re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?author=442018-06-24T16:07:28.199786+00:00Ein Freiluftgefängnis am Rande Europas2018-06-24T16:07:28.199786+00:002018-06-24T16:07:28.199786+00:00Eleni Triantafyllopoulou und Nikos Manavisredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-freiluftgef%C3%A4ngnis-am-rande-europas/
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<h1>Ein Freiluftgefängnis am Rande Europas</h1>
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<div class="rich-text"><p>Am 14. Juni 2018 versuchte ein junger Refugee arabischer
Herkunft, sein Leben vor den Augen der Menschen zu beenden, die am zentralen
Hafen von Mytilini vorbeikamen. Er wurde von anderen Migrant_innen gerettet. Sie
schafften es, einzugreifen und den jungen Mann noch rechtzeitig ins Krankenhaus
zu bringen. Der junge Refugee hielt die faktische Gefangenschaft
und die tragischen Lebensbedingungen im Flüchtlingslager Moria nicht mehr aus.
Zwei Jahre nach dem EU-Türkei-Deal ist die Zahl der Migrant_innen auf der Insel
Lesbos immer weiter gestiegen. Es wird geschätzt, dass mehr als 8000 Menschen
derzeit in dem Lager in Moria eingepfercht sind: Die Nummer der Neuankommenden
steigt täglich, was die Situation in dem Internierungslager immer weiter
erschwert.</p>
<h2><b>Andauernde Angriffe in Moria</b></h2><p>
Morias Internierungslager wird von den Refugees als Platz beschrieben, der
schlimmer ist als die Hölle. Aufgrund des eingesperrt-Seins gemeinsam mit Tausenden
von anderen Menschen treten auch innerhalb des Camps täglich gewalttätige
Konflikte auf. Es ist nur zu verständlich, dass zwischen Menschen
unterschiedlichster Kontexte und mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen, die
unter unerträglichen Bedingungen in Gefangenschaft sind, auch gewalttätige
Episoden entstehen. So war es auch am Freitagabend, den 25. Mai 2018, an dem
sich ein gewaltvoller Zwischenfall zwischen arabischen und kurdischen Migrant_innen
ereignete. Zahlreiche Kurden wurden verletzt, in Folge verließ eine Gruppe kurdischer
Refugees das Camp Moria, um im in den Parks und Straßen im Zentrum von Mytilini
nach einem sicheren Unterschlupf zu suchen.</p><p>
Aber trotz dieser gewaltvollen Episoden und Konflikten zwischen den Refugees
war und ist Moria auch ein Ort der gemeinsamen Kämpfe. Im Juli 2017 fand ein
massiver friedlicher Protest der Lagerbewohner_innen gegen die (auch illegale) Rückführungs-
und Abschiebepolitik und die unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager statt.
35 Refugees - alle von ihnen People of Color – wurden in Folge dessen festgenommen
und angeklagt. Ihnen wurde vorgeworfen, in den anschließenden
Auseinandersetzungen nach Eingreifen der Riot-Polizei Brandstiftung begangen
und Polizeikräfte verletzt zu haben. Der Prozess begann fast ein Jahr später am
18. April 2018 vor dem Gericht auf Chios, einer weiteren Insel in der
Ostägäis. Trotz eines gravierenden Mangels an Beweisen und einem großen Druck
der Solidaritätsbewegungen wurden 32 der Refugees verurteilt - zu einer insgesamt
26-monatigen Haftstrafe. Der gesamte Justizprozess ist als hoch problematisch
anzusehen. Die Organisation Legal Center Lesbos, die an dem Prozess teilnahm,
erklärte in einer <a href="http://www.legalcentrelesbos.org/2018/04/28/the-moria-35-trial-results-in-conviction-of-32/">öffentlichen Stellungnahme</a>,
dass es während des Gerichtsverfahrens wiederholte Verstöße gegen die
Grundprinzipien eines fairen Verfahrens begangen habe (Artikel 6 der
Europäischen Menschenrechtskonvention). Die Organisation äußerte zudem
entschiedene Zweifel an der Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit der Richter
und Staatsanwälte. Darüber hinaus wurden sieben der Refugees mit direkter
Abschiebung bedroht, während ihnen das Recht verweigert wurde, eine Überprüfung
ihres Falles zu beantragen.</p>
<p>Es
war die Nacht des 22. April 2018 – der Prozess gegen die Moria35 dauerte noch
an – als eine Gruppe nationalistischer und faschistischer Kräfte sich im
Stadtzentrum von Mytilini versammelten, um an einer rechten Aktion
teilzunehmen. Die Gruppen versammeln sich, um dabei zu sein, wenn die
militärische Flagge dort einholt wird – ein Ritual, was jeden Sonntag dort
stattfindet. Nach der „Flaggenzeremonie“ bereiteten sich die Faschisten,
ausgestattet mit allen möglichen Waffen –Fackeln, Feuerwerk, Steinen – auf
einen konzertierten Angriff auf Dutzende von Migrant_innen, darunter ganze
Familien mit Kleinkindern, vor. Die Refugees hatten zu diesem Zeitpunkt auf dem
Sappho-Platz demonstriert: Sie machten den Verlust eines afghanischen Mannes öffentlich,
der gestorben war, da er die dringend notwendige medizinische Versorgung nicht erhalten
hatte. Die Faschisten umzingelten sie mit brennenden Fackeln und begannen, Feuerwerk
auf die Menschen abzufeuern. Die Tatsache, dass sie mit diesen ausgerüstet
waren, beweist, dass dieser Übergriff schon im Vorfeld geplant war. An diesem
Abend nahm die Polizei 122 Personen fest – vor allem afghanischer Herkunft.
Während die Angriffe auf die Refugees weitergingen, zeigte die Polizei so klar:
Sie sind Unterstützer der Faschisten. Erst nachdem zahlreiche
zivilgesellschaftliche Proteste und Solidaritätsdemonstrationen stattfanden,
wurden 17 der Faschisten, die Migrant_innen schwer attackierten – und ihren Tod
in Kauf nahmen – endlich strafrechtlich verfolgt. Die Urteile stehen noch aus.</p><p>
Wenige Tage nach dem Pogrom auf dem Sappho-Platz unterstütze der ehemalige
Justizminister und lokales Mitglied des Parlaments, Charalambos Athanasiou (Mitglied
der liberal-konservativen Nea Dimokratia (Νέα Δημοκρατία),
der größten Oppositionspartei in Griechenland), unterstützte die „Patriotische
Bewegung“ bei einer Pressekonferenz, und bot den Angriffen und der
rassistischen Gewalt damit eine politische Deckung. Die so genannte
„Patriotischen Bewegung von Mytilini“ (Πατριωτική Κίνηση Μυτιλήνης) wird durch
die lokalen Strukturen der ND-Partei koordiniert; Mitglieder sind ebenso
verschiedene rechte und faschistische Gruppierungen und Einzelpersonen. Es ist
mehr als deutlich, dass es ein Hauptziel der Partei ist, Plattformen dieser Art,
die auch für Mitglieder der faschistischen Goldenen Morgenröte (Χρυσή
Αυγή) attraktiv sind, auf allen griechischen Inseln zu etablieren und
den gesellschaftlichen Diskurs und das politische Klima damit immer weiter nach
rechts zu drücken. Und sie stehen damit nicht alleine: Zur gleichen Zeit nutzen
sowohl andere faschistische Gruppierungen, als auch die lokalen Behörden, also
der griechische Staatsapparat und die SYRIZA-geführte Regierung, seit Monaten
schon jede Möglichkeit, gegenüber allen öffentlichen Protesten der
Migrant_innen auf der Insel mit aller Gewalt vorzugehen.</p>
<p>Darüber
hinaus nutzt SYRIZA die rechtsextreme und einwanderungsfeindliche Ausrichtung
der Nea Dimokratia auf Lesbos, um sich selbst ein milderes politisches Profil
zu geben. Natürlich ist es mehr als deutlich, dass die Verantwortung der
Regierung sehr groß ist: Sie sind für die Umsetzung der unerträglichen und rassistischen
EU-Türkei-Vereinbarung verantwortlich, welche zu den Tausenden wie festgeketteten
Migrant_innen auf den Inseln geführt hat. Sie tragen die Verantwortung für die
miserablen Bedingungen in den Hot Spots, die faktische Abschaffung der Asylrechte
und die Entwicklungen, die Griechenland zwischenzeitlich zu einem Freiluft-Gefängnis
für Refugees gemacht haben.</p>
<h2><b>Antifaschistische
Solidarität</b></h2>
<p>Zum Glück gibt es aber auch die andere Seite der Medaille: In der Nacht des 8. Mai 2018 fand eine große antifaschistische
Demonstration auf der griechischen Insel Lesbos mit mehr als 1000 Teilnehmenden
statt. Es war eine friedliche, aber auch dynamische Reaktion auf das kurz zuvor
stattgefundene Pogrom am Sappho-Platz. Die Demo wurde gemeinsam von
verschiedenen linken, kommunistischen und anarchistischen politischen Kräften,
sowie von Solidaritätsinitiativen und Menschen, die in Refugee-Support-Organisationen
arbeiten, organisiert. Eine kleine, aber entschlossene Anzahl von Refugees war ebenfalls
involviert, die gegen die rassistischen Übergriffe und für ihr Recht auf eine
bessere Zukunft und ein menschenwürdiges Leben kämpften. Es war eine Demo, in
der alle diejenigen Stimmen zum Ausdruck kamen, die das Bedürfnis hatten, an
der Seite der Migrant_innen und Refugees zu stehen, einschließlich vieler
Initiativen und Organisationen, ungeachtet ihrer politischen Differenzen.</p><p>
Im Mittelpunkt der gemeinsamen Forderungen aller Beteiligten steht die
Solidarität. Der gemeinsame, monatelange Widerstand steht in Kontrast zu der
Brutalität des EU-Türkei-Abkommens, das seit März 2016 flüchtende Menschen auf
den Inseln „gefangen hält und sie einsperrt, und wendet sich gegen die Intoleranz
gegenüber rassistischen, sexistischen und faschistischen Äußerungen und Praktiken.
Unter den politischen Kräften sind es insbesondere die Initiative von ANTARSYA
und die „Organisation der Neuen Linken Bewegung für die Kommunistische
Befreiung“ (NAP), die sich an jeder widerständigen Aktion beteiligen. Sie
versuchen dabei, die Rolle der EU und der griechischen Regierung beim Aufbau
und der Stärkung der Festung Europa zu zeigen. Sie machen deutlich, dass die
aktuelle Krise, welche die geflüchteten Menschen trifft, nur gelöst werden
kann, wenn Kriege und imperialistische Interventionen in Afrika und Asien
gestoppt werden - und dass demnach Griechenlands Austritt aus der NATO und der
Abzug der NATO-Kriegsschiffe aus der Ägäis zentrale Forderungen der Refugee-Solidaritätsbewegung
werden müssen.</p>
<hr/>
<p>Nikos Manavis (Mytilini) und Eleni Triantafyllopoulou (Athen)
sind Teil des Redaktionskollektivs von <a href="http://prin.gr/">Prin</a>, einer kommunistischen Zeitung in
Griechenland.</p>
<p> </p></div>
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