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Alles bloß Taktik?

Leipzig.png Manecke

Das Titelbild des Artikels zeigt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Dieses Gericht wird zu einem noch nicht feststehenden Termin über die Klage entscheiden, welche die AdressatInnen der Verbotsverfügung gegen das Verbot der linken Internet-Plattform linksunten.indymedia erhoben haben. Für den Samstag vor Beginn der mündlichen Verhandlung wird für eine Tag (((i))) -Demonstration mobilisiert. Im Folgenden wird das Streitgespräch fortgeführt, bei dem in Teil eins vor allem Fragen der Repression und das Verhältnis von Handlung und Meinung diskutiert wurden.

„Butter bei die Fische“: Was sagen wir dem Gericht

Detlef Georgia: Kommen wir im zweiten Teil doch mal zurück ins Hier und Heute. Du, Achim, meintest ja: „Taktisch und im Hinblick auf politische Prozesse ist es aber notwendig, die bestehenden Widersprüche (auch in den Rechtsauffassungen) auszunutzen und für möglichst große (politische) Freiheitsrechte einzutreten. […].“ Und dann sagst du weiter, sinngemäß: Selbst, wenn dies der liberalen Rechtsauffassung widerspricht, wäre es politisch falsch und gefährlich, dem bürgerlichen Staat seine ‚eigenen liberalen Rechtsgrundlagen entgegenzuhalten. Es würde Illusionen verbreiten. Vielmehr solle doch klargemacht werden, dass Rechtsprechung in der bürgerlichen Gesellschaft fast ausnahmslos einen Klassencharakter hat. Das hat für uns ja unmittelbar Relevanz: Wir diskutieren das Thema ja deshalb, weil uns die Berliner Staatsanwaltschaft beim Landgericht wegen unserer linksunten.indymedia-solidarischen Erklärung vom 31.08.2017 angeklagt hat. Sagen wir dem Landgericht also: „Rein taktisch würden wir uns freuen, wenn Sie uns freisprechen. Aber in Wirklichkeit wissen wir, dass das weitgehend illusorisch ist – vor allem glauben wir selbst nicht an die juristischen Argumente, die wir beziehungsweise unsere Anwälte vortragen. Denn wir wissen, als revolutionäre MarxistInnen und Adorno-LeserInnen: ‚jegliche Rechtsprechung [hat] (oder [… hat] zumindest überwiegend) in der bürgerlichen Gesellschaft immer einen Klassencharakter’.“ – Ist das Dein Vorschlag für unsere Prozessstrategie? Oder ist Dein Vorschlag, im Gericht das eine und vor dem Gericht das andere zu erzählen?

Achim: Weder noch. Im Gericht sind wir gezwungen, im Rahmen der gesetzlichen Legalität zu argumentieren – die aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum hat. Aber vor dem Gericht können wir diese gesetzliche Legalität noch in einen größeren politischen und historischen Rahmen stellen. Also etwas von beidem.

Peter: Wir sollten vor Gericht wie auch davor sagen, dass wir mit linksunten.indymedia ein Medium verteidigen, in dem wir publiziert haben. Wir würden ja auch eine gedruckte Zeitung verteidigen, in der wir publiziert haben, wenn sie verboten würde. Wir bestreiten die These des Gerichts, dass wir einen verbotenen Verein unterstützen. linksunten.indymedia war ein Medium und kein Verein, wir kennen keinen Verein. Das würde ich vor dem Gericht, aber auch auf Veranstaltungen sagen. Da sehe ich keinen Widerspruch.

Achim: Inhaltlich stimme ich dieser Aussage zu, würde aber noch anmerken, dass das ja nicht die These des Gerichts ist, sondern des Bundesinnenministeriums (im folgenden BMI, Anm. Red.) und folglich der Staatsanwaltschaft. Ich bin nicht sicher, ob „juristische Naivität“ (einfach zu sagen, wir haben von keinem Verein gewußt) eine gute Verteidigungsstrategie ist – will aber nicht in Abrede stellen, dass sie auch mal funktionieren könnte.

Detlef Georgia: Das Argument von Peter wäre ja nicht, dass wir nicht wussten (juristisch gesprochen: eine Frage des subjektiven Tatbestandes), dass es um einen Verein geht. Der entscheidende Punkt ist vielmehr: Wir haben uns in unserem Text vom 31.08.2017 ausschließlich zu einem Medium geäußert. Und das wäre ein Aspekt, der in Bezug auf den objektiven Tatbestand des § 20 VereinsG relevant ist, in dem es ausschließlich um Vereine, aber nicht um Medien geht. Dieses Medium, zu dem wir uns in der Tat geäußert haben, mag von einem Verein herausgegeben worden sein oder auch nicht. Mit dieser Frage (vereinsförmige HerausgeberInnen – ja oder nein?) hatten wir uns am 31.08.2017 aber gar nicht befasst.

Auf alle Fälle wussten wir, dass das BMI von Existenz eines Vereins ausgeht – aber dazu haben wir uns in unserem Text gar nicht geäußert: Erstens, weil das für uns nur ein Nebenaspekt ist. Zweitens, weil wir tatsächlich nicht wissen, wie die Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der linksunten-HerausgeberInnen ablief und das auch gar nicht beurteilen können. Die Hauptpunkte sind meines Erachtens Pressefreiheit und Zensurverbot, nicht der Vereins-Begriff.

Peter: Genau so würde ich das auch sehen. Ich würde da auch nicht von einer Naivität gegenüber der Justiz sprechen, sondern vielmehr von unserer Position, die wir ihrer Position entgegensetzen. Es wäre naiv, wenn wir da von Waffengleichheit ausgehen würden, aber das tun wir alle drei nicht. Es ist aber nicht naiv, den eigenen Standpunkt offensiv auch vor Gericht zu vertreten, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wir damit Erfolg haben. Das haben ja zum Beispiel die Gerichtsprozesse gegen die Bewohner*innen der Rigaer Straße 94 gezeigt.

Rechtstheorie mit Adorno oder mit Althusser?

Detlef Georgia: Gut, dann vom Juristischen und Prozessstrategischen zum grundsätzlich Gesellschafts- und Staatsanalytischen. Du, Achim, schreibst in dem Text, den wir ja zu einem der Ausgangspunkte dieses Gesprächs gemacht haben: „‚Demokratie’ unter dem ‚totalitären’ Kapitalverhältnis reduziert sich im Kern und in letzter Analyse auf den vorauseilenden (verinnerlichten) Gehorsam zur ‚Selbstverwertung’ und der Affirmation der ihr entsprechenden Bewusstseinsformen.“ Das mag Adorno so sehen, wie du durch dein einleitendes Adorno-Zitat hervorhebst. Das mögen auch andere Hegel-MarxistInnen so sehen. Mich überzeugt aber eher der Antideterminismus Althussers, der sagte, die Stunde der letzten Instanz schlage nie, sondern die letzte Instanz sei nur eine Tendenz [1]. Und zwei Hinweise von Lenin:

Hinweis 1: „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.“ [2]. In der wirklichen Geschichte gibt es – anders als vor Gericht – nie eine letzte Instanz; Revision und Berufung bleiben immer möglich. Auf eine Revolution kann die Konterrevolution folgen, aber auch nach-revolutionäre Übergangsgesellschaften, die sich wirklich in Richtung Kommunismus bewegen, bleiben – trotz aller Tristesse – möglich (ohne auch nur annährend garantiert zu sein).

Hinweis 2: „Identität der Gegensätze (vielleicht richtiger: deren ‚Einheit’? […]) bedeutet Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft).“ [3] Ergo: Wir haben es nicht mit einer homogenen Totalität, sondern – mit Althusser gesprochen – mit einem „komplex, strukturierten Ganzen“ [4] zu tun, das aus verschiedenen „Instanzen“ mit je „eigene[r] Konsistenz und Wirksamkeit“ [5] besteht.

Achim: Mir war selbst nicht ganz wohl bei der Formulierung dieses Satzes. Er übertönt zu sehr die Tatsache, dass das Kräfteverhältnis ständig neu diskursiv ausgehandelt werden muss. Es ist also ein bisschen reduktionistisch – aber Überspitzungen können ja auch Erkenntnisse hervorrufen. Es wird dich vielleicht überraschen, Detlef Georgia, aber ich bin näher bei deinem (und Althussers) ‚Anti-determinismus’ als bei irgendwelchen ‚historischen Gesetzmäßigkeiten’. Für mich ist letzteres eher ein falsch verstandener [Vulgär]Marxismus. Gleichzeitig kann ich eben auch nicht (mehr) ignorieren, dass die strukturellen Zwänge quasi wie ein historischer Determinismus wirken. Sie kommen mir übermächtig vor, und die politische Linke wirkt immer schwächer und hilfloser. Sie zerlegt sich in gefühlt tausende Fraktionen und Unterfraktionen. Vielleicht ist das die Kehrseite dieser Schwäche.

Über bürgerliches Recht

Detlef Georgia: Noch etwas Rechtstheoretisches: Achim, du zitierst in dem erwähnten Text Adorno mit den Worten: „Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über den selben Leisten. Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim der Ungleichheit Vorschub.“ [6] Im Ernst? Das – im Grundsatz – gleiche Recht des bürgerlichen Staates ist schlimmer als das – von vornherein – ungleiche Recht des Feudalstaates und des Staates von SklavInnenhalterInnen-Gesellschaften? Ich würde demgegenüber sagen: Das ungleiche, vor-bürgerliche Recht verdoppelte die herrschaftlichen und ausbeuterischen (‚ungleichen’) gesellschaftlichen Verhältnisse; das gleiche, bürgerliche Recht hebt sie zwar nicht auf, aber relativiert sie.

Achim: Ich würde das bürgerliche Recht nicht mit dem Recht in Feudalgesellschaften vergleichen wollen. Eher mit ‚postkapitalistischen’ Gesellschaften, und auch nur in diesem Kontext ergibt meines Erachtens die Kritik von Adorno einen (historischen) Sinn. ansonsten bin ich ganz bei Marx und seiner Rechtskritik aus der Kritik am Gothaer Programm. [7]

Detlef Georgia: Einerseits schiebst Du den ich kann halt nicht (mehr) ignorieren, dass sich die Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren zunehmend zu Ungunsten der politischen Linken entwickelt haben-Blues; andererseits erschlägst Du die Verteidigung des liberalen Strafrechts – als kleineres Übel – gegenüber Gesinnungsstrafrecht mit Hinweis auf die Überwindung der Rechtsform im Kommunismus zweiter Phase. Wo bleibt denn da Lenins Einsicht, dass „die Form der Unterdrückung“ nicht gleichgültig ist, wie aber „manche Anarchisten ‚lehren’. Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebung der Klassen überhaupt.“ [8]

Achim: Ich spiele nicht beides gegeneinander aus. Ich weiß sehr wohl, dass wir von jeglicher „Übergangsgesellschaft“ sehr weit entfernt sind. Neben der notwendigen Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte muss meiner Ansicht nach auch ein gewisser „Linker Rechtsfetischmus“ (der aber eher ein Problem des reformistischen Spektrums ist) kritisiert werden. Das war dann in meinem Artikel eben ein allgemeinerer Beitrag zur „marxistischen Staats- und Rechtstheorie“, der nicht direkt mit unserem Verfahren zu tun hatte.

„Klassencharakter“ und „Klassenwiderspruch“ im Rechts- und im Justizsystem

Detlef Georgia: Ich möchte noch einen dritten rechtstheoretischen Punkt ansprechen. Achim schreibt: „Man muss dazu sagen, dass erst die bürgerliche Gesellschaft die Individuen als ‚Rechtssubjekte’ geschaffen hat. Sie haben aber nur insofern Rechte, wie sie [abstrakt gleiche] Eigentümer von Waren sind; und sei es die Ware Arbeitskraft. Kapitalistische Ökonomie und Rechtsverhältnisse sind die zwei Seiten derselben Medaille: die ‚bürgerliche’ Vergesellschaftung (‚Synthese’).“ Ist das wirklich so? Ist bürgerliches Recht ausschließlich Zivil- (oder noch enger: Vertrags)recht?

Achim: natürlich gibt es auch politische (Freiheits)rechte, aber immer nur so lange, wie sie systemkompatibel sind. Und natürlich ist bürgerliche Demokratie besser als Faschismus. Aber letztlich ist es entscheidend, dass die sozialen Interessengegensätze nicht innerhalb der bürgerlichen Systemgrenzen befriedet werden können, zumindest nicht in langfristiger historischer Perspektive. Die bürgerliche Demokratie ist daher keine „Etappe“, sondern eine (andere) Kampfbedingung für die emanzipatorischen Kräfte.

Peter: Gerade, wenn wir nicht nur von einen Klassenwiderspruch, sondern auch von einer patriarchalen und rassistischen Unterdrückung in unseren Gesellschaften ausgehen, müssen wir die Rechte genauer anschauen. Tatsächlich gab es in den letzten 20 Jahren in der deutschen Gesellschaft mehr Rechte für Schwule, Transpersonen und so weiter als zuvor. Die greifen sicher den Kapitalismus nicht an, aber das Argument würde ja unterschlagen, dass es aber noch andere Unterdrückungsformen gibt. Diese werden durch die neuen Rechte sicher nicht abgeschafft, aber zurückgedrängt.

Achim: Mir geht es aber vor allem um den Klassenwiderspruch in der Form, wie er in der marxistischen Staatstheorie vorkommt. Andere Unterdrückungsformen sind Themen, die diskutiert gehören, keine Frage. Für die heutige Auseinandersetzung sollten wir sie aber erst einmal ausklammern wie die Fragen nach Rechtspopulismus und Faschismus auch. Das Ganze wird sonst zu unübersichtlich und überfrachtet. Es ist jetzt schon kompliziert genug!

Peter: Ich würde die Unterdrückungsverhältnisse Rassismus und Patriachat nicht wie Rechtspopulismus/Faschismus behandeln. Sie sind ja mit der Klassenunterdrückung verbunden, aber durchaus eigenständig, was sich schon daran zeigt, dass es sie in anderer Form bereits vor dem Kapitalismus gab und sie mit ihm auch nicht automatisch enden. Zudem haben viele Indymedia-AutorInnen Patriarchat und Rassismus in ihren Texten thematisiert. Aber ich bin einverstanden, dass wir das Thema hier nicht vertiefen müssen.

Detlef Georgia: Ich kann mir aber schon jetzt nicht verkneifen zu sagen: Bei linksunten.indymedia mögen sich viele AutorInnen als AntikapitalistInnen verstanden haben – sei es als KonsumkritikerInnen, UmweltschützerInnen, WertkritikerInnen und KritikerInnen des „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ und so weiter. Aber dieser Antikapitalismus war eher selten aus einer marxistischen Klassenanalyse heraus entwickelt. Auch deshalb scheint es mir nicht gerade naheliegend zu sein, das linksunten.indymedia-Verbot aus dem „Klassencharakter“ des Staates „abzuleiten“. – Wäre der deutsche Staat ein Deut weniger bürgerlich, wenn linksunten.indymedia nicht verboten worden wäre oder wenn es kein Strafverfahren gegen uns gäbe?

Bei unserem Strafverfahren geht nicht darum, die „sozialen Interessengegensätze“ zu lösen, sondern – implizit – um die etwas bescheidenere Frage, ob die ModeratorInnen von linksunten.indymedia weiterhin ihre Internet-Zeitung betreiben dürfen. Und um die noch bescheidenere Frage, ob wir unsere ablehnende Meinung zu dem – vom Bundesinnenministerium ausgesprochenen – Verbot äußern und diese Haltung mit einem Ausschnitt aus der Verbotsverfügung, der unter anderem das Logo der verbotenen Zeitung enthält, bebildern dürfen. Das ist doch von einer bürgerlichen Demokratie nicht zu viel verlangt, und es rüttelt auch nicht an der Systemgrenze. Oder doch? Daher noch mal zurück zur Frage vom Anfang und der Butter bei den Fischen.

Was sagen wir dem Gericht?

Peter: Genau das ist der Gegenstand unserer Initiative: Dass es nicht zu viel von einer bürgerlichen Demokratie verlangt ist, dass linksunten.indymedia wieder erscheinen darf, und wir unsere Kritik an dem aktuellen Verbot äußern und – wie getan – bebildern dürfen.

Achim: Wir bedienen eine Doppelstrategie, wie ich sie oben ausgeführt habe.

Detlef Georgia: Es ist also okay, wenn wir uns gegen das Verbot von linksunten.indymedia und für unsere eigene Meinungsäußerung auf Artikel 5 Grundgesetz und einige Feinheiten des § 20 Absatz 1 Satz 1 Nr. 5 Vereinsgesetz (Zuwiderhandlung gegen Vereinsverbote) berufen? Falls ja: Was ist dann als Differenz(en) zwischen uns noch übriggeblieben?

Achim: Vielleicht, dass ich weniger Vertrauen in die „Liberalität“ des bürgerlichen Staates habe als du.

Peter: Ich denke, wir alle drei haben kein großes Vertrauen in die Liberalität des bürgerlichen Staates, nur ist der Liberalismus nun mal dessen Geschäftsgrundlage. Wenn es in Deutschland eine so große Kampagne zum Tag der Pressefreiheit (3. Mai) gibt, die die Einschränkungen der Pressefreiheit natürlich überall nur nicht in Deutschland sieht, ist es unsere Aufgabe, deutlich zu machen, dass es auch in Deutschland so gut damit nicht bestellt ist. Da passt ja das (((i)))-Verfahren gut.

Detlef Georgia: Ja, auch ich würde weiterhin nicht sagen, dass ich besonders vertrauensselig bin. In dem weiteren diskussionsauslösenden Text zeige und kritisiere ich ja gerade, dass das Bundesverfassungsgericht in dem dort behandelten Fall den ideologisch-diskursiven Staatsschutz der Meinungsäußerungsfreiheit übergeordnet hat. Auch wenn wir keine KBW-SympathisantInnen [9] sind, und es den KBW auch schon längst nicht mehr gibt und unser Text um ein ganz anderes Thema geht als die Artikel und Flugblätter, um die es in der damaligen Verfassungsgerichtsentscheidung ging: Die damalige BVerfG-Entscheidung zum Maßstab zu nehmen, hieße damit zu rechnen, dass die Gerichte auch in unserem Fall (und im Fall von linksunten.indymedia selbst) den ideologisch-diskursiven Staatsschutz über die Meinungsäußerungsfreiheit stellen. Aber das heißt ja nicht, dass sich dagegen keine Argumente vorbringen lassen. Falls sie nicht die zuständigen Gerichte überzeugen, sensibilisieren sie vielleicht zumindest einen Teil der Öffentlichkeit für das Problem.

Achim: Ich habe da eher geringe Hoffnungen. Das stärkste Argument für eine breitere Sensibilisierung scheint mir zu sein, dass das Aushebeln der Pressefreiheit über das Vereinsrecht potentiell alle Medien betreffen kann. Da sollten eigentlich die Alarmglocken schrillen; insbesondere im Angesicht der geschichtlichen Vergangenheit des Landes.


Anmerkungen

[1] „die ökonomische Dialektik [bringt sich] einfach niemals im reinen Zustand zur Geltung […], […] man [kann] in der Geschichte niemals sehen […], wie etwa diese [anderen] Instanzen, die Überbauten, respektvoll Platz machen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben (oder sich einfach auflösen, wie ein reines Phänomen), um ihre Majestät die Ökonomie auf dem Königsweg der Dialektik allein voranschreiten zu lassen, weil ihre Zeit gekommen ist. Die einsame Stunde der ‚letzten Instanz’ schlägt niemals, weder im ersten noch im letzten Augenblick.“ (Louis Althusser, Für Marx, Suhrkamp: Berlin, 2011, S. 139)

[2] LW 38, S. 339.

[3] ebd. S. 338, Herv. i.O.

[4] Althusser, a.a.O. (FN 2), S. 243.

[5] ebd., S. 111, s.a. 137: „relative Autonomie der Überbauten und ihre spezifische Wirksamkeit“.

[6] GS 6, 304 zit. n. Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, S. 7.

[7] Kritik des Gothaer Programms; MEW 19, 20 f.:

„Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.“

[8] LW 25, S. 467.

[9] = Kommunistischer Bund Westdeutschlands. Die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf Flugblätter und Zeitungsartikel der dem KBW nahestehenden Antimilitaristischen Gruppe Delmenhorst.