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Deutsch-türkische Untiefen

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Auch in diesem Jahr sind wir als Medienpartner*innen an einem Broschürenprojekt aus Berlin beteiligt. In der zum 30. Jahr des „Mauerfalls“ erscheinenden Broschüre „Deutschland ist Brandstifter! Gegen den BRD-Imperialismus und den Mythos Friedliche Revolution“ steuern wir als re:volt magazine unter anderem den nachfolgenden Text zum Verhältnis zwischen BRD-Imperialismus und Türkei bei. Release der Broschüre ist am Donnerstag, den 7. November 2019 um 19:30 Uhr im Zielona Góra (Grünberger Straße 73 / Friedrichshain).


Noch vorletztes Jahr lieferten sich die türkische Regierung und die EU spektakuläre Wortgefechte. Anlass waren die Absagen von Wahlauftritten für AKP-Minister*innen und andere hochrangige AKP-Mitglieder in den Niederlanden und in Deutschland seitens der jeweiligen staatlichen Institutionen. Daraufhin hielt es Erdoğan für nötig, der Niederlande eine „neonazistische Gesinnung“, Staatsterrorismus und Beteiligung an Völkermord vorzuwerfen, Merkel hielt er entgegen: „Du benutzt gerade Nazi-Methoden“. Den Niederlanden wurde mit Sanktionen gedroht, die AKP-Jugend erstach unter „faschistisches Holland!“-Rufen Orangen mit Buttermessern und trank rachedürstend den mit wahrlich beeindruckender Kraft ausgepressten Saft, die Revolverpresse titelte: „Ihr kämpft umsonst. Eure Macht reicht nicht, um die Türkei aufzuhalten“.

Die Reaktionen auf europäischer Seite waren ungleich schärfer, als bisher gewohnt: Der niederländische Premier Rutte lehnte rigoros eine Entschuldigung und die Aufnahme von Verhandlungen bei Fortsetzung der Beleidigungen von seitens der Türkei ab, Gabriel und Steinmeier forderten ein sofortiges Ende der unsäglichen Nazi-Vergleiche, Merkel kündigte weitere Auftrittsverbote an. Dänemark sagte einen Auftritt des türkischen Premiers Yıldırım ab, der EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen Johannes Hahn strich einen Teil der EU-Fonds für die Türkei und äußerte Zweifel an der Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

Auf diese Reaktionen der europäischen Seite reagierten wiederum hochrangige AKP-Mitglieder und Minister*innen in der von ihnen gewohnten Manier. Und so ging es eine Zeit lang munter weiter.

Die Propaganda und Taten des Führers

Diese letztlich weitestgehend auf verbaler Ebene gebliebene Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der EU war nichts Neues. Ihr Beginn lässt sich auf spätestens 2013 datieren. Wie bekannt, gingen damals mit dem Juni- oder Gezi-Aufstand Millionen von Menschen gegen das autoritäre Regime in der Türkei auf die Straßen. Die AKP-Herrschaft geriet ordentlich ins Wanken, ihr gesamter Zauber, ihr Glanz und ihre Überzeugungskraft verflogen wie ein vorübergehendes Schattenspiel. Es zeigte sich offen das hässliche Gesicht (und die Keule) der Gewaltherrschaft. Die Ereignisse der darauffolgenden Jahre zeigten zur Genüge, dass die AKP die türkische Gesellschaft nicht mehr mit demokratischen Mitteln führen konnte und dass ihr die durch demokratische Mittel hervorgebrachte Legitimation wegbrach.

Das Ende der AKP-Herrschaft war absehbar, sollten weiterhin die Spielregeln der Demokratie gelten. Ergo wurden diese von Seiten der AKP abgeschafft. Im zumeist kurdischen Südosten der Türkei wurde ein unglaublich brutaler Vernichtungskrieg gegenüber der kurdischen Bevölkerung und kurdischen Militanten entfesselt. Am Ende waren über ein Dutzend Städte großteils dem Erdboden gleichgemacht. Eine Furie der Repression und eine rasante Schließung des öffentlichen Raumes für oppositionelle Politik und Meinung, also eine Faschisierung, setzten ein. Und spätestens seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wird ganz offen nach dem Schmittschen Paradigma regiert: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Und zum absoluten Souverän, dazu hält sich Erdoğan berufen, der von seinen Anhängern mittlerweile offen als FÜHRER, REIS im Türkischen, verehrt wird (Großschreibung im Original).

Auf der diskursiven Ebene der politischen Propaganda wurden die mittlerweile klassischen Begriffe moderner Feindbildung lanciert: Der Terrorismus, die Zinslobby, die Auslandsmächte, die dunklen Kräfte und andere ähnliche Begriffe. Das bundesdeutsche Feindstrafrecht und der US-amerikanische War on Terror hatten ja vorgemacht, wie man den Gebrauch solcher Begriffe institutionalisieren und damit Angriffskriege und rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen konnte. Je nach politischer Konjunktur fielen, auf die Außenpolitik bezogen, mal China, mal Russland und vor allem recht oft die Bundesrepublik in die Kategorie der dunklen Kräfte/Auslandsmächte. Mal hieß es, Deutschland habe Gezi angefacht, das nächste Mal hieß es, Deutschland beschütze Terroristen, die der Türkei schädigen würden. Nun hieß es zur Abwechslung mal, Deutschland würde „Nazi-Methoden“ anwenden.

Aus europäischer Perspektive stellten hingegen die Ereignisse ab 2013 und vor allem seit 2016 gewissermaßen endgültig klar, dass die Türkei nicht wirklich zu Europa gehörte, zumindest die europäischen Werte nicht genügend vertrete, ja sogar mit Füßen trete.

Strategische Zusammenarbeit...

In den zwei Jahren seit dem medialen und spektakulären Hochkochen des Türkei-EU-Konfliktes ist nicht viel übriggeblieben, außer der ab und an geäußerten „Besorgnis“ über die erodierenden Demokratiestandards in der Türkei. Zwischenzeitlich hat Sigmar Gabriel in unterwürfiger Manier Tee getrunken mit seinem türkischen Amtskollegen Çavuşoğlu; der damalige Ministerpräsident der Türkei, Yıldırım, hat die Normalisierungen der Beziehungen zur BRD nach einem Treffen mit Merkel angekündigt und Erdoğan ist doch wieder in Deutschland aufgetreten, hat sich mit Merkel getroffen und lächelnd vor Kameras Hände geschüttelt trotz „tiefgehender Differenzen“.

Warum aber ist die EU und insbesondere Deutschland so zaghaft im Umgang mit der Türkei, wenn die Türkei doch angeblich alle „demokratischen Werte“ mit den Füßen tritt?

Es gibt sehr reale Interessen seitens europäischer Staaten und insbesondere der BRD an einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Und bisher entsprach das Handeln der Türkei beziehungsweise der türkischen Regierung auch weitestgehend diesen Interessen. Wenn man sich Publikationen und Äußerungen deutscher Eliten in Wirtschaft und Politik anschaut – zum Beispiel in Publikationen der regierungsnahen SWP und der christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) oder vonseiten der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) – kann man resümierend festhalten: Die Türkei wird als langfristig erfolgsversprechender Investitionsort und Exportmarkt gesehen, von dem Deutschland als Handelspartner Nummer Eins insbesondere durch Milliarden-Investitionen im Verkehrs- und Energiesektor profitieren könne (KAS). Die deutsche Wirtschaft ist in der Tat seit den 1970ern in der Türkei aktiv und mittlerweile operieren dort über 6000 deutsche Firmen und erfreuen sich der wirtschaftsfreundlichen Politik der AKP – „ein klarer Beweis unseres starken Interesses an einem guten Verhältnis unserer beider Länder“, so DIHK-Chef Martin Wansleben 2017. Die sich verschlechternden Beziehungen auf oberflächlicher politischer Ebene standen trotz der Erwähnung von deutschen Unternehmen auf einer semi-offiziellen Terrorliste nicht im Wege, als Siemens gemeinsam mit türkischen Partnern einen der größten Aufträge für Windenergie mit einem Investitionsumfang von einer Milliarde US-Dollar gewann. Im Jahr darauf profitierte erneut Siemens von einer geschichtsträchtigen Kontinuität:

Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) reiste extra in die Türkei, um den Auftrag für die Modernisierung der zu Zeiten der Baghdad-Bahn gebauten Eisenbahnschienen mit einem Investitionsumfang von sagenhaften 35 Milliarden Euro für Siemens zu garantieren. Schon vor über hundert Jahren war Siemens am Bau der Baghdad-Bahn mit tatkräftiger Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. beteiligt, alles im damals noch sehr unverblümt geäußerten Interesse des deutschen Imperialismus: „Einzig und allein eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird“. So 1902 der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach in seinem Buch Die Baghdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung.

Osmanischer Kriegseintritt unter deutschem Oberkommando und deutsche Toleranz und in Teilen aktive Zuarbeit beim Armenischen Genozid folgten. Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU, hält in der oben zitierten KAS-Broschüre – bei weitem nicht mehr so unverblümt wie einst, sondern zivilisierter, das heißt verschleierter – fest, dass 100-jährige politische und wirtschaftliche Banden die Türkei und Deutschland zusammenhielten und dass die Türkei ein zentraler Akteur und Stabilitätsanker sowie „unser verlässlichster Partner in der Region“ nach Israel sei, sowie die Diversifizierung der Energielieferungen an Deutschland ermögliche. [1] Die Türkei ist also aus europäischer Perspektive eine „Brücke in den Nahen Osten, in den Kaukasus und indirekt auch nach Zentralasien“. Die NATO und die EU sind dabei die zwei hauptsächlichen internationalen Institutionen, die die Türkei an den Westen binden, so ganz richtig der außenpolitische Hauptstadtkorrespondent von Die Zeit, Michael Thumann.

Bei dieser Interessenlage und einer solchen strategischen Zusammenarbeit ist man natürlich auch gern zu Zugeständnissen bereit, wo es um Demokratie, Menschenrechte und ähnliche profane Dinge geht. Der Bundesinnenminister de Maizière verewigte sich in dieser Angelegenheit am 25. Januar 2016 mit folgenden Worten: „Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von morgens bis abends kritisieren, denen rate ich mal, jetzt das nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessensausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interessen, die Türkei hat Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt“. Der Türkei-Korrespondent der FAZ, Michael Martens, brachte die Konsequenzen einer solchen Haltung in einem Artikel vom 8. November 2016 viel direkter und ehrlicher auf den Punkt: „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten“. Darauf, dass auch dies eine historische Tradition hat, verwies der oben erwähnte Thumann: „Die NATO hat der Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und 1998 nicht die Tür gewiesen [...] und sie muss heute wegen Erdogan nicht die Nerven verlieren.“

Es sind aber nicht nur Zugeständnisse, die an eine sich faschisierende Türkei gemacht werden. Es findet auch schlicht die Fortsetzung strategischer Zusammenarbeit im sicherheitsdienstlichen und militärischen Bereich statt; diese wurde von den Wortgeplänkeln auf politischer Ebene überhaupt nicht nachteilig berührt – im Gegenteil: sie verstärkte sich. Das Vorgehen der BRD gegen die PKK oder vermeintliche PKK-Unterstützer*innen ist, entgegen der Propaganda des Regimes in der Türkei, schon seit dem PKK-Verbot 1993 kontinuierlich beinhart, wie sogar ein FAZ-Artikel festhält: Seit 1992/93 wurden 52 „der PKK zurechenbare“ Organisationen in der BRD verboten, 90 „PKK-Funktionäre“ verurteilt und seit 2011 nach einer Gesetzesverschärfung noch einmal 180 Ermittlungsverfahren gegen 241 Beschuldigte aufgenommen. Unter Innenminister Seehofer wurde dem nur die Krone aufgesetzt: vermehrte Razzien bei kurdischen Organisationen wie Civaka Azad und NAV-DEM, eine Zunahme der PKK-Verfahren um das Dreifache innerhalb eines Jahres, Fahnenverbote auch für die der YPG sowie letztlich die Verbote des Mezopotamien Verlages und Mir-Musik, um nur die krassesten Beispiele aufzuzählen. Gleichzeitig befinden sich Tausende Regime-Spitzel in der BRD, werden Todeslisten oppositioneller Politiker*innen angestellt und Mordtaten geplant. Auch die Rüstungsgüterexporte schnellten, entgegen aller Lügen Sigmar Gabriels, in die Höhe: Im Jahre 2018 war die Türkei mit Abstand an erster Stelle, was deutsche Waffenexporte angeht, und diese machten fast 33 Prozent der gesamten bundesdeutschen Waffenexporte aus. Trotz einer umfassenden Militäroffensive der Türkei auf Nordostsyrien („Operation Friedensquelle“ seit 9. Oktober 2019), mit der die Türkei beabsichtigt, ein sehr großes Gebiet de facto zu besetzen und zu kolonialisieren, gingen die deutschen Waffenexporte in die Türkei nicht nur munter weiter, sie erreichten sogar Rekordhöhen! Allein die Waffenexporte der ersten acht Monate diesen Jahres an die Türkei sind mit 250,4 Millionen Euro größer als im gesamten Jahr 2018 und schon jetzt der höchste Wert seit 2005; Die Neugenehmigungen von Waffenexporten waren bis zum 9. Oktober mit 28,5 Millionen Euro doppelt so viel (!) wie im gesamten letzten Jahr. Ganz ohne Scham konnte Außenminister Heiko Maas (SPD) die türkische Regierung für ihr immens brutales und völkerrechtswidriges Vorgehen in Nordostsyrien kritisieren und von einer „Beschränkung“ der Rüstungsgüterexporte an die Türkei sprechen, während gleichzeitig durchsickerte, dass es – wie zu erwarten – die bundesdeutsche Regierung war, die ein EU-weites Waffenembargo an die Türkei verhinderte. Die Süddeutsche meint dazu: „Die praktischen Auswirkungen des teilweisen Exportstopps der Bundesregierung dürften daher relativ gering sein.“ Same shit, different day.

Auch dieses Vorgehen weist Kontinuität auf: Schon in den 1980ern und 1990ern bekam die Türkei ganze 397 Leopard-1-Panzer; allein in den Jahren von 2006 bis 2011 hingegen 354 Leopard-2-Panzer, womit die türkische Armee derzeit mehr Leopard-2-Panzer besitzt, als die Bundeswehr, wobei diese Panzerlieferungen explizit von Artikel 5 des NATO-Vertrages – Einsatz nur zur kollektiven Verteidigung – ausgenommen wurden. Konsequenterweise waren diese Panzer beim Angriff auf Afrin im Frühjahr 2018 im Einsatz – einem Angriff, den sogar der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im März 2018 als nicht dem Völkerrecht entsprechend einstufte. Derselbe Wissenschaftliche Dienst fügte Ende 2018 in einem separaten Gutachten hinzu, dass die Präsenz der Türkei in Syrien „die Kriterien einer militärischen Besatzung“ erfülle. Die Bundesregierung hingegen zeigte sich besorgt, sprach aber gleichzeitig von „legitime[n] türkische[n] Sicherheitsinteressen“. Jetzt, mit der „Operation Friedensquelle“, legte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages noch einmal nach und betonte noch einmal, dass auch diese Militärinvasion im „Widerspruch zum Völkerrecht“ stehe. Trotz alldem hat die deutsche Rheinmetall, gemeinsam mit dem türkischen Waffenhersteller BMC und einem malaysischen Partner und tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung, ein Waffengroßunternehmen mit dem Namen Rheinmetall BMC Defence Industry (RBSS) mit Sitz in Ankara gegründet, das laut internen Papieren einst beabsichtigte, bis zu 1000 Panzer zu einem Preis von sieben Milliarden Euro zu bauen – wobei das ganze Unternehmen derzeit in Mysterien eingehüllt ist. Ob mit Produktionsfabrik vor Ort oder Lizenzvergaben oder Exporten: Rheinmetall, Daimler AG, Heckler und Koch, VW/Renk, MTU Friedrichshafen, ThyssenKrupp Marine Systems und viele andere deutsche Unternehmen verdienen Millionen über Millionen an den Blutbädern des türkischen Militarismus.

und ihre Widersprüche

Erdoğan und die AKP wissen nur zu gut, dass es diese sehr realen europäischen Interessen an der Türkei gibt und dass sich die etablierten Mächte in Europa für Demokratie, Menschenrechte und dergleichen offensichtlich nur dann interessieren, wenn es ihnen wirtschaftlich und geostrategisch etwas bringt. Solange Stabilität herrscht und Erdoğan im weitesten Sinne des Wortes mit den europäischen Interessen konform geht, lässt man ihm freie Hand. Die rote Linie für EU und insbesondere Deutschland ist genau dann erreicht, wenn jenen Interessen geschadet wird.

Auf keinen Fall können westliche Großmächte, so sie denn noch etwas auf ihre eigenen weltpolitischen Machtambitionen geben, tolerieren, dass von türkischer Seite aus versucht wird, ein Programm zu verfolgen, das zuerst der einstige Außenminister, später Premierminister und derzeitige Renegat Ahmet Davutoğlu Anfang der 2000er Jahre entwarf. [2] Davutoğlu glaubte, wie so viele andere, dass nach dem Ende der Sowjetunion ein Machtvakuum in der Weltordnung entstanden sei, welches die USA durch einen Alleinherrschaftsanspruch auszufüllen versuchten. Da dies nicht geklappt habe, sei die Welt nun in einem Übergang hin zu einer multipolaren Ordnung begriffen. Länder wie die Türkei könnten in dieser Übergangsperiode aufgrund ihrer strategischen Tiefe (historische, geographische und kulturelle Ressourcen) zu einer Regionalmacht, ja gar zur Weltmacht aufsteigen. Die ehemals wegen Putschplänen gegen die AKP inhaftierten ultranationalistischen Militärs, mit denen sich die AKP im Kampf gegen die neuen Putschmilitärs verbünden musste, beschreiben die dabei idealerweise zu verfolgende geostrategische Taktik mit solch imposanten Begriffen wie „dynamisches Gleichgewicht“: Die Türkei könne eine relative Autonomie und Bestimmungsmacht im geostrategischen Machtgefüge erlangen, indem sie sich im Gleichgewicht zwischen den Interessen von Russland und der USA bewege, somit von keiner der beiden Parteien abhängig sei, sondern im Gegenteil beide Parteien gegeneinander für die eigene Autonomie ausspiele. Letztlich hat auch diese Haltung eine hundertjährige Tradition: Noch wenige Tage vor dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg verhandelte die jungtürkische Führung mit Russland, um einer zu starken Abhängigkeit vom deutschen Imperialismus zu entgehen.

Zwar sprechen die Fakten eine andere Sprache, als das beabsichtigte „dynamische Gleichgewicht“: Das türkische Militär ist vollständig in die NATO integriert und von ihr abhängig, 80 Prozent des Auslandsdirektinvestitionsbestands in der Türkei kommen aus der EU und die meisten Exporte der Türkei gehen in die EU. Sprich, die Türkei ist derart in die westliche Ordnung integriert, dass sich von einem dynamischen Gleichgewicht nicht reden lässt; eine Loslösung vom Westen scheint dementsprechend nicht im nationalen Interesse der Herrschenden in der Türkei zu liegen. „Doch kann sich“, so Günther Seufert von der SWP, „der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird“. Er empfiehlt deshalb Zugeständnisse. Diese haben jedoch, wie oben ausgeführt, ihre Grenze am Eigeninteresse der EU als globalem Machtakteur und der BRD als deren Hauptmotor. Erdoğan und das derzeitige Regime in der Türkei hingegen können nicht mehr so einfach wie früher garantieren, dass sie diesen Interessen entsprechend handeln. Dafür sind sie einerseits zu sehr in die Ecke gedrängt; andererseits beschert ihnen erfolgreiche aggressive Außenpolitik große Zustimmung im Inland und bei den Eliten des Landes und entspricht bei Erfolg tatsächlich den Interessen derselben. Auch Seufert weiß oder ahnt natürlich, genauso wie der oben erwähnte Davutoğlu aus türkisch-imperialistischer Perspektive, dass das erratische und aufmüpfige Verhalten der Türkei nicht allein der Konjunktur nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 entspringt, sondern seinen Grund in der veränderten Konstellation innerhalb des imperialistischen Weltsystems nach dem Ende der Sowjetunion hat: „Das Ende des Kalten Krieges hat der Türkei nicht nur in Zentralasien und auf dem Balkan neue Aktionsräume eröffnet, sondern auch im Nahen Osten. Seit dieser Zeit sucht die Türkei einerseits ihre Stellung im Nahen Osten zu stärken. Andererseits fürchtet das Land die Folgen amerikanischer Nahostpolitik, die aus seiner Perspektive die Destabilisierung nahöstlicher Staaten zur Folge hat und dadurch den Kurden des Irak, Syriens und damit auch denen der Türkei Freiräume schafft“. Die Hinwendung zu Russland und Iran sieht Seufert darin begründet, die fehlgeschlagenen außenpolitischen Offensiven in Ägypten, Tunesien und Syrien mit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 zumindest in einen Teilerfolg bezüglich der Verhinderung eines kurdischen Staates im Norden Syriens umzumünzen. Ist also die Türkei – noch – unentwirrbar in das westlich-imperialistische System eingebunden, so auch umgekehrt: Bei einer strategischen Hinwendung der Türkei hin zu Russland – so unwahrscheinlich das heute noch klingen mag – würde sich „das globale Machtgleichgewicht verändern“; „[o]hne oder gar gegen Ankara“ kann Europa im Nahen Osten kaum agieren. Gerade deshalb ist es den politischen Eliten in Deutschland bis hinauf zur Bundeskanzlerin Merkel [3] so wichtig, die Widersprüche beider Länder nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Andererseits bleibt auch die Aufmüpfigkeit und Abwendung der Türkei vom Westen aus eben denselben Gründen der strategischen Zusammenarbeit beschränkt: Erst kürzlich wurden wieder Militärs gesäubert, die keine Zusammenarbeit mit den USA in Syrien wollten, da dies ihrer Meinung nach eine Invasion in Rojava erst einmal verunmöglichen würde; und erst daraufhin wurde ein sehr vages Einverständnis zwischen der Türkei und den USA bezüglich der Errichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien beschlossen, obwohl die Türkei noch Anfang August kurz davor stand, eine Großoffensive in Rojava zu beginnen. In der Zwischenzeit aber konnte sich die Türkei im internationalen Parkett durchsetzen und eine erneute Militärinvasion in Nordostsyrien unter dem zynischen Namen „Operation Friedensquelle“ lancieren – trotz fehlender internationaler Unterstützung.

Die Widersprüche zwischen der BRD und der Türkei gründen also in Widersprüchen zwischen einer größeren imperialistischen Macht und einer kleineren, in der Region subimperialistisch agierenden Macht, die zudem innenpolitische Probleme teils per außenpolitischer Offensive in den Griff zu bekommen versucht. Weil es diese Widersprüche gibt, wird auf der Oberfläche der Politik – das heißt ohne irgendetwas an der strategischen Zusammenarbeit zu ändern – auch die Erdoğan-Kritik seitens der BRD aufrechterhalten, werden verfolgte Akademiker*innen mit offenen Armen aufgenommen und sogar mutmaßliche Gülen-Anhänger*innen toleriert. Diese eher auf der unmittelbaren Oberfläche des Politischen verankerte Herangehensweise dient der BRD nicht nur dazu, sich auf oberflächliche Art die Weste rein zu halten – denn immerhin kritisiere man ja den bösen Diktator. Sie wird von der BRD selbstverständlich auch als Instrument dazu genutzt, einerseits das derzeitige Regime in der Türkei in bundesdeutschem Interesse und im Sinne der westlich orientierten Verbündeten innerhalb der Türkei zu disziplinieren; andererseits auch dazu, Teile der Eliten-internen Opposition, ob nun links oder rechts, staatlich oder zivilgesellschaftlich für sich nutzbar zu machen – im Hier und Heute, für das eigene Image wie auch für die Disziplinierung des Regimes in der Türkei; aber auch in Hinblick auf eine mögliche post-Erdoğan Türkei. Aus anderen konkreten Gründen – aus innenpolitischem Interesse und aus subimperialistischer Perspektive heraus – aber prinzipiell mit derselben Motivation, wird die Frontstellung gegenüber BRD, EU, NATO und allgemein dem Westen gegenüber vom Regime in der Türkei aufrechterhalten. Revolutionäre Linke, insbesondere diejenigen antiimperialistischer Einstellung, sollten sich über die Interessenlage zwischen der BRD und der Türkei sowie der Natur ihrer Widersprüche keine Illusionen machen und stattdessen eine eigenständige Position entwickeln.


Anmerkungen:

Die erneute Invasion der Türkei in Nordostsyrien/Rojava („Operations Friedensquelle, seit 9. Oktober 2019) erfolgte nach Fertigstellung des Artikels für die Broschüre; die Online-Version wurde deshalb entsprechend ergänzt.


[1] Hardt, Jürgen: „Gemeinsame Verantwortung. Die wachsende Bedeutung der deutsch-türkischen Beziehungen“, in: Die Politische Meinung, Nr. 537, März/April 2016, S. 90–95.

[2] Hierzu vgl. Birdal, Mehmet Sinan: „The Davutoğlu Doctrine: The Populist Construction of the Strategic Subject“, in: Akça, Bekmen, Özden (Hrsg.), Turkey Reframed. Constituting Neoliberal Hegemony, London, S. 92–106.

[3] Vgl. Regierungserklärung von Angela Merkel, 9. März 2017: „Es gibt also einerseits umfassende gemeinsame europäisch-türkische Interessen. Es gibt andererseits – wir spüren das in diesen Tagen einmal mehr überdeutlich – tiefgreifende Differenzen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, zwischen Deutschland und der Türkei. […] Und deshalb ergänze ich: So schwierig das alles derzeit auch ist, so unzumutbar manches ist: Unser außen-, sicherheits- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei, immerhin ein NATO-Partner, sich noch weiter von uns entfernt.“