re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=10422020-04-29T15:58:43.794454+00:00Auszüge einer Chronik aus Mailand in Zeiten von Corona2020-03-31T13:03:43.289091+00:002020-03-31T13:03:43.289091+00:00malaboca kollektivredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ausz%C3%BCge-einer-chronik-aus-mailand-in-zeiten-von-corona/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Auszüge einer Chronik aus Mailand in Zeiten von Corona</h1>
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<div class="rich-text"><p><i>[Editorial:] Während sich auch in Deutschland die politischen Maßnahmen nahezu täglich überschlagen und die Fallzahlen der an Covid-19 Erkrankten multiplizieren, ist Italien dem deutschen Szenario bereits neun Tage voraus. Die Genoss*innen vom malaboca Kollektiv legen hier die Übersetzung einer eindrücklichen Schilderung Mailänder Genoss*innen vor, die den Verlauf der Pandemie in Norditalien aus linker, aktivistischer Sicht zusammenfasst. In den kommenden Wochen und Monaten werden es Zehntausende in Italien und Hunderttausende weltweit mehr sein, welche die gesundheitlichen Folgen des Virus unmittelbar zu spüren bekommen - und Millionen, welche die Auswirkungen ökonomisch und sozial zu tragen haben. </i></p><p> </p><hr/><p></p><h3><b>11. Januar:</b></h3><p>Erster Todesfall in China.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>23. Januar:</b> </h3><p>Zwei chinesische Touristen werden in Rom positiv auf das Virus getestet und werden unter Quarantäne gestellt. Die Stadt Wuhan wird unter Quarantäne gestellt. Am nächsten Tag die angrenzende Stadt.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>30. Januar:</b></h3><p>Die Weltgesundheitsorganisation WHO deklariert den globalen Notstand (bei 7000 Infizierten und 170 Toten).</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>01. Februar:</b></h3><p>Chinesische Tourist*innen werden in Florenz rassistisch beleidigt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt werden die ersten Auswirkungen der Pandemie spürbar - bevor diese sich verwirklicht hat, hat sie sich bereits in Angst verwandelt. Die Suche nach den Schuldigen lässt nicht lange auf sich warten. Dieses Mal sind es weder die Juden und Jüdinnen, noch die Ketzer*innen, sondern die Chines*innen. Es kommt vermehrt zu Übergriffen, Menschen werden bespuckt, geschlagen und mit Flaschen beworfen – einfach, weil sie in den Augen der Angreifer „asiatisch aussehen“. Wo die Menschen letztlich herkommen spielt dabei eigentlich keine Rolle. Allmählich melden sich verschiedene rechte Politiker*innen zu Wort, die versuchen, „die Chines*innen“ und „die Ausländer“ für die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich zu machen - natürlich ohne jegliche faktische Grundlage.</p><p>Diese Momente der direkten und latenten rassistischen Aggression waren begrenzt, jedoch ausreichend vorhanden, um uns einen Vorgeschmack auf die rassistische Dimension, die eine solche Situation mit sich bringen kann, zu geben. In einer anderen Ausgangssituation, das heißt in einer Situation, in der Geflüchtete oder „Armuts-Migrant*innen“ direkt beschuldigt worden wären, den Virus nach Italien gebracht zu haben, hätte es eine noch stärkere Welle der rassistischen Gewalt gegeben. Auf ein solches Szenario wären wir nicht vorbereitet gewesen.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>21. Februar:</b> </h3><p>Der erste Infektionsfall in Codogno wird gemeldet. Angesichts der Tragödie eine schon fast komische Wendung: Von der Millionenstadt Wuhan zu einer kleinen, unbekannten Stadt im Nichts der Lombardei zwischen den Städten Piacenza und Crema.</p><p>Wir gehen aus, trinken und treffen Leute. Wuhan erscheint unglaublich weit weg, aber auch Codogno liegt gefühlt noch in der Ferne. Die Meldungen laufen in den Nachrichten. Es ist nicht vorstellbar, was noch kommen wird. Die Stadt Wuhan steht seit dem 23. Januar unter Quarantäne. Obwohl diese Welt eine globalisierte und vernetzte ist, scheint es uns an der Fähigkeit zu mangeln, Informationen zu empfangen, zu verstehen und in konsequentes Handeln zu überführen. Das Coronavirus in China erschien bloß wie ein mediales Spektakel, gedreht auf einem anderen Planeten.</p><p>Während wir eher fasziniert, als erschrocken die ersten aufgeregten Live-Übertragungen aus den Dörfern der unteren Po-Ebene verfolgten, von denen wir hier in der Großstadt noch nie etwas gehört hatten, fühlten wir uns noch immer gut vor dem geschützt, was wir auf den Fernseherbildschirmen sahen und in den Schlagzeilen lasen. In unseren Kreisen machte sich eine gewisse Skepsis breit. Dazu trat der bittersüße Geschmack, der mit der Vorstellung einherging, eine Apokalypse live mitverfolgen zu können und die Widersprüche und die Hysterie des Systems gleichsam bewundern und kommentieren zu können, während unser Alltag davon jedoch schlussendlich unberührt bleiben würde.</p><p></p><hr/><h3></h3><h3><b>23. Februar:</b> </h3><p>Die Suche nach Quarantäne-Einrichtungen in den betroffenen Gebieten in Italien beginnt. Es wird an Hoteliers appelliert, ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. In Mailand werden die Schulen vorerst für eine Woche lang geschlossen.</p><p>Das erste Dekret des Ministerrats mit präventiven Maßnahmen wird erlassen. Verbot des Ein- und Ausreisens in und aus den von dem Virus betroffenen Orten in den Regionen Veneto und Lombardei; Aussetzung von Demonstrationen oder anderweitigen Versammlungen jeglicher Natur und Form an öffentlichen Orten, einschließlich kultureller, sportlicher und religiöser Stätten; vorübergehende Schließung von Bildungseinrichtungen für Kinder und junge Erwachsene auf allen Ebenen; Aufhebung aller Bildungsreisen innerhalb und außerhalb Italiens; vorübergehende Schließung von Museen und aller weiteren kulturellen Institutionen des öffentlichen Lebens; Reduzierung der Dienste staatlicher und städtischer Ämter bis auf das Nötigste; Schließung aller kommerziellen Einrichtungen, mit Ausnahme derer, die es zur Grundversorgung der Bevölkerung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung benötigt; Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen und dem Tragen bestimmter Schutzausrüstung; Aussetzung von Beförderungsdienstleistungen für Güter und Personen über Land, Schienen und Binnengewässer; Aufhebung der Produktionstätigkeit von Unternehmen, sowie Arbeiter*innen in den betroffenen Gebieten.</p><p>Nervosität greift um sich. Die Menschen strömen in die Supermärkte und leeren die Regale. Dieser Moment schwebte zwischen dem Unglauben, dass das Virus und die fatalen Auswirkungen, die es mit sich bringt, immer näherkommt und der schleichend durchsickernden Angst, die zu unbewussten Gesten führt. Auch in der wirkungsschwachen Debatte innerhalb der „antagonistischen“ Mikrowelt der linken Bewegung spiegelt sich diese Zerrissenheit wider. Es gibt auf der einen Seite diejenigen, die sich bemühen, die Virulenz der Epidemie zu verneinen und sich an den verabschiedeten staatlichen Sondermaßnahmen abzuarbeiten. Andererseits gibt es die, die dazu aufrufen, den Ernst der Lage zu begreifen. Am darauffolgenden Tag werden die Maßnahmen in Mailand verschärft: Restaurants und Bars müssen nach 18.00 Uhr schließen.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>28. Februar:</b></h3><p>Nachdem die Schulen geschlossen worden sind und die Medien registrieren, dass die Ansteckungen stetig steigen, beginnt die Wirtschaft Mailands zu leiden. Die Menschen konsumieren nicht mehr genug. Es wird nicht genug zu Abend gegessen in den Restaurants, nicht genug Aperitivos getrunken, zu wenig „shoppen“ gegangen. Die Wirtschaft gerät zunehmend ins Stocken. Mailand fängt an zu zittern.</p><p>Die Lokale dürfen wieder öffnen. Dabei gilt die Empfehlung, nur am Tisch zu bedienen – was in den meisten Fällen nicht eingehalten wurde. Der Mailänder Bürgermeister Guiseppe Sala dreht eine Art Videospot mit dem Hashtag #Milanononsiferma (#Milanoschließtnicht). In diesem Video fordert er dazu auf, den Konsum ohne Angst wieder aufzunehmen. Der Sekretär des PD (Partido Democratico) Nicola Zingaretti lässt sich bei einem Bier an den Kanälen in Mailand ablichten. Einige Tage später wird er positiv auf das Covid-19-Virus getestet. Der Mailänder Confcommercio (Handels- und Unternehmervereinigung) lädt die Bevölkerung dazu ein, den normalen Lebens- und Einkaufszyklus wiederaufzunehmen, auszugehen und einzukaufen. Es wird noch einige Tage dauern, bis auch der Ruf in der Lombardei immer lauter wird, nicht mehr auszugehen, um die Ansteckungen zu stoppen.</p><p>Die Regierung scheint zwischen dem Bewusstsein über den Ernst der Lage und dem wirtschaftlichen Druck gefangen zu sein – und ist bemüht, so bald wie möglich wieder zum Normalzustand überzugehen. In der Tat gilt diese Zerrissenheit für alle Bürger*innen, auch für uns. Wir sind unvorbereitet, naiv und ungläubig. Die Anweisungen sind widersprüchlich. Die politischen Institutionen fordern eine Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens, die wirtschaftlichen fordern ein Weiter-So.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>06. März:</b></h3><p>Der Präsident der Republik Sergio Mattarella spricht zur Nation: „Wir müssen Vertrauen haben“.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>07. März:</b></h3><p>Die Zahlen sprechen für sich. Die Epidemie breitet sich explosionsartig aus - vor allem im Norden Italiens. Es ist kaum zu glauben, doch der Entwurf eines Dekrets erreicht vorzeitig die Zeitungen, während er noch im Ministerrat diskutiert wird. Das Dekret besagt, dass die Lombardei und 14 andere Provinzen in Norditalien abgeriegelt werden sollen. Die Zeitungen bringen die Meldung über Nacht auf die Titelseite. Das Chaos gewinnt an Fahrt.</p><p>Im Einzelnen umfassen die Maßnahmen: Verbot des Betretens, wie Verlassens besagter Gebiete. Ausgenommen sind nachgewiesen Arbeitswege oder Bewegungen in Notfallsituationen. Es ist erlaubt, an den Heimatort, sowie an den Wohnsitz oder in die eigene Wohnung zurückzukehren. Es gilt ein absolutes Mobilitätsverbot für diejenigen, die Quarantänemaßnahmen unterliegen. Öffentliche Veranstaltungen und Sportwettbewerbe werden ausgesetzt. Einrichtungen in den Skigebieten werden geschlossen. Alle bereits organisierten Demonstrationen sind suspendiert. Die Bildungsdienste für Kinder sind ausgesetzt. Die Eröffnung von Gotteshäusern ist an strenge Bedingungen geknüpft. Museen und andere kulturelle Einrichtungen und Orte werden geschlossen. Restaurant- und Baraktivitäten sind nur noch von 6.00 bis 18.00 Uhr erlaubt. Der Urlaub des Gesundheits- und technischen Personals wird ausgesetzt. Fitnessstudios, Sportzentren, Schwimmbäder, Schwimmzentren, Wellnesszentren und Kurbäder werden geschlossen.</p><p>Panik macht sich breit. Die Entschuldigung der Regierung für die Fehlkommunikation und die Betonung der restriktiven Maßnahmen werden alsbald folgen. Bis kurz davor wird über die Situation gelacht oder diese zumindest belächelt. Niemand sah das kommen, was kam. Bis vor Kurzen sollte noch die Wirtschaft funktionieren. Und es ist noch immer von „nicht mehr“ als einer einfachen Grippe die Rede. Es scheint immer noch alles „unverhältnismäßig“. Man nimmt einen Freund, der sagt, er bleibe zu Hause, immer noch nicht ernst, versteht den Ernst der Lage nicht. Nach dem wir nun mehr als eine Woche zu Hause eingesperrt sind, nach dem es immer mehr Todesfälle gibt und Ärzte, die krank werden, die Reanimationsstätten überlastet sind, fühlen wir uns rückblickend wie unverantwortliche Arschlöcher.</p><p>Man fühlt sich wie infantilisiert. Wir sind auf externe Informationen und Anweisungen angewiesen. Und wir ärgern uns, wenn sie uns nicht sagen, was wir tun sollen. Eine Autonomie (Autonomia) zu organisieren, sich eine andere Welt vorzustellen, eine Revolution im Lichte dieser Ereignisse zu machen, erfordert viel mehr Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit und Arbeit von unserer Seite. Ein positives Element scheint aus dieser Krise hervorzugehen: die Trennung des Individuums vom Nicht-Individuum/nicht individuellen - diese ethische, politische Kategorie scheint endlich eine direkt wahrnehmbare Inkarnation zu erfahren.</p><p>Die Kürzungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind beschissen. In den Bergen Skifahren zu gehen, während man in Quarantäne sein sollte, ist ein beschissenes Verhalten. 100 Rollen Toilettenpapier (oder irgendein anderes Produkt) für sich selbst zu kaufen, und anderen dadurch zu berauben, ist scheiße.</p><p>Einige mobilisieren in die entgegengesetzte Richtung; für alle, für das Kollektiv. In Mailand zum Beispiel gründen einige Genoss*innen die „Brigate per l'Emergenza“ (Notfallbrigaden), die viele Freiwillige (ausgebildet und geschützt) zusammenbringen und koordinieren. Sie organisieren Menschen, die in der Lage sind, anderen Menschen, die in Schwierigkeiten sind, zu helfen. Denjenigen, die Informationen benötigen, denjenigen, die jemanden brauchen der für sie einkauft oder Medikamente besorgt. Während eine Flut von Ärzten und Krankenpfleger*innen in den Krankenhäusern unserer Region grausame Schichten übernehmen und sich selbst dabei anstecken, ist es unsere Aufgabe, sich um die Bedürftigen zu kümmern.</p><p>Jetzt gilt für uns: Ein Angriff auf das Kapital bedeutet, dass man sich um die Gemeinschaft kümmert, in diesem Moment nützliche Dienste für ihr Überleben zu leisten, und dabei effektiv und glaubwürdig zu sein.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>08. März:</b></h3><p>Menschen strömen zu den Bahnhöfen Mailands und versuchen zu ihrem Heimatort zu gelangen. Es ist eine leichtsinnige Reaktion, die nicht das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus in andere Teile Italiens bedenkt. Sie ist Ergebnis der konfusen Kommunikation der Regierung. Und sie ist Folge von einem Mangel an Empathie und eines Individualismus, welcher in vielen weiteren Reaktionen in diesen Tagen zur Geltung kommt.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>09. März:</b></h3><p>Es gibt Aufstände in 26 italienischen Knästen mit zwölf Toten in weniger als zwei Tagen. Es ist das erste Mal in unserer jüngeren Geschichte, dass sich Gefängnisaufstände wie ein Waldbrand in ganz Italien ausbreiten. Und es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass Gefangene* die Kontrolle über einzelne Bereiche, oder sogar ganze Knäste übernehmen. Den stärksten Aufruhr gab es in Modena, wo Gefangene* das gesamte Gefängnis für ein paar Stunden unter ihre Kontrolle gebracht haben. Aber es handelt sich hier auch zugleich um einen der blutigsten Kämpfe. Mehr als zehn Gefangene* sind bei dem Aufstand gestorben. Bisher hat sich der Staat nicht einmal bemüßigt gefühlt, eine offizielle Version der Todesumstände vorzulegen.</p><p>Bei den vielen Bildern dieses Tages, sind jene vielleicht die Eindrücklichsten: Verschiedene Gruppen von Frauen* und Unterstützer*innen (Mütter, Ehefrauen und Kinder der Gefangenen) vor den Toren der Knäste in Mailand, Neapel, Rom, Ferrara, Bologna, Rieti und Pescara, besorgt um die Gesundheit ihrer Liebsten und lautstark fordernd „Lasst sie frei, begnadigt sie, Amnestie“. Ein anderes eindrückliches Bild ist jenes von Gefangenen* während des Aufstands, die auf das Gefängnisdach in San Vittore (Mailand) klettern und ein Banner mit der Aufschrift „Freiheit“ halten, während im Hintergrund schwarzer Rauch aus einem angrenzenden Gefängnisbereich in den Himmel steigt. Ein letztes Bild ist jenes der Flucht von über 40 Gefangenen aus dem Knast in Foggia - aufgenommen von Überwachungskameras.</p><p>Italienische Knäste waren schon vor der aktuellen Situation am Rande des Kollapses. Sie gelten als völlig überfüllt. Die hygienischen und sanitären Bedingungen sind an den Grenzen des Ertragbaren. Als die Coronavirus-Epidemie in Italien immer schlimmer wurde, dachte die Regierung nicht im Geringsten daran, die Gefängnisse zu leeren - wie es sogar von einigen Richtern gefordert wurde. Sie erließ stattdessen absurde Maßnahmen, wie beispielsweise ein Gesprächsverbot (ausgenommen per Video und Telefon), ein Verbot Post entgegenzunehmen oder weitere Beschränkungen des Zutritts und Verlassens des Gefängnisses.</p><p>Es folgt das Dekret #iorestoincasa (#ichbleibezuHause). Die „Rote Zone“ wird auf ganz Italien erweitert. Einzelhandelsgeschäfte müssen schließen, Ausnahmen gelten nur für den Verkauf von Nahrungsmitteln und für Güter zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. Gaststätten und Restaurants müssen schließen (dazu zählen auch Bars, Kneipen, Eisdielen und Bäckereien). Dienstleistungen mit direktem Kontakt werden ebenso verboten (dazu gehören u.a. Friseure und Kosmetiksalons). Banken, Finanzdienstleistungen und Versicherungen bleiben geöffnet. Ebenso wie die Landwirtschaft und Tierhaltung zur Nahrungsmittelherstellung. Bei den wirtschaftlichen Tätigkeiten wird den Unternehmen empfohlen, so viel Home-Office wie möglich zu nutzen. Lohnabhängige sollen Anreize erhalten, bezahlten Urlaub zu nehmen. Sicherheitsvorschriften zur Kontaktvermeidung werden eingeführt und sanitäre Maßnahmen werden gefördert.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>10. März:</b></h3><p>In Frankreich verkleiden sich Menschen als Schlümpfe und ziehen unter dem Motto „das Virus wegschlumpfen“ durch die Straßen. „Versteht ihr nicht, was hier los ist?“ - das sind unsere Ansagen an unsere Freund*innen, die weit weg sind - in den USA, in Frankreich oder Deutschland. Es erscheint uns schon verrückt, wie sehr wir uns nach so kurzer Zeit bereits verantwortlich fühlen. Wir haben keinen Krieg, keinen wirklichen Hunger und keine Pest erlebt, doch nun sehen wir uns dennoch mit einer historischen Situation konfrontiert. Im Angesicht der realen Katastrophe, die kein bloßes Gedankenspiel ist, bringen uns die klassischen Diskurse um Biopolitik und die staatliche Kontrolle der Bevölkerung nicht weiter auf dem Weg zu einer kollektiven Antwort.</p><p>Sich die Hände zu waschen, sich nicht in Gruppen zu versammeln, zu Hause zu bleiben, jede Form des alltäglichen Lebens zu unterbrechen, sind verantwortungsbewusste Handlungen. Es sind Formen einer grundlegenden Empathie, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Wir müssen verstehen, dass diese Handlungsweisen tatsächlich in der Lage sind uns, unsere Liebsten und all die älteren Menschen, die wir nicht persönlich kennen, zu retten. Es geht darum den Druck von den öffentlichen Krankenhäusern zu nehmen, bei denen die Effekte der vergangenen Einsparungen in der öffentlichen Gesundheit jetzt zu erleben sind.</p><p>Die zwingende Notwendigkeit des Augenblicks liegt darin, sich nicht von den Geschehnissen zu entfremden. Es gibt einen realen Ausnahmezustand, der nach wie vor die Ausgeschlossenen, Vergessenen und Überflüssigen am Stärksten trifft. In den Verlautbarungen der „geeinten Nation“ zur Pandemie tauchen etwa Gefängnisse und Fabriken nicht auf.</p><p>Es ist nicht die Zeit, um die eine Variante von „antagonistischem“ Denken gegen die andere auszuspielen. Das gliche einem lächerlichen Wettrennen von denjenigen, die nach der einzig wahren Interpretation zur derzeitigen Situation suchen. Ereignisse überkommen uns, wir mussten das immer wieder lernen. Durch diese Ereignisse lernen wir, wie unsere Gedanken (um)geformt werden, wie sie sich in der Realität behaupten müssen. Selbstverständlich beängstigen uns die neuen Sicherheitsmaßnahmen und die Frage, was und wie lange sie bleiben werden, wenn die Notsituation vorbei ist. Wie sie verwendet werden, wie es weitergeht – wenn nicht einmal im Moment des Kollapses die Fabriken und die Gefängnisse geschlossen werden.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>10. März:</b></h3><p>Die Börsenkurse brechen ein.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>11. März:</b></h3><p>Der Präsident der Ärztevereinigung der Provinz Varese stirbt.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>13. März:</b> </h3><p>Boris Johnson erklärt: „Gewöhnt euch dran, eure Liebsten zu verlieren“. Der Plan der britischen Regierung scheint es zu sein, 60 Prozent der britischen Bevölkerung zu infizieren, um eine Herdenimmunität zu entwickeln.</p><p>Eine Welle von spontanen Streiks findet in ganz Italien statt – initiiert durch die Gewerkschaft Si.Cobas. In den Fabriken wird trotz der Notlage weitergearbeitet. Dies ist ein Auszug aus einem Zeitungsartikel, der von dem Treffen zwischen Regierung und Arbeitgeberverband berichtet und die Situation gut zusammenfasst:</p><p>„(…) Die Unternehmen beharren auf eigenverantwortlicher Selbst-Regulierung, die weniger restriktiv und ohne Sanktionen ist. Eine Art freiwilliger Kodex von guten Verhaltensregeln, die Unternehmen befolgen können oder nicht, in vollständiger Unabhängigkeit, ohne dies mit Betriebsräten oder den Arbeiter*innen direkt abstimmen zu müssen. Und ohne zur Schließung gezwungen zu werden, wenigstens für ein paar Tage, um die sanitären Einrichtungen in Ordnung zu bringen (…)“.</p><p>Der Bericht eines Arbeiters:</p><p>„Ein Freund ist bis gestern zur Arbeit gegangen. Er hatte seinem Vorgesetzen eine E-Mail geschrieben, dass die Arbeitsumstände nicht angemessen seien. Zu viele Menschen im Büro, keine Masken, die Kantine noch in Betrieb. Seine Warnung wurde erst ignoriert und als die Vorgesetzten genervt waren, wurde ihm individuell angeboten von zu Hause zu arbeiten, ohne die Schutzmaßnahmen für die anderen auszuweiten. Am 15. März musste ein Arbeitskollege von ihm wegen der Infizierung mit dem Corona-Virus an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden und zwei weitere Kollegen wurden ebenfalls positiv getestet. Daraufhin ist eine andere Kollegin mit Mundschutz auf die Arbeit gekommen und wurde von den Securities und dem Vorgesetzten aufgefordert, sie abzunehmen, um die Verbreitung von Panik zu vermeiden. Ihre Bitte, diese Anweisung schriftlich zu bekommen, führte dazu, dass auch sie von zu Hause arbeiten konnte. Am nächsten Tag folgten viele dem Beispiel und kamen mit Mundschutz, um nicht mehr im Betrieb arbeiten zu müssen.“</p><p>Das Kapital und die Bosse werden immer das Geld und den Profit über das Leben und die Gesundheit der Menschen stellen – das ist keine neue Einsicht, aber in der jetzigen Situation umso offensichtlicher.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>14. März:</b></h3><p>Chinesische Hilfe für Italien: Material, Experten und die Arbeitsergebnisse von tausenden Ärzt*innen.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>15. März:</b></h3><p>In Italien gibt es nach offiziellen Angaben mindestens 20.603 Infizierte, 1.809 Tote, 2.333 Geheilte und 1.672 Personen in Intensiv-Behandlung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt die Corona-Virus-Epidemie zur Pandemie. Sie merkt eine „Alarmierende Untätigkeit der Regierungen“ an.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>16. März:</b></h3><p>27.980 Infizierte in Italien. In 24 Stunden gibt es 2.470 Fälle mehr, die Gesamtzahl der Gestorbenen liegt bei 2.158. Die Anzahl der Toten steigt um 349 an nur einem Tag. 7.000 Tote gibt es bereits weltweit. Die EU isoliert sich selbst und schlägt die Schließung der Außengrenzen vor. In Italien ist Sizilien isoliert. Das Betreten, wie Verlassen der Insel ist verboten.</p><p>Es folgt ein Börsencrash. Die Regierung kündigt ein weiteres Maßnahmenpaket an: D1 „Cura Italia“. 25 Milliarden Euro für Unternehmen und Familien. Die Gefängnisse in der Lombardei „kollabieren“. Der Haftrichter bittet Minister Bonafede alle Haftstrafen unter vier Jahren und verringerte Haftstrafen in Hausarrest umzuwandeln, weil die Gefängnisse zu platzen drohen. Das Risiko von Ansteckungen sei sehr hoch und es könnten neue Aufstände ausbrechen.</p><p>Die USA testen den ersten Impfstoff gegen Covid-19 mit einem Meerschweinchen. Die Stadt New York schließt Schulen, Bars und Restaurants. In Las Vegas gehen die Lichter in den Casinos aus.</p><p></p><hr/><p></p><p><i>Es handelt sich um die Übersetzung eines Textes von unterschiedlichen Genoss*innen aus Mailand durch das malaboca-Kollektiv. Viele sind nun auch in den „Brigate Volontarie per l’emergenza“ aktiv.</i></p><p></p><hr/><p></p></div>
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Viraler Kapitalismus2020-03-11T13:21:10.148042+00:002020-04-29T15:58:43.794454+00:00Alp Kayserilioğlu, Johanna Bröse und Max Zirngastredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/viraler-kapitalismus/
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<span class="content-copyright">Studio Incendo | Flickr</span>
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<div class="rich-text"><p>Der Schmuggel von Atemmasken boomt. Deutschland untersagt in Folge die Ausfuhr medizinischen Materials und stoppt eine Fracht mit 240.000 Atemmasken an der Schweizer Grenze. Desinfektionsmittel sind ausverkauft und quasi nur mehr am Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu bekommen und in den Supermärkten war über Tage hinweg kein Klopapier zu haben.</p><p>An den Börsen massive Kursstürze, in vielen Ländern kommt das Alltagsleben zum Erliegen. Italien wird de facto als Ganzes unter Quarantäne gestellt und die <a href="https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/italien/">Reisewarnungen</a>, die andere Länder ausgeben, entsprechen in etwa denen für Kriegszonen. Seit gestern weiten sich die Vorsichtsmaßnahmen in Form von Universitätsschließungen, Veranstaltungsverboten und so weiter auch auf Deutschland, Österreich, die USA und weitere Staaten aus. Tausende Menschen verlieren in Folge ihre Arbeitsplätze, insbesondere in der Leiharbeit und prekärer „Selbständigkeit“.</p><p>Gleichzeitig: Rassistische Reaktionen auf als chinesisch wahrgenommene Personen, dann auch auf Menschen, die generell als „asiatisch“ oder „iranisch“ einsortiert werden. Menschen im Nahverkehr setzen sich absichtlich nicht zu Menschen aus vermeintlichen "Risikogruppen". Ein Niesen oder ein Husten in der Öffentlichkeit führt zu Streit und dem Aussetzen elementarer Solidarität. Was genau passiert da gerade? Wie gelang es einem Virus, die ganze Welt in Panik zu versetzen? Und was hat das mit dem Kapitalismus zu tun?</p><h2><b>Die Masken fallen</b></h2><p>Vertrauen wir auf die – unterschiedlichen – Modelle über die möglichen Ausbreitungsszenarien, wird die Ausbreitung des Virus <a href="https://orf.at/stories/3156304/">kaum noch aufzuhalten</a> sein. Die Frage ist nur, wie viele Menschen letztlich davon betroffen sein werden – und wie viele daran sterben. Umso länger sich die Ausbreitung des Virus herauszögert, umso eher lässt er sich aufgrund veränderter klimatischer Bedingungen (etwa der Sommerhitze in vielen Teilen der Erde) eindämmen. Gleichzeitig besteht die Hoffnung, dass rechtzeitig ein Impfstoff erfunden wird, um die Epidemie/Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Ein nicht unwahrscheinliches Szenario ist es aber dennoch, dass auch dieser Virus „mit uns bleiben“ wird, wie die anderen „üblichen“ Krankheiten, bakteriell oder viral. Der Grad der Integration der Gesellschaften im globalen Rahmen führt eben dazu, dass lokale Ausbrüche von infektiösen Krankheiten schnell zu globalen Epidemien führen können. 2009 schaffte es das H1N1 Virus <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">in</a> <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">neun Tagen über den Pazifischen Ozean</a>, obwohl Modelle von Monaten ausgingen. Und seit der SARS Pandemie 2003 hat sich etwa der Flugverkehr alleine in China verzehnfacht.</p><p>Was wir über das aktuell alle Berichterstattungen dominierende Virus wissen, ist, dass es eine Mutation der Coronaviridae ist, die auch schon für die als SARS und MERS bekannten Epidemien/Pandemien verantwortlich waren. Wenn wir uns epidemische Ausbrüche der letzten Jahre anschauen, dann handelt es sich meistens um Mutationen der Coronaviridae oder der Influenza (Vogelgrippe, Schweinegrippe und so weiter). Ebola, aus der Gruppe der Filoviridae, stellt eine Ausnahme dar. In allen Fällen kommt es irgendwann zu einer Übertragung vom Tier auf den Menschen.</p><p>Das neuartige Virus wird fachlich als SARS-CoV-2 bezeichnet, welches die Erkrankung namens Covid-19 auslöst. Es ist deshalb <a href="https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-covid-19-ansteckender-ist-als-sars-enorme-mengen-virus-im-oberen-rachenbereich/25588526.html">brandgefährlich</a>, weil Träger*innen – im Unterschied zu SARS oder ähnlichen Viren – schon ansteckend sind, bevor sie überhaupt Krankheitssymptome aufweisen. Das erschwert klarerweise die rechtzeitige Identifikation von Träger*innen enorm und ist ein wesentlicher Grund der raschen Ausbreitung. Über den Ursprung des Virus können wir bisher nur spekulieren. Allerdings: Auch bei diesem Virus ist eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/01/31/corinavirus-nature-fights-back/">kapitalistische Landwirtschaft und Massentierhaltung</a> die Entstehung und Verbreitung des Virus massiv gefördert haben. Zum einen schwächt die Abholzung großer Waldflächen die natürlichen Schranken von Wäldern gegen Übertragungen. <a href="https://climateandcapitalism.com/2020/01/29/coronavirus-a-deadly-result/">Kombiniert</a> mit der Suche nach immer „exotischeren“ Tieren zum kommodifizierten Verzehr – der Corona-Virus <i>könnte</i> im Markt von Wuhan für „exotische Tiere“ ausgebrochen sein – und der Auslagerung der Fleischproduktion auf fabrikmäßige Zulieferer an Waldrändern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich „Nutztiere“ neuartige Viren fangen und diese sofort übertragen. <a href="https://socialistreview.org.uk/455/what-makes-disease-go-viral">Andererseits</a> fördert die profitgetriebene Massentierhaltung die Entstehung und Verbreitung von Viren und Epidemien innerhalb des Tierreichs, da die Tiere nicht nur unter den brutalsten und unhygienischsten Bedingungen hochgezüchtet werden, was die Virenübertragung und -ausweitung extrem fördert, sondern aus „Effizienzgründen“ eine Monokultur bei der Züchtung bevorzugt wird, die zusätzlich eine Ausbildung von Resistenzen der Tiere verringert.</p><p>Gleichzeitig gibt es kaum Mechanismen, die einer wirklich weltumfassenden Pandemie angemessen wären und die koordinierte und effektive Maßnahmen im Sinne der Allgemeinheit treffen könnten. Zentraler Grund: Die medizinische Forschung ist im neoliberalen Kapitalismus genauso privatisiert wie der Gesundheitssektor. Das wirkt sich in massivem Umfang auf die Behandlung der Betroffenen aus. Italiens kaputtgesparter Gesundheitssektor ist schon jetzt <a href="https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-in-italien-wie-ein-tsunami-a-634be2c3-3666-434e-be74-44c6452e3690">komplett überlastet</a> und beschränkt funktionsfähig, <a href="https://taz.de/Zustaendigkeiten-beim-Coronavirus/!5667299/">Deutschland</a> ist hier <a href="https://www.tagesspiegel.de/berlin/besucher-der-trompete-risikopatient-wurde-vier-tage-nicht-auf-das-coronavirus-getestet/25631386.html">offensichtlich</a> <a href="https://twitter.com/FrlRottenmaier/status/1237443682606989312">nicht viel besser</a> gestellt, auch aus anderen Ländern werden Engpässe und Überlastungen gemeldet.</p><p>Die profitgetriebene, privatisierte medizinische Forschung führt dazu, dass <a href="https://www.theatlantic.com/health/archive/2020/02/covid-vaccine/607000/?fbclid=IwAR24oQFi1KW_030hGhGXHnw8j75mU8dTSCfFXblDfy9VGsXySahXKlFqQyg">Forschung und Produktion von Medikamenten und Impfungen</a> nicht im Sinne des Allgemeinwohls, sondern gemäß der Profitlogik getätigt werden. Viele Informationen werden nicht weitergegeben. Die Medikamente oder zumindest die Forschung dazu existiert am Ehesten noch dort, wo sie am Wenigsten gebraucht würde, um den wirklichen Ausbruch solcher Epidemien zu verhindern. Letztlich wird auch in der Pharmaindustrie nur dort geforscht und entwickelt, wo und wann es einen Profit verspricht. Dabei ist es bei Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie schon zu spät – Forschung, Aufklärung, Vorbereitung müssten schon längst zuvor organisiert und längerfristig geplant, Investitionen dauerhaft getätigt werden, wenn es denn daran gelegen wäre, möglichst viele Menschen vor einer epidemischen oder pandemischen Krankheit zu schützen und deren Effekte abzumildern. Die Kapazitäten hierfür hat die Menschheit schon längst – es ist die kapitalistische Logik, die ein solches Vorgehen verhindert. Denn Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln ist teuer und eine profitträchtige Nachfrage nach diesen Maßnahmen gibt es in kapitalistischen Verhältnissen nur, wenn eine Epidemie ausbricht, wenn es also schon zu spät ist. Und auch dann zählt das Geld.</p><p>Ein Interesse an einem effektiven Schutz, an einer Sorge für einen Großteil der Menschen gibt es im Kapitalismus aber nicht, auch nicht im Angesicht einer Pandemie. Am 10. März verkündete die EU-Kommission die Bereitstellung eines 25 Milliarden Euro Fonds zur Bearbeitung der „Corona-Krise“. Davon sollen immerhin <a href="https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_440">140 Mio. Euro</a> direkt in die Forschung gehen, die restlichen Milliarden sind dazu da, dass „die europäische Wirtschaft den Turbulenzen trotzen“ kann.</p><h2><b>Eine virale Krise des Sozialen</b></h2><p>Nachdem sich die Organisation erdölexportierender Länder<b> (</b>OPEC) und Russland Anfang dieser Woche nicht auf eine gemeinsame Förderbremse – wegen Corona-bedingtem Einbruch der Ölnachfrage Chinas – einigen konnten, wurde das Virus quasi zusammen mit dem massivsten Einbruch des Ölpreises seit 1991 Auslöser eines Kurssturzes an den Börsen weltweit. Die Wachstumsprojektionen der meisten Länder wurden für 2020 schon vor dem Einsturz des Ölpreises nach unten revidiert – <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">jetzt</a> werden die Prognosen noch düsterer. Die Entwicklungen führen die Fragilität der globalen kapitalistischen Gesellschaftsformation sehr deutlich vor Augen: Die Weltwirtschaftskrise 2007-08ff. ist eben nur oberflächlich „überwunden“ worden. Ein vergleichsweise zufällig losgetretenes Ereignis reicht womöglich, um erneut eine ausbuchstabierte Weltwirtschaftskrise vom Zaun zu brechen.</p><p>Andererseits: Keineswegs sind alle Menschen gleich vom Virus betroffen. Während nun „Konjunkturpakete“ für „die Wirtschaft“ – lies: die Kapitalist*innen – herausposaunt werden, regnen keine „Sozialpakete“ für den Großteil der Werktätigen. Schon jetzt wurden zahllose Messen abgesagt – und damit das Einkommen zahlloser Arbeiter*innen, die ohne Verträge oder „auf Honorarbasis“ angestellt sind, vernichtet. Alle, die können, sollen<i> home office</i> machen, heißt es; in Deutschland kann man sich per Bildaufnahme seines Krankenausweises aus der Ferne eine Krankheitsbescheinigung für die Arbeit ausstellen lassen. Welch Fürsorge! Aber was ist mit denen, die prekär oder informell arbeiten? Was ist mit prekär selbstständigen Kulturarbeiter*innen, jetzt, wo viele Kulturveranstaltungen abgesagt sind? Was ist mit prekären Übersetzer*innen, Akademiker*innen, Leiharbeiter*innen? Was sollen diejenigen machen, die sich Ausfälle an Arbeitstagen oder medizinische Diagnosen in Ländern mit noch krasser privatisierten Gesundheitssystemen wie den USA nicht leisten können? Die große Politik schweigt.</p><p>In Italien sind <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1237447577144119299">landesweit</a> Arbeiter*innen in Streik getreten, weil nicht genügend Sicherheits- und Gesundheitsmaßnamen im Sinne der Arbeiter*innen getroffen werden; in und um über 25 <a href="https://twitter.com/redfishstream/status/1237433635265019905">Gefängnissen</a> brachen Aufstände aus, weil den Angehörigen der Kontakt verweigert wird – es gibt schon <a href="https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-italy-prisons/six-dead-as-coronavirus-measures-trigger-prison-riots-across-italy-idUSKBN20W1JP">Tote</a>. Das <a href="https://dso.college.harvard.edu/coronavirusfaq">Harvard College</a> ruft alle Studierenden dazu auf, innerhalb von fünf Tagen ihre Schlafsäle und Campus-Wohnungen zu verlassen, alle Kurse finden nur mehr online statt. Zur Frage danach, wie das Studierende, die kaum Geld oder andere Unterkünfte zur Verfügung haben, organisieren sollen, heißt es lapidar: „It may take some time before financial issues are settled.“ Auch in Deutschland und Österreich werden immer mehr Schulen geschlossen – welche Eltern können sich<i> home office</i> oder Abwesenheit von der Arbeit leisten, um sich um die Kinder zu kümmern?</p><h2><b>Solidarische Perspektiven in Zeiten von Corona</b></h2><p>Während sich das Virus derzeit noch exponentiell steigend ausbreitet, haben das kapitalistische System und seine politische Verwaltung bisher nicht viel mehr zu bieten als kaputtgesparte Gesundheitsinfrastruktur sowie recht grobe und ziellose Quarantäne-Maßnahmen und „Verhaltensempfehlungen“, die eine weitestgehende Individualisierung der Folgen beinhalten. Ausgenommen natürlich die „Unternehmer*innen“, um die sorgt man sich ganz besonders.</p><p>Die Bevölkerung selbst soll sich voneinander fernhalten – außer bei prekären Jobs, und auf dem Weg dorthin in überfüllten Nahverkehrsmitteln. Sogar die <a href="https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/advice-for-public">WHO</a>, immerhin eine der größten und wichtigsten internationalen Gesundheitsorganisationen, empfiehlt neben dem Händewaschen die soziale Distanzierung. Wer kann, der isoliere sich, der Rest desinfiziere eben die Hände – falls Desinfektionsmittel noch erschwinglich zu bekommen sind. Was dieses Drängen auf soziale Isolation gerade im Kontext von Care-Arbeit mit älteren Menschen oder mit Menschen mit anderen Erkrankungen bedeuten wird, in Zeiten von Vereinsamung vieler Menschen – all dies wird sich erst mit der Zeit zeigen.</p><p>Die kapitalistische Medienlogik – <i>sex sells</i>,<i> panic sells</i>,<i> spectacle sells</i> – macht mit, es herrscht ein Informationschaos, dessen Ausmaße oszillieren zwischen exzessiver Panikmache – „Die meisten von uns werden erkranken, viele Junge und Alte werden sterben!“ – und Derailing – „eine normale Influenza ist viel gefährlicher, die meisten Menschen werden kaum mal leichte Symptome haben!“. Stimmen, die hier auf die Marginalisierten, die Menschen mit chronischen Erkrankungen, die Menschen in sehr prekären Arbeitsverhältnissen ohne Kündigungsschutz und so weiter hinweisen, bleiben weit dahinter zurück. Im Gegenteil: Ihnen dröhnt noch rechte Geiferei entgegen. Der neurechten Internationalen in den USA, Italien, Frankreich, der Schweiz, Spanien, <a href="https://www.nbcnews.com/news/world/coronavirus-used-european-populist-right-challenge-e-u-open-borders-n1149491">Ungarn</a>, <a href="https://www.tagesspiegel.de/politik/video-mit-pistolenschuss-wie-rechte-das-coronavirus-zur-hetze-gegen-fluechtlinge-benutzen/25625008.html">Deutschland</a> und Österreich <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/28/coronavirus-outbreak-migrants-blamed-italy-matteo-salvini-marine-le-pen">schäumt schon der Mund</a>: die Geflüchteten, die Chinesen, die Afrikaner – Danke Merkel, GRENZEN ZU!!!</p><p>Wir als Linke müssen gegen diesen kapitalistische Bankrottpolitik gegenüber dem Sozialen und dem Versuch der reaktionären Kapitalisierung angesichts der Corona-Krise entschieden entgegentreten und klarmachen: In der heutigen neoliberalen Welt ist die Entstehung viraler Pandemien durch kapitalistischen Raubbau und Massentierhaltung viel wahrscheinlicher geworden; ihre Ausweitung hingegen geht aufgrund der Globalisierung viel schneller vor sich. Daran hat aber wiederum nicht eine abstrakte „Globalisierung“ Schuld. Der Hund <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2020/03/05/disease-debt-and-depression/">liegt darin</a> begraben, dass es im neoliberalen Weltkapitalismus einfach kaum präventive Maßnahmen und Vorbereitungen für den Umgang mit solchen Pandemien im Sinne des Allgemeinwohls gibt, da sie aus der Perspektive privatisierter Pharmaindustrien und Gesundheitssysteme nicht profitabel sind. Das gilt für die jetzige Corona-Krise genauso wie für die weltweite Klimakrise. Nach dieser Logik fordert auch der Multimilliardär Bill Gates <a href="https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2003762">jetzt massive öffentliche Investitionen</a> und die teilweise Aussetzung kapitalistischer Marktlogiken, um dem Virus beizukommen. Was er freilich nicht sagt: Dass es genau Menschen wie er waren, die zu der aktuellen Krise und zur stetigen Kommodifizierung des Gesundheitssektors und aller anderen Gesellschaftssphären beigetragen haben.</p><p>Kurzfristig müssen wir alles Erdenkliche dafür tun, dass auch diese Krise des Kapitalismus, die wortwörtlich eine virale ist, nicht auf dem Rücken der Vulnerabelsten und Schwächsten – (prekäre) Arbeiter*innen, <a href="https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/arbeitende-rentner-sind-am-gefaehrdetsten">Rentenaufstocker*innen</a>, Frauen*, <a href="https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/02/27/Coronavirus-Iran-refugees-IDPs-Italy-Europe-disease">Refugees</a>, chronisch Kranke, behinderte Menschen – ausgetragen wird. Es muss Sozial- und Sorgepakete statt Konjunkturpakete geben; dafür zahlen müssen die, die das Geld haben; keine Prekäre oder Reproduktionsarbeiterin darf die Lasten alleine tragen, es müssen soziale Sorgemechanismen und Auffangnetze eingefordert und organisiert werden. Mittel- und langfristig müssen wir auf eine Revolutionierung der Gesundheitssysteme und der Pharmaindustrie, und nicht zuletzt von Landwirtschaft und Tierhaltung drängen: Weg von einer Profitorientierung hin zu einer Gemeinwohlorientierung. Nur die Perspektive und Organisation einer solchen antikapitalistischen und internationalen Solidarität wird auch letztlich den dunklen Horizont neurechter Hetze und Menschenverachtung dorthin verfrachten, wohin er hingehört – auf den Müllhaufen der Geschichte.</p></div>
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