100 Jahre: Reform oder Revolution?
100 Jahre Novemberrevolution, Januaraufstand und Märzkämpfe: Ein Berliner Kollektiv aus Gruppen sowie Einzelpersonen veröffentlicht im Dezember eine Broschüre zur revolutionären Geschichte. Vor einem Jahrhundert fegten revolutionäre Bewegungen in ganz Deutschland nicht nur die Monarchie beiseite und setzten dem mörderischen Weltkrieg ein Ende. Soziale und revolutionäre Forderungen standen plötzlich auf der politischen Agenda im gesamten Land. Neben der Gründung von Räterepubliken wurden Betriebe von Arbeiter*innen-Räten selbst verwaltet. Im Vorfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 2019 in Berlin wird die Broschüre auf vergangene Kämpfe, ihre Bedeutung für aktuelle radikal linke Politik sowie auf revolutionäre Perspektiven eingehen. re:volt ist Medienpartnerin und veröffentlicht drei Texte im November, Dezember sowie Anfang Januar exklusiv vorab.
Die Broschüre „Alle Macht den Räten“ mit einem Umfang von ungefähr 80 Seiten, inklusive interessantem Bildmaterial, wird über Fire and Flames sowie unter Antifa Nordost bestellbar sein.
Anbei der Dritte exklusiv vorab veröffentlichte Text: re:volt-Autor Geronimo Maulanda versucht die Debatten und Zusammensetzung der Sozialdemokratie vor dem I. Weltkrieg nachzuzeichnen, um den Verrat der SPD-Führung im Krieg und der Novemberrevolution zu kontextualisieren.
Die revolutionäre Periode zwischen 1918 und 1923 erkämpfte gigantische Fortschritte und bedeutete zugleich eine herbe Niederlage für die revoltierende Arbeiter*innenbewegung. Ein Grund für die Niederlage, wenn nicht der entscheidende, war die Positionierung der Mehrheitssozialdemokratie zunächst für die Kriegskredite (1914), dann mit ihrer sogenannten „Burgfriedenspolitik" für den Krieg (bis 1918). Schließlich die aktive Zerschlagung der revolutionären Bewegung ab 1918 durch Integration und Repression und deren Kanalisierung in anti-revolutionäre, bürgerlich-parlamentarische Bahnen. Wollen wir diese, häufig bei links der Sozialdemokratie stehenden Bewegungen und Organisationen, als Verrat geltende Politik verstehen, so müssen wir 1) nachvollziehen, vor welchen politischen und ökonomischen Hintergründen des Deutschen Reichs die Sozialdemokratie entstanden ist und d.h. 2) den ideologischen Schulterschluss von liberalen und sozialistischen Personen und theoretischen Positionen auf diese historische Situation rückbeziehen. Zentrale These des Artikels ist: die Sozialdemokratie war nie eine rein revolutionäre Arbeiter*innenpartei, sondern aufgrund ihrer einmaligen deutschen Entstehungsgeschichte, d.h. z.B. der gescheiterten demokratischen Revolution 1848, von Vornherein eine Symbiose liberal-reformistischer und revolutionär-sozialistischer Positionen. Die „Burgfriedenspolitik", also die Allianz mit Kaiser und Kapital für den Krieg, war so kein kompletter Bruch mit den Prinzipien der Sozialdemokratie, sondern eine Kräfteverschiebung innerhalb der SPD zugunsten des liberal-reformistischen und zentristischen Flügels [1], zum Nachteil des revolutionär-sozialistischen Flügels.
Der historische, politische und ökonomische Ausgangspunkt
Dass die historische Realität der Sozialdemokratie eher einem sozialistisch-liberalem Bündnis glich, ist wenig verwunderlich. Schließlich wurde die deutsche liberal-republikanische Bewegung von 1848 durch den bis zu diesem Zeitpunkt allein herrschenden Adel blutig niedergemacht. Später wurde durch die preußische Monarchie, in einer Allianz von preußischen Großgrundbesitzern, den Junkern, und dem großen Kapital 1871, die Einheit „von oben" durchgesetzt. Es handelte sich also um eine Zeit, in der Mensch sich als Sozialist*in noch mit einer feudal-mittelalterlichen Ordnung und einem Kaiser herum schlagen musste. Beiden, dem revolutionär-sozialistischen und dem reformistisch-liberalen Flügel saß die Niederlage von 1848 noch in den Knochen. Im „Kommunistischen Manifest" (fertiggestellt im Februar 1848), das kurz vor der Märzrevolution verfasst wurde, hält Marx deshalb als Leitlinie für Kommunist*innen, ganz unter dem Eindruck der einsetzenden Revolution, fest:
„In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt" (Marx, 1848). [2]
Die Revolution ging verloren. Zum Ausgangspunkt der werdenden Sozialdemokratie wurde das „von oben" mit dem Feldzug gegen Frankreich 1871 vereinigte deutsche Imperium unter dem preußischen König. Die liberalen Parteien - und mit ihnen ein Großteil des Bürgertums, verbündeten sich mit dem Kaiserreich und gaben sich mit der Mitverwaltung in einer konstitutionellen Monarchie zufrieden. Die radikaleren Republikaner*innen, also die linken Liberalen, schlossen sich wiederum der Sozialdemokratie an, da die Lösung zentraler Fragen einer bürgerlich-demokratischen Revolution, wie z.B. der Landfrage, des allgemeinen Wahlrechts, demokratische Freiheiten usw. kein Anliegen des zur (Mit-)Herrscherklasse gewordenen Bürgertums war. Vor diesem Hintergrund war die Forderung nach der (bürgerlichen) Republik für das Deutsche Reich revolutionär. Wenig überraschend daher, dass sich neben sozialistischen Positionen auch klassisch republikanisch-liberale Positionen in der SPD widerfanden, die unter diesem gemeinsamen Dach Politik machten.
Der Lassalle-Flügel: Linksliberale Republikaner
Ihren Vorläufer hatte die SPD in der sogenannten „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP), ihrerseits hervorgegangen aus dem „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) unter Führung von Ferdinand Lassalle und der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP), unter Führung von Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Entscheidenden theoretischen Einfluss auf die SAP sollten die Klassiker des Marxismus Karl Marx und Friedrich Engels höchstselbst haben, die sich immer wieder in die Debatten einmischten. So u.a. mit ihrer bekannten „Kritik des Gothaer Programms" (1875). In dieser Kritik finden wir nun auch einen der Schlüssel zum Verständnis dafür, was die SPD inhaltlich war und was sie nicht war. Die SPD und auch ihre Vorläuferparteien waren eines nie: ganz und gar revolutionäre Parteien. In ihren Reihen fanden sich immer liberale Vorstellungen, die gesellschaftliche Veränderung auf parlamentarische Mehrheiten, bzw. die Erkämpfung der bürgerliche Republik, reduzierten. Und sogar Positionen, die mit dem deutschen Kaiser mehr Rechte und soziale Gerechtigkeit herausschlagen wollten. So z.B. war die Agenda von Ferdinand Lassalle.
Es war Lassalle, der mit seiner Theorie vom „Ehernen Lohngesetzes" eine ökonomische Argumentation für die reformistische Ausrichtung der Sozialdemokratie legte. Diese ging, ohne in ihren Einzelheiten darauf weiter einzugehen, davon aus, dass Angebot und Nachfrage auf dem Markt den durchschnittlichen Arbeitslohn immer auf einem gewissen Existenzminimum einpendeln würden, dass dieser deshalb nie unter den von der unsichtbaren Hand (des Markts) erzeugten Schnitt und auch nicht dauerhaft über ihn fällt. Diese (durch Marx widerlegte) Theorie koppelt Steigen und Sinken des Arbeitslohns absurderweise an die „Vermehrung" der Arbeiter*innen. [3] Jedenfalls führte die Idee Lassalles dazu, dass er den Klassenkampf abschrieb, die Erringung der Mehrheit im Parlament als Weg zur sozialen Veränderung propagierte und den preußischen Obrigkeitsstaat als möglichen, zu gewinnenden Verbündeten betrachtete, der ein breit aufgestelltes „Arbeiterunternehmertum", das wiederum zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen sollte, mitfinanzieren könnte.
„Der Arbeiterstand muß sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen. Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands — dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann" .[4]
„Eben deshalb ist es Sache und Aufgabe des Staates, Ihnen dies zu ermöglichen, die große Sache der freien individuellen Assoziation des Arbeiterstandes fördernd und entwickelnd in seine Hand zu nehmen und es zu seiner heiligsten Pflicht zu machen, Ihnen die Mittel und Möglichkeit zu dieser Ihrer Selbstorganisation und Selbstassoziation zu bieten" .[5]
Flügelkämpfe um die Kolonialfrage und Reform statt Revolution in der SPD
Lassalle verstarb vorzeitig an den Folgen eines Duells 1864. Der Reformismus Lassalles wurde in der weiteren Folge von Eduard Bernstein wieder aufgegriffen(wenn auch unter Ablehnung des „Ehernen Lohngesetzes" und unter anderer Argumentationsfigur), die revolutionär-sozialistischen Theorien von Marx/Engels schließlich durch Rosa Luxemburg. Diese, neben Karl Kautsky und einigen weiteren, führenden Köpfe der theoretischen Debatte in der Sozialdemokratie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, führten ausufernde Flügelkämpfe um genau die Kernpunkte, die die SPD schließlich zu Kriegskrediten/„Burgfriedenspolitik", sowie zur Aufgabe des Klassenkampfs bringen sollten: Um die Frage um Internationalismus und Antiimperialismus/Antikolonialismus einerseits und die Frage um Reform oder Revolution andererseits. Bernstein vertrat neben einer explizit reformistischen Agenda, die die Revolution nur noch als Fernziel auf der Agenda hatte…
„Die verfassungsmäßige Gesetzgebung arbeitet in dieser Hinsicht in der Regel langsamer. Ihr Weg ist gewöhnlich der des Kompromisses, nicht der Abschaffung, sondern der Abfindung erworbener Rechte. Aber sie ist da stärker als die Revolution, wo das Vorurtheil, der beschränkte Horizont der großen Masse dem sozialen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, und sie bietet da die größeren Vorzüge, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen handelt, mit anderen Worten für die positive sozialpolitische Arbeit (...) Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke eigene Organisationen wirthschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung in Selbstverwaltungskörpern einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten (...) Trotz der großen Fortschritte, welche die Arbeiterklasse in intellektueller, politischer und gewerblicher Hinsicht seit den Tagen gemacht hat, wo Marx und Engels schrieben, halte ich sie doch selbst heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen (...)" .[6]
...auch eine explizite Befürwortung der Kolonialpolitik des Deutschen Reichs.
„Aber die Kolonialfrage ist viel mehr, als bloß eine Menschlichkeitsfrage. Sie ist eine Menschheitsfrage und eine Kulturfrage ersten Ranges. Sie ist die Frage der Ausbreitung der Kultur und, solange es große Kulturunterschiede gibt, der Ausbreitung oder, je nachdem, Behauptung der höheren Kultur. Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, daß höhere und niedere Kultur auf einander stoßen, und in Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten. Daß sie meist aus anderen Motiven und mit Mitteln, sowie in Formen betrieben wird, die wir Sozialdemokraten verurteilen, wird in den konkreten Fällen uns zu ihrer Ablehnung und Bekämpfung bewegen, kann aber kein Grund sein, unser Urteil über die geschichtliche Notwendigkeit des Kolonisierens zu ändern" .[7]
Diese Positionen waren nicht unumstritten. Wilhelm Liebknecht (der Vater Karl Liebknechts) und Rosa Luxemburg gehörten zu den energischsten Kritiker*innen des Bernsteinschen Revisionismus [8] und widmeten diesem ganze Bücher. Liebknecht z.B. mit „Kein Kompromiß – Kein Wahlbündnis" (1899), Luxemburg mit „Sozialreform oder Revolution?" (1899) - wohlwissend, dass diese liberale Strömung alles andere als einflusslos war und dass führende Theoretiker*innen des sogenannten „Marxistischen Zentrums" ambivalent gegenüber den Thesen Bernsteins waren. Während die Zentrist*innen um Kautsky und Bebel sich zunächst ebenfalls gegen die Thesen positionierten, kippten sie über die Jahre schrittweise um und übernahmen die Bernsteinsche theoretische Leitlinie, d.h. die der Identifikation mit dem bestenfalls liberal-republikanischen Projekt und schlimmstenfalls dem Einrichten in die kaiserliche Monarchie unter reformistischem Vorzeichen. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die „Burgfriedenspolitik" 1914 waren so eben nur teilweise ein „Verrat", aber vor allem Ausdruck des damaligen dominanten Einflusses der Theorien Bernsteins in den 10er Jahren in der Sozialdemokratie. Das konnte so nur möglich werden durch das Einknicken des einflussreichen „Marxistischen Zentrums".
Was ist daraus zu lernen?
Was hier kurz skizziert wurde, zeichnet die Spaltung einer revolutionären bis sozialreformistischen Strömung vor dem Hintergrund eines kapitalistischen und feudalen Kaiserreichs nach. Lehren sind so immer nur relativ zur geschichtlichen Situation, d.h. im Abgleich mit dem heutigen – rein republikanischen – Deutschland, zu ziehen. Die wichtigsten Lehren, die historisch auch am nächsten zu den Ereignissen um die Novemberrevolution und die Integration der Sozialdemokratie in das Lager des politischen Gegners gezogen werden konnten, zogen bekanntlich neben den radikalen Sozialdemokrat*innen Liebknecht und Luxemburg (Spartakusbund, später: KPD), vor allem auch die Bolschewiki um Lenin, die sich ihrerseits in der Sozialdemokratischen Partei Russlands mit ähnlichen Erscheinungen auseinandersetzten (und dort auch folgerichtig in Bolschewiki und Menschewiki spalteten). Mit der Oktoberrevolution in Russland und der folgenden ideologischen Dominanz der jungen Sowjetunion wurden Antimilitarismus, Antiimperialismus, Antikolonialismus und eine unversöhnlich revolutionäre Ausrichtung der Politik, d.h. gegen die bürgerliche Klasse und den Staat zu den Eckpfeilern der entstehenden kommunistischen Bewegung und Internationalen. So schrieb Lenin in „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale" (1916):
„Der verhältnismäßig ,friedliche' Charakter der Epoche 1874 bis 1914 nährte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schließlich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterbürokratie und der kleinbürgerlichen Mitläufer. Diese Elemente konnten die Arbeiterbewegung nur beherrschen, indem sie in Worten die revolutionären Ziele und die revolutionäre Taktik anerkannten. Sie konnten das Vertrauen der Massen erringen, weil sie schworen, daß die ganze ,friedliche' Arbeit nur eine Vorbereitung der proletarischen Revolution sein". [9]
Und...
„Der Sozialchauvinismus ist der vollendete Opportunismus. Er ist reif geworden zu einem offenen, oft ordinären Bündnis mit der Bourgeoisie und den Generalstäben. Es ist eben dieses Bündnis, das ihm eine große Macht und das Monopol des legal gedruckten Wortes, der Irreführung der Massen gibt. Es ist lächerlich, jetzt noch den Opportunismus [10] für eine Erscheinung im Innern unserer Partei zu halten (...) Die Einheit mit den Sozialchauvinisten ist die Einheit mit der ,eigenen' nationalen Bourgeoisie, die andere Nationen ausbeutet, ist die Spaltung des internationalen Proletariats". [11]
Übersetzt ins Heute: Auch jetzt gibt es (vermeintlich linke) Strömungen, die im Namen von Emanzipation und Demokratie den bürgerlichen Staat zum Gewehr rufen oder deren „Positionen" in links gekleidetem Vokabular ins selbe Horn stoßen, wie liberale und konservative bürgerliche Intelektuelle. Der Bernstein unserer Zeit sind Strömungen, die behaupten, dass der bürgerliche Staat „transformiert", d.h. von Innen heraus verändert werden könne, z.B. durch das Parlament, die politischen Parteien, das „Zusammenspiel von Bewegung und Parlament" usw. oder die diesen zum positiven Ausgangspunkt von Politik (ver)klären. Insbesondere hier gibt es auch jene, die – ganz in der Tradition Bernsteins – behaupten, marxistische Kategorien des historischen Materialismus [12], der Revolution, der Klasse oder des Imperialismus seien out-of-date. Statt einer Aktualisierung marxistischer Analysen betreiben sie eine Ersetzung des Klassenbegriffs durch schillernde Begriffe wie „Multitude“ oder „Millieu" und des Imperialismus durch „Globalisierung". Begriffe, die den Klassenwiderspruch zwischen Herrschenden und Beherrschten verwischen, zum Bündnis mit den „nationalen Bourgeoisien" (um mit Lenin zu sprechen) anhalten und eine vermeintliche Interessensdeckungsgleichheit gegenüber „neuen" oder „schlimmeren" Phänomenen behaupten. In diesem Kontext sei Bernsteins Ausspruch rezitiert: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse, dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles". Das Gegenteil ist also der Fall. Im ganz und gar bürgerlichen Deutschland 2018 geht es zwar anders zu, als im kaiserlich-bürgerlichen Deutschland 1871-1918, dennoch bleiben Antiimperialismus, Antimilitarismus, internationale Solidarität und Klassenkampf angesichts der aggressiven Export/Abhängigkeits- und Kriegspolitik und eine unversöhnliche Haltung zum bürgerlichen Staatsapparat angesichts der offenen Verbindungen zu Neofaschist*innen und Rechtsruck (Stichwort: NSU und Maaßen), Essentials einer revolutionären Linken, die gegen den bürgerlichen Staat und nicht am Ende mit ihm und seinen Parteigänger*innen stehen will:
„ ,Vernichtung der Staatsmacht', die ein ,Schmarotzerauswuchs' war, ihre ,Abschneidung', ihre ,Zerstörung', ,die jetzt überflüssig gemachte Staatsmacht' – das sind die Ausdrücke, in denen Marx vom Staat sprach, als er die Erfahrungen der Kommune beurteilte und analysierte (…) Marx hat aus der ganzen Geschichte des Sozialismus und des politischen Kampfes gefolgert, daß der Staat verschwinden muß, daß die Übergangsform seines Verschwindens (der Übergang vom Staat zum Nichtstaat) das ,als herrschende Klasse organisierte Proletariat' sein wird (…) Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revolution, die bürgerliche Staatsmaschinerie zu zerschlagen, ist die ,endlich entdeckte' politische Form, durch die man das Zerschlagene ersetzen kann und muß". (Lenin 1918) [13]
Quellen und Anmerkungen:
[1] Zentrismus bezeichnet im Marxismus Fraktionen, die der politischen Einheit einer Organisation willen ein Gleichgewicht zwischen revolutionären und nicht-revolutionären Kräften aufrecht erhalten wollen. Wo Lenin vor dem Hintergrund der Kriegsunterstützung und des Reformismus der Mehrheitssozialdemokratie „Klarheit vor Einheit" als Organisations-Prinzip herausgab und damit die Spaltung der SDAPR einleitete, postulieren zentristische Strömungen „Einheit statt Klarheit". Historisch wurde der Begriff auf das sogenannte „Marxistische Zentrum“ in der SPD (Kautsky, Bebel) oder auch Leo Trotzki und die Menschewiki angewandt.
[2] Marx, Karl / Engels, Friedrich (1848) „Manifest der Kommunistischen Partei“ In: MEW Bd.4, S.459-493; Dietz Verlag Berlin, 1974
[3] Lassalle, Ferdinand (1863) „Offenes Antwortschreiben. An das Zentralkommitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig“ In: Gesammelte Reden und Schriften (hrsgb. von Eduard Bernstein) Bd. 3, Paul Cassirer, Berlin, 1919, S. 41-107.
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] Bernstein, Eduard (1899) „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ J.H.W. Dietz Nachfolg. (GmbH), Stuttgart 1899
[7] Bernstein, Eduard (1907) „Die Kolonialfrage und der Klassenkampf“ In: Sozialistische Monatshefte. 11 -13 (November 1907), S. 988 - 996
[8] Revisionismus war ein gängiger Begriff in der sozialdemokratischen Debatte dieser Zeit und bezeichnet Positionen, die den Klassenkampf und die Revolution ablehnen und stattdessen auf Reformen setzen. Angegriffen werden in diesen Strömungen, je nach Autor*in, zentrale Positionen des Marxismus, wie z.B. die Revolution als Ziel oder die Klassentheorie. Der Begriff wurde später, u.a. in der marxistisch-leninistischen Bewegung und ihren Strömungen, zum Kampfbegriff, um abweichende Haltungen, die tatsächlich oder vermeintlich anti-revolutionär waren, aus den Kommunistischen Parteien zu drängen.
[9] Lenin, Wladimir, Iljitsch (1916) „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ In: Lenin-Werke, Band 22, Berlin/DDR. S. 107-119.
[10] Opportunismus, bzw. das Synonym Sozialchauvinismus, bezeichnete in der sozialdemokratischen Debatte während des 1. Weltkriegs Positionen, die, um mit Lenin zu sprechen, „das Eintreten für die Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem Kriege“, „Verzicht auf den Klassenkampf während des Krieges“ bedeuteten. Die Bolschewiki und insbesondere Lenin widmeten dem Phänomen des Versagens der II. Internationale und den dahinterstehenden theoretischen Fehlern zahlreiche Pamphlete. In Russland führte die Auseinandersetzung um diese Punkte bereits früh zur Spaltung der SDAPR und zur Bildung der Flügel der Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Bolschewiki.
[11] Lenin, Wladimir, Iljitsch (1916) „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“ In: Lenin-Werke, Band 22, Berlin/DDR. S. 107-119.
[12] Der Historische Materialismus ist das philosophische Herzstück der marxistischen Theorie. Er entwickelt die Geschichtstheorie von widerstreitenden Klassen, dem Klassenkampf und der Revolution als Motor der Geschichte. Er betont die zentralen Rolle der menschlichen Arbeit (Organisation der Produktion) und die Verbundenheit aller gesellschaftlichen Phänomene mit ihrer Produktionsweise. Seine Methode ist die der Dialektik. Es handelt sich bei ihm um eine Verbindung von feuerbachschem Materialismus mit der hegelschen dialektischen Methode. Eine einfache Einführung liefert Engels, Friedrich (1880) „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, In: MEW Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973
[13] Lenin, Wladimir Iljitsch (1918) „Staat und Revolution“ In: Lenin-Werke, Band 25, Berlin/DDR, 1972, S.393-507