re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?author=1162020-12-10T16:00:00+00:00Der ewige Diego2020-12-10T16:00:00+00:002020-12-10T16:00:00+00:00Giuliano Granato und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-ewige-diego/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Der ewige Diego</h1>
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<img alt=""Liebe den Fussball, hasse den Rassismus. Ich bin verrückt."" height="420" src="/media/images/diego_che_je_so_pazzo.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Alessandro Pelizzari</span>
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<div class="rich-text"><p>Wir schreiben das Jahr 1984, genauer den 16. September. Es ist der Tag, an dem Diego Armando Maradona das Gefühl kennenlernt, das in großen Teilen der italienischen Bevölkerung gegenüber Neapel vorherrscht: den Anti-Meridionalismus. Es ist der erste Spieltag der italienischen Meisterschaft 1984/85 und Maradonas Debut in der Serie A. Neapel reist für das Spiel nach Verona, die Stadt Romeos und Julias, die Stadt des italienischen Wirtschaftswunders und nicht zuletzt die Stadt des „small is beautiful“, wo kleine und sehr kleine Betriebe Handwerk und Bruttoinlandprodukt produzieren und so die sozioökonomische Entwicklung vorantreiben.</p><p>Diego verstand sogleich, dass es in Neapel um weitaus mehr als nur um Fußball geht: „Sie haben uns mit einem Transparent empfangen, das mir mit einem Schlag zu verstehen gab, dass das Spiel von Neapel über Fußball hinausgeht: 'Willkommen in Italien' stand darauf. Es ging um einen Kampf des Nordens gegen den Süden, der Rassisten gegen die Armen.“</p><p>Die Lega Nord, die Partei, die heute von Matteo Salvini angeführt wird, und die sich durch ihren anti-meridionalistischen Rassismus auszeichnet, entsteht zwar erst 1989, nicht aber der Rassismus gegen die Süditaliener*innen. In den Stadien Norditaliens ist es Tradition, Neapel, die wichtigste Mannschaft Süditaliens, und ihre Fans mit Transparenten zu empfangen, die den Vesuv besingen – den Vulkan, dessen Ausbruch Pompei zerstörte – und mit Chören, die die Neapolitaner*innen als „Cholera-Erreger*innen“ betiteln und sie auffordern, sich zu waschen.</p><h3><b>Neapel in den 1980er Jahren</b></h3><p>Für viele Italiener*innen war Neapel die Stadt der Cholera und der Erdbeben. Tatsächlich hat die Stadt das Stigma der Cholera-Epidemie von 1973 und des Erdbebens von 1980 nie überwunden. Die Cholera hatte zwar nur einige dutzend Tote gefordert, doch das Image der Cholera- und Erdbebenstadt wurde Neapel nicht mehr los.</p><p>Noch mehr als das Erdbeben war die Cholera der zur Realität gewordene Alptraum: Im Herzen des florierenden Westens, in einer seiner am dichtesten besiedelten Metropolen, breitete sich eine Krankheit aus, die man hier nur noch als Nachrichten aus den ärmsten und „unterentwickeltsten“ Ecken der Welt kennt. So kamen Widersprüche ans Licht, die von einer alles anderen als homogenen wirtschaftlichen Entwicklung Italiens zeugten. Sie zeigten sich in den Gassen Neapels, in den sogenannten „bassi“<i>,</i> den winzigen Wohnungen im Erdgeschoss, in denen einkommensschwache Familien bis heute dicht an dicht leben, die dann in den 2000er Jahren zur folkloristischen Sehenswürdigkeit für Tourist*innen wurden. Sie zeigten sich aber auch in den miserablen Hygienebedingungen, in denen die popularen Klassen der Stadt zu leben gezwungen waren und teilweise auch heute noch sind. Szenarien, die vielmehr an die „villas miserias“ Argentiniens erinnern als an eine reiche Metropole des Westens. Sie erinnern an Orte wie die Villa Fiorita, wo am 30. Oktober 1960 Diego geboren wurde.</p><p>Das Neapel, in das Maradona kam, stand am Beginn einer industriellen Krise der gesamten Region, die noch Jahrzehnte andauernden werden würde. Das Stahlwerk Italsider in Bagnoli, einem Quartier in der westlichen Peripherie, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Betrieb gesetzt und 1991 schon wieder geschloßen, nur wenige Jahre nach dem Abgang der Nummer 10 aus Neapel. Es war das Neapel einer graßierenden Arbeitslosigkeit, des Schmuggels von Zigaretten und eines sich ausbreitenden Heroinkonsums. Es war das Neapel der Camorra-Morde an <a href="https://it.wikipedia.org/wiki/Giancarlo_Siani">mutigen Journalist*innen</a>, die die kriminellen Abkommen zwischen Politik, Wirtschaft und Mafia anprangerten; das Neapel der Fehden zwischen den Camorra-Clans und des Blutes auf der Straße. Das Neapel der 1980er Jahre wurde von vielen wie eine hoffnungslose Hölle beschrieben. Zu jener Zeit verließen zehntausende Emigrant*innen jedes Jahr die Stadt, um in den Fabriken des Nordens, in Frankreich oder in Deutschland zu arbeiten.</p><h3><b>Diego als Erlöser</b></h3><p>Und ausgerechnet in Deutschland wird Neapel den ersten internationalen Erfolg seiner Geschichte feiern. Am 17. Mai 1989 wird in Stuttgart das Rückspiel des Uefa-Cup-Finals gespielt. Das Hinspiel im Stadion San Paolo in Neapel endete 2:1 für die „azzurri“ (die himmelblauen Trikots) mit Toren von Maradona und dem Brasilianer Careca. Für Stuttgart hatte der Deutsche <a href="https://www.spazionapoli.it/2014/10/06/lindimenticabile-gaudino-esempio-demigrante-napoletano-tedesco/">Maurizio Gaudino</a> getroffen, Sohn von kampanischen Emigrant*innen (der Vater aus Caserta, die Mutter aus Neapel), die im Nachkriegsboom nach West-Deutschland (Brühl) emigrierten. Im Neckarstadion drängten sich 67.000 Zuschauer*innen, 30.000 davon Italiener*innen – ein Großteil aus Süditalien, genau wie die Eltern von Gaudino: Arbeiter*innen bei Porsche, Daimler, Bosch oder IBM; Blaukragen, die von der Misere und den fehlenden Zukunftsaussichten aus Süditalien geflohen waren und auf der Suche nach einer würdigeren Existenz eine regelrechte „<a href="https://www.youtube.com/watch?v=mfeyKxaUzWE">Reise der Hoffnung</a>“ angetreten hatten. An jenem Abend unterstützten wohl nur zwei dieser Emigrant*innen den VfB Stuttgart, alle anderen feierten nach dem Schlußpfiff das Endresultat von 3:3 und somit den Pokalsieg Neapels. Für sie alle war das mehr als nur ein Sieg und eine Fußball-Trophäe. Es war eine Selbstbehauptung angesichts erlittener Ausbeutung und Demütigung; es war der Stolz und das Wissen, am nächsten Tag mit erhobenem Haupt in die Fabrik eintreten zu können.</p><p>Und dieser Stolz wurde von einem Gefühl der Befreiung begleitet: Unter jenen, die heute um Diego trauern, ist „riscatto“ (Befreiung, Erlösung) das meistbenutzte Wort zur Beschreibung dieses Sieges und der Bedeutung Maradonas für sie selbst. „Riscatto“ bedeutet im Italienischen soviel wie „er hat uns die Ohrfeigen vom Gesicht genommen“ – „ci ha levato gli schiaffi da faccia“. Dieser neapolitanische Ausdruck beschreibt in einem Sprachbild eine praktisch unmögliche Handlung der Vergeltung eines erlittenen Angriffs oder einer erlittenen Beleidigung. „Sich die Ohrfeigen vom Gesicht nehmen“: Befreiung und Revanche.</p><p>Es gibt keine größere Herausforderung als ein Spiel gegen Juventus Turin. Umso stärker das Gefühl, sich „die Ohrfeigen vom Gesicht zu nehmen“ bei einem Sieg gegen Juventus. Denn Juventus ist der Gewinner-Club par excellence und besitzt das reichste Palmares. Der Fußball-Club gehört der Familie Agnelli, einer der wichtigsten Familie des norditalienischen Kapitals, Besitzerin der FIAT (heute FCA, Fiat Chrysler Automobiles) von Turin, in deren <a href="https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00026914/07_Coppola_Italien.pdf">Betrieb in Mirafiori</a> ab den 1950er Jahren tausende und abertausende aus dem Süden (Calabres*innen, Sizilianer*innen, Neapolitaner*innen) gearbeitet haben.</p><p>Am 3. November 1985 kommt Juventus ins Stadion San Paolo nach Neapel. Dann der indirekte Freistoß im Strafraum, die Mauer von Juventus nur fünf Meter vom Ball entfernt. Vergebens erinnern die Neapel-Spieler den Schiedsrichter an die gemäß Reglement vorgesehene Distanz von neun Metern. Dann <a href="https://www.youtube.com/watch?v=SXll6oE0qEo">flüstert Maradona</a> einem anderen Spieler selbstbewußt zu: „Ich schieße trotzdem, treffen werde ich ohnehin“. Und so war es. In den folgenden Jahren mit Diego im Team gewann Neapel mehrmals gegen Juventus. Im bekannten Doku-Film von <a href="https://www.youtube.com/watch?v=ZZS_ZoJ4B0Y">Emir Kusturica</a> erklärte er selbst, was damals die Siege gegen Juve für ihn, für die Fans und für den ganzen Süden bedeutet haben: „Es herrschte die allgemeine Annahme, dass der Süden nie gegen den Norden gewinnen kann. Wir spielten gegen Juventus in Turin und schossen sechs Tore. Du kannst dir vorstellen, was es bedeutet, wenn eine Mannschaft des Südens sechs Tore gegen die Familie Agnelli schießt?“</p><p>Für viele Neapolitaner*innen und für viele Süditaliener*innen bedeutete ein Sieg gegen Juve den lang ersehnten Sieg gegen den Norden und gegen die Reichen. Das Gleiche wiederholte sich im Sommer 1990, als Neapel zum zweiten Mal den italienischen Meistertitel holte und den AC Mailand von Silvio Berlusconi, dem aufsteigenden Stern des italienischen Kapitalismus, auf Platz zwei verwies. Und in Neapel hängten Leute das emblematische Transpartent auf: „Berlusconi, auch die Reichen weinen.“</p><p>Wer aber allein die Zahl der geschossenen Tore und der erlangten Titel heranzieht, um das Verhältnis der Neapolitaner*innen und Diego zu verstehen, erweist sich zwar als guter Buchhalter, hat aber wenig vom sozialen Charakter dieser Beziehung verstanden. Corrado Ferlaino, Präsident des SSC Neapel in der Maradona-Ära, war ein ebensolcher Buchalter und interessierte sich ausschließlich für den „return of investment“. Als ihn eines Tages Diego um ein Benefiz-Spiel für ein krankes Kind bat, blockte er ab. Die Eltern des Kindes hatten kein Geld, um die lebensnotwendige Operation zu bezahlten. Diego widersetzte sich, bezahlte die 12 Millionen für die Unfallversicherung aus der eigenen Tasche und überzeugte seine Mitspieler, das Spiel auch so zu spielen. Maradona hatte bereits bei seiner Ankunft im Juli 1984 erklärt: „Ich will ein Idol der armen Jungs von Neapel werden, weil ich in Buenos Aires lebte wie sie.“ Das Spiel wurde auf einem schlammbedeckten Feld <a href="https://www.youtube.com/watch?v=1CavW8ODe54">in der Peripherie von Neapel</a> ausgetragen. Die Spieler wärmten sich auf einem Parkplatz zwischen Autos und „motorini“ ein. Am Ende kamen 20 Millionen Lire zusammen und das Kind wurde erfolgreich operiert.</p><p>Es handelte sich um eine kleine Episode im Leben des Fußballers Maradona, aber um eine große im Leben des Menschen Diego. So ist für Neapel die „cebollita“, die Zwiebel von Villa Fiorita, wie Diego zu Hause genannt wird, nicht nur ein Fußballgott, sondern auch ein fragiler, stets lächelnder, temperamentvoller, altruistischer Mann, der Kokain konsumierte und seine <a href="https://www.marcha.org.ar/por-que-queremos-tanto-al-diego-si-somos-feministas/?fbclid=IwAR0COF5iHu-hPfUcvhxaXUum6K2MrD-Mwtw4Owfzcz_XvBep4Le94hjq_Aw">machoide Seite gegenüber Frauen</a> zu oft nicht im Griff hatte.</p><h3><b>„Diego es pueblo“ – Diego ist das Volk</b></h3><p>Die neapolitanische Bevölkerung hat sich mit Diego Armando Maradona als Fußballer und Mensch, als fleischgewordene Dialektik zwischen Mensch und Mythos identifiziert wie mit niemandem zuvor. Es gibt keine Persönlichkeit aus dem Showbusiness oder der Politik, die fähig war, eine solche Verbindung zu „ihrem Volk“ aufzubauen, wie Diego es konnte. Denn es war eine Verbindung, die nicht an seine Spielzeit in Neapel gebunden blieb. Auch für die nach 1991 – dem Jahr der Antidoping-Kontrollen, des Koks im Urin und seiner Flucht aus Neapel – Geborenen, die Maradona also nie live haben spielen sehen, ist er eine Identifikationsfigur. Sie haben seine Meisterstücke erst auf VHS Kassetten und dann im Internet nachgeschaut. Aber sogar wer gar nie ein Fußballspiel von Maradona gesehen, keine seiner Aktionen auf dem Feld, die „<a href="https://www.youtube.com/watch?v=iOAFWLm7tPg">mano de Dios</a>“ oder „<a href="https://www.youtube.com/watch?v=-NrJuU0Kw2w">das schönste Tor des Jahrhunderts</a>“ erlebt hat, ja sogar wer nichts von Fußball hält: auch für sie ist Diego ein Symbol, er ist einer von ihnen. Sie weinen heute zusammen mit den Fußball Freaks, mit den Ultras, mit den leidenschaftlichen Fans.</p><p>Wer den „Populismus“ begreifen will, sollte weniger Laclau lesen als vielmehr versuchen, das gesellschaftliche und politische Phänomen Maradona zu verstehen. Diego verstand sich nie als VERTRETER „seines Volkes“, das wollte er auch gar nicht. Diego WAR das Volk, nicht nur in Neapel. Als lebendiger Mensch mit all seinen Fehlern, seiner rauen und unkonventionellen Art verkörperte er genau das: das widersprüchliche Leben des Volkes.</p><p>Dabei legt Diego seinen nationalen und argentinischen Charakter ab und wird als Maradona zu einem universellen Charakter. Das hatten wir bereits bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 erlebt. Das Halbfinale zwischen Italien und Argentinien wurde – welche Ironie des Schicksals! – im Stadion San Paolo in Neapel gespielt, just in „seinem“ Zuhause, vor „seinen“ Leuten. Tausende Neapolitaner*innen erlebten dieses Spielt extrem gespalten: Für welche „Heimat“ sollten sie nun fanen? Für ihre offizielle Heimat oder für die „Heimat Maradona“? Die Mehrheit wählte schließlich die Heimat ihres Passes. Andere – teils leise, teils laut – hatten Diego gewählt. Dabei sind sie seinem Rat gefolgt: „Ich finde es geschmackslos, von den Neapolitaner*innen zu verlangen, für einen Abend Italiener*innen zu sein, während sie die restlichen 364 Tage im Jahr als 'terroni' beschimpft werden.“ „Terroni“ – Erdfresser, wie die Süditaliener*innen im Norden abwertend genannt werden. So setzte sich die Liebe zum Argentinier durch, der den Neapolitaner*innen im Schatten des Vesuvs Würde, Stolz und Erfolg zurückgebracht hatte.</p><p>Das Volk der “Patria Grande”, von Lateinamerika also, das er fußballspielend stets verteidigt und gewürdigt hat, weint heute um ihn. Aber auch die restliche Welt. 48 Stunden nach seinem Tod erschien sogar in den Ruinen von <a href="https://twitter.com/MoAlkhalid/status/1331914500379979778/photo/1">Idlib</a>, im kriegszerrütteten Nordsyrien, ein Wandgemälde, das ihn darstellt. Überall erzählen Menschen, dass Maradona ein Symbol war, über das sie sich und ihr Leben verständlich machen konnten. Diego als Befreier. Diego als Volk. Und Maradonas Fußball als eine offene Sprache, die in ihrem Geist der Rebellion, in ihrer Ehrlichkeit Journalist*innen und den Mächtigen gegenüber, wie es sich alle Unterdrückten wünschen, überall und für alle verständlich ist.</p><p>Die vielen Tränen der letzten Tage bergen aber auch eine Gefahr. Es gibt Tendenzen, Diego „reinzuwaschen“. Maradona wird heute von (fast) allen mit Lorbeeren überhäuft, sogar von seinen ehemaligen Feinden. Hinter dem sogenannten „Respekt“ für den Tod eines Menschen versteckt sich damit aber auch der Versuch, seine Figur zu normalisieren und sie von all den Aspekten zu befreien, die im Sinne einer bürgerlichen Moral als verdorben gelten und nun stigmatisiert und marginalisiert werden. Damit wird gerade der volksnahe Diego und die Dialektik, die er verkörpert, aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Wenn das gelingt, könnte er zu einem konsumierbaren und kommerzialisierbaren Heiligen ohne Ecken und Kanten werden. Doch genau dieses Image hat er seit Beginn seiner Karriere bekämpft, wie er es im wunderschönen <a href="https://www.youtube.com/watch?v=wPR84ZywynM&feature=youtu.be">Interview</a> mit dem Journalisten, Genossen und Freund <a href="https://it.wikipedia.org/wiki/Gianni_Min%C3%A0">Gianni Minà</a> auf den Punkt brachte. Es würde die Seele seiner Person zerstören, die zutiefst popular ist, wie es im Grunde auch die Götter des antiken Griechenlands waren: Mächtig, aber fehlbar, großzügig, aber skurril. Wie die Religion als Sublimierung des Volkes, um es mit dem Soziologen Émil Durkheim zu sagte.</p><p>Wenn Diego einfach zu einer weiteren Statue gemacht wird, wird er ein ausgestopfter Körper und ein einbalsamiertes Konzept. Wenn wir jedoch die Dialektik, die er verkörperte, in Erinnerung behalten, werden wir seine Menschlichkeit und seine rebellische Lebendigkeit bewahren.</p><p></p><p>Übersetzung aus dem Italienischen: Maurizio Coppola und Maja Tschumi</p></div>
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Napoli gegen den Lockdown2020-10-28T11:28:57.466075+00:002020-10-28T11:28:57.466075+00:00Bethan Bowet-Jones, Franceso Pontarelli, Giuliano Granato und Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/napoli-gegen-den-lockdown/
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<div class="rich-text"><p>Am letzten Freitag Abend, dem 23. Oktober 2020, kam es in Napoli wegen der Androhung eines neuen Lockdowns und den Folgen der tiefen sozialen Krise, die die Arbeiter*innenklasse in Italien gerade erleidet, zu Protesten. Ein zweiter Lockdown wurde am selben Nachmittag vom regionalen Gouverneur Vincenzo De Luca in einer Liveschaltung auf Facebook in Erwägung gezogen. An den spontanen Demonstrationen versammelten sich tausende von Menschen, die dafür die Ausgangssperre (23:00 Uhr) missachteten und nicht davor zurückschreckten, mit den Ordnungskräften in Konflikt zu geraten. Die Demonstration schaffte es nicht nur in Italien auf die Titelseiten der Zeitungen, sondern auch im <a href="https://www.nzz.ch/international/italien-teil-lockdown-gegen-covid-epidemie-ld.1583529">Ausland</a>. Im Zentrum der Berichterstattung standen vor allem die Gewaltszenen und das nicht sogleich identifizierbare soziale Subjekt, das sich am Freitag Nacht die Straße nahm. Bei den Protesten von Freitag handelte es sich nicht um die erste Demonstrationen seit der Aufhebung des ersten Lockdowns am 4. Mai 2020. Warum haben aber gerade sie für so viel Aufruhr gesorgt? Was steckt hinter diesen „gewalttätigen“ Massenaufständen inmitten der zweiten Welle der Corona-Krise? Und was können wir daraus lernen?</p><h2><b>Von der gesundheitlichen zur sozialen Pandemie</b></h2><p>Schon Anfang Juli 2020 hatte Innenministerin <a href="https://www.repubblica.it/politica/2020/07/09/news/luciana_lamorgese_election_day_autunno_caldo_decreti_sicurezza-261412143/">Luciana Lamorgese</a> im nationalen TV ihre Sorgen bezüglich den Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Krise Italiens nach der ersten Welle der Corona-Krise zum Ausdruck gebracht: „Die Gefahr eines heißen Herbstes ist real, denn im September werden wir die Auswirkungen dieser schweren Wirtschaftskrise sehen, die die Unternehmen getroffen hat. Die Geschäfte werden schließen, die Bürger werden keine Möglichkeiten mehr haben für ihre täglichen Bedürfnisse zu sorgen. Die Regierung hat versucht, diesen Bedürfnissen und Forderungen nachzukommen, aber die Gefahr eines heißen Herbstes ist real.“ Tatsächlich bestätigen die in Napoli ausgebrochenen Proteste zumindest teilweise die Ängste von Ministerin Lamorgese, denn sie finden in einem spezifischen sozialen Kontext statt.</p><p>Die erste Welle der Corona-Krise hat die tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche Italiens und die Unfähigkeit der Regierung ans Tageslicht gebracht, auf die elementarsten gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse einzugehen. Die Besonderheit der Produktionsstruktur Italiens – hoher Bestandteil von selbständig Arbeitenden, weit verbreitete irreguläre Arbeit vor allem im Süden des Landes, niedriger Beschäftigungsgrad von Frauen und Jugendlichen – hat dazu beigetragen, dass ein Grossteil der Arbeiter*innenklasse von den sozialen Maßnahmen der Regierung ausgeschlossen blieb oder diese für sie unzureichend waren. Somit hat der während den ersten drei Monaten der Krise eingeführte Lockdown eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten verursacht. Laut <a href="http://www.coldiretti.it/economia/un-milione-di-poveri-in-piu-nel-2020-per-leffetto-covid">Schätzungen</a> wird die Corona-Krise im Jahr 2020 eine Million neue Arme hervorbringen. Das größte Wachstum dieser neuen Armut hat Süditalien zu verzeichnen (plus 20 Prozent in Kampanien, plus 14 Prozent in Kalabrien, plus 11 Prozent in Sizilien). Laut europäischem Statistikamt <a href="https://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-statistical-books/-/KS-HA-20-001">Eurostat</a> gehört der <i>mezzogiorno</i> [Süditalien, Anm. d. Red.] heute zu den ärmsten Regionen Europas.</p><p>Dass die Region Kampanien ein soziales Pulverfass ist, war auch schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise bekannt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei rund 50 Prozent und 700.000 Menschen beziehen das sogenannte Grundeinkommen (eine Art Sozialhilfe für armutsbetroffene Menschen). Kampanien steht zudem auf Platz 1 der Rangliste der irregulären Arbeit. Diese macht hier rund 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, und 7 von 10 vom Arbeitsinspektorat kontrollierten Unternehmen weisen Verstöße gegen Arbeiter*innenrechte auf. Durch die Corona-Krise verschärfen sich diese Probleme, infolgedessen wandelt sich das soziale Gefüge. Ohne garantierte Einkommen und sozialen Maßnahmen für alle, können pauperisierte Teile der Arbeiter*innenklasse oft nur auf die solidarischen Netzwerke gegenseitiger Hilfe (Stichwort „<a href="https://www.rosalux.eu/en/article/1375.manuale-del-mutualismo.html?print=1">Mutualismus</a>“) zählen.</p><h2><b>Die zweite Welle</b></h2><p>Es war allen klar, dass sich die Pandemie nach der ersten Welle weiter verbreiten würde und Expert*innen hatten schon früh empfohlen, sich auf eine Zunahme der Corona-Ansteckungen Ende Sommer, also auf die sogenannte zweite Welle vorzubereiten. Die Regierung hätte die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems priorisieren, die Gesundheitseinrichtungen mit dem nötigen Personal ausstatten und die Intensivstationen ausbauen müssen. Dies ist aber nicht geschehen. Die massive Zunahme der täglichen Neuansteckungen im fünfstelligen Bereich (21.273 allein am Sonntag, dem 25. Oktober) stellt die Stabilität des gesamten nationalen Gesundheitssystems in Frage. Die meisten Probleme treten vor allem in denjenigen Regionen auf, wo in den letzten Jahren massiv gespart und privatisiert wurde, was zur Schließung ganzer Krankenhäuser und Notfallstationen führte. Gesundheitspolitisch sind vor allem die Zunahme der täglich hospitalisierten Fälle (plus 719 am 25. Oktober), der Fälle in Intensivtherapie (plus 80 am 25. Oktober; insgesamt 1.208) und die Erschöpfung der zur Verfügung stehenden Plätze besorgniserregend.</p><p>Kampanien gehört zu der vom Virus am stärksten betroffenen Region der zweiten Welle. Die täglichen Neuerkrankungen belaufen sich hier auf rund 2.000 Fälle. Es handelt sich um Zahlen, die während der ersten Phase nie erreicht wurden. Darum hat der regionale Gouverneur Vincenzo De Luca während seinen üblichen Facebook-Auftritten drastische Maßnahmen angekündigt: Ausgangssperre ab 23 Uhr in der ganzen Region, Beschränkung der interprovinziellen Bewegungsfreiheit, Appell an die Zentralregierung für die sofortige Einführung eines einmonatigen Lockdowns. Was aber ausblieb: Ideen und Vorschläge zur Absicherung der ökonomischen Bedürfnisse von tausenden von Arbeiter*innen, Kleinhändler*innen, Selbständigen und Prekarisierten, die mit einem Lockdown innerhalb von wenigen Monaten zum zweiten Mal ihr Einkommen oder ihre Existenzgrundlage verlieren werden. Die katholische karitative Organisation <a href="http://s2ew.caritasitaliana.it/materiali/Rapporto_Caritas_2020/Report_CaritasITA_2020.pdf">Caritas</a> hatte noch vor einigen Tagen eine Studie zur Zunahme der Armut veröffentlich. Darin wird erklärt, dass das gemeinsame Merkmal der „neuen Armut“ die Tatsache ist, auf keine Ersparnisse zurückgreifen zu können, wenn die Betroffenen gezwungen sind, länger als drei Monate ohne Einkommen auszukommen. Die Ankündigung von De Luca war also nur der Tropfen, der in Napoli das Fass zum Überlaufen brachte: Die Wut von tausenden von Bürger*innen explodierte in der Nacht vom 23. Oktober.</p><h2><b>Wer steckt hinter den sozialen Protesten?</b></h2><p>Die Wut, die sich in den Protesten ausdrückt, hat dazu geführt, dass sogar ausländische Medien darüber berichtet haben. Vom Bürgermeister von Napoli, Luigi De Magistris, über Regionspräsident Vincenzo De Luca bis hin zu Exponent*innen der Zentralregierung – alle haben die Ereignisse unisono als „geplante, kriminelle Aktionen von Ultras, Camorra und Faschisten“ degradiert. Die Politiker*innen und nationalen Medien verhielten sich also nicht besser als irgendwelche Verschwörungstheoretiker*innen, die die sozialen Gründe der Proteste mittels alter und herabwürdigender Stereotypen der Menschen des Südens (Stichwort „antineapolitanischer Meridionalismus“ <b>[1]</b>) verschleiern und delegitimieren.</p><p>Die Zusammensetzung der Proteste war tatsächlich vielfältig und komplex. Auf die Straße gingen Kleinhändler*innen, Selbstständige und informelle Arbeiter*innen. Sie haben sich mobilisiert, weil sie zu den sozialen Gruppen gehören, die in den letzten Jahren wegen der ökonomischen Krise bereits Schulden gemacht haben, für die soziale Dienste schlecht funktionieren und die den öffentlichen Institutionen daher kaum mehr trauen. Gerade in Napoli besteht zudem eine besondere Nähe zwischen Subproletarier*innen (also denjenigen, die am Rande der Gesellschaft leben oder in kleinkriminellen Kreisen verkehren) und Kleinbürgertum (denjenigen, die eigene Produktionsmittel besitzen: Handwerker*innen, Ladenbesitzer*innen usw.). Die Grenzen zwischen diesen sozialen Kategorien sind fließend, doch das soziale Milieu bleibt konstant und die Bereitschaft zum Konflikt groß. Mit der aktuellen Krise haben diese sozialen Gruppen einen ökonomischen und sozialen Statusverlust erlebt, was angesichts des Tourismusbooms in den letzten zehn Jahren besonders hart ist.</p><p>Das Kleinbürgertum ist eine komplexe soziale Kategorie, die von der „ehrlichen“ Kleinhändlerin reicht, die nur einen bescheidenen Lohn verdient und Schwierigkeiten hat, die Familie zu ernähren, bis zum Unternehmer, der jeden Abend 15.000 Euro einkassiert und seine Angestellten ohne Vertrag arbeiten lässt. Diese Personen waren am Freitag auf der Straße. Aber es protestierten auch ihre informellen Arbeiter*innen, Menschen, die einen Familienbetrieb führen und ihre arbeitslosen Freund*innen in der Nachbarschaft, die täglich mit tausenden Schwierigkeiten konfrontiert werden.</p><p>Der Großteil dieser Menschen hatte gute Gründe, auf die Straße zu gehen. Obwohl sich alle im Klaren waren, dass die zweite Welle stark einschlagen würde, haben De Luca und die Zentralregierung nichts unternommen, um eine Vertiefung der gesundheitlichen und sozialen Krise zu vermeiden. Die Proteste sind also vor allem darum ausgebrochen, weil in diesen Monaten die Ersparnisse aufgebraucht wurden und der Hunger und die psychologische Verzweiflung stark zugenommen haben. Heute haben die Menschen nicht mehr die gleiche Bereitschaft wie noch am 9. März 2020, einen Lockdown zu akzeptieren. Breite Teile der Gesellschaft sind nicht mehr bereit, neue Einschränkungen zu tolerieren. Zumal sie auf die Ineffizienz und Unfähigkeit einer politischen Klasse zurückgehen, die unfähig ist, das gesundheitliche und soziale Desaster zu vermeiden oder adäquat anzugehen. Im März hatte die nationale Regierung noch Gelder für soziale Maßnahmen gesprochen. Nun hat sie erklärt, dass kein Geld mehr zur Verfügung steht. Und während der regionale Gouverneur De Luca noch kurz vor den Regionalwahlen Ende September Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilt hatte, hat er diesmal nichts mehr anzubieten. Folglich können die Forderungen der Proteste so zusammengefasst werden: „Wenn du uns einschließt, musst du uns bezahlen“.</p><h2><b>Weder Pest, noch Cholera</b></h2><p>Die an den Tag gelegte Gewalt während der Proteste ist ein Ausdruck sowohl der tiefen Krise als auch der widersprüchlichen sozialen Zusammensetzung der Menschen, die sich an den Protesten beteiligt haben. In den letzten Krisenmonaten hat sich eine soziale Spannung aufgebaut, die sich angesichts der Drohung eines neuen Lockdowns entladen hat. Während nicht nur konservative, sondern auch einige linke Kommentator*innen die Gewalttaten verurteilen, wäre es angebrachter, die Stimmen des Protests zu hören und sich für eine tiefgreifende Restrukturierung des öffentlichen Gesundheitssystems einzusetzen, die sich auf seriöse Präventionsprogramme und auf die territoriale Verankerung stützt. Zudem bräuchte es Maßnahmen zur ökonomischen Absicherung von Arbeiter*innen und denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die am stärksten von restriktiven Corona-Regeln betroffen sind.</p><p>Die Drohung eines neuen Lockdowns zeigt, dass die Einführung präventiver Maßnahmen der Regierenden zu spät kommen. Die zahlreichen Warnungen des Gesundheitspersonals bestätigen zudem, dass wir kurz vor der einer gesundheitlichen Katastrophe stehen. Wenn es so weiter geht, sterben wir in aufgrund von COVID-19 überfüllten Krankenhäusern mit überarbeiteten Gesundheitsarbeiter*innen oder aufgrund des politisch produzierten sozialen und ökonomischen Elends. Es liegt an uns, uns dieser zynischen Wahl zwischen Pest und Cholera entgegenzustellen.</p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> „Antineapolitanischer Meridionalismus“ bezeichnet die Vorurteile gegen die Leute des als „verwahrlost“ diffamierten Südens Italiens als kriminell, chaotisch, ungehobelt, unkultiviert und so weiter.</p><p></p><p><i>Die Autor*innen sind Mitglieder der linken Organisation</i> <a href="https://poterealpopolo.org/"><i>Potere al Popolo</i></a><i> und wohnen und kämpfen in Neapel.</i></p></div>
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Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?2020-05-07T16:21:01.393813+00:002020-05-07T16:24:59.762092+00:00Giuliano Granatoredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/was-bedeutet-die-phase-2-in-italien-f%C3%BCr-die-arbeitswelt/
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<h1>Was bedeutet die „Phase 2“ in Italien für die Arbeitswelt?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Knapp zwei Monate nach der Einführung des Lockdowns (der sogenannten „Phase 1“, wie die italienische Regierung sie bezeichnete) am 9. März 2020 befinden wir uns in Italien nun im Übergang zur sogenannten „Phase 2“, also der (schrittweisen) Wiedereröffnung der industriellen Produktion und des gesellschaftlichen Lebens. Seit dem 27. April nehmen rund drei Millionen Arbeiter*innen ihre Arbeit wieder auf. Sie ergänzen nun all jene Arbeiter*innen, die während des Lockdowns trotz gesundheitlichen Risiken nie aufgehört hatten zu arbeiten. Anfang Mai wurden die meisten industriellen Aktivitäten wieder gestartet. Für einen Teil der Dienstleistungen und des Handels ist der Zeitplan, den Premierminister Giuseppe Conte am 26. April angekündigt hatte, etwas gestreckter: Bis zum 1. Juni soll Italien zur „Normalität“ zurückkehren – falls die Zahl der Erkrankungen und der Todesopfer von Covid-19 nicht wieder zu steigen beginnt.</p><p>Während für die Lohnabhängigen vielerorts die „Phase 2“ eine zunehmende <a href="https://twitter.com/Mau_Ri_83/status/1257720339976671233?s=20">Gefahr für Leib und Leben</a> bedeutet, gibt es an anderen Orten dennoch Bewegung: In den letzten zwei Monate der Pandemie haben die Arbeiter*innenkämpfe bereits zwei verschiedene Phasen erlebt und in Kürze werden wir in die dritte Phase eintreten.</p><h2><b>Phase 1: Die Arbeiter*innen mobilisieren sich für das Recht auf Leben</b></h2><p>In den ersten beiden Märzwochen erlebten wir eine kurze, aber intensive Phase der Arbeiter*innenmobilisierung: wilde Streiks, Streiks, die von den konfliktorientierten Basisgewerkschaften USB, S.I. Cobas und CUB und teilweise von der FIOM (die größte Metallarbeiter*innengewerkschaft, die zum linken Gewerkschaftsbund CGIL gehört) organisiert wurden, oder auch Arbeitsniederlegungen durch Inanspruchnahme von Krankheitstagen, Urlaub und Spezialabsenzen. Für einen Teil der Klasse handelte es sich zudem um einen Kampf für die Einführung von<i> smart working</i>, also von der computergestützten Heimarbeit. Dabei ging es aber nicht darum, diese Form der Arbeit grundsätzlich als besseres Arbeitsverhältnis zu sehen, sondern darum, unmittelbar das Ansteckungsrisiko zu minimieren.</p><p>Die großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL hinkten diesen Streiks oft hinterher, was auf ihre abnehmende Verankerung in den Betrieben zurückzuführen ist. Sie begannen die Belegschaften erst dann zu verteidigen, als die Streiks schon in vollem Gange waren. Ein Beispiel für dieses Versäumnis sind die Arbeiter*innenproteste bei FIAT-FCA in Pomigliano d’Arco bei Neapel. Hier hatten die Arbeiter*innen die Arbeit aufgrund der fehlenden gesundheitlichen Schutzmaßnahmen niedergelegt. Erst infolge dieser Streiks unterzeichneten die Unternehmensleitung und die Gewerkschaften ein betriebliches Abkommen zur Sicherstellung der gesundheitlichen Schutzmaßnahmen, was wiederum zur vorübergehenden Schließung der Fiat-Werke italienweit – und später gar europaweit – führte.</p><p>Durch die gewichtige <a href="https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00026914/07_Coppola_Italien.pdf">Rolle von FIAT-FCA im italienischen Kapitalismus</a> hatte dieser Protest einen starken Beispielcharakter auch für andere Sektoren. So mussten auch einige andere Unternehmen aufgrund der als Protestform gewählten hohen krankheitsbedingten Abwesenheitsquote „schließen“. Daraufhin reagierte der Staat: Das nationale Sozialversicherungsamt INPS übte Druck auf die Hausärzt*innen aus und erteilte ihnen die Weisung, die Arbeiter*innen nicht mehr so leichtfertig krankzuschreiben, um die Arbeitsabsenzen zu beschränken.</p><p>In diesen ersten Wochen des Lockdowns erlebte Italien also über das gesamte Territorium verteilt einen weitreichenden und diffusen Ungehorsam. Es handelte sich nicht um offensive Kämpfe, sondern vielmehr um einem Widerstand der Arbeiter*innen gegen den neuen Druck einer <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">Arbeit in Zeiten des Coronavirus</a>. In den Kämpfen stand der Schutz des Lebens der Arbeiter*innen vor jedem anderen (ökonomischen) Bedürfnis. Innerhalb weniger Stunden wurde den Arbeiter*innen bewusst: Die Unternehmen behandelten die Arbeiter*innen schlicht als stets zur Verfügung stehende „Waren“; für sie waren die Wirtschaftszahlen wichtiger als die Leben „ihrer“ Arbeiter*innen; und sie waren weiterhin bereit, eine Wirtschaftsentwicklung zu verteidigen, die für die Unternehmen volle Taschen, für die Menschen jedoch – letztlich – den Tod bedeutete.</p><p>Eine mögliche Wiederaufnahme dieses Widerstands der Arbeiter*innen in Form von öffentlich ausgetragenen Kämpfen oder mittels versteckter Formen des Widerstands als „weapons of the weak“, wie es die amerikanische Soziologin Beverly Silver in ihrem Werk <a href="https://libcom.org/files/Beverly_J._Silver-Forces_of_Labor__Workers'_Movements_and_Globalization_Since_1870_(Cambridge_Studies_in_Comparative_Politics)__-Cambridge_University_Press(2003).pdf"><i>Forces of Labor</i></a> (2003) beschrieben hat, prägte die politische Debatte darüber, welche Sektoren als essentiell und lebensnotwendig zu bezeichnen sind und welche nicht.</p><p>Obwohl die Regierung zunächst nicht auf die Forderungen nach einer unmittelbaren Wiedereröffnung der industriellen Produktion des Unternehmensverbandes Confindustria einging, lenkte sie jetzt in vielen Punkten dennoch ein. So bedeutet die von der Regierung angekündigte Phase 2 eine Wiederaufnahme der industriellen Tätigkeiten und gleichzeitig eine Fortsetzung des Lockdowns – auch wenn in gelockerter Form – für die Menschen im Alltag.</p><h2><b>Phase 2: Weiterführung der Produktion und Rückgriff auf soziale Sicherungsnetze</b></h2><p>Nach den ersten zwei Wochen im Lockdown änderte sich die Situation. Die Streiks nahmen rasant ab. Grund dafür war in erster Linie ein infames <a href="http://www.governo.it/it/articolo/il-presidente-conte-videoconferenza-con-le-parti-sociali/14304">„Protokoll über die Sicherheit an den Arbeitsplätzen“</a>, das Regierung, Unternehmensverband und Gewerkschaften am 14. März unterzeichneten. Mit diesem „sozialpartnerschaftlich“ unterzeichneten Protokoll gab die Regierung in dem Moment, in dem Millionen von Arbeiter*innen für die vorübergehende Schließung der Produktion kämpften, den Unternehmen die Möglichkeit, sie auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter*innen weiter laufen zu lassen. Den Arbeiter*innen blieb also nichts anderes übrig, als weiterhin den individuellen Weg der Arbeitsabwesenheit (Krankheit, Urlaub, Spezialabsenzen) zu wählen. Darauf wurde vor allem dort zurückgegriffen, wo die kollektiven und öffentlich ausgetragenen Kämpfe verloren wurden und die Produktion weiter lief, wo nicht auf<i> smart working</i> zurückgegriffen werden konnte und wo die nötigen Schutzdispositive (Schutzmasken, Handschuhe, Desinfizierung der Arbeitsplätze und so weiter) nicht eingeführt wurden. Auch wenn der Handlungsspielraum der Arbeiter*innen dadurch wesentlich eingeschränkt war, stellte diese Kampfform der Arbeitsabwesenheit weiterhin ein starkes Signal dar: Sie legte die kapitalistische Logik offen, in der die Garantie von Profit in Antithese zur Verteidigung des Lebens steht.</p><p>Viele Unternehmen wurden durch die Bedrohung der Arbeitskämpfe und den gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, gesundheitliche Schutzdispositive einzuführen; andere Unternehmen argumentierten jedoch mit der Möglichkeit des Arbeitsplatzverlusts für die Lohnabhängigen. Sie nutzten damit die Angst vor Arbeitslosigkeit aus, um die Produktion weiterzuführen; ganz so, als ob nichts wäre. Viele Arbeiter*innen berichteten über das <a href="https://poterealpopolo.org/faq-emergenza-covid-19-per-lavoratori-e-lavoratrici/">„rote Telefon“</a> von <i>Potere al Popolo</i>, dass sie gezwungen waren, gegenüber der Polizei Falschaussagen zu machen, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Dies war beispielsweise oft bei irregulär Arbeitenden der Fall, die über keinen Arbeitsvertrag verfügen und daher rechtlich betrachtet gar nicht zur Arbeit fahren durften.</p><p>Ein weiteres seit Beginn der Pandemie mögliches Instrument zur Weiterführung der Produktion seitens der Unternehmen war die Beantragung einer Spezialbewilligung bei den Präfekturen – also den Vertretungen des Innenministeriums in den Provinzen. Diese Ausnahmeregelungen wurden so offen formuliert und die Kontrollen in den Betrieben so unzureichend durchgeführt, dass es de facto für die Unternehmen einfach war, straffrei weiter zu produzieren.</p><p>Von dieser Möglichkeit der Ausnahmeregelung machten bis Ende April über 196.000 Unternehmen Gebrauch, wobei nur in sechs Prozent der Fälle die Anfrage abgelehnt wurde. Den Unternehmen wurde gestattet, in der Zeit zwischen der Einreichung und der Prüfung des Antrages wieder zu öffnen. Es handelte sich dabei um eine lange Zeitdauer wenn man bedenkt, dass die Präfekturen bisher weniger als 50 Prozent der Gesuche bearbeitet haben.</p><p>In dieser zweiten Phase versuchten diejenigen Arbeiter*innen, die tatsächlich nicht zur Arbeit fahren konnten, sozialstaatliche Unterstützungsleistungen zu erhalten. Es gab einen regelrechten Ansturm auf das Kurzarbeitsgeld und auf den Bonus von 600 Euro für Selbständige. Im Wesentlichen formulierten die Arbeiter*innen zwei Forderungen: Erstens die Integration derjenigen Klassensegmente in die sozialstaatlichen Hilfsleistungen, die von den bestehenden Versicherungen ausgeschlossen sind. Zweitens die Entwicklung neuer sozialstaatlicher Instrumente für die Ausgeschlossenen; dazu gehören vor allem die Forderungen nach einem Notlage-Grundeinkommen (<i>reddito d'emergenza</i>), die kollektive Regularisierung von papierlosen Arbeitsmigrant*innen, die zeitliche Ausdehnung der Arbeitslosenentschädigung und Spezialzahlungen für Care-Arbeiter*innen.</p><p>Die Maßnahmen der italienischen Zentralregierung wurden ergänzt durch Maßnahmen der einzelnen Regionen, doch noch heute warten aufgrund der Trägheit der institutionellen Prozesse Millionen von Arbeiter*innen auf den Zugang zu ihren Rechten. Dabei geht es nicht um ein blindes Hoffen auf die Gutmütigkeit der Regierung. Es geht darum, dass die Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeiter*innen tatsächlich beschlossen wurden und also alle Arbeiter*innen ein Recht darauf haben, auch wenn die Maßnahmen letztlich ungenügend bleiben werden.</p><p>Obwohl die Regierung stets verspricht, „schnell zu handeln“, spielt sie auf Zeit. Das angekündigte April-Dekret, das die Lücken der vorherigen Dekrete schließen sollte und sowohl Liquiditätshilfen für Unternehmen als auch die Aufstockung der sozialstaatlichen Hilfeleistungen vorsah, wird nun doch erst Anfang Mai verabschiedet. Die wachsende Wartezeit schränkt aber die Möglichkeit größerer Mobilisierungen ein, die Arbeiter*innen beschränken ihre Forderungen fast ausschließlich auf ihre jeweiligen Berufskategorien.</p><h2><b>Phase 3: Die Unternehmen nehmen die Produktion wieder auf – und die Arbeiter*innen ihren Kampf?</b></h2><p>Mit der letzten April-Woche fand auch die „Generalprobe“ auf die Wiedereröffnung der Produktion statt. Der Wiederaufnahme zahlreicher bis dahin noch geschlossener Tätigkeiten gingen nationale und/oder lokale Abkommen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften über die Notwendigkeit der Umsetzung wichtiger Sicherheitsmaßnahmen voraus.</p><p>Viele dieser Abkommen wurden von den Medien hoch gelobt. So konnte der Widerspruch zwischen Profit der Unternehmen und der Gesundheit der Arbeiter*innen, welcher in den ersten Wochen des Pandemieausbruchs mit beispielloser Klarheit zutage getreten war, wieder verschleiert werden. FIAT-FCA, Electrolux, Whirlpool und viele andere Großunternehmen wurden als Vorbilder präsentiert: Die Unternehmen kümmerten sich um die Gesundheit der Arbeiter*innen! Oder gar noch zynischer: sei sei sogar eine absolute Priorität des „italienischen Geschäftsmodells“!</p><p>Viel wahrscheinlicher, als diese Heilsbotschaft suggeriert, ist jedoch eine Intensivierung des Klassenwiderspruchs in dieser dritten Phase. Sie ist ein neuer Kampfzyklus zur Verteidigung der Gesundheit, der die Logik des Lebens vor die Logik des Profits stellen wird. Es wird sich aber nicht um ein „zurück zur Phase 1“ handeln: Zum einen, weil die präventive Repression es schwierig gemacht hat, die kämpfenden Arbeiter*innen materiell zu unterstützen (ein Streik kann zwar ausgerufen und praktiziert werden, doch ihn mit einem Streikposten oder gar mit einer Demonstration zu unterstützen ist nach wie vor sehr schwierig). Andererseits auch deshalb nicht, weil die ökonomische Krise immer spürbarer wird und seit rund einem Monat die Angst um die Zukunft für viele Menschen real und immer erdrückender geworden ist.</p><p>Die im Protokoll vom 14. März vorgesehenen Organe, die sogenannten „Kontrollausschüsse“ für die Durchsetzung von Maßnahmen, haben ihre Arbeit in den einzelnen Unternehmen de facto nicht flächendeckend aufgenommen; in nur 40 Prozent aller Unternehmen wurden sie tatsächlich gegründet. Dort, wo sie existieren, bleiben sie aber nach wie vor untätig. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die gewerkschaftlichen und sicherheitstechnischen Vertretungen der Arbeiter*innen in den Betrieben – <i>rappresentanze sindacali unitarie</i> (RSU),<i> rappresentanza sindacale aziendale</i> (RSA), <i>rappresentante dei lavoratori per la sicurezza</i> (RLS) sind drei betriebliche Arbeiter*innenorgane, die mit den deutschen Betriebsräten verglichen werden können – zur Zielscheibe nicht nur der Unternehmensleitungen werden könnten, sondern auch der Arbeiter*innen selbst. Und zwar deshalb, weil viele Arbeiter*innen aufgrund der Angst vor einer schweren ökonomischen Krise und einem allfälligen Jobverlust trotz der gesundheitlichen Risiken dem Motto des Unternehmensverbandes Confindustria – „Arbeit um jeden Preis“ – Folge leisten könnten. Dies wird insbesondere in denjenigen Betrieben passieren, in denen die Arbeiter*innenvertretungen die Stimme der Unternehmensleitung repräsentieren und dort, wo die Gewerkschaften ganz abwesend sind.</p><p>Das Risiko besteht darin, dass in den Unternehmen Bedingungen stillschweigend akzeptiert werden, die schädlich sind für die Gesundheit der Arbeiter*innen. Die Repressions- und Erpressungsmöglichkeiten der Unternehmen haben sich vervielfacht: die Drohung der Betriebsschließung oder der Verringerung des Arbeitsvolumens, der Verlust von Marktanteilen, die Verwendung einer selektiven Kurzarbeit, die sogenannten „Störenfrieden“ oder den als nicht funktional definierten Arbeiter*innen auferlegt werden; die Verweigerung von<i> smart working</i> aus nicht objektiven Gründen, sondern als „Strafe“; und nicht zuletzt die Androhung von Entlassungen, sobald den Unternehmen das Recht dazu wieder eingeräumt wird (im Dekret „Cura Italia“ wurde ein Kündigungsverbot bis Mitte Mai verabschiedet, das im April-Dekret bis zum Ende der Pandemie verlängert werden soll). Es ist also von wesentlicher Bedeutung, dass im April-Dekret das Kündigungsverbot erneuert und die staatliche Unterstützung von Unternehmen an Bedingungen geknüpft wird. Ansonsten werden sie – wie schon so oft – neue finanzielle Unterstützungsleistungen dazu nutzen, um zu einem späteren Zeitpunkt Kündigungen auszusprechen oder „Restrukturierungen“ vorzunehmen.</p><h2><b>Was tun in der offiziellen „Phase 2“?</b></h2><p>Aufgrund des gezeichneten Szenarios müssen wir davon ausgehen, dass die Konflikte, die an den Arbeitsplätzen ausbrechen werden, entscheidend sein werden für die Zukunft unserer Klasse. Dabei spielt es keine Rolle, ob es diese Arbeitskämpfe an die Öffentlichkeit schaffen oder ob sie mehrheitlich eher „unterirdisch“ verlaufen – sie werden auf jeden Fall spürbar sein. Was sind nun unsere Aufgaben als linke Organisationen angesichts dieser neuen Phase? Was ist „unsere“ Phase 3, die wir ihr vorausschicken?</p></div>
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<p>"Pandemie, Arbeit und Phase 2 - Drei konkrete Vorschläge"</p>
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<div class="rich-text"><h4><i>1) Die Produktion und ihre Kämpfe sichtbar machen!</i></h4><p>Zunächst einmal geht es darum, der „Außenwelt“ mitzuteilen, was in den Betrieben geschieht. Dafür sind alle Kanäle, Strukturen und Netzwerke unentbehrlich, die uns heute zur Verfügung stehen: Einzelne Aktivist*innen, Arbeiter*innen, denen wir im Laufe der letzten Jahre begegnet sind, gewerkschaftliche Strukturen jeglicher Art. Es ist notwendig, eine gemeinsame Anstrengung auf uns zu nehmen, um das sichtbar zu machen, was in den „verborgenen Stätten der Produktion“ (Marx) vor sich geht. Denn dabei handelt es sich nicht um eine private Angelegenheit von Unternehmen, es ist das Interesse der Allgemeinheit, zu wissen, was an den Arbeitsplätzen passiert.</p><h4><i>2) Populare Komitees bilden!</i></h4><p>Wir können die Verteidigung der Gesundheit in den Betrieben dabei nicht allein den direkt betroffenen Arbeiter*innen überlassen. Aus den oben dargelegten Gründen besteht die Gefahr, dass die (ökonomische) Erpressung, der wir alle ausgesetzt sind, eine angemessene Verteidigung erschwert.</p><p>Es ist notwendig, die Schaffung von popularen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter*innen in die Wege zu leiten, die auf territorialer Basis von Aktivist*innen, aber auch von Gewerkschaften, Kollektiven, sozialen und politischen Organisationen gebildet werden. Ihre Aufgabe wäre es, als Werkzeug in den Händen jene*r Arbeiter*innen zu fungieren, die an den einzelnen Arbeitsplätzen nicht über das angemessene Kräfteverhältnis verfügen.</p><p>Gleichzeitig müssen wir fordern, dass die für die Kontrolle zuständigen Institutionen, wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest vorrangig auf die Kontrolle der Unternehmen hinarbeiten: Das nationale Arbeitsinspektorat, die Finanzpolizei, die lokale Polizei und die lokalen Gesundheitsinstitutionen müssen aufhören, alle 100 Meter Posten zu errichten, um die Menschen zu kontrollieren, ob sie individuell die Sicherheitsvorschriften einhalten; vielmehr müssen sie sich auf die Kontrolle der Arbeits- und Gesundheitsbedingungen in den Betrieben konzentrieren und sich so für das Recht auf das Leben von Millionen von Menschen in den Produktionsstätten einsetzen. Auch in diesem Fall schlagen wir die Einrichtung von popularen Komitees vor, die die Koordinierung dieser Tätigkeiten organisieren. Dies muss mit der Beteiligung der Gewerkschaften, aber unter Ausschluss der Unternehmensvertretungen geschehen, denn in einem popularen Kontrollorgan darf niemand vertreten sein, der „kontrolliert“ werden muss.</p><h4><i>3) Auf die ökologische Transformation hinarbeiten!</i></h4><p>Auf einer allgemeineren politischen Ebene besteht die Notwendigkeit, über die Einrichtung einer „Agentur für die ökologische Transition“ nachzudenken. In naher Zukunft werden zahlreiche Betriebe schließen und viele Unternehmen werden enorme staatliche finanzielle Unterstützung anfordern. Im Kontext der aktuellen Ausweitung der „staatlichen Hilfen“, des <i>common sense</i> über die Nützlichkeit staatlicher Interventionen und der ersten Verstaatlichungsprozesse bestimmter Unternehmen, muss der Staat die Rolle eines intervenierenden Akteurs der Industrie- und Wirtschaftspolitik werden und auf die Entwicklung eines Plans für die Zukunft hinarbeiten. Einige Unternehmen müssen vom Staat übernommen und mit Rücksicht auf eine gesundheitliche und ökologische Produktion weiterentwickelt werden. Während dieses Übergangs muss den Arbeiter*innen der nötige sozialstaatliche Schutz und die berufliche Weiterbildung garantiert werden.</p><p>Das sind in keinster Weise unrealistische Forderungen. Es fehlt oft einzig der politische Wille und die politische Kraft dazu, einen solchen Übergang zu organisieren. Die Regierung hat in diesen Tagen enschieden, die Einführung der <i>plastic tax</i> und der <i>sugar tax</i> hinauszuzögern. Dieses Hinauszögern steht unseren Interessen nicht aufgrund der fehlenden Staatseinnahmen entgegen – die tatsächlichen Einnahmen wären laut den Plänen der Regierung sowieso sehr niedrig –, sondern aufgrund des politischen Signals, das mit dieser Entscheidung ausgesendet wird: die ökologische Frage – und somit diejenige des Lebens der Arbeiter*innen – ist für die Regierung zweitrangig im Vergleich zu den Profitbedürfnissen der Unternehmen.</p><p>Die Welt von morgen wird nicht aus einem sowieso unmöglichen Zurück in die Vergangenheit hervorgehen. Eine Vergangenheit, die für viele von uns bereits die „Krankheit“ war. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass wir in die für uns richtige Richtung gehen.</p><hr/><p><i>Giuliano Granato ist ein Arbeiter, der aufgrund seines gewerkschaftlichen Aktivismus entlassen wurde. Er ist zudem Mitglied der nationalen Koordination der linken Organisation</i> <a href="http://www.poterealpopolo.org/"><i>Potere al Popolo</i></a><i>.</i></p><p></p><p><i>Übersetzung von Maurizio Coppola.</i></p></div>
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