re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?author=1072020-04-06T09:32:01.810622+00:00Wir wollen unsere Rechte – kollektive Regularisierung jetzt!2020-04-06T08:32:34.377706+00:002020-04-06T09:32:01.810622+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wir-wollen-unsere-rechte-kollektive-regularisierung-jetzt/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Wir wollen unsere Rechte – kollektive Regularisierung jetzt!</h1>
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<div class="rich-text"><p>Während sich die Gesundheitskrise aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus immer mehr in eine tiefe soziale Krise verwandelt, wird uns klar, dass – sobald diese Notlage vorbei ist – viele Dinge nicht mehr so funktionieren können wie bisher.<br/> Der Abbau des Gesundheitssystems – vorangetrieben durch die in den letzten zwei Jahrzehnte durchgeboxten Spar- und Privatisierungmaßnahmen – hat dazu geführt, dass die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen heute ohne Spenden von Privatpersonen und ohne den freiwilligen Einsatz von Tausenden von Gesundheitsarbeiter*innen nicht funktionieren und die Notlage, in der wir uns befinden, nicht bewältigen können.</p><p>Aufgrund des Angriffs auf die Rechte und die Gesundheit der Arbeiter*innen und aufgrund des Primats der Unternehmen, unter allen Umständen produzieren zu müssen, sind es die Arbeiter*innen, die den Preis dieser Krise bezahlen – und das ist nicht selten ihr Leben. In dieser Notsituation hat der Mangel an individuellen Schutzdispositiven (<i>dispositivi di protezione individuale</i>) und Sicherheitsmaßnahmen die Ausbreitung des Virus an den Arbeitsplätzen beschleunigt und zu Toten geführt (Briefträger*innen, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen des öffentlichen Verkehrs, Supermarktkassierer*innen, Logistikarbeiter*innen, Arbeiter*innen in Call Center) – Tote, die zu den mehr als 1.200 Arbeitstoten hinzukommen, die Italien jedes Jahr auch in Zeiten der „Normalität“ zählt.</p><p>Dass nichts so sein kann, wie es bisher war, zeigen auch die Hunderttausenden von Migrant*innen und Geflüchteten, deren Rechte in den letzten Jahrzehnten zu Krümeln reduziert wurden; die Migrationspolitik hat Bürger*innen zweiter und gar dritter Klasse hervorgebracht. Die <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">offiziellen Daten</a> sprechen eine klare Sprache: In Italien leben heute schätzungsweise 611.000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung; eine Zahl, die seit der Einführung der Sicherheitsverordnungen des ehemaligen Innenministers und Lega-Chefs Matteo Salvini stark gestiegen ist. Heute treten diese Probleme mehr denn je an die Oberfläche, es ist Zeit zu handeln.</p><h2><b>Die Lebensmittelversorgung: Ohne migrantische Arbeiter*innen wird nicht gegessen</b></h2><p><a href="https://www.ilsole24ore.com/art/acquisti-gdo-rialzo-27percento-terza-settimana-quaratena-ma-si-teme-il-periodo-pasquale-ADXICxH">Nach Angaben</a> der Zeitung des Unternehmensverbandes <i>Confindustria, Il Sole 24 Ore</i>, erleben die Supermärkte derzeit einen Anstieg der Inlandsnachfrage von 20 Prozent, wobei auch die Nachfrage aus dem Ausland im selben Ausmaß zunimmt. Doch während die großen Einzelhandelsunternehmen inmitten der gesundheitlichen Notlage und der ökonomischen Krise ihre Gewinne steigern, zahlen die rund 350.000 Landarbeiter*innen den Preis dafür; <a href="https://mediciperidirittiumani.org/medu/wp-content/uploads/2019/10/rap_ottobre_medu_2019_web.pdf">nach Angaben</a> von <i>Ärzt*innen für Menschenrechte</i> arbeitet weniger als die Hälfte der Landarbeiter*innen mit einem regulären Arbeitsvertrag.</p><p>Die migrantischen Landarbeiter*innen – die sogenannten <i>braccianti</i> – lebten und arbeiteten schon vor der aktuellen Corona-Krise unter prekären Verhältnissen. Ihre Lage ist determiniert von einer Gesetzgebung, die den arbeitenden Migrant*innen keinen automatischen Zugang zur Aufenthaltsbewilligung und somit zu den nationalen Sozial- und Gesundheitsdiensten gewährt. Ihre papierlose Existenz hat sich nun jedoch aus mindestens zwei Gründen weiter prekarisiert:</p><ol><li>Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit verunmöglicht es ihnen, in die Regionen Italiens zu reisen, in denen die frühjährliche Obst- und Gemüseernte beginnt (in Apulien für Tomaten, im Piemont für Äpfel usw.);<br/></li><li>In den verschiedenen Zeltlagern entlang der Felder (Arbeitsorte) herrschen Unterbringungsbedingungen, die es ihnen nicht erlaubt, sich vor einer Covid-Ansteckung zu schützen: kein fließendes Wasser, infrastrukturelle Unmöglichkeit, sichere Abstände einzuhalten, und so weiter.</li></ol><h2><b>Care-Arbeiter*innen: Von einem Tag auf den anderen arbeits- und obdachlos</b></h2><p>Ähnliche Probleme haben die Care-Arbeiter*innen, die sich täglich um die Hausarbeiten und um die älteren Menschen unserer Gesellschaft kümmern. Die Alterung der Gesellschaft und die Entscheidung des Staates, die Last der Pflege, die die älteren Menschen benötigen, nach dem Diktat der liberalen Ideologie auf die Familien und nicht auf den öffentlichen Wohlfahrtsstaat zu verlagern, haben zur Bildung einer Armee von Care-Arbeiter*innen geführt: Nach den <a href="https://associazionedomina.it/wp-content/uploads/2020/02/Inps_lavoro-domestico_giugno2019.pdf">jüngsten Daten</a> gibt es etwa rund zwei Millionen Care-Arbeiter*innen, von denen weniger als die Hälfte (etwa 865.000) einen regulären Arbeitsvertrag besitzen und die große Mehrheit Frauen aus Osteuropa sind.</p><p>Die Blockade des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und die Angst vor der Verbreitung des Virus unter den älteren Menschen hat zur sofortigen Entlassung der Care-Arbeiter*innen geführt. Während die letzte Verordnung der Regierung einen sozialen Mindestschutz für einige reguläre Care-Arbeiter*innen vorsieht, wurden irreguläre Arbeiter*innen nicht nur von der Maßnahme ausgeschlossen, sie verloren auch von einem Tag auf den anderen Job und Unterkunftsmöglichkeiten.</p><h2><b>Eine globalisierte Wirtschaft: die Bedeutung der finanziellen Unterstützung ins Heimatland</b></h2><p>Die Auswirkungen dieser sozialen Krise beschränken sich nicht nur auf das tägliche Leben der Arbeiter*innen in Italien, sondern betreffen auch die Herkunftsländer der Migrant*innen. <a href="https://www.bancaditalia.it/statistiche/tematiche/rapporti-estero/rimesse-immigrati/">Nach Angaben</a> der italienischen Nationalbank <i>Banca d'Italia</i> belaufen sich die Geldüberweisungen der in Italien lebenden Migrant*innen an ihre Familien im Herkunftsland auf über sechs Milliarden Euro jährlich; in einigen Fällen können diese Beträge bis zu 35 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts der Länder ausmachen.<br/> Es ist kein Zufall, dass die ersten Zielländer dieser Überweisungen die Herkunftsländer derjenigen Migrant*innen sind, die Obst und Gemüse auf den Feldern sammeln und sich um die Hausarbeit und um die älteren Menschen kümmern: China, Bangladesch, Rumänien, Philippinen, Pakistan, Senegal, Marokko, Sri Lanka.</p><p>Die Schwierigkeiten, die die Wirtschaften und Familien in den Ländern des Südens bereits heute haben, werden sich somit verschärfen. Die Verlangsamung und sogar die völlige Schließung ganzer Wirtschaftszweige, in denen Migrant*innen einen wichtigen Teil der Arbeitskräfte ausmachen, wird direkte Auswirkungen auf die andere Seite der Welt haben. Dies beweist uns einerseits die unvermeidliche Vernetzung der globalisierten Wirtschaft, führt jedoch andererseits auch zu mehr Hunger und Armut im globalen Süden.</p><h2><b>Leben in den Asylcamps und Rückführungen</b></h2><p>Ebenso problematisch ist die gesundheitliche und soziale <a href="https://www.ispionline.it/it/pubblicazione/migrazioni-italia-tutti-i-numeri-24893">Situation der offiziellen Asylsuchenden</a>. Heute befinden sich etwa 95.000 Geflüchtete in den Asylcamps und 50.000 warten auf den Asylentscheid. Die kollektiven Unterbringungsbedingungen in den Asylcamps entsprechen in den meisten Fällen nicht den Vorgaben der Regierung, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen: Kollektive Schlafräume von bis zu zehn Personen, infrastrukturelle Unmöglichkeit, positiv getestete Personen zu isolieren, unzureichende Wasser- und Sanitäranlagen.</p><p>Und obwohl die Europäische Union den freien Personenverkehr mit der Schließung der jeweiligen Landesgrenzen vorübergehend ausgesetzt hat, bleibt das System der Rückführungen in die Länder des Südens vorerst unberührt. Unter der aktuellen Regierung von Premierminister Giuseppe Conte werden monatlich 600 Rückführungen durchführt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, warnte die Mitgliedstaaten, <a href="https://www.agensir.it/quotidiano/2020/3/26/coronavirus-covid-19-consiglio-deuropa-migranti-e-rimpatri-richiesti-interventi-demergenza/">Rückführungen zu stoppen</a> und für die betroffenen Migrant*innen wegen des fehlenden Gesundheitsschutzes in den Abschiebungscamps eine Lösung zu finden. Bisher hat sich die italienische Regierung jedoch nicht um diese Problematik gekümmert.</p><h2><b>Kollektive Regularisierung jetzt!</b></h2><p>Die gesundheitliche und soziale Notlage, in der wir heute leben, erfordert wichtige politische Maßnahmen für Migrant*innen und Geflüchtete. Bisher wurden sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Hierbei geht es nicht ausschließlich um die Sicherung der Grundrechte jedes einzelnen Menschen, sondern auch um den Schutz der kollektiven Gesundheit. Deshalb fordern wir von der Politik:</p><p>1. Die kollektive Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten, die heute ohne Aufenthaltsbewilligung auf italienischem Territorium leben und arbeiten; diese soll durch ein vereinfachtes und außerordentliches Verfahren zur Erteilung der Aufenthaltspapiere auf kommunaler Ebene erfolgen;</p><p>2. Außerordentliche sozialstaatliche Geldleistungen für alle migrantischen Arbeiter*innen (unabhängig vom rechtlichen Status), die aufgrund des Covid-19-Notstands ihre Arbeit verloren haben;</p><p>3. Die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit (freier Zugang zu ärztlichen Untersuchungen, Covid-Tests und medizinischen Behandlung) und Schutzmaßnahmen für migrantische Arbeiter*innen und Geflüchtete, die bei der Arbeit und in den Asylcamps am stärksten der Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind;</p><p>4. Die Gewährleistung des Rechts auf Wohnung durch die Bereitstellung von Unterkünften, die aufgrund des Rückgangs des Tourismus leer stehen, von staatseigenem Eigentum und von leeren Häusern für Obdachlose und Migrant*innen, die bisher dazu verdammt sind, in überfüllten Zeltlagern und Asylcamps zu leben.</p><p>Die Regularisierung aller Migrant*innen und Geflüchteten ist die einzige Möglichkeit, heute die kollektive Gesundheit und morgen die Grundrechte aller Menschen zu garantieren.</p><p></p><hr/><h3>Anmerkungen</h3><p><i>Dieser Text ist auf italienisch</i> <a href="https://poterealpopolo.org/e-tempo-di-diritti-regolarizzazione-ora/"><i>hier</i></a><i> erschienen. Übersetzung von der re:volt Redaktion.</i></p></div>
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Ein Brief aus Italien2020-03-17T17:07:26.354357+00:002020-03-17T17:12:55.117304+00:00Potere al Popoloredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-brief-aus-italien/
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<h1>Ein Brief aus Italien</h1>
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<div class="rich-text"><p>Die Verbreitung des Coronavirus konfrontiert uns mit einem bisher noch nie dagewesenen Szenario. Obwohl einige Regierungen, insbesondere die USA, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung immer noch unterschätzen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Covid-19 vor einigen Tagen offiziell zur Pandemie erklärt; immer mehr Regierungen beginnen, das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen.</p><p>Italien ist, was Ansteckung und Tote angeht, das am zweitschlimmsten betroffene Land nach China, mit knapp 27.980 bestätigten Fällen und über 2.158 Todesfällen (Stand 17.3.2020) – Tendenz steigend. Italien kann somit als Testfall dafür angesehen werden, wie das Virus andere Länder im Norden der Welt treffen könnte. Die Situation entwickelt sich sehr schnell und sorgt für viel Verwirrung. Wir denken deshalb, es macht Sinn, ein paar kurze Überlegungen zu einigen Aspekten dieser Krise zu teilen: die staatliche Antwort auf die Verbreitung des Virus; die Maßnahmen der Regierung; die sich daraus ergebenden sozialen Kämpfe; unsere Organisierung unter den sich veränderten und stets verändernden Umständen.</p><p>Covid-19 ist ein neuer Virus – die Expert*innen haben sich daher Zeit genommen, über die Art und Weise zu entscheiden, an ihn heranzutreten. Die dadurch verursachte Verwirrung, gepaart mit der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der ungeprüfte Informationen in der heutigen Welt verbreitet werden, führt dazu, dass eine Fülle unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Ratschläge und Analysen angeboten werden. Bis vor einer Woche definierten einige prominente Persönlichkeiten, darunter auch Politiker*innen, die Erkrankung schlicht als eine schwere Grippe, die nur alte Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten betrifft. Inzwischen ist jedoch die Ernsthaftigkeit von Covid-19 für jede*n in Italien klar geworden. Covid-19 hat das italienische Gesundheitssystem in die Knie gezwungen.</p><p>Dafür gibt es drei Hauptgründe: Erstens, das Virus breitet sich tatsächlich effektiv und schnell aus; Zweitens, wenn Menschen ernsthaft erkranken, müssen sie wochenlang in Intensivstationen gepflegt werden; Drittens, die Kürzungen und Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte haben die Kapazität des öffentlichen Gesundheitssystems ausgehöhlt, das sonst weitaus besser hätte auf die Krise antworten können. Obwohl das Gesundheitssystem in einigen Regionen des Nordens in vielerlei Hinsicht für europäische Verhältnisse gut ist, hat die Tatsache, dass das System auf regionaler Ebene verwaltet wird, große landesinterne Unterschiede produziert. Bisher wurde erkannt, dass das einzige wirksame Mittel zur Eindämmung der Ansteckung darin besteht, den Kontakt zwischen den Menschen zu begrenzen. Aus diesem Grund haben die betroffenen Länder beschlossen, bestimmte Gebiete oder, im Falle Italiens, das ganze Land vorübergehend zur Sperrzone zu deklarieren.</p><p>Die unterschiedlichen Reaktionen der Regierungen auf das Virus spiegeln das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der jeweiligen Länder wider. Im Falle Italiens hat die Regierung einige drastische Maßnahmen ergriffen; obwohl schon früher viel mehr hätte getan werden können und sollen. Insbesondere hat die italienische Regierung versucht, eine Balance zu finden zwischen der wachsenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit auf der einen Seite und den Interessen des Kapitals auf der anderen Seite. Dies hat allzu oft zu Regierungsentscheidungen geführt, die zweiterem Vorrang einräumen und somit Menschen in Gefahr bringen.</p><h2><b>Italiens Umgang mit der Krise</b></h2><p>Am 4. März erklärte Italien die Schließung der am stärksten betroffenen Gebiete im Norden und verbot unnötige Reisen. Die Einzelheiten der Verordnung wurden den Medien zugespielt, bevor die Regierung die Möglichkeit hatte, sie offizielle anzukündigen. Die führte dazu, dass Hunderte von Menschen in die Bahnhöfe der Städte des Nordens strömten, in der Hoffnung, einen Zug zu erwischen, der sie aus den roten Zonen brachte. Viele Menschen reisten in dieser Nacht durch das Land und schmälerten somit die Wirkung der Sicherheitsmaßnahmen, da das Virus dadurch möglicherweise in neue Regionen gebracht wurde.</p><p>Am 9. März wurde die Verordnung dann auf das ganze Land ausgedehnt. Alle öffentlichen Versammlungen und unnötige Reisen sind verboten, Bars müssen um 18 Uhr schließen und jede*r, die*der sein Haus verlässt, musste ein Formular mit detaillierten Angaben über Wohnort, Arbeitsort und weiteren Erklärungen mit sich tragen. Die Schließung von Schulen und Universitäten wurde bis zum 3. April verlängert.</p><p>In der Nacht vom 11. März kündigte die Regierung die Schließung aller nicht wesentlichen Geschäfte an. Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Postämter, Zeitungshändler*innen und Tankstellen bleiben jedoch offen. Auf Druck der Confindustria, dem italienischen Unternehmensverband, wurden zudem viele produktive Tätigkeiten nicht in diese neue Verordnung integriert. Das bedeutet, dass Arbeiter*innen der Industrie, von Call Center, Logistikarbeiter*innen und viele Arbeiter*innen weiterer Sektoren weiterhin täglich zur Arbeit fahren müssen.</p><p>Diese letzte Verordnung hat zu einer Situation geführt, in der es den Menschen verboten ist, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und auf den Straßen zu spazieren (außer in Notfällen). Die Menschen werden gezwungen, zu Hause zu bleiben – gleichzeitig ist aber weiterhin ein beträchtlicher Teil der Arbeiter*innen noch in Fabriken zusammengepfercht; Menschen, die keine lebensnotwendigen Güter herstellen oder keine lebensnotwendigen Dienstleistungen anbieten.</p><p>Seit der Einführung dieser Verordnung gab es in vielen Lagerhäusern und Fabriken zahlreiche Meldungen von Verstößen gegen den gesundheitlichen Schutz der Arbeiter*innen. Am 9. März traten die Beschäftigten der FIAT-Fabrik im süditalienischen Pomigliano d'Arco bei Neapel in einen wilden Streik, um gegen die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen zu protestieren. Die Logistikarbeiter*innen eines Lagers des Unternehmens Bartolini in Caorso bei Piacenza im Norden und diejenigen eines TNT-Lagerhaus in Caserta (Süden) taten dasselbe. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes gehen stündlich Berichte über Streiks ein, die große Produktionsstätten im ganzen Land betreffen (weitere Einzelheiten sind <a href="https://poterealpopolo.org/coronavirus-sciopero-ovunque/">hier</a> auf italienisch und <a href="https://revoltmag.org/articles/arbeiten-zeiten-des-coronavirus/">hier</a> auf deutsch zu finden). Die größte Basisgewerkschaft USB hat zu einem 32-stündigen Streik in allen nicht wesentlichen Sektoren aufgerufen, die großen Gewerkschaftsbünde hingegen haben mit der Regierung und der Vertreter*innen der Unternehmen ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, welches jedoch in keiner Weise den Forderungen nach gesundheitlichem und sozialem Schutz der kämpfenden Belegschaften entspricht.</p><p>In diesen letzten Wochen wurden auch die italienischen Gefängnisse zum Brennpunkt sozialer Proteste. Das italienische Gefängnissystem befindet sich seit langem in eine Krise: Veraltete Einrichtungen und eine massive Überbelegung bedeuten, dass Italiens Gefängnisse ständig gegen die geltenden Gesetze, Vorschriften und oft auch fundamentalen Menschenrechten verstoßen. Unter diesen Bedingungen lösten die staatlichen Restriktionen (unter anderem Besuchsverbot, Begrenzung der Anrufe an Familien und der Arbeitserlaubnis bis zum 31. Mai) landesweit Aufstände in den Gefängnissen aus. Vierzehn Menschen sind während dieser Revolten unter noch unklaren Umständen gestorben. Es wurde berichtet, dass ein Wärter in Vicenza positiv auf Covid-19 getestet wurde, und Familien berichteten von der Angst der Häftlinge, die nur begrenzten Zugang zu Informationen und Beratung haben. Wenn „der Grad der Zivilisation in einer Gesellschaft durch das Betreten ihrer Gefängnisse beurteilt werden kann“ (Dostojewski), dann geht es Italien nicht gut.</p><p>Die Regierung hat nun ein weiteres Paket von wirtschaftlichen Maßnahmen ankündigt. Es heißt, dies sieht die Unterbrechung der Zahlung von Hypotheken und die Ausweitung der Zahlung von Erwerbslosengelder vor. Es bleibt aber noch unklar, ob Maßnahmen für Selbständige, Arbeiter*innen mit Null-Stunden-Verträgen oder für diejenigen im informellen Sektor darin Platz finden. Die Regierung hat als Reaktion auf das Covid-19 25 Milliarden Euro für außerordentliche ökonomische Maßnahmen gesprochen, doch angesichts der Tatsache, dass Italiens Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist es schwer vorstellbar, dass eine solche Summe eine signifikante Wirkung zeigen wird. Die EU hatte in ihrem Vorgehen Flexibilität gezeigt, doch schon am 12. März zog sich die Europäische Zentralbank von einer weiteren Unterstützung zurück und ließ die italienischen Anleiherenditen in die Höhe schnellen. Die Weltwirtschaft steuert auf eine schwere Rezession zu, Italien wird es wohl stärker als die meisten anderen Länder treffen.</p><h2><b>Coronavirus und Mutualismus: Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?</b></h2><p>Wenn eine Krise eine von Ungleichheit geprägten Gesellschaft trifft, sind es immer die Schwachen, die am meisten darunter leiden: ältere Menschen, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Frauen, Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten. Als <i>Potere al Popolo</i> versuchen wir, die Isolation jeder und jedes einzelnen zu durchbrechen und Beziehungen der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zwischen den Menschen und <i>Communities</i> aufzubauen. In vielen Städten haben wir ein System gegenseitiger Hilfe für Menschen eingerichtet, die Unterstützung bei der täglichen Arbeit benötigen, etwa beim Einkaufen von Produkten des täglichen Bedarfs (unter sicheren Bedingungen).</p><p>Wir haben auch ein <i>rotes Telefon</i> eingerichtet, eine nationale Hotline also, um den von der Krise betroffenen Arbeiter*innen Beratungen unterschiedlichster Art zu bieten. Das rote Telefon wurde vor einigen Tagen aufgeschaltet, aber bereits am ersten Tag haben wir rund 70 Anrufe von Arbeiter*innen erhalten; von Arbeiter*innen, die gezwungen sind, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, entlassen wurden oder im informellen Sektor arbeiten und daher riskieren, von den angekündigten Krisenmaßnahmen der Regierung ausgeschlossen zu werden. Mit den aus diesen Anrufen gesammelten Informationen können wir planen, welche Maßnahmen wir als Organisation ergreifen müssen und Forderungen an die Unternehmen und die Regierung formulieren. Alle Anrufe an das rote Telefon werden zunächst von einer kleinen Gruppe aktivistischer Jurist*innen entgegengenommen; anschließend werden die Arbeiter*innen mit den Aktivist*innen vor Ort zur weiteren Unterstützung in Kontakt gesetzt.</p><p>Bislang haben wir drei Schlüsselbereiche für die Intervention der gegenseitigen Hilfe identifiziert. Der erste Bereich ist der Logistiksektor: Wir sind mit Lagerarbeiter*innen von Amazon in Kontakt gekommen, die uns erklärt haben, dass sie aufgrund der gestiegenen Nachfrage mehr (dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben) und unter Bedingungen arbeiten müssen, die nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen entsprechen. Der zweite Bereich sind die Call Center: diese Unternehmen haben sich geweigert, den Arbeiter*innen Heimarbeit zu gestatten, da die Kosten für die Anschaffung der notwendigen Technologie zu hoch seien; und so bleiben die Arbeiter*innen weiterhin in engen Büros zusammengepfercht. In beiden Fällen haben Anwält*innen eine formelle Meldung an die betreffenden Unternehmen geschickt und gefordert, dass die Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt werden und alle Arbeiter*innen vom Zwang zu Überstunden befreit werden.</p><p>Der dritte Bereich betrifft die Saisonarbeiter*innen. In Italien gibt es eine große Zahl von Saisonarbeiter*innen, insbesondere in der Landwirtschaft und im Tourismus, aber auch in den Fabriken. Saisonarbeit ist eine Form der unsicheren und prekären Arbeit, weil die Unternehmen nicht verpflichtet sind, am Ende einer Saison und bei Vertragsende wieder die gleichen Arbeiter*innen anzustellen. Ihnen ist jedoch der Zugang zu Arbeitslosengeld garantiert (nicht alle Arbeiter*innen haben das Recht auf Arbeitslosengeld in Italien). Wir haben die Regierung und das Ministerium für soziale Sicherheit mit der Forderung angeschrieben, dass Saisonarbeiter*innen, die aufgrund der Krise in diesem Jahr nicht wieder eingestellt werden, für die gesamte Dauer dieser verlängerten Arbeitslosigkeit Leistungen gewährt werden.</p><p>Abgesehen von diesen drei konkreten Fällen, die Beispiele für die mögliche Umsetzung unmittelbarer Maßnahmen sind, fordern wir die Regierung auf, die Gehälter aller betroffenen Arbeiter*innen zu garantieren, einschließlich der selbständig Arbeitenden, derjenigen, die ohne gültigen Vertrag arbeiten und Arbeiter*innen der Gig-Economy. Wir fordern, dass jede*r, die*der seine Arbeit verloren hat, Arbeitslosenunterstützung erhält und dass jede*r, die*der nicht in der Lage ist, die Miete, die Hypothek oder Rechnungen zu bezahlen, ein Zahlungserlass gewährt wird.</p><p>Wir fordern zudem, dass die Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern eingestellt werden und den Arbeiter*innen die Lohnfortzahlung garantiert wird.</p><p>Schließlich fordern wir, dass der Staat massiv in das Gesundheitssystem investiert, mehr Gesundheitsarbeiter*innen mit unbefristeten Verträgen einstellt und die Produktion von Medikamenten und Gesundheitsgeräten unter öffentliche Kontrolle bringt. Wir fordern, dass die Regierung den Sparkurs umkehrt und den Europäischen Fiskalpakt aufhebt. Italien steht nun vor einer schweren Wirtschaftskrise; nur ein vollständiger Paradigmenwechsel mit enormen staatlichen Investitionen in die Wirtschaft und in öffentliche Dienste und die Schaffung von Arbeitsplätzen wird uns vor den schlimmsten Konsequenzen dieser Katastrophe bewahren.</p><hr/><p><i>Der Brief der Genoss*innen erschien zuerst auf der</i> <a href="https://poterealpopolo.org/brief-aus-italien-in-zeiten-des-coronavirus/"><i>Webseite</i></a><i> von von Potere Al Popolo. Er wurde auch in weitere Sprachen übersetzt. Wir haben den Text endredaktionell bearbeitet und aktualisiert.</i></p><p>Übersetzung: Mauricio Coppola und Evrim Muştu.</p></div>
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