re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?tags=10132020-04-06T09:32:01.810622+00:00Wir wollen unsere Rechte – kollektive Regularisierung jetzt!2020-04-06T08:32:34.377706+00:002020-04-06T09:32:01.810622+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wir-wollen-unsere-rechte-kollektive-regularisierung-jetzt/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Wir wollen unsere Rechte – kollektive Regularisierung jetzt!</h1>
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<div class="rich-text"><p>Während sich die Gesundheitskrise aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus immer mehr in eine tiefe soziale Krise verwandelt, wird uns klar, dass – sobald diese Notlage vorbei ist – viele Dinge nicht mehr so funktionieren können wie bisher.<br/> Der Abbau des Gesundheitssystems – vorangetrieben durch die in den letzten zwei Jahrzehnte durchgeboxten Spar- und Privatisierungmaßnahmen – hat dazu geführt, dass die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen heute ohne Spenden von Privatpersonen und ohne den freiwilligen Einsatz von Tausenden von Gesundheitsarbeiter*innen nicht funktionieren und die Notlage, in der wir uns befinden, nicht bewältigen können.</p><p>Aufgrund des Angriffs auf die Rechte und die Gesundheit der Arbeiter*innen und aufgrund des Primats der Unternehmen, unter allen Umständen produzieren zu müssen, sind es die Arbeiter*innen, die den Preis dieser Krise bezahlen – und das ist nicht selten ihr Leben. In dieser Notsituation hat der Mangel an individuellen Schutzdispositiven (<i>dispositivi di protezione individuale</i>) und Sicherheitsmaßnahmen die Ausbreitung des Virus an den Arbeitsplätzen beschleunigt und zu Toten geführt (Briefträger*innen, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen des öffentlichen Verkehrs, Supermarktkassierer*innen, Logistikarbeiter*innen, Arbeiter*innen in Call Center) – Tote, die zu den mehr als 1.200 Arbeitstoten hinzukommen, die Italien jedes Jahr auch in Zeiten der „Normalität“ zählt.</p><p>Dass nichts so sein kann, wie es bisher war, zeigen auch die Hunderttausenden von Migrant*innen und Geflüchteten, deren Rechte in den letzten Jahrzehnten zu Krümeln reduziert wurden; die Migrationspolitik hat Bürger*innen zweiter und gar dritter Klasse hervorgebracht. Die <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">offiziellen Daten</a> sprechen eine klare Sprache: In Italien leben heute schätzungsweise 611.000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung; eine Zahl, die seit der Einführung der Sicherheitsverordnungen des ehemaligen Innenministers und Lega-Chefs Matteo Salvini stark gestiegen ist. Heute treten diese Probleme mehr denn je an die Oberfläche, es ist Zeit zu handeln.</p><h2><b>Die Lebensmittelversorgung: Ohne migrantische Arbeiter*innen wird nicht gegessen</b></h2><p><a href="https://www.ilsole24ore.com/art/acquisti-gdo-rialzo-27percento-terza-settimana-quaratena-ma-si-teme-il-periodo-pasquale-ADXICxH">Nach Angaben</a> der Zeitung des Unternehmensverbandes <i>Confindustria, Il Sole 24 Ore</i>, erleben die Supermärkte derzeit einen Anstieg der Inlandsnachfrage von 20 Prozent, wobei auch die Nachfrage aus dem Ausland im selben Ausmaß zunimmt. Doch während die großen Einzelhandelsunternehmen inmitten der gesundheitlichen Notlage und der ökonomischen Krise ihre Gewinne steigern, zahlen die rund 350.000 Landarbeiter*innen den Preis dafür; <a href="https://mediciperidirittiumani.org/medu/wp-content/uploads/2019/10/rap_ottobre_medu_2019_web.pdf">nach Angaben</a> von <i>Ärzt*innen für Menschenrechte</i> arbeitet weniger als die Hälfte der Landarbeiter*innen mit einem regulären Arbeitsvertrag.</p><p>Die migrantischen Landarbeiter*innen – die sogenannten <i>braccianti</i> – lebten und arbeiteten schon vor der aktuellen Corona-Krise unter prekären Verhältnissen. Ihre Lage ist determiniert von einer Gesetzgebung, die den arbeitenden Migrant*innen keinen automatischen Zugang zur Aufenthaltsbewilligung und somit zu den nationalen Sozial- und Gesundheitsdiensten gewährt. Ihre papierlose Existenz hat sich nun jedoch aus mindestens zwei Gründen weiter prekarisiert:</p><ol><li>Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit verunmöglicht es ihnen, in die Regionen Italiens zu reisen, in denen die frühjährliche Obst- und Gemüseernte beginnt (in Apulien für Tomaten, im Piemont für Äpfel usw.);<br/></li><li>In den verschiedenen Zeltlagern entlang der Felder (Arbeitsorte) herrschen Unterbringungsbedingungen, die es ihnen nicht erlaubt, sich vor einer Covid-Ansteckung zu schützen: kein fließendes Wasser, infrastrukturelle Unmöglichkeit, sichere Abstände einzuhalten, und so weiter.</li></ol><h2><b>Care-Arbeiter*innen: Von einem Tag auf den anderen arbeits- und obdachlos</b></h2><p>Ähnliche Probleme haben die Care-Arbeiter*innen, die sich täglich um die Hausarbeiten und um die älteren Menschen unserer Gesellschaft kümmern. Die Alterung der Gesellschaft und die Entscheidung des Staates, die Last der Pflege, die die älteren Menschen benötigen, nach dem Diktat der liberalen Ideologie auf die Familien und nicht auf den öffentlichen Wohlfahrtsstaat zu verlagern, haben zur Bildung einer Armee von Care-Arbeiter*innen geführt: Nach den <a href="https://associazionedomina.it/wp-content/uploads/2020/02/Inps_lavoro-domestico_giugno2019.pdf">jüngsten Daten</a> gibt es etwa rund zwei Millionen Care-Arbeiter*innen, von denen weniger als die Hälfte (etwa 865.000) einen regulären Arbeitsvertrag besitzen und die große Mehrheit Frauen aus Osteuropa sind.</p><p>Die Blockade des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und die Angst vor der Verbreitung des Virus unter den älteren Menschen hat zur sofortigen Entlassung der Care-Arbeiter*innen geführt. Während die letzte Verordnung der Regierung einen sozialen Mindestschutz für einige reguläre Care-Arbeiter*innen vorsieht, wurden irreguläre Arbeiter*innen nicht nur von der Maßnahme ausgeschlossen, sie verloren auch von einem Tag auf den anderen Job und Unterkunftsmöglichkeiten.</p><h2><b>Eine globalisierte Wirtschaft: die Bedeutung der finanziellen Unterstützung ins Heimatland</b></h2><p>Die Auswirkungen dieser sozialen Krise beschränken sich nicht nur auf das tägliche Leben der Arbeiter*innen in Italien, sondern betreffen auch die Herkunftsländer der Migrant*innen. <a href="https://www.bancaditalia.it/statistiche/tematiche/rapporti-estero/rimesse-immigrati/">Nach Angaben</a> der italienischen Nationalbank <i>Banca d'Italia</i> belaufen sich die Geldüberweisungen der in Italien lebenden Migrant*innen an ihre Familien im Herkunftsland auf über sechs Milliarden Euro jährlich; in einigen Fällen können diese Beträge bis zu 35 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts der Länder ausmachen.<br/> Es ist kein Zufall, dass die ersten Zielländer dieser Überweisungen die Herkunftsländer derjenigen Migrant*innen sind, die Obst und Gemüse auf den Feldern sammeln und sich um die Hausarbeit und um die älteren Menschen kümmern: China, Bangladesch, Rumänien, Philippinen, Pakistan, Senegal, Marokko, Sri Lanka.</p><p>Die Schwierigkeiten, die die Wirtschaften und Familien in den Ländern des Südens bereits heute haben, werden sich somit verschärfen. Die Verlangsamung und sogar die völlige Schließung ganzer Wirtschaftszweige, in denen Migrant*innen einen wichtigen Teil der Arbeitskräfte ausmachen, wird direkte Auswirkungen auf die andere Seite der Welt haben. Dies beweist uns einerseits die unvermeidliche Vernetzung der globalisierten Wirtschaft, führt jedoch andererseits auch zu mehr Hunger und Armut im globalen Süden.</p><h2><b>Leben in den Asylcamps und Rückführungen</b></h2><p>Ebenso problematisch ist die gesundheitliche und soziale <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">Situation der offiziellen Asylsuchenden</a>. Heute befinden sich etwa 95.000 Geflüchtete in den Asylcamps und 50.000 warten auf den Asylentscheid. Die kollektiven Unterbringungsbedingungen in den Asylcamps entsprechen in den meisten Fällen nicht den Vorgaben der Regierung, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen: Kollektive Schlafräume von bis zu zehn Personen, infrastrukturelle Unmöglichkeit, positiv getestete Personen zu isolieren, unzureichende Wasser- und Sanitäranlagen.</p><p>Und obwohl die Europäische Union den freien Personenverkehr mit der Schließung der jeweiligen Landesgrenzen vorübergehend ausgesetzt hat, bleibt das System der Rückführungen in die Länder des Südens vorerst unberührt. Unter der aktuellen Regierung von Premierminister Giuseppe Conte werden monatlich 600 Rückführungen durchführt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, warnte die Mitgliedstaaten, <a href="https://www.agensir.it/quotidiano/2020/3/26/coronavirus-covid-19-consiglio-deuropa-migranti-e-rimpatri-richiesti-interventi-demergenza/">Rückführungen zu stoppen</a> und für die betroffenen Migrant*innen wegen des fehlenden Gesundheitsschutzes in den Abschiebungscamps eine Lösung zu finden. Bisher hat sich die italienische Regierung jedoch nicht um diese Problematik gekümmert.</p><h2><b>Kollektive Regularisierung jetzt!</b></h2><p>Die gesundheitliche und soziale Notlage, in der wir heute leben, erfordert wichtige politische Maßnahmen für Migrant*innen und Geflüchtete. Bisher wurden sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die Sicherung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, sondern auch um den Schutz der kollektiven Gesundheit. Deshalb fordern wir von der Politik:</p><p>1. Die kollektive Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten, die heute ohne Aufenthaltsbewilligung auf italienischem Territorium leben und arbeiten; diese soll durch ein vereinfachtes und außerordentliches Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltspapiere auf kommunaler Ebene erfolgen;</p><p>2. Außerordentliche sozialstaatliche Geldleistungen für alle migrantischen Arbeiter*innen (unabhängig vom rechtlichen Status), die aufgrund des Covid-19-Notstands ihre Arbeit verloren haben;</p><p>3. Die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit (freier Zugang zu ärztlichen Untersuchungen, Covid-Tests und medizinischen Behandlung) und Schutzmaßnahmen für migrantische Arbeiter*innen und Geflüchtete, die bei der Arbeit und in den Asylcamps am stärksten der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind;</p><p>4. Die Gewährleistung des Rechts auf Wohnung durch die Bereitstellung von Unterkünften, die aufgrund des Rückgangs des Tourismus leer stehen, von staatseigenem Eigentum und von leeren Häusern für Obdachlose und Migrant*innen, die bisher dazu verdammt sind, in überfüllten Zeltlagern und Asylcamps zu leben.</p><p>Die Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten ist die einzige Möglichkeit, heute die kollektive Gesundheit und morgen die Grundrechte aller Menschen zu garantieren.</p><p></p><hr/><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Dieser Text ist auf italienisch</i> <a href="https://poterealpopolo.org/e-tempo-di-diritti-regolarizzazione-ora/"><i>hier</i></a><i> erschienen. Übersetzung von der re:volt Redaktion.</i></p></div>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
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Goldgrube Balkan: Kontinuitäten des deutschen Imperialismus [Teil 2]2019-12-21T09:00:29.337395+00:002019-12-21T12:18:47.793748+00:00Christian Schwartz und Viktor Miličredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/goldgrube-balkan-kontinuit%C3%A4ten-des-deutschen-imperialismus-teil-2/
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<h1>Goldgrube Balkan: Kontinuitäten des deutschen Imperialismus [Teil 2]</h1>
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<div class="rich-text"><p><i>Der Balkan ist eine Region, die Begehrlichkeiten weckt. Gerade politische und wirtschaftliche Interessen (aufstrebender) imperialer Mächte versuchen dort Fuß zu fassen. Eine bedeutende Rolle nehmen die deutschen imperialistischen Interessen ein. Im vergangenen Artikel haben wir die Kontinuitäten dieser Interessen und Politik nachgezeichnet, die zur Wahrung notfalls mit Waffenlieferungen und aktiver Kriegsführung durchgesetzt wurde. Serbien stand dabei lange im Fokus deutscher Außenpolitik. Nachdem das Land lange als „renitent“ galt, stark an Russland orientiert war und nicht an geostrategische Interessen der EU gebunden werden konnte, vollzieht sich ein Wandel. Neoliberale, pro-westliche Kräfte gewinnen seit längerer Zeit an Einfluss und öffnen das Land für EU-Politik, NATO & Co. Teile der serbischen Oligarchie werben mit dem Versprechen von Wohlstand durch eine forcierte Anbindung an die EU und ihren Wirtschaftsraum. Währenddessen sehen sich Arbeiter*innen mit ökonomischen Gefahren und sozialem Abstieg konfrontiert.</i></p><h3><b>NATO- und EU-Ostpolitik im Interesse des Kapitals</b></h3><p>Die NATO unter deutscher Beteiligung schafft Fakten, um die seit dem sogenannten „Jugoslawien-Krieg“Anfang der 1990er Jahre entstandenen Balkan-Staaten auch nachhaltig in der eigenen Einflusssphäre halten zu können. Seit Anfang 2000 sind Slowenien, Kroatien und Montenegro dem Kriegsbündnis beigetreten. Bosnien-Herzegowina und Nord-Mazedonien werden als baldige Beitrittskandidaten gehandelt, während der Kosovo ebenfalls Interesse an einem Beitritt bekundete. Neben der geostrategischen Frontstellung gegenüber einem möglichen russischen Einfluss, gehören bei geplanten EU-Neuaufnahmen so genannte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) zur politischen Bündnispolitik der EU. Sämtliche Balkan-Staaten hatten zwischen 2004 und 2016 solche Abkommen geschlossen. Deutschland als inzwischen ökonomisch stärkste Kraft in der EU, hat dabei ein besonderes Interesse, neue Kapitalmärkte durch die Beitrittsverhandlungen zu erschließen. Dabei werden vor allem der Warenexport in neue Absatzmärkte, die Vernichtung der verbliebenen Konkurrenz-Unternehmen, sowie die Erschließung weiterer Niedriglohnländer für die Produktion, im Fokus stehen. Freier Kapital-, Arbeits- und Dienstleistungsverkehr sind unter anderem bedeutender Inhalt der Abkommen, die für eine verstärkte Entfesselung nicht-regulierter Wirtschaftspolitik ganz im Sinne des europäischen Kapitals stehen. Dass dies nur zu Lasten der nicht konkurrenzfähigen Unternehmen in den Balkanstaaten und ihrer Arbeiter*innen gehen kann, versteht sich von selbst.</p><h3><b>Die EU als Glücksversprechen</b></h3><p>Auch Serbien, welches sich lange gegen einseitige politische und militärische Bündnisse mit dem Westen verwahrte, gerät zusehends unter westlichen Einfluss. 2013 trat dort das SAA in Kraft und festigte neben der Westanbindung auch den wirtschaftsliberalen Kurs. Der amtierende Präsident Aleksandar Vučić von der Serbischen Fortschrittspartei spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Fortschrittspartei, 2008 aus der ultra-nationalistischen Serbischen Radikalen Partei hervorgegangen und mit dem konservativen Bündnis „Europäischen Volkspartei (EVP)“ europaweit vernetzt, steht für die Verquickung nationalistischer Inhalte mit klar neoliberaler Agenda. Die Partei mit ihrem Parteivorsitzenden Vučić verkörpert als neoliberale Hardlinerin die Interessensvertreterin der EU in Serbien. Während das Credo des Wirtschaftswachstums und der vermeintlichen Segnungen eines EU-Beitritts seitens der Regierung als Glücksversprechen aller Serb*innen gepredigt wird, kommt bei Arbeiter*innen davon kaum etwas an. Sparpolitiken und die beschriebene Vernichtung ganzer Industriesektoren haben Arbeitskräfte freigesetzt und zur Abwanderung gezwungen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben hunderttausende Arbeiter*innen das Land verlassen. Weiterhin suchen jährlich zehntausende Arbeiter*innen in der EU, auch in Deutschland, nach besser bezahlter <a href="https://www.dw.com/de/serben-auf-gepackten-koffern/a-47918688">Lohnarbeit</a>. Hinzu kommen die <a href="https://www.derstandard.de/story/2000104890638/die-misere-in-serbien-liegt-beim-staat">Kürzungen von Löhnen</a> der Beamt*innen, sowie eine durch Kürzungen von Pensionen grassierende Altersarmut. Das Bruttoinlandsprodukt Serbiens deckt sich nur zu 37 Prozent mit der durchschnittlichen Leistung aller EU-Staaten zusammengerechnet. Damit sind folgerichtig auch die Löhne verbunden, die in Serbien bei durchschnittlich knapp über 400 Euro liegen. Ein Aufenthalt im europäischen Ausland ist für serbische Arbeiter*innen kaum zu finanzieren, die eigenen Lebenshaltungskosten bringen sie bereits an die maximalen Belastungsgrenzen.<br/><br/>Der Schwebezustand zwischen dem Status EU-Beitrittskandidat (seit 2013) und der Aufrechterhaltung politischer und wirtschaftlicher Beziehungen zu Russland birgt jedoch Herausforderungen. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Kapitalfraktionen in Serbien, die mit der EU und Deutschland eng verknüpft sind. Denn auch Russland betrachtet das Land als Standbein in der Region und zieht es mit wirtschaftlich bedeutenden Verträgen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Brust. Neben der Sanierung von Infrastruktur soll Serbien in den Genuss des russisch-türkischen <a href="https://taz.de/Russischer-Praesident-in-Serbien/!5566426/">Gaspipeline-Projektes</a> „Turk Stream“ kommen. Das Pendeln zwischen Russland und der EU unter deutscher Führung bleibt für die serbische Regierung daher konfliktträchtig. Gleichzeitig wird allerdings für die serbischen Arbeiter*innen keine der beiden Optionen ökonomisch von Vorteil sein. Das EU-Projekt „Balkan“ dient nicht zuletzt als wichtiges geostrategisches Bollwerk gegenüber dem Einfluss des russischen Imperialismus und sichert die eigenen Interessen gegenüber dem Kreml ab. Viele Staaten auf dem Balkan bekommen so den Status von NATO-Frontstaaten gegenüber anderweitiger russischer, chinesischer oder arabischer Einflussnahme. Deutsche politische Stiftungen, beispielsweise die <a href="https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=8fd66199-2cdf-8843-1782-cf46aca32a80&groupId=252038">Konrad-Adenauer-Stiftung</a>, die traditionell mit großen Kapitalverbänden liiert ist, beobachten die imperialistische Konkurrenz genau und wittern Verteilungskonflikte.<br/></p><p>Diverse Kapitalfraktionen befinden sich in Serbien in Konkurrenz miteinander. Neben den Begehrlichkeiten europäischer und russischer Unternehmen mischen nun verstärkt auch arabische und chinesische Unternehmen mit. Die größte serbische Fluggesellschaft Air Serbia wird bereits von Etihad Airways aus den Emiraten mit Kapital versorgt und stellt so auch den kontinuierlichen Waren- und Personentransport zwischen beiden Staaten sicher. Ebenso das größte Luxus-Bauprojekt im Land, die sogenannte „Belgrade Waterfront“, wird von Investor*innen aus den Emiraten maßgeblich finanziert und zusammen mit der serbischen Regierung umgesetzt. Während Armut in der Hauptstadt allgegenwärtig ist, werden für ca. 3,5 Milliarden Dollar hochpreisige Eigentumswohnungen und die größte Shopping Mall in Südosteuropa errichtet. Die Quadratmeterpreise für renditegierige Investor*innen liegen bei bis zu 7000 Euro. Zum Vergleich: der Durchschnittslohn der an der Konstruktion beteiligten Bauarbeiter*innen liegt bei 422 Euro monatlich. Die serbische Oligarchie verdient an diesem absurd erscheinenden Projekt kräftig mit. Gleichzeitig leiden die beschäftigten Arbeiter*innen unter schlechten Arbeitsbedingungen und ausbleibenden Löhnen. Mangelnde Arbeitssicherheit verursachten des Öfteren tödliche Arbeitsunfälle. Diverse Vorwürfe wegen der Veruntreuung von Geldern, wegen Klientelismus und Korruption, aber auch der Bedrohung, das internationale Kapital könne Belgrads Innenstadt einen normierten, gesichtslosen Ausdruck verpassen und weitere Gentrifizierung begünstigen, riefen daher zahlreiche Proteste hervor. Ihr Slogan: „Ne Da(vi)mo Beograd“ – Wir geben Belgrad nicht her. Um das „Investitionsklima“ in Serbien nicht weiter zu gefährden und entschlossen gegen soziale Proteste vorzugehen, diskreditierten regierungsnahe Medien und Präsident Vučić die Demonstrant*innen als <a href="https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/ostblogger/belgrad-protest-gegen-waterfront-100.html">„vom Ausland gesteuert“</a>. Doch die seit 2018 immer wieder aufkommenden lauten Straßenproteste bringen die Regierung in Bedrängnis.<br/></p><h3><b>Nationalistische Tendenzen und linke Perspektiven</b></h3><p>Mit Blick auf imperialistische Einflussnahmen zeichnet sich insgesamt ein tragisches Bild des Balkans. Eine wichtige Rolle nehmen deutsche ökonomische Vormachtsfantasien ein, die sich neben geostrategischen Interessen vor allem auf die Mithilfe nationaler Eliten stützen. Trotz, oder gerade wegen des gegenseitigen, ethnisierten und kulturalisierten Misstrauens unter den ehemaligen Republiken Jugoslawiens, platziert sich das deutsche Kapital und seine politischen Lobbyist*innen gezielt in der Region und verspricht Prosperität für alle. Statt des „Wohlstands für alle“ und den Märchen von „blühenden Landschaften“ sehen wir allerdings eher eine Verarmungen der Massen und eine galoppierende Zerstörung von sozialen Rechten und Arbeitsrechten. Ganz bewusst empfiehlt das deutsche Kapital politische Bedingungen, um Arbeiter*innen „freizusetzen“, sie „wegzusparen“, um die Konkurrenz der Arbeiter*innen untereinander zu verstärken und die Gewerkschaften und das Arbeitsrecht zu schwächen. Die damit erzeugte Armut kann infolge dessen für das Wohl des Standortes Balkan und seiner Profiterwartungen ausgeschlachtet werden. [1] Die deutschen Aktionäre und Anteilseigner*innen danken.</p><p>Das Beispiel Serbiens zeigt, wie eine fortschreitende Westanbindung und Neoliberalisierung mit der Delegitimierung und Verdrängung sozialistischer Alternativen Hand in Hand gehen muss. Das sozialistische Erbe ist für pro-westliche Eliten nur ein Gedanke, der von „Jugo-Nostalgiker*innen“ bedient wird. Die von rechts forcierte Abwertung der sozialistischen Vergangenheit und seiner beachtlichen, wenn auch widersprüchlichen, Leistungen – beispielsweise soziale Sicherheiten oder Arbeiter*innenselbstorganisation zu Anfang des sozialistischen Jugoslawiens – spiegelt sich ebenso in der Umbenennung von Straßennamen und antifaschistischer Symbole, wie der Verwahrlosung von Partisan*innen-Denkmälern wieder. Nichts soll daran erinnern, dass der Zugriff kapitalistischer und imperialistischer Interessen auf die Bevölkerung einmal stark reguliert war und gar seine Überwindung angestrebt wurde. Parallel dazu werden auf Staatsebene nationalistische Narrative wiederbelebt und nationale Gründungsmythen geschaffen. In Kroatien wird von rechts die faschistische Kollaborationsbewegung „Ustascha“ als „ehrenwerter“ antikommunistischer Mythos bemüht. In Serbien wurde die Bewegung der Teschetniks, eine völkische und antikommunistische Bewegung im Zweiten Weltkrieg, als eine „genuin serbische“ Legende populärer und ist überall anhand von zu verkaufenden Devotionalien präsent.<br/></p><p>Die Linke auf dem Balkan ist marginalisiert, wenngleich sie sich in den Metropolen von Zagreb (Kroatien) bis nach Novi Sad und Belgrad (beide Serbien) inzwischen breiter aufstellt. Antifaschistische, antirassistische, feministische und stadtteilpolitische Initiativen und Gruppen entstehen. In Gesprächen mit Genoss*innen in Belgrad oder Zrenjanin wird deutlich, dass generationsübergreifend ein positiver und dennoch nicht gänzlich verklärender Bezug zum sozialistischen Jugoslawien anhält. Diese noch nicht verblassten Erinnerungen an eine sozialistische Alternative sind immer noch ein wichtiger Steigbügelhalter für linke Inhalte. Gerade am Beispiel der „Recht auf Stadt“-Bewegungen kann ein kritischer und solidarischer Rückgriff auf die Vergangenheit helfen, die Frage nach Wohnraum jenseits neoliberaler Interessen sozialistisch anzugehen. Die großteils junge, klassenkämpferische „neue“ Linke im post-jugoslawischen Raum benötigt internationale Solidarität. Insbesondere auch aus Deutschland. Dem herrschenden, deutschen Verständnis der „Goldgrube Balkan“ muss die Maske des „friedensbemühten, wohlstandsorientierten“ Deutschlands genommen werden. Auch der Balkan dient, wie andere Regionen der Welt, als Laboratorium imperialistischer und neoliberaler Politik, welche aus dem „Herzen der Bestie“ (Che Guevara), den Zentren der kapitalistischen Metropolen, gewalttätig exportiert wird. Dazu benötigt es hierzulande einen Fokus auf die destruktive und kriegstreiberische Rolle Deutschlands bei der Anfeuerung der regionalen Kriegsmaschinerien, sowie der Filetierung des Balkans zugunsten deutscher sicherheitspolitischer, machtpolitischer und ökonomischer Interessen.</p><p></p><hr/><p></p><p><i>Diese zweiteilige Artikelreihe erscheint im Nachgang der Bildungsreise „Geschichte und Gegenwart (Ex-) Jugoslawiens, die im September 2019 stattfand. Die Bildungsreise wurde von</i> <a href="https://www.praxis-reisen.org/"><i>Praxis Reisen</i></a> <i>organisiert. Der </i><a href="https://revoltmag.org/articles/goldgrube-balkan-kontinuitäten-des-deutschen-imperialismus-teil-1/"><i>erste Teil</i></a><i> erschien am 19. Dezember 2019.</i><br/></p><p><b>Anmerkungen:</b><br/></p><p><b>[1]</b> Zschächner, Roland: In deutscher Umklammerung, in: Hintergrund, 03/2019.</p></div>
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