re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?author=312018-04-04T09:18:47.308168+00:00Türkische Kriegsverbrechen gestern und heute2018-04-04T09:18:47.308168+00:002018-04-04T09:18:47.308168+00:00Lukas Theuneredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkische-kriegsverbrechen-gestern-und-heute/
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<h1>Türkische Kriegsverbrechen gestern und heute</h1>
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<img alt="Das Tribunal gegen Kriegsverbrechen der Türkei in Paris, März 2018" height="420" src="/media/images/IMG_20180316_151010624.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Lukas Theune</span>
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<div class="rich-text"><p>
</p><p>Die Mühlen der Justiz mahlen langsam – das gilt auch für
nichtstaatliche Gerichte. Mitte März fand in Paris ein <i>Tribunal du Peuple</i> statt, das den Kriegsverbrechen der Republik
Türkei an den Kurdinnen und Kurden seit Anfang der 1990er Jahre gewidmet war. Es warf einen Blick zurück in
die Geschichte – zu einem Zeitpunkt, an dem die Öffentlichkeit in den Sozialen
Medien live den Angriff der türkischen Armee samt islamistischer Gruppen auf
Afrin verfolgte. <br/></p>
<p>Die Türkei selbst ermittelt – wie andere Länder auch – nicht
gegen ihre eigenen Söldner, Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler. Der
Euphemismus der „Morde unbekannter Täter“ zeigt von vornherein, dass durch die
staatliche Justiz der Türkei keine Aufklärung stattfindet: Die meisten Fälle,
die mit diesem Begriff gelabelt werden, sind de facto staatlich begangene
Morde. Der türkische Menschenrechtsverband IHD <a href="http://civaka-azad.org/massengraeber-und-morde-unbekannter-taeter/">berichtet</a>
von über 5.000 derartigen Morden neben weiteren 5.000 extralegalen
Hinrichtungen in den Jahren von 1989 bis 2009, fast alle von ihnen auf
kurdischen Gebieten an kurdischen Bürger*innen begangen.</p>
<p>Eine wesentliche Forderung der PKK und insbesondere Öcalans
während des Friedensprozesses ab 2013 war die Einrichtung einer Wahrheits- und
Gerechtigkeitskommission, wie sie etwa auch in Südafrika nach dem Ende der
Apartheid geschaffen worden war. Die Forderung blieb ein ständiger Streitpunkt
in den Verhandlungen, weil sich die türkische Seite diesem Ansinnen strikt
verweigerte.</p>
<p>Schließlich fand auch in internationalem Rahmen bislang
keine juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen der Türkei statt. Der
Internationale Strafgerichtshof leitete keine Ermittlungen ein, was zum einen
daran liegt, dass die Türkei das <a href="https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20002381/index.html">Statut von
Rom</a> erst gar nicht unterzeichnet hat. Zum anderen liegt es aber wohl auch
daran, dass die Türkei international und den Vertragsstaaten des
Internationalen Strafgerichtshofes gegenüber einen zu wichtigen Stellenwert
hat, um sie derart zu brüskieren. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof
(EGMR) wiederum hat zwar die Türkei etliche Male verurteilt, jedoch seinerseits
keine grundlegende Aufarbeitung der Kriegsverbrechen geleistet. Vielmehr wurden
in Einzelfällen insbesondere Parteiverbote und unfaire Strafverfahren
kritisiert. Seine <a href="https://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/europarats-organe/egmr/urteile/recht-leben-emrk-egmr">Urteile zum
Recht auf Leben</a> blieben vereinzelt. Da der EGMR über keine eigenen
Ermittlungsbehörden verfügt, konnte eine Verletzung des Rechts auf Leben zudem
meist nicht nachgewiesen werden. Die türkischen Behörden, die stattdessen die
Ermittlungen führen sollten, ermitteln nicht gegen eigene Angehörige und so
konnte der EGMR nur eine Verletzung des Rechts auf „wirksame Untersuchung eines
Vorfalls“ feststellen. (vgl. z.B. Yaşa gg. Türkei, Urteil vom 2.9.98).</p>
<p>All dies führt dazu, dass kaum publiziertes Wissen über die
Kriegsverbrechen der Türkei besteht. Möglicherweise war dies der Grund, weshalb
das <a href="http://permanentpeoplestribunal.org/?lang=en">Permanent
Peoples</a><a href="http://permanentpeoplestribunal.org/?lang=en">’</a><a href="http://permanentpeoplestribunal.org/?lang=en"> Tribunal (PPT)</a> den
Vorschlag akzeptierte, hierüber eine Sitzung zu halten. Das PPT wurde in
Anlehnung an die Russell-Tribunale 1979 gegründet und untersucht seitdem eine
Vielzahl staatlicher (und teilweise nichtstaatlicher) Verbrechen, beginnend mit
der West-Sahara und Argentinien bis zuletzt zu Sri Lanka 2010 und Mexiko 2012.
Die Anklage gegen die Türkei wurde von den Rechtsanwält*innen Sara Montinaro
und Jan Fermon erarbeitet.</p>
<p><b>Von staatlich
orchestrierten Hinrichtungen in Paris…</b></p>
<p>Fermon bedauerte gleich zu Beginn seiner Rede, dass die
Dauer des Tribunals über nur zwei Tage eine starke Auswahl der zu
untersuchenden Vorfälle bedingte. Vieles konnte gar nicht thematisiert werden.
So tauchten etwa die „Morde unbekannter Täter“ oder auch die Verbrennungen
hunderter Dörfer Anfang der neunziger Jahre nur am Rande auf. Die beiden
Rechtsanwält*innen widmeten sich schwerpunktmäßig den Verbrechen im Zusammenhang
mit den Ausgangssperren nach dem Ende des Friedensprozesses 2015 und 2016. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in dem Vorwurf des Mordes an den
drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız (Sara), Fidan Doğan (Rojbîn) und
Leyla Şaylemez (Ronahî) im Januar 2013 im kurdischen Kulturzentrum in Paris.</p>
<p>Der mutmaßliche Täter, Ömer Güney, starb im Dezember 2016 im
Gefängniskrankenhaus an einem Gehirntumor –
wenige Wochen vor Beginn des Verfahrens gegen ihn. Damit war der Prozess
geplatzt, es hatte, auch in Frankreich, keine Aufklärung der Exekution
stattgefunden. Der Fall ist brisant: Bereits wenige Wochen nach der Verhaftung
Ömer Güneys waren im Internet Mitschnitte von Telefonaten zwischen Güney und
Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes MIT aufgetaucht.</p>
<p>Zuletzt kam Bewegung in den Fall durch einen Coup der
Leitung der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Im August 2017
hatten Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT im Nordirak versucht, über
einen Trick in die Nähe des KCK-Ko-Vorsitzenden und PKK-Mitbegründers Cemil
Bayık zu gelangen, um diesen zu liquidieren. Allerdings hatten die
Sicherheitsmitarbeiter der kurdischen Befreiungsbewegung wohl selbst ein
doppeltes Spiel gespielt und die Agenten in der Autonomiezone der KCK im
Kandilgebirge zunächst festgesetzt und dann verhört. Die umfangreichen Aussagen
der Agenten wurden auf Video aufgenommen und <a href="https://www.heise.de/tp/features/Pech-fuer-Erdogan-PKK-deckt-MIT-Agenten-Netzwerk-auf-3935816.html?seite=all">veröffentlicht</a>
und legen eine Einbindung der Führungsebene des MIT in die Ermordung der drei
Aktivistinnen sehr nahe.</p>
<p>Neben besagten Videos wurden dem Gericht – das leider nur
aus <i>Weißen, </i>größtenteils zudem aus
Männern bestand – auch Zeugenaussagen zweier Mitarbeiter des kurdischen Kulturzentrums,
des Nebenklagevertreters in dem Strafverfahren gegen Güney und andere Belege
für die Einbindung des MIT vorgelegt. Vor allem der Anwalt Antoine Comté legte
minutiös dar, wie der MIT Flugtickets, Mobiltelefone und SIM-Karten für Güney
erworben und zudem mit Güney in ständigem Kontakt gestanden hatte. Er mutmaßte,
dass Güney von vornherein für die Aufgabe ausgesucht worden war, da sein
Gehirntumor und die damit zusammenhängende begrenzte Lebenserwartung bereits
damals festgestanden hatten. Die Morde könnten eine Strategie des sogenannten
Tiefen Staates (türkisch:<i> derin devlet</i>) gewesen sein, um den beginnenden
Friedensprozess zwischen der AKP und der kurdischen Befreiungsbewegung zu
unterminieren.</p>
<p>Der Strafverteidiger in mir hätte sich wohl gewünscht, dass
die Verhörmethoden, mit denen die Videoaussagen der MIT-Agenten zustanden
gekommen waren, thematisiert worden wären. So ist schwer vorstellbar, wie die
Geheimdienstmitarbeiter, obwohl sie dies in die Kameras versicherten,
freiwillig ihre Aussagen machten. Jedenfalls: Das Puzzle der drei Exekutionen
in Paris kann mittlerweile einige Schritte weiter zusammengesetzt werden.</p>
<p><b>…bis in die Keller
von Çizre</b></p>
<p>Am Vortag lag der Schwerpunkt der Beweisaufnahme auf den
Ausgangssperren, die der türkische Staat in den kurdischen Gebieten in der
zweiten Jahreshälfte 2015 und der ersten Hälfte 2016 verhängt hatte. Nachdem
der Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat von
Staatspräsident Erdoğan im Frühling 2015 (kurz vor den Wahlen im Juni 2015) für
beendet erklärt wurde, hatte wohl wiederum der MIT zunächst den Anschlag von
Suruç im August 2015 ermöglicht und dann die Tötung zweiter Soldaten in
Ceylanpınar als PKK-Aktion unter <i>false
flag</i> inszeniert. Unmittelbar danach stiegen wieder türkische Kampfflugzeuge
auf und bombardierten nicht nur im Nordirak, sondern auch auf „eigenem“
Territorium kurdische Gebiete. Die Guerilla reagierte, in dem sie erstmals in
den kurdischen Städten Jugendliche unterstützte und organisierte, die als
YDG-H, später als YPS den einrückenden Militärs selbstgebaute Barrikaden und
Gräben entgegensetzten. Letztlich war dies militärisch eine Fehleinschätzung.
Das türkische Militär und insbesondere die Spezialeinheiten der Gendarmerie
(JÖH) und der Polizei (PÖH) gingen erbarmungslos vor und schossen auf alle, die
sich in den Gebieten bewegten. Der türkische Staat verhängte Ausgangssperren in
vielen Städten, die längste davon in der historischen Altstadt Ameds (türkisch:
Diyarbakır), Sur. Das Tribunal in Paris konzentrierte sich indes auf die
100.000-Einwohner-Stadt Cizre, in der es zu den größten Massakern an der
Bevölkerung gekommen war. Insbesondere von drei Kellern berichteten mehrere
Zeugen dem Tribunal: In diese waren über 200 Menschen geflüchtet und dort von
der türkischen Armee verbrannt worden. Die Bürgermeisterin von Cizre, Leyla
Imret, der Abgeordnete der HDP für den Wahlkreis Şırnak, Faysal Sarıyıldız, und
mehrere andere Augenzeug*innen berichteten von Kindern, die später beim Spielen
am Tigris Menschenknochen fanden und von Müllsäcken, in denen die wenigen Kilos
menschliche Überreste aus den Kellern entsorgt wurden.</p>
<p>Juristisch ging es den beiden „Ankläger*innen“ insbesondere
darum, darzulegen und zu beweisen, dass es sich bei dem Konflikt zwischen der
PKK und dem türkischen Staat um einen – bloße „Scharmützel“ überschreitenden –
anhaltenden bewaffneten Konflikt handele, für den damit das Kriegsrecht
anwendbar sei. Daher verzichteten sie darauf, wie Fermon auf Nachfrage einer
der sieben Richter*innen erläuterte, neben den Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8
des römischen Statutes auch die ebenfalls naheliegenden Verbrechen gegen die
Menschlichkeit gemäß Artikel 7 anzuklagen. Sie konzentrierten sich vielmehr auf
die Voraussetzungen für einen bewaffneten Konflikt sowie darauf, darzulegen,
dass es sich um ein rassistisches Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung
handele.</p>
<p>Dies zeigt zugleich auch das Paradox auf, in dem sich die
kurdische Befreiungsbewegung befindet. Während sie die Idee eines eigenen
kurdischen Nationalstaates schon seit langem nicht mehr verfolgt und Öcalan das
Konzept des Demokratischen Konföderalismus als dem Staatsprinzip
entgegengesetzt entwickelte, wird sie nur dann ernst genommen, wenn sie
territoriale Gebietsansprüche darlegen kann. Ein bewaffneter Konflikt, auf den die Regeln des humanitären Völkerrechts Anwendung finden, liegt nach der Rechtssprechung des Internationalen Strafgerichtshofs erst dann vor, wenn eine organisierte bewaffnete Gruppe in der Lage ist, eine länger anhaltende, intensive Auseinandersetzung mit den staatlichen Streitkräften zu führen. Eine der dafür maßgeblichen Fragen ist, ob der Konflikt auf einem größeren Territorium geführt wird. Erst dann findet das Statut von Rom, finden die Vorschriften über Kriegsverbrechen, Anwendung. Das bedeutet aktuell: Nur dann, wenn die kurdische Bewegung wie in
Rojava ein Territorium mit Waffengewalt kontrolliert und verteidigt, wird sie
als Akteurin wahrgenommen, während das fortschrittliche Konzept des
Demokratischen Konföderalismus nicht nur von staatlichen Akteuren nicht ernst
genommen wird, sondern zudem auch von internationalen Statuten benachteiligt
wird. Die Abschaffung von Staatlichkeit wird wohl nicht in einem einzelnen
Gebiet, losgelöst von globalen Kontexten, sondern nur insgesamt stattfinden
können.</p>
<hr/><p>Das Tribunal war insgesamt ein
wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Massaker der Türkei an
der kurdischen Bevölkerung Anatoliens. Viele gesammelte Berichte von
Zeitzeug*innen wurden der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht. Das Urteil des Tribunals unter Vorsitz des Richters des
französischen Kassationshofes, Philippe Texier, wird im April in Brüssel vor
Abgeordneten des europäischen Parlaments verkündet.</p>
<p> </p><br/></div>
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