementsprechende Programm der LREM
logischerweise auch auf die parteiinternen Organisationsstrukturen auswirkte.
Und zwar derart, dass nun zum Beispiel die jeweiligen Provinz- und
Stadtleiter*innen sowie Abgeordnetenkandidat*innen und die gesamte Spitze der
Partei ausschließlich von der Parteiführung (Parlamentsabgeordnete, Macron
himself und die Minister*innen) bestimmt werden. Nur knapp 25% der
Parteiführung werden von den lokalen Parteiorganisationen gewählt. So autoritär
ist die parteiinterne Organisationsstruktur geworden, dass laut einer
Mitgliederbefragung keine 10% der eigenen Mitglieder sie für gut befinden.
Einige Macronisten wurden deshalb stinkig und gründeten eine parteiinterne
Opposition namens<i> LRM en colère</i>, also quasi wütende<i> </i>LREMisten. </p>
<p> Die Argumente für diese
autoritäre top-down Organisationsform sind altbekannt: Expert*innen sind
kompetenter, effizienter und sowieso vertrauenswürdiger als Nicht-Expert*innen,
also der Großteil der Bevölkerung (und der eigenen Parteibasis). Korrekter
lässt sich festhalten, dass – wie zu erwarten – der Umfang und die Qualität der
neoliberalen Angriffe auf die Errungenschaften der Werktätigen in Frankreich
seitens der Macronisten so heftig sind, dass sie schockmäßig und schnell
durchgesetzt werden müssen, um dem Widerstand den Wind aus den Segeln zu
nehmen. Ansonsten fluten am Ende die Leute noch die Straßen!</p>
<h2><b>Neoliberales Bombardement</b></h2>
<p> Das Kernelement des
macronistischen neoliberalen Bombardements stellt eine vertiefende Reform des<i>
Loi Travails</i>, also des Arbeitsgesetzes, dar. Die schon im Jahre 2016 nach
dem deutschen Vorbild (Hartz I-IV) vorgenommenen Reformen des Arbeitsrechts
(damals<i> Loi El Khomry</i> benannt nach der damaligen Arbeitsministerin)
führten zu monatelangen heftigen militanten Massenaufständen inklusive der
Entstehung einer vornehmlich aus Studis und Prekären bestehenden Basisbewegung
namens<i> Nuit Debout</i>, weshalb einige Kernelemente der Reform zurückgezogen
werden mussten. Zugleich leitete die Reform und der Massenwiderstand dagegen
das Ende der PS ein.</p>
<p> Was die Macronisten nun vorhaben
ist jene zurückgezogenen Kernelemente und einige zusätzliche Elemente eben doch
durchzudrücken. Und zwar im Procedere auf dieselbe Art wie schon 2016: Das
Parlament wird umschifft durch ein Ermächtigungsgesetz für den Präsidenten, der
ohne jegliche parlamentarische Debatte die von Technokraten ausgearbeiteten
Reforminhalte festlegt und mittels Verordnungen durchdrückt. Die einzelnen
Elemente der vorgesehen Reform sind so dermaßen arbeiter*innenfeindlich, dass
einige den Verdacht äußerten, sie seien vom MEDEF selbst verfasst worden. Schauen
wir uns die hauptsächlichen Eckpunkte an:</p>
<p> Einer der wichtigsten Punkte ist
die Deckelung der zu zahlenden Abfindungen bei ungerechtfertigten Entlassungen.
Das war mit der Reform von 2016 als Option eingeführt worden, soll jetzt aber
verbindlich werden. Entlassungen aufgrund gerechtfertigter „wirtschaftlicher
Gründe“ (sprich schlechte Geschäfte) werden erleichtert, insbesondere für
multinationale Unternehmen. Die brauchen nur mehr die Bilanzen ihrer jeweils in
Frankreich situierten Betriebe aufweisen, um Entlassungen aufgrund
wirtschaftlicher Gründe vornehmen zu können. So lässt sich Stellenabbau sehr
einfach betreiben: Einfach Kapital vom Betrieb in Frankreich zu einem anderen
Betrieb des Unternehmens außerhalb von Frankreich verschieben und voilá, schon
gibt es genug „wirtschaftliche Gründe“ um Massenentlassungen vornehmen zu
können. Neben der Erleichterung von befristeten Arbeitsverträgen (<i>contrat à
durée déterminée</i>) wird zusätzlich eine neue Beschäftigungsform namens<i>
contrat de projet</i>, die dem deutschen Werkvertrag ähnelt, eingeführt, die
den Arbeiter*innen noch weniger Rechte einräumt aus die befristeten
Arbeitsverträge.</p>
<p> Ein anderes sehr grundlegendes
Element der Reform ist die Umkehrung in der Hierarchie der Tarifverträge von
Land → Beruf → Betrieb hin zu einer Stärkung betrieblich geregelter Verträge.
Diese Umkehrung der Hierarchie ist eines der zentralsten Kernelement des
Neoliberalismus in der Veränderung der Arbeitsbeziehungen. Mit dieser Umkehrung
wird verhindert, dass die in sparten- oder landesweiten Gewerkschaften
organisierten Arbeiter*innen auf gleicher Ebene mit den zumeist ebenfalls
sektoral oder landesweit aufgestellten Kapitalist*innen kämpfen können. Während
die Kapitalist*innen alle Verhandlungsmacht einer nicht bloß auf einen einzelnen
Betrieb reduzierten Unternehmensstruktur beibehalten, verlieren die
Arbeiter*innen ihre äquivalente Macht und werden in die Betriebe eingepfercht.
Mit der vorgesehen Reform ist es nun möglich, betrieblich über
Arbeitssicherheit und Arbeitszeiten zu verhandeln. Außerdem sollen betrieblich
geregelte Verträge überhaupt unabhängig von Flächentarifverträgen (in
Frankreich bisher meist landesweit abgeschlossen) geschlossen werden und von
ihnen abweichen können. Bei Betrieben unter 50 Beschäftigten ist es nun
möglich, dass die Kapitalist*innen auch mit nicht-gewerkschaftlichen
Arbeiter*innenvertretungen (also vom Boss des Betriebs zusammengeschusterte
Pseudo-Vertretungen) Verträge abschließen. Zu all dem kommt hinzu, dass die
bisher vier unterschiedlichen Personalvertretungen in den Betrieben zu zwei
zusammengelegt werden sollen.</p>
<p> Aber das neoliberale Bombardement
der Macronisten beschränkt sich mitnichten bloß auf die Arbeitsbeziehungen im
engeren Sinne. Es wird auch ausgeweitet auf die Verteilungsverhältnisse. So
soll der Druck auf Arbeitslose, die Arbeitslosenhilfe beziehen, massiv erhöht
werden. Hier diente wieder Deutschland als Vorbild. Der Zweck ist natürlich
derselbe wie in Deutschland: Unter dem Deckmantel einer Bekämpfung von „Sozialmissbrauch“
werden Sanktionen und Druck aufgebaut, um Arbeitslose davon abzuhalten,
überhaupt Arbeitslosenhilfe zu beantragen, oder aber jeden Scheißjob
anzunehmen. Aus Deutschland wissen wir, dass diese Zwangsjacke erheblich mit
dazu beigetragen hat, dass sich arbeiter*innenfeindliche
Beschäftigungsverhältnisse (Niedriglohnsektor, ungenügende Teilbeschäftigung,
befristete Beschäftigung usw.) ausweiteten. Sprich der neoliberale Eingriff in
die Verteilungsverhältnisse dient hier dazu, die Durchsetzung neoliberaler
Arbeitsbeziehungen abzusichern.</p>
<p> Auch in das Steuersystem wird
typisch neoliberal eingegriffen. Während einerseits eine – aus
Staatsperspektive – Witzsumme von 100 Millionen € im Jahr gespart werden soll
dadurch, dass der Heizkostenzuschuss für Mietkostenzuschussempfänger*innen um
fünf € gestrichen wurde, soll andererseits die Unternehmenssteuer innerhalb von
fünf Jahren von 33% auf 25% gesenkt werden und die „Reichensteuer“ fast
vollständig entfallen. Allein diese Streichung wird für drei bis vier
Milliarden € weniger Staatseinnahmen im Jahr sorgen. Die Zeitschrift<i> Capital</i>,
deren Kapitalnähe ja schon im Namen steckt, rechnete genüsslich vor, dass 46%
der geplanten Steuerreformen den höchsten 10% nutzen werden.</p>
<p> In einer Klarheit, die kaum einer
interpretierenden Analyse mehr bedarf, sprach Macrons Premier Edouard Philippe
aus, worum es den Macronisten bei der Steuerreform geht: in einem <a href="https://www.ft.com/content/9a7b55be-654b-11e7-9a66-93fb352ba1fe">Interview
mit der<i> Financial Times</i></a> sagte er, dass die Reform „für die Reichen“
sei und dass es ihre oberste Priorität sei, Reiche und Unternehmer*innen in das
Land zu holen. Es ist also kein Zufall, dass einige französische Zeitungen
Macron schon als „Monsieur CAC 40“ [2] bezeichnen. Irgendwo muss man ja aber laut
Austeritätsmantra des Neoliberalismus sparen bzw. die Einnahmen erhöhen. Und
wenn das ganz zufälligerweise bei den Reichen nicht geht, dann muss man eben
bei den Werktätigen ansetzen. So sollen einerseits bis 2022 13 Milliarden € bei
den Lokalverwaltungen gespart werden, sprich es werden um 13 Milliarden €
weniger Schwimmbäder, Schulen und Kitas saniert oder neugebaut. Andererseits
werden die Beiträge zu den Sozialversicherungen zum Nachteil der
Niedrigeinkommen erhöht.</p>
<p> Und aufgrund aller dieser Entwicklungen
schon in den ersten Tagen der Macronisten, die zeigen, dass sie in keinster
Weise von den anderen Parteien der Bourgeoisie unterschieden sind, sondern sich
ganz besonders in der Durchsetzung von Neoliberalismus und Technokratismus
hervortun, ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der Glanz des Monsieur
CAC 40 ganz schnell erblasste. Alle Meinungsumfragen, von <a href="http://www.independent.co.uk/news/world/europe/emmanuel-macron-approval-rating-unpopular-vote-share-housing-support-job-reform-a7876861.html"><i>YouGov</i></a>
über <a href="http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/widerstand-gegen-reformen-frankreichs-praesident-wehrt-sich-gegen-seine-kritiker-15193882.html"><i>Elabe</i></a>
bis hin zu<i> </i><a href="https://www.theguardian.com/world/2017/aug/27/french-president-macrons-popularity-slumps-again"><i>Ifop</i></a>,
zeigen, dass die Popularität von Macron und das Vertrauen in die Regierung
rasant eingebrochen ist und irgendwo bei 30% rumdümpelt, während die
Unzufriedenheit massiv zunimmt.</p>
<h2><b>Technokratenbasar und
Widerstandsfront</b></h2>
<p> Die allgemeine Krise des
politischen Systems in den bürgerlichen Gesellschaften des Westens hat, wie
erwähnt, auch Frankreich erreicht. Das seit dem 2. Weltkrieg etablierte
Parteiensystem bricht auseinander. Während die klassisch-gaullistische
republikanische Partei <i>Les Républicains</i> (LR) in Korruptionsaffären
versinkt und sich in ein pro-Macron sowie ein anti-Macron Lager spaltet, wurde
die PS geradezu vernichtet. Nachdem der Präsidentschaftswärter der<i> </i>PS
Benoit Hamon nur 6,36% der Stimmen ergattern konnte, verlor er bei den
Parlamentswahlen auch noch seinen Sitz im Parlament wie 90% aller bisherigen PS-Abgeordneten.
Auch er fügte sich der Bewegungsmode, verließ die PS und gründete eine „Bewegung
des 1. Juli“. Jetzt hat er plötzlich vor, bei den Demos gegen die
Arbeitsmarktreform mitzumachen. Der alte PS-Veteran und parteiinterne
Hauptopponent von Hamon, Manuel Valls, hingegen verließ gemeinsam mit den
Altehrwürdigen der<i> </i>PS ebenfalls die Partei und unterstützt seitdem die
Macronisten. Die Rest-PS hingegen ruft zum Widerstand gegen die
Arbeitsmarktreform auf – die sie ja selbst letztes Jahr ins Rollen gebracht
hat.</p>
<p> Niemand ist sich zu blöd für
nichts, der schamloseste Prinzipienausverkauf und Opportunismus greift um sich.
Im Prinzip hat sich ein Technokratenbasar entwickelt. Es rettet sich, wer kann,
manchmal auf ganz lukrative Pöstchen. Während der Finanzminister Le Maire und
der Minister für den öffentlichen Dienst Darmanin von der LR stammten und für
die Übernahme der jeweiligen Ministerialposten aus ihrer Partei geschmissen
worden, führt die PS-Veteranin Le Drian weiterhin das Amt des Außenministeriums
und ist der alte sozialistische Bürgermeister von Lyon, Collomb nun der
Innenminister. Die Liste lässt sich fortsetzen. Ideologische oder gar minimal
praktische Differenzen sucht man vergeblich, alles, das in der Lage dazu ist,
strömt zum Kapital. Macron vervollkommnt die Partei der Ordnung als Haufen von
Offizier*innen des Kapitals sowie prinzipienlosen Opportunist*innen. Ein
Restteil der Opportunist*innen kleidet sich in oppositionellen Gewändern in der
Hoffnung, morgen wieder dort zu sitzen, wo sich gestern noch saßen.</p>
<p> Dann gibt es natürlich den<i>
Front National</i>, der sich aber schlecht hält und in sich selbst in einem
Kampf zwischen traditionalistischem und Erneuerungsflügel befindet und sich
nicht eindeutig zwischen leicht links angehauchtem und direkt
rechtsaußen-faschistoidem Populismus entscheiden kann. Offensichtlich ist es
Mélenchons<i> France Insoumise</i> (Unbeugsames Frankreich), das real und in
den Augen der Bevölkerung die Opposition darstellt – und vielleicht wieder die
Straße. Die Protestwelle vom 12. September war mitnichten eine „Demonstration
der Schwäche“ wie Laurent Berger, Chef des größten Gewerkschaftsdachverbandes <i>Confédération française démocratique du
travail</i> (CFDT), die nicht zu den Demos aufrief, im Vornherein „befürchtete“<i>.</i>
Mit, nach Angaben der linken<i> Confédération générale du traivail</i> (CGT),
knapp 400.000 Protestierenden (das Innenministerium spricht von 233.000) bei Aktionen
in knapp 200 Städten wurde Stärke demonstriert. Klar, das war nicht so stark
wie letztes Jahr. Andererseits sind auch schon für den 21. und 23. September
die nächsten Aktionstage angekündigt. Die Schlacht ist noch längst nicht
entschieden.</p>
<p> </p><p><i>[1] LREM war, bevor es zur Partei
wurde, eine „Bewegung“ namens En Marche!.</i></p><i>
</i><p><i>[2] Die CAC 40 ist das
französische Pendant zur deutschen DAX. Es ist der Leitindex der 40 führenden
französischen Aktiengesellschaften.</i></p></div>
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